37676.fb2 Das Buch Von Ascalon - читать онлайн бесплатно полную версию книги . Страница 24

Das Buch Von Ascalon - читать онлайн бесплатно полную версию книги . Страница 24

20.

Kalabrien

Winter 1096

Der Marsch Richtung Süden ging weiter. Hatte sich Conn auf dem Weg durch Ligurien von Tag zu Tag schlechter gefühlt, so besserte sich sein Zustand nun zusehends.

Chayas Ratschlag folgend, trug er zweimal täglich die übelriechende, jedoch äußerst wirksame Paste auf, die sie ihm gegeben hatte. Wie die Kaufmannstochter vorausgesagt hatte, klang die Schwellung vollends ab und die Wunde schloss sich. Die schwarz verrottete Haut fiel ab, neues Gewebe kam darunter zum Vorschein, und schon bald war zu erkennen, dass von jener Verletzung lediglich Narben zurückbleiben würden.

Sobald Conn seinen Arm wieder uneingeschränkt bewegen konnte, unterzog Baldric ihn einem harten Training, um all das nachzuholen, was er in den vergangenen Wochen notgedrungen versäumt hatte. Die Waffenlektionen wurden intensiviert ebenso wie die Reitübungen, und um seine zuletzt arg vernachlässigten Muskeln zu kräftigen, ließ der Normanne Conn unzählige Wassereimer schleppen. Auch der schweigsame Remy setzte alles daran, seinen Schützling zu einem stählernen Kämpfer zu machen. Die Holzschwerter, mit denen sie anfangs gefochten hatten, wurden durch Übungswaffen ersetzt, die doppelt so schwer waren wie gewöhnliche Klingen, sodass es Nächte gab, in denen Conn kaum ein Auge zutun konnte, weil seine Muskeln und Knochen so schmerzten.

In der Gegend um Lucca schlug das Heer für mehrere Tage sein Lager auf, weil die Anführer mit dem Heiligen Vater zusammentrafen, der den Kreuzfahrern freudig entgegengezogen war.

Während dieser Zwangspause wurde Conn erstmals darin unterwiesen, vom Pferderücken aus zu kämpfen, und wie sich zeigte, erwies er sich als überaus gelehriger Schüler. Hatte es ihm zunächst noch Mühe bereitet, das Pferd nur durch den Druck seiner Schenkel und den Stich der Sporen zu dirigieren, waren ihm die Bewegungen inzwischen in Fleisch und Blut übergegangen. Und während Papst Urban den fürstlichen Heerführern persönlich für ihren Einsatz für die Christenheit dankte und sie mit flammenden Worten in ihrem Vorhaben bestärkte, lernte Conn, was es bedeutete, ein berittener Kämpfer zu sein und sich mit Lanze und Schild eines Angreifers zu erwehren. Immerzu schärfte Baldric ihm ein, dass seine Gegner ihm an Kampferfahrung weit überlegen sein würden, dass er mit Geschick und Schnelligkeit das ausgleichen musste, was er an Übung entbehrte – und Conn gab sein Bestes. An dem Tag, an dem die Anführer des Feldzugs den päpstlichen Segen erhielten, gelang es ihm zum ersten Mal, Remy durch ein gewitztes Manöver aus dem Sattel zu heben. Obwohl er bei dieser Gelegenheit einen Zahn verlor, hörte Conn den Normannen an diesem Abend zum ersten Mal lauthals lachen.

Zwar ließ Baldric auch weiterhin keine Gelegenheit aus, um Conn auf seine Schwächen und auf all das aufmerksam zu machen, was er noch zu lernen hatte; als der Heereszug jedoch Rom erreichte, unterbrach er die Übungen für einige Tage und nahm Conn auf eine Exkursion mit, damit er, wie er sich ausdrückte, die Wunder der Ewigen Stadt mit eigenen Augen schauen könnte. Baldric selbst, so erfuhr Conn, hatte schon vor vielen Jahren eine Pilgerfahrt dorthin unternommen, dabei jedoch nicht die Vergebung gefunden, die er sich von der Teilnahme am Feldzug erhoffte.

War Conn zunächst noch skeptisch, was die angeblichen Wunder von Rom betraf, so wurde er rasch eines Besseren belehrt. Die Befestigungen von London, das wurde ihm jetzt klar, waren nur ein schwacher Abglanz jener Macht und Größe, die das Römerreich einst besessen haben musste und von denen die trutzigen Türme und Mauern, die die Stadt in weitem Rund umgaben, noch immer kündeten.

Von Bertrand wurde er in groben Zügen über die bewegte Geschichte der urbs aeterna unterrichtet. Es versetzte sein unbedarftes Gemüt in atemloses Erstaunen, die Hinterlassenschaften jener Zeit zu erblicken: die Ruinen der Kaiserpaläste und von alten Tempeln, in denen heidnischen Gottheiten gehuldigt worden war; das Kolosseum, dessen schiere Größe den Turm von London schlicht verblassen ließ; die steinernen Gebäude, die wie graues Unkraut über den Hügeln wucherten; und schließlich die zahllosen Gotteshäuser, die ihre Türme in den wolkenlosen Himmel über der Stadt Petri reckten und von der irdischen wie der himmlischen Macht der Kirche Christi kündeten.

Vergangenheit und Gegenwart schienen in Rom zur gleichen Zeit zu existieren, ein Ort voller Überraschungen und, so kam es Conn vor, unbegreiflicher Mysterien. Wehmut erfasste ihn, als sie abends auf dem Palatin standen und auf das steinerne Meer zu ihren Füßen blickten, das im Licht der untergehenden Sonne zu glühen schien.

»Woran denkst du?«, wollte Baldric wissen, dem Conns Stimmung nicht verborgen blieb.

»An jemanden, den ich einst kannte«, erwiderte Conn.

Er hatte Baldric nie erzählt, was damals in London geschehen war, und gedachte es auch jetzt nicht zu tun. Nicht, weil er dem Normannen noch immer nicht über den Weg getraut hätte, sondern weil er sich insgeheim davor fürchtete, jene dunkle Kammer tief in seinem Inneren zu betreten, die er sorgsam verschlossen hatte.

»Jemanden?«

»Eine junge Frau.« Die Antwort reichte aus, um einen schmerzhaften Stich hervorzurufen. »Sie …«

»Ja?«, hakte Baldric nach, als Conn zögerte. Der Normanne wandte den Blick, das eine Auge schaute ihn fragend an.

»Sie sagte, dass die Welt außerhalb der Mauern Londons voller Wunder sei«, erwiderte Conn leise.

»Dann war sie entweder weitgereist oder trotz ihrer jungen Jahre sehr weise«, folgerte Baldric lächelnd.

»Das war sie«, bestätigte Conn. Für einen Moment versuchte er sich vorzustellen, wie es gewesen wäre, Nia in diesem Augenblick an seiner Seite zu haben, ihr all die Wunder zu zeigen, von denen sie stets gesprochen hatte. Traurigkeit befiel ihn, doch anders als noch vor einigen Wochen stürzte ihn die Erinnerung an Nia nicht mehr in tiefste Verzweiflung. Er erinnerte sich an das Versprechen, das er ihr gegeben hatte, und der Gedanke, dass er in diesem Augenblick ein wenig von jener Freiheit verspürte, die zu suchen sie ihm aufgegeben hatte, tröstete ihn.

Er hatte London verlassen.

Er bereiste ferne Länder, er sah Dinge, die er noch vor kurzer Zeit für unmöglich gehalten hätte. Und erstmals kam ihm der Gedanke, wenn auch nur für einen kurzen Augenblick, dass auf die Düsternis der Trauer irgendwann wieder helles Licht folgen könnte.

Conns Arm war geheilt, er fühlte sich gesund und war am Leben, und zum ersten Mal nach langer Zeit schöpfte er leise Hoffnung.

Von Rom aus folgte das Heer dem Verlauf der Via Appia, einer jener Hauptstraßen, die einst die Zentren des Römischen Reiches miteinander verbunden hatten. Teile des steinernen Bandes, das sich von Rom bis in die Hafenstadt Brindisium erstreckt hatte, waren über die Jahrhunderte immer wieder ausgebessert und auf diese Weise erhalten worden. Sie erleichterten das Vorankommen des Heeres und seines gewaltigen Trosses, der im Zuge des Marsches durch Italien noch weiter angewachsen war, ganz erheblich; andere Streckenabschnitte hingegen waren dem Verfall überlassen worden, sodass die Pflastersteine von Gras überwuchert wurden und der einstige Straßenverlauf nur noch zu erahnen war.

Als Anfang November heftiger Regen einsetzte und das Vorankommen zusätzlich erschwerte, rächten sich die Tage der Rast, die man in Lucca und Rom eingelegt hatte. Erst gegen Ende des Monats erreichte man Bari, wo Hunderte von Frachtschiffen bereitstanden, die das Kreuzfahrerheer nach Griechenland übersetzen sollten. Noch nie zuvor, nicht einmal in Genua, hatte Conn eine solche Anzahl von Schiffen erblickt, die in der grauen, von Wind und Regen trüben See um ihre Ankerketten dümpelten. Doch wie sich zeigte, war die Jahreszeit bereits zu weit vorangeschritten; die Mehrheit der Kapitäne, unter deren Befehl die Frachter standen, verweigerte die Überfahrt unter Verweis auf die gefährlichen Stürme, die das Meer im Winter aufzuwühlen pflegten und es zum feuchten Grab für all jene machten, die sich ihm leichtfertig auslieferten.

Über mehrere Tage hinweg blieb es ungewiss, ob die Heeresführer sich auf das Wagnis einlassen und die Seefahrer womöglich zwingen würden, ihre Arbeit zu tun. Schließlich besannen sie sich jedoch, und sowohl Herzog Robert als auch Stephen de Blois rückten mit ihren Einheiten nach Kalabrien ab, wo ihnen Marc von Tarent Zuflucht gewährte, der normannische Herrscher Süditaliens, der seinen angeblich sagenhaften Körperkräften entsprechend Bohemund genannt wurde, nach dem mythischen Riesen. Wie es hieß, sei Bohemund durch das Beispiel der Kreuzfahrer ebenfalls von religiösem Eifer erfasst worden und plane, im Frühjahr selbst an der Spitze einer Streitmacht überzusetzen. Lediglich Graf Robert von Flandern wollte nicht länger warten; indem er einigen Kapitänen hohe Belohnungen versprach, gelang es ihm, eine kleine Flotte zusammenzustellen, die ihn und seine Leute noch vor Jahresende nach Griechenland bringen sollte – und allen Gefahren zum Trotz langten die Schiffe wohlbehalten in Dyrrachium an.

Für die übrigen Kreuzfahrer setzte eine Zeit des Wartens ein. Inmitten der bewaldeten, von einzelnen Burgen gekrönten Hügel bezog man die Winterquartiere, die für die meisten Angehörigen des Heeres aus wenig mehr als einer Plane bestanden, die man über dem Boden spannte und mit der man Regen und Wind fernzuhalten suchte. Während die Edlen auf Burgen und Gehöften Unterschlupf fanden, deren Herren ihnen bereitwillig das Gastrecht gewährten, waren die einfachen Soldaten darauf angewiesen, sich selbst zu versorgen. Und so dauerte es nicht lange, bis sich die anfängliche Erleichterung über das vorläufige Ende des langen Marsches in Enttäuschung verwandelte. Zwar verstanden es einzelne Anführer, ihre Leute zu disziplinieren, indem sie regelmäßige Waffenübungen ansetzten. Aber die im Dezember noch weiter zunehmenden Regenfälle, die den Boden in Sumpfland verwandelten und Feuchtigkeit bis in den letzten Winkel dringen ließen, sorgten dafür, dass das Winterlager zu einer zermürbenden Prüfung wurde, der längst nicht alle Kreuzfahrer standhielten …

»Habt ihr gehört?«

Bertrands triefnasser Lockenkopf erschien im Eingang des behelfsmäßigen Zeltes, das Baldric für seine Leute und sich errichtet hatte. Draußen war es stockdunkel; weitere Regenwolken waren bei Einbruch der Nacht herangezogen und hatten Sterne und Mond verfinstert, sodass im Inneren des Zeltes schummriges, nur von schwachem Feuerschein durchbrochenes Halbdunkel herrschte.

Die Behausung selbst bestand aus einer großen Plane, die von Stangen gestützt wurde und an drei Seiten bis zum Boden heruntergezogen war, während die Rückseite aus einem zweckentfremdeten Heuwagen bestand, den die englischen Kreuzfahrer kurzerhand für sich reklamiert hatten. Es war keine sehr komfortable Bleibe, aber weitgehend trocken und geräumiger als die meisten anderen Unterkünfte. Die Mitte nahm eine Feuerstelle ein, über der Conn aus Wurzeln und etwas Getreide eine halbwegs sättigende Abendmahlzeit zuzubereiten versuchte. Remy kauerte am Boden und polierte sein Schwert; Baldric saß gegen den Heuwagen gelehnt, den wollenen Umhang um die Schultern gezogen, und schien wie so oft in tiefe Gedanken versunken. Von allen Kreuzfahrern, so kam es Conn vor, begegnete der einäugige Normanne den widrigen Bedingungen mit dem größten Gleichmut.

»Was sollen wir gehört haben?«, wollte Conn wissen, während er in der dünnen Suppe rührte und darauf wartete, dass der Hafer quoll.

»Die Lothringer stehen kurz vor Konstantinopel«, verkündete Bertrand die Neuigkeit, die er vermutlich in einem der Versorgungszelte aufgeschnappt hatte, die sich auf das Lager verteilten. Dort gab es Würfelspiel, Wein und all die anderen Dinge, mit denen sich der feiste Normanne die Zeit zu vertreiben pflegte.

»Verdammt«, sagte Remy, ohne von seiner Arbeit aufzusehen. Seine Brauen allerdings zogen sich finster zusammen.

»Verdammt?«, fragte Conn und schaute fragend zwischen den beiden hin und her. »Wieso? Was bedeutet das?«

»Das bedeutet, mein wie immer unbedarfter Freund, dass wir womöglich zu spät kommen werden, um Palästina zu befreien. Denn während wir hier sitzen und zur Untätigkeit verdammt sind, haben Herzog Godefroy und die Seinen den weiten Weg bereits zurückgelegt und befinden sich an der Pforte des Heiligen Landes.«

Conn biss sich auf die Lippen. Er hatte von den anderen Kreuzfahrerheeren gehört, die sich ebenfalls auf den Weg gemacht hatten, unter ihnen auch jenes von Godefroy de Bouillon, dem Herzog von Niederlothringen. Anders als die normannischen Fürsten war Godefroy jedoch bereits im Hochsommer aufgebrochen und hatte sich auf diese Weise wohl einen entscheidenden Vorsprung verschafft.

»Nun wird es nicht mehr lange dauern, bis Bouillon und die Seinen vor den Toren von Jerusalem stehen, sodass wir nur noch den Dung ihrer Pferde aufklauben können, statt uns mit den Schätzen des Orients zu beladen.« Bertrands Enttäuschung war ihm deutlich anzusehen.

Baldric, der bislang geschwiegen, den Wortwechsel jedoch aufmerksam verfolgt hatte, schickte seinem Gefolgsmann einen strengen Blick. »Wenn es Schätze sind, die du zu erwerben suchst, dann wärst du besser zu Hause geblieben«, beschied er ihm streng. »Hast du dich dieser Unternehmung deshalb angeschlossen, Bertrand?«

»Nein, natürