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19.
Ligurien
Ende September 1096
Infolge der fortgeschrittenen Jahreszeit war der Marsch über die Alpen beschwerlich gewesen. Anfangs hatte die Milde des Spätsommers das Heer, das sich von Vienne aus nach Südosten gewandt hatte, noch ein gutes Stück begleitet. Aber je höher hinauf die Streiter Christi gelangt waren und je karger die Landschaft um sie herum geworden war, desto kälter war es vor allem in den Nächten geworden. Regengüsse hatten eingesetzt, und zuletzt hatte ein Herbststurm, der eine ganze Nacht lang gewütet und die Gipfel der Berge anderntags weiß gefärbt hatte, den Teilnehmern des Feldzugs zum ersten Mal einen Eindruck davon vermittelt, was es bedeutete, den Launen von Wind und Wetter nahezu schutzlos ausgeliefert zu sein.
Für viele, vor allem für die hohen Herren und Damen, die im Zug reisten, war dies eine neue Erfahrung – für Conn fühlte es sich eher so an, als wäre er in sein altes Leben zurückgekehrt. Zwar war das Wetter in den Bergen rauer als in London, aber er war daran gewohnt, unter freiem Himmel zu nächtigen. Und er machte die Erfahrung, dass ein Stein, auf den man das Haupt bettete, überall auf der Welt gleich hart war und Schweiß und Exkremente überall den gleichen Gestank verbreiteten. Und noch etwas hatte er während der vergangenen Tage feststellen müssen: dass die Wunde an seinem linken Arm immer schlimmer wurde.
Anfangs war es nur ein stechender Schmerz gewesen, den Conn hin und wieder gefühlt hatte. Doch der wässrige Eiter, der irgendwann aus der Wunde ausgetreten war, hatte darauf schließen lassen, dass sie sich entzündet hatte. Entgegen Conns Hoffnung, die Schwellung würde zurückgehen und der Schmerz sich wieder legen, hatte der Schmerz im Lauf des Marsches immer weiter zugenommen. Auch die Kräuter, die einer der Cluniazensermönche ihm hin und wieder auflegte und die Baldric mit teurem Geld bezahlte, hatten daran nichts geändert.
Im Gegenteil.
Der Eiter, der aus der sich immer wieder öffnenden Wunde rann, wurde dickflüssig und gelb, und das Fleisch begann sich dort, wo der Pfeil eingetreten war, dunkel zu verfärben. Conn wusste, dass dies kein gutes Zeichen war, noch mehr beunruhigte ihn jedoch die zunehmende Kraftlosigkeit in seinem Arm, die schließlich dafür sorgte, dass die abendlichen Waffenübungen, in denen Conn es zuletzt zu einigem Geschick gebracht hatte, ausgesetzt werden mussten. Dass Bertrand ihn dafür in der hohen Kunst des Lesens und Schreibens unterwies und er inzwischen bereits in der Lage war, die meisten Buchstaben nicht nur zu entziffern, sondern sie auch mit ungelenker Hand auf den Boden zu schreiben, war dabei nur ein schwacher Trost.
Als die Kreuzfahrer am Tag des Heiligen Michael Genua erreichten, jene mächtige, an einer sichelförmigen Bucht gelegene Hafenstadt, wurden sie dort bereits erwartet. Die Kunde ihres baldigen Eintreffens war ihnen vorausgeeilt, und die Stadtväter hatten sich in mehrfacher Hinsicht auf ihre Ankunft vorbereitet. Denn zwar war man einerseits gewillt, die Streiter Christi freundlich aufzunehmen und mit ihnen nach Möglichkeit Geschäfte zu machen; andererseits wollte man jedoch vermeiden, dass fremde Soldaten in großer Zahl in die Stadt gelangten und dort womöglich Unruhe stifteten oder plünderten, was keine Seltenheit war. Man hatte daher mit den Heerführern Absprachen getroffen und vereinbart, dass die vereinte Streitmacht der Nordfranzosen auf den nordöstlich der Stadt gelegenen Höhenzügen lagern sollte und dass man weiterziehen würde, sobald Vorräte und andere Dinge des täglichen Gebrauchs ergänzt wären. Des Weiteren wurde es nur kleinen Gruppen von Kämpfern gestattet, sich in der Stadt zu bewegen, unter ihnen natürlich die Fürsten des Feldzugs sowie ihre Unterführer und deren Damen. Allen anderen wurde nur in Ausnahmefällen Zugang zur Stadt gewährt. Conn wusste beim besten Willen nicht, wie es Baldric gelungen sein mochte, für sich und zwei seiner Gefährten eine solche Erlaubnis zu erwirken. Irgendwie hatte der Normanne es jedoch bewerkstelligt, und so sah der Tag nach Michaelis ihn, Conn und den geschwätzigen Bertrand am Hafen entlangspazieren, der vor Betriebsamkeit zu bersten schien.
Überall an den Kais und Stegen lagen Schiffe vertäut, um die geschäftiges Treiben herrschte; Arbeiter, die Kisten, Fässer und Stoffballen trugen, wimmelten wie Ameisen umher, Viehherden und Fuhrwerke drängten sich. Und in all dem Getümmel waren vornehm gekleidete Männer auszumachen, die das Durcheinander mit kritischem Blick beaufsichtigten – Kaufleute und Schiffskapitäne aus aller Herren Länder, ihre Hautfarben und Kleider in einer Vielfalt, wie Conn sie nie zuvor erblickt hatte. Die Schiffe, die an den Kais entladen oder für eine neue Fahrt gerüstet wurden, waren große Handelssegler, die ganz anders aussahen als jener Knorr, der Conn und seine Gefährten von der englischen Küste zum Festland getragen hatte; die meisten der hier vor Anker liegenden Schiffe waren breit und vergleichsweise kurz und sahen in Conns Augen wie riesige Bottiche aus, über denen je nach Größe eines oder auch zwei Dreieckssegel flatterten. Aber es gab auch schwere Kriegsgaleeren, die größer waren als alles, was Conn je zuvor auf dem Wasser hatte schwimmen sehen. Wie Bertrand mit der üblichen Beflissenheit mitteilte, wurden sie Dromone genannt und waren in der Bauweise den Kampfschiffen der Byzantiner nachempfunden.
Anders als sein redseliger Gefolgsmann schien Baldric weniger an den nautischen Errungenschaften interessiert zu sein als vielmehr an der Weite des Meeres und der Schönheit der Landschaft, die sich wie eine Burgmauer rings um das Hafenbecken erhob und an der die steinernen Häuser der Stadt wie wilder Wein emporzuwachsen schienen.
»Sieh dir das an, junger Angelsachse«, sagte er zu Conn, als sie das Ende der Kaimauer erreicht hatten, wo das Gewirr weniger dicht und das Geschrei weniger laut war. »Gebietet dieser Anblick nicht Ehrfurcht vor der Schöpfung des Herrn?«
Conn blieb eine Antwort schuldig. Er sah das mare mediterraneum zum ersten Mal in seinem Leben, aber mehr noch als der bestaunenswerte Anblick hielt ihn sein linker Arm in Atem. Die Schwellung hatte weiter zugenommen, sodass er ihn kaum noch bewegen konnte. Schlaff und kraftlos hing der Arm in der Schlinge, die Conn um den Hals trug. Vor allem nachts war die Pein kaum zu ertragen, sodass Conn zuletzt kaum ein Auge zugetan hatte. Entsprechend bleich war er um die Nase und entsprechend dunkel die Ränder um seine Augen.
»Mir will scheinen, Herr Baldric, dass unser junger Freund keinen rechten Sinn für die Schöpfung hat«, merkte Betrand feixend an. »Vielleicht sollten wir lieber eine Taverne aufsuchen und ihn und uns mit einem guten Krug Wein bekannt machen.«
»Kein Wein für mich«, wehrte Baldric ab. »Den weltlichen Dingen habe ich abgeschworen, wie du weißt. Ich möchte den heiligen Boden reinen Gewissens betreten.«
»Zu schade.« Bertrand schnitt eine Grimasse. »Ich habe gehört, nicht nur der hiesige Wein, sondern auch die Frauenzimmer sollen von erstklassiger Qualität sein.«
»Dann tu, was zu lassen dir offenbar nicht gelingt«, seufzte Baldric mit tadelndem Blick. »Wir treffen uns im Lager.«
»Sehr wohl.« Bertrand verbeugte sich übermütig, dass seine wirren Haare nur so flogen. »Und was ist mit unserem Angelsachsen? Hat er den Freuden von Weib und Gesang ebenfalls entsagt?«
»Mein guter Bertrand«, tadelte Baldric, ohne dass Conn zu sagen vermocht hätte, ob es ihm ernst war oder ob er scherzte, »du bist schlimmer als die Schlange im Paradies. Wärst du an ihrer Stelle dort gewesen, hättest du der armen Eva nicht nur einen Apfel, sondern einen ganzen Krug Cidre angeboten.«
»Nur wenn er süß genug gewesen wäre«, antwortete Bertrand grinsend. »Mit allem anderen hast du natürlich recht. Bedenke, dass die Jugend anderer Dinge bedarf als das Alter.«
»Mein guter Bertrand – so jung bist du nicht mehr.«
»Ich habe auch nicht von mir gesprochen, sondern von unserem angelsächsischen Freund hier«, konterte Bertrand, auf Conn deutend. »Er sieht elend aus. Der Marsch über die Berge scheint ihm nicht gut bekommen zu sein. Ein wenig Abwechslung und Kurzweil würden seiner schlichten Seele gewiss guttun.«
»Also schön«, erklärte Baldric sich zu Conns Überraschung bereit, »ich gebe mich geschlagen. Vielleicht hat Bertrand recht, und ich habe dich zu hart rangenommen. Wenn du willst, geh mit ihm, Conwulf.«
»Herr, das ist sehr großzügig von Euch. Aber ich möchte nicht«, erwiderte Conn.
»Nein?«, fragte Bertrand verdattert.
»Nein«, bekräftigte Conn in seine Richtung. Zum einen wäre er sich schäbig dabei vorgekommen, sein Lager mit einer Dirne zu teilen, solange sein Herz noch voller Trauer um Nia war. Zum anderen war der Schmerz in seinem Arm so stark, dass er ernstlich bezweifelte, ob seine Manneskraft ausgereicht hätte, um …
»Da siehst du es, du Nimmersatt«, sagte Baldric und klopfte Conn anerkennend auf die Schulter. Fast schien der Normanne etwas wie väterlichen Stolz auf seinen unfreiwilligen Diener und Knappen zu empfinden. »Nimm dir ein Beispiel an unserem Angelsachsen, statt dich seiner zu bedienen, um deinen eigenen Mangel an Moral zu vertuschen.«
Bertrands feiste Miene zerknitterte sich in gespielter Trauer. »Wohlan denn. So muss ich denn allein gehen, im beschämenden Bewusstsein, dass die Tugend eines angelsächsischen Bauerntrampels der meinen weit überlegen ist.«
»Lass es dir eine Lehre sein«, gab Baldric ihm mit auf den Weg, aber seinem Gesichtsausdruck war zu entnehmen, dass seine Hoffnung diesbezüglich nicht sehr groß war.
»Das werde ich. Aber erst morgen.«
Damit verschwand Bertrand hinter einem mit Fässern beladenen Fuhrwerk, das den Kai herabgefahren kam, und Conn sagte sich einmal mehr, dass Bertrand ein ziemlich eigenartiger Pilger war.
Baldric schien seine Gedanken zu erraten. »Du musst ihm sein Verhalten nachsehen. Bertrands Absichten sind bisweilen sehr viel größer als sein Herz – und manchmal auch viel kleiner.«
»Ich weiß«, sagte Conn nur.
»Mit einem hatte er allerdings recht. Du siehst blass aus.«
Conn nickte. Wenn er auch nur halb so elend aussah wie er sich fühlte, musste er einen ziemlich erschreckenden Anblick bieten. Nicht nur, dass der Schmerz beständig an ihm zehrte, er schien sich allmählich auch auf den ganzen Körper auszubreiten.
»Was meinst du?«, fuhr Baldric fort. »Sollen wir uns ein wenig stärken, ehe wir ins Lager zurückkehren?«
Conn war erstaunt. Es war durchaus nicht üblich, dass ein Herr seinem Diener die Wahl darüber überließ, ob sie eine Mahlzeit einnehmen sollten, und es geschah zum allerersten Mal. Entweder wollte Baldric ihn belohnen, weil er sich dagegen entschieden hatte, zusammen mit Bertrand dem hemmungslosen Vergnügen zu frönen, oder aber, und das erschien Conn wahrscheinlicher, er erweckte den Anschein, jeden Augenblick vor Schwäche umzufallen.
Er nickte dankbar, worauf Baldric ihm ermunternd auf die Schulter klopfte und ihm bedeutete, mit ihm zu kommen. Sie verließen die Hafenzeile durch eine schmale Gasse, in der sich eine Spelunke an die andere reihte – Tavernen, wie sie überall in Hafengegenden anzutreffen waren und in denen gepanschter Wein und billiges Bier ausgeschenkt wurden. Den Blick fest aufs Ende der Gasse geheftet, dirigierte Baldric seinen Schützling an triefäugigen Werbern vorbei, die ahnungslose Passanten in ihre Lokale zu locken suchten, aus denen schon am hellen Tag das Gegröle der Betrunkenen drang. Bettler lungerten in den Nischen, dazu Sklavinnen und Freudenmädchen, die ihre Reize mehr oder minder unverhüllt zur Schau stellten und von fettbäuchigen Zuhältern feilgeboten wurden wie andernorts frisch geschlachtetes Fleisch.
Vorbei an hohen, vielstöckigen Häusern, die ganz aus Stein errichtet waren und sich teils so dicht gegenüberstanden, dass kaum noch Licht in die Gassen fiel, gelangten Conn und Baldric in ruhigere Gefilde. Die Inhaber der hier ansässigen Geschäfte hielten Mittagsruhe; die meisten Läden waren geschlossen, verhaltene Stille lag über den schmalen Steinschluchten, durch die beständig der Wind pfiff. Und ebenjener Wind, der nach Salz und Seetang roch, trug plötzlich einen gellenden Schrei heran.
Baldric blieb abrupt stehen, die Hand am Griff seines Schwertes. »Hast du gehört?«
»Laut und deutlich«, bestätigte Conn.
Da es den Anschein hatte, als wäre der Schrei geradewegs die Gasse herabgekommen, folgten sie ihr um die nächste Biegung und einige steile Stufen hinauf – und wurden unvermittelt Zeugen eines Überfalls.
Die Opfer waren zwei Männer, die in weite Reisemäntel gehüllt waren – zweifellos Kaufleute, die fremd waren in der Stadt und sich in die falsche Gegend gewagt hatten. Der eine war zu Boden geschmettert worden, der andere rang verzweifelt mit einem der Angreifer, aber es war abzusehen, wie der Kampf enden würde.
Die Räuber waren in der Überzahl.
Fünf oder sechs von ihnen drängten sich auf der Gasse, schmutzige Gesellen mit verwildertem Haar, deren speckige Tuniken in Fetzen hingen. Wenigstens einer von ihnen hatte die Härte des Gesetzes schon zu spüren bekommen: Die Lippen waren ihm – wohl weil er gelogen hatte – abgeschnitten worden, sodass sich sein gelbes Gebiss in einem bizarren, fortwährenden Grinsen präsentierte, während er seinen Gegner zu überwältigen suchte. Der Kaufmann, ein Greis mit weißem Haar, wehrte sich nach Kräften, aber der Knüppel, den der Bandit in der Hand hielt, traf ihn an der Schläfe und schickte ihn zu Boden. Der andere Mann, der sehr viel jünger zu sein schien, schrie entsetzt auf – und Baldric handelte.
Mit einer fließenden Bewegung, die den geübten Krieger verriet, riss der Normanne das Schwert aus der Scheide und stürmte die Gasse hinauf, bereit, sich den Räubern entgegenzustellen. Conn setzte ihm hinterdrein, den Qualen zum Trotz, die durch seinen Körper tobten, und den Dolch in der Hand, den er hastig gezückt hatte. Zwar hatte er keine Ahnung, wie der Kampf ausgehen würde, aber er wollte auch nicht zurückstehen, wenn sich sein Herr in Gefahr begab.
Zur Konfrontation kam es nicht.
Sobald die Banditen den Normannen erblickten, der im Kettenpanzer und mit gezückter Klinge einen furchterregenden Anblick bieten musste, verließ sie der Mut. Schreiend stürzten sie davon, noch ehe die Spitze von Baldrics Schwert sie erreichen konnte, und waren schon im nächsten Moment in dunklen Löchern verschwunden, Mäusen gleich, die sich vor der Katze flüchteten.
Baldric verzichtete darauf, sie zu verfolgen. Stattdessen kam er dem Alten zur Hilfe, der sich auf dem Boden wand. Der Hieb des Räubers hatte ihm eine Platzwunde beigebracht, aus der ein dünner Blutfaden über seine Schläfe rann.
Der Jüngere rief etwas. Er sprang auf die Beine, noch ehe Conn ihm ebenfalls behilflich sein konnte, und eilte zu dem Alten. Mit dem Ärmel seines Gewandes wischte er dem Schlohhaarigen das Blut aus dem Gesicht und inspizierte die Wunde, schien jedoch zu dem Schluss zu kommen, dass sie nicht weiter bedrohlich war. Die beiden wechselten miteinander einige Worte in einer Sprache, die Conn nicht verstand. Dabei streifte der Jüngere ihn und Baldric mit einem argwöhnischen Blick.
Schließlich half der Jüngling dem Alten dabei aufzustehen, und dieser unternahm einige Versuche, Baldric anzusprechen. Conn war beeindruckt, in wie vielen Zungen der Greis zu sprechen schien, darunter auch Französisch, das mit einem harten Akzent behaftet war. Gewiss war es jedoch nicht schlechter als das von Conn, obschon dieser es in den zurückliegenden Wochen laufend verbessert hatte.
»Könnt Ihr mich verstehen, edle Herren?«, erkundigte er sich und schaute zuerst Baldric, dann Conn fragend an.
»Wir verstehen Euch«, bestätigte Baldric. »Seid Ihr wohlauf?«
»Ich denke, es ist nur ein Kratzer«, erwiderte der Alte, auf die Wunde an seiner Schläfe deutend, »und das verdanken wir Euch.«
»Wir haben nur getan, was die Pflicht eines jeden Mannes von Ehre ist«, entgegnete Baldric mit der ihm eigenen Bescheidenheit, von der Conn inzwischen wusste, dass sie nicht geheuchelt, sondern tatsächlich Teil seines schlichten und bisweilen doch so undurchschaubaren Wesens war.
»Dennoch sind wir Euch zu tiefem Dank verpflichtet«, beharrte der Alte. »Wenn es eine Weise gibt, auf die wir uns erkenntlich …« Seine Rede stockte jäh, als würden ihm die Worte im Hals stecken bleiben. Seine Augen weiteten sich, als hätte er etwas erblickt, das ihn entsetzte. Verblüfft stellte Conn fest, dass es die Kreuze waren, die auf den Schulterpartien ihrer Umhänge prangten. »Ihr … seid Krieger des Kreuzes?«, erkundigte sich der Alte ängstlich.
»Streiter des Herrn«, drückte Baldric es anders aus. »Mein Name ist Baldric. Dies ist Conwulf, mein Diener und Knappe. Dürfen wir auch erfahren, wen wir mit Gottes Hilfe aus der Gewalt der Wegelagerer befreit haben?«
Der Alte zögerte kurz. »Den Kaufmann Isaac von Köln und seinen Diener Ilan«, entgegnete er dann leise. Das ängstliche Beben in seiner Stimme war unüberhörbar.
»Juden demnach?«, erkundigte sich Baldric.
»Ja, Herr«, antwortete der Weißhaarige und senkte das Haupt, anders als sein Diener. Zwar war die Kapuze seines Mantels hochgeschlagen, sodass nur die untere Gesichtshälfte zu sehen war, aber Conn glaubte trotzdem, eine Spur von Trotz darin zu erkennen.
»Seid unbesorgt, alter Mann«, sagte Baldric, während er das Schwert zurück in die Scheide fahren ließ. »Dies Zeichen macht uns nicht zu Feinden. Ihr habt nichts zu befürchten.«
»Wie das, Herr? Habt Ihr nicht feierlich geschworen, alle Heiden zu töten? Und sind wir nicht Heiden in Euren Augen?« Nicht der Kaufmann hatte gesprochen, sondern sein Diener, mit ebenjenem Trotz, der sich in seinen Zügen bereits angekündigt hatte.
Baldric wandte sich dem jungen Mann zu, dessen Französisch mit dem gleichen Akzent behaftet war wie das des Alten, jedoch gut verständlich. War schon der Herr von nicht gerade wohlgenährter Statur, war der Diener geradezu abgemagert. In seinem Gesicht spross noch kein Bart, sodass Conn sein Alter auf höchstens fünfzehn Winter schätzte. Sein Gewand schlotterte um dürre Beine, die Hände waren zart und fraglos nicht an harte Arbeit gewohnt. An Mut jedoch schien es ihm nicht zu fehlen, denn der Blick seiner dunklen Augen stach so herausfordernd unter der Kapuze hervor, dass Conn sich unwillkürlich darüber ärgerte.
»Ihr tätet gut daran, an Euch zu halten, Freund«, beschied er ihm im besten Französisch, zu dem er in der Lage war. »Schließlich hat Herr Baldric auch Euch gerade das Leben gerettet.«
»Bitte verzeiht meinem Diener seine unbedachten Worte«, sagte Isaac schnell und bedachte den Jungen mit einem strafenden Seitenblick. »Bisweilen ist seine Zunge schneller als sein Verstand.«
»Seine Frage war dennoch berechtigt«, erwiderte Baldric mit überraschender Ruhe. »Für andere Kämpfer Christi vermag ich nicht zu sprechen, aber ich für meinen Teil sehe meine Aufgabe nicht darin, Krieg und Zwist in christliche Länder zu tragen und jene zu Feinden zu erklären, die uns weder schaden noch uns bedrohen. Mein Kampf, junger Freund«, wandte er sich direkt an Ilan, »gilt allein den Ungläubigen, die die heiligen Stätten besetzen und das Leben unserer Pilger bedrohen. In Euch vermag ich weder das eine noch das andere zu erkennen.«
Der Diener blieb eine Antwort schuldig, aber Conn konnte sehen, dass sich die Gesichtszüge unter der Kapuze entspannten.
In diesem Moment kehrte der Schmerz zurück. Infolge der Aufregung war er für einige Augenblicke in den Hintergrund getreten. Nun jedoch brachte er sich wieder in Erinnerung, und das so heftig, dass Conn die Kontrolle über seine Gesichtszüge verlor und sich ihm eine leise Verwünschung entrang.
»Was habt Ihr da?«, fragte Isaac in seinem harten Akzent, auf die Schlinge deutend.
»Nichts weiter«, knurrte Conn zähneknirschend. »Nur eine alte Wunde, die mir hin und wieder zusetzt.«
»Soll mein Diener sich die Wunde ansehen?«, schlug der Alte vor. »Er besitzt einige Kenntnisse in der Heilkunst.«
Conn sah, wie Ilan seinem Herrn einen erschrockenen Blick zuwarf. Die beiden wechselten einige Worte in ihrer fremden Sprache und waren sich dabei offenbar uneins. Schließlich schien der alte Isaac sich jedoch durchzusetzen, und Ilan senkte das Haupt – wohl weniger in Unterwürfigkeit als vielmehr in wütender Enttäuschung.
»Wenn Ihr es wünscht«, wiederholte der Kaufmann, »wird Ilan Eure Wunde inspizieren. Vielleicht können wir Euch helfen und uns auf diese Weise für unsere Rettung bedanken.«
»Eine solche Hilfe wäre mehr als willkommen«, sagte Baldric. »Nicht wahr?«
Conn antwortete nicht. Natürlich bereitete ihm sein Arm Höllenqualen, und natürlich wäre er für jede Linderung dankbar gewesen. Aber die anmaßende Art des Dieners und die unverhohlene Abneigung, die der Jüngling an den Tag legte, gefielen ihm ganz und gar nicht. Außerdem hatte es auch in London Juden gegeben, und es war allenthalben von ihrem Hang zu dunklem Zauber und Giftmischerei zu hören gewesen. Sollte er sein Wohlbefinden in die Hände eines solchen Quacksalbers legen, der darüber hinaus noch ein halbes Kind war?
»Lass sehen«, verlangte der Junge und trat auf Conn zu. Der Blick seiner dunklen Augen traf ihn dabei so unvermittelt, dass es Conn eine Gänsehaut bereitete.
»Es ist nichts«, beteuerte er noch einmal.
»Komm schon«, forderte Baldric ihn auf. »Warum lässt du Ilan die Wunde nicht ansehen? Schlimmer kann’s schließlich nicht werden.«
Damit hatte der Normanne allerdings recht. Widerwillig zog Conn den Arm aus der Schlinge und zerrte den von Eiter und Blut durchnässten Verband herab. Den sengenden Schmerz, den er dabei verspürte, ignorierte er, so gut er es vermochte.
Ilan warf zuerst einen sorgsamen Blick auf die hässlich dunkle Öffnung, roch dann vorsichtig daran und bedachte Conn schließlich mit einem düsteren Blick.
»Das ist nicht gut«, stellte er fest.
»Was du nicht sagst.«
»Die Wunde ist stark entzündet und muss unbedingt versorgt werden. Andernfalls …«
»Was?«, hakte Conn nach.
»… wirst du den Arm bald nicht mehr gebrauchen können.«
Conn fühlte einen Kloß im Hals. Obwohl der Junge es nicht aussprach, war allen klar, was dies bedeutete. Ein Arm, der nicht mehr zu gebrauchen war und zudem die Gefahr barg, dass sich die Entzündung auf den gesamten Körper ausbreitete, musste amputiert werden. Und wer einen Arm verloren hatte, der war ein Krüppel, vom Herrn gezeichnet für seine Vergehen, und hatte daher weder Erbarmen noch Mitleid zu erwarten.
»Kannst … willst du mir helfen?«, erkundigte er sich leise. Für einen kurzen Moment begegneten sich ihre Blicke, und Conn hatte nicht mehr das Gefühl, jene trotzige Feindseligkeit in den Augen des anderen zu sehen, sondern Mitgefühl und, was ihn zutiefst verwirrte, eine gewisse Anziehung …
»Ich werde es versuchen, aber nicht hier. In unserer Herberge habe ich eine Salbe aus Kräuterextrakten, die ich dir auflegen könnte. Und man müsste die Wunde aufschneiden und …«
»Aufschneiden?« Conn glaubte, nicht richtig zu hören.
»… und den Eiter ausfließen lassen, um sie zu säubern«, fuhr der junge Jude unbeirrt fort.
»Das kommt nicht in Frage«, widersprach Conn. »Ich werde gewiss nicht …«
»Es ist deine Entscheidung. Aber wenn nicht bald etwas passiert, wirst du den Arm verlieren. Und wenn das nicht rechtzeitig geschieht, auch dein Leben.«
Die Entscheidung war Conn nicht besonders schwergefallen.
Seine Vorbehalte hatte er noch immer, und er war alles andere als begeistert von dem Gedanken, dass der großmäulige Diener des alten Isaac mit einem glühenden Messer in seiner schwärenden Wunde stochern würde. Aber er sah ein, dass er keine andere Wahl hatte – wie so häufig in letzter Zeit.
Früher war Conn frei gewesen, frei in seinen Gedanken wie auch in den Dingen, die er tat. Seit jener schicksalhaften Nacht jedoch wurde er das Gefühl nicht los, dass fremde Mächte sein Leben bestimmten, und anders als der ehrfürchtige Baldric war er nicht in der Lage, dahinter göttliche Vorsehung zu vermuten.
Sie hatten die Herberge aufgesucht, in der der Kaufmann und sein Diener abgestiegen waren, ein mehrstöckiges Gebäude am Ende einer langen Gasse, in der jüdische Geldverleiher ihre bisweilen zweifelhaften Dienste anboten. Auch Isaac billigte ihre Methoden nicht, wie er betonte, jedoch sei anderswo in der Stadt kein Quartier mehr zu bekommen gewesen.
Ilan bestand darauf, Conn mit nach oben in die Unterkunft zu nehmen, um die Wunde dort zu versorgen. Der Gedanke schien Isaac zunächst nicht zu gefallen, aber schließlich willigte er ein, und so blieben Baldric und er im Schankraum zurück, während Conn Ilan nach oben begleitete, sengende Schmerzen im Arm und ein flaues Gefühl in der Magengegend.
Die Kammer war nicht sehr groß, und durch das Fenster, das auf die schmale Gasse blickte, drang so wenig Licht, dass Ilan eine Kerze entzünden musste. Er forderte Conn auf, sich an den kleinen Tisch zu setzen, der die Mitte der Kammer einnahm. Dann ging er im flackernden Licht daran, die vor Eiter und Nässe glänzende Wunde zu säubern. Bei jeder Berührung zuckte Conn zusammen.
»Was?«, fragte Ilan indigniert, der seine Kapuze noch immer nicht abgenommen hatte.
»Es tut verdammt weh«, knurrte Conn.
»Willst du, dass ich dir helfe?«
Conn brummte eine unverständliche Erwiderung, und der Junge fuhr damit fort, die Wunde abzutupfen und zu reinigen. Dabei rutschte ihm die Kapuze immer wieder ins Gesicht, sodass er sie schließlich unwirsch zurückschlug.
Conn war überrascht. Nicht nur, weil der Kopf des Jungen fast kahl war und das Haar darauf nur in kurzen schwarzen Stoppeln wuchs. Sondern auch, weil nun noch mehr auffiel, wie jung Ilan war. Noch nicht einmal der Ansatz eines Bartes spross in seinem Gesicht, sein Nacken war schlank und seine Haut so zart wie …
»Warum tust du das?«, wollte Ilan unvermittelt wissen, während er nach einer ledernen Tasche griff, der er ein Messer mit kurzer Klinge sowie ein kleines Fläschchen mit einer Tinktur entnahm.
»Was meinst du?«
Mit den makellos weißen Zähnen entkorkte Ilan die Flasche und schüttete einige Tropfen ihres Inhalts über die Messerklinge. Conn ahnte, was nun folgen würde.
»In den Krieg ziehen«, wurde Isaacs Diener deutlicher.
Conn erwiderte das, was Baldric wohl entgegnet hätte. »Nun, um die Heiligen Stätten von den Heiden zu befreien, zum Ruhm und zum Andenken Gottes.«
»Glaubst du denn, euer Gott will, dass ihr euren Glauben mit Feuer und Schwert verbreitet? Hat euer Rabbi Jesus euch nicht gelehrt, den Nächsten zu lieben?«
»Das stimmt«, kam Conn nicht umhin zuzugeben.
»Warum wollt ihr jene, die anderen Glaubens sind, dann töten?« Ilan schaute auf. Der Blick seiner dunklen Augen war so eindringlich, dass Conn das Gefühl hatte, darin zu versinken.
»Ich… ich will sie nicht töten«, versicherte er rasch. Er fühlte sich in die Ecke gedrängt, war von den Fragen seines Gegenübers mindestens ebenso verwirrt wie von seinen forschenden Blicken.
»Warum hast du dich dann dem Feldzug angeschlossen?«
»Weil …« Er biss sich auf die Lippen. Was hätte er auch sagen sollen?
Im nächsten Augenblick hätte er ohnehin kein Wort mehr hervorgebracht, weil Ilan mit der Lanzette in die Geschwülste stach und der Schmerz so heftig war, dass Conn die Zähne fest zusammenbeißen musste, um nicht laut zu schreien. Gelber Eiter trat hervor, und der faulige Gestank, der ohnehin schon von der Wunde aufgestiegen war, steigerte sich noch. Conn konnte nicht verhindern, dass ihm Tränen in die Augen traten. In dem Moment, als die Qual am größten war und er schon glaubte, die Sinne würden ihm schwinden, traf ihn die Erkenntnis wie ein Hammerschlag.
Alles – Ilans knabenhaftes Äußeres, die verstohlenen Wortwechsel mit dem alten Isaac und dessen offenkundige Sorge um seinen Diener – ergab plötzlich einen Sinn. Die Wahrheit stand Conn plötzlich klar und deutlich vor Augen.
»Du bist … ein Mädchen!«, platzte er heraus.
Angesichts der Schmerzen, die ihn peinigten, klang es mehr wie eine Verwünschung als wie eine Feststellung. Und kaum hatte er sie geäußert, kam er sich vor wie ein Narr.
Ilan jedoch reagierte ganz anders, als er erwartet hatte. Weder lachte Isaacs Diener ihn aus noch wurde er wütend, sondern begnügte sich zunächst damit, weiter in der nun offenen Wunde herumzubohren, so als wäre das Strafe genug.
»Eine Frau«, verbesserte sie schließlich. Die Höhe ihrer Stimme hatte sich kaum verändert, doch klang sie jetzt weicher und weiblicher.
Conns Atem ging stoßweise, er hatte das Gefühl, vor Schmerz zu vergehen. Dass er nicht das Bewusstsein verlor, lag vermutlich nur daran, dass sein Geist etwas hatte, woran er sich festhalten und worüber er rätseln konnte.
»Aber wieso?«, stieß er hervor. »Wie …?«
»Spart Euch Euren Atem lieber«, riet sie ihm, während sie ein frisches Tuch dazu benutzte, den ausgeflossenen Eiter aufzunehmen und die Wunde erneut zu säubern. »Ihr werdet ihn noch brauchen.«
Conn dachte nicht daran, den Rat zu befolgen. Zu überraschend war die Erkenntnis, dass es eine junge Frau war, die ihm diese Höllenqualen bereitete, zu verwirrend die Konsequenzen, die sich daraus ergaben. »Und du … Ihr seid auch nicht Isaacs Diener, nicht wahr?«, fragte er weiter. Ihm war nicht verborgen geblieben, dass sie ihm nun distanzierter begegnete.
Die Jüdin schaute ihn lange und prüfend an, so als gelte es zu erwägen, ob er der Wahrheit würdig war. Trotz ihres fast kahlen Hauptes und der markanten, vielleicht ein wenig zu herben Gesichtszüge war Conn von ihrem Anblick gefesselt. »Nein«, gestand sie schließlich, »ich bin seine Tochter. Ich heiße Chaya.«
»Chaya«, echote Conn verwundert. »Aber warum nur …?«
Er verstummte, als sein Arm plötzlich in Flammen aufzugehen schien. Kurzerhand hatte sie den restlichen Inhalt der kleinen Flasche über die noch offene Wunde gekippt, sodass Conn nicht anders konnte, als laut aufzuschreien. Sein Herz schlug heftig, und er sah dunkle Flecke, die vor seinen Augen auf und ab tanzten.
»Warum ich mich als Mann verkleide?«, fragte die Jüdin ungerührt dagegen. »Warum ich mir das Haupt geschoren habe, als ginge es zum Richtplatz?«
Er nickte mit zusammengebissenen Zähnen.
»Sehr einfach – weil die Welt nun einmal ist, wie sie ist. Und weil in dieser verkehrten Welt einer jungen Frau, die mit ihrem Vater reist, größeres Ungemach droht als dessen männlichem Diener, obschon eine Frau doch sehr viel schwächer ist und daher des Schutzes in größerem Maße bedürfte.«
Conn wusste nicht viel zu erwidern. Ob als Ilan oder als Chaya – ihre Wortwahl und ihre Art sich auszudrücken, sorgten dafür, dass ihm der Schädel brummte, von den Schmerzen in seinem Arm ganz zu schweigen. Aber in diesem Moment wurde ihm klar, dass diese bereits merklich nachgelassen hatten.
Der unerträgliche Druck, der die ganze Zeit über auf der Wunde gelegen hatte, war verschwunden, auch das höllische Brennen hatte aufgehört. Die Geschwulst war zurückgegangen, und Conn war sogar in der Lage, seine Hand wieder zu bewegen, was zuletzt kaum noch möglich gewesen war. Blut trat aus der Schnittwunde aus, aber Chaya störte sich nicht daran. Im Gegenteil, meinte sie, sorge das Blut dafür, dass der restliche noch verbliebene Schmutz aus der Wunde entfernt werde. Abermals säuberte sie die Stelle, dann nahm sie einen gläsernen Tiegel zur Hand, der eine weiße, übelriechende Paste enthielt. Mit einem hölzernen Spatel trug sie etwas davon sowohl auf die alte Pfeilwunde als auch auf den frischen Schnitt auf, dann legte sie einen frischen Verband an, den sie ordentlich straff zog.
»Fertig«, verkündete sie. »Diese Salbe«, fügte sie hinzu, wobei sie Conn den Tiegel reichte, »solltest du zweimal täglich auf die Wunde auftragen.«
»Und – das ist alles?«, fragte Conn.
»Das ist alles.«
Er nickte mit dankbarem Blick auf den Verband. »Schon jetzt ist es sehr viel besser als zuvor«, meinte er und bewegte abermals die linke Hand. »Ganz erstaunlich.«
»Nicht wahr?« Ihr Lächeln entbehrte jeder Freude. »Das hättet Ihr mir nicht zugetraut, oder? Wo ich doch nur eine Heidin bin …«
»Warum sagt Ihr so etwas? Haben wir Euch und Euren Vater nicht vor den Räubern gerettet?«
»Das habt Ihr. Aber hättet Ihr es auch getan, wenn Ihr gewusst hättet, wer wir sind? Was wir sind?«
Erneut schaute sie ihn unverwandt an, und jetzt, da Empörung ihre blassen Wangen färbte und ihre dunklen Augen lodern ließ, ging Conn auf, wie schön sie war. Nur einmal zuvor in seinem Leben hatte er solche Anmut und solches Temperament in einer Frau vereint gefunden, und es schmerzte ihn zu erkennen, dass sie ihn in mancher Weise an Nia erinnerte. Nicht so sehr ihrem Äußeren als vielmehr ihrem Wesen nach, das nicht weniger freiheitsliebend und unbeugsam schien als das seiner Geliebten.
Als er eine Antwort schuldig blieb, missdeutete Chaya sein Zögern. Ihre Züge, eben noch weich und anmutig, verhärteten sich, ihr Blick wurde kühl. »Eure Wunde ist jetzt versorgt, junger Herr«, gab sie steif bekannt. Dann erhob sie sich, packte ihre Utensilien zusammen und schickte sich an, die Kammer zu verlassen.
»Chaya!«, rief Conn sie zurück.
»Ja?« Sie blieb unter dem niedrigen Türsturz stehen.
»Ich danke Euch«, sagte er leise. »Von ganzem Herzen.«
Sie nickte. Dann drehte sie sich um und ging nach draußen.
Conn blickte ihr nach.
Dankbar, weil sie seine Wunde versorgt und damit vermutlich seinen Arm, womöglich sogar sein Leben gerettet hatte.
Aber auch mit einer Spur von Reue.
Denn für einen kurzen, wenn auch winzigen Moment, als ihre Blicke einander begegnet waren und er ihr tief in die Augen gesehen hatte, da hatte er seine Trauer und sogar seine Rachegedanken vergessen.
Dabei – und dafür schämte er sich vor sich selbst – war auch seine Erinnerung an Nia einen Herzschlag lang verblasst.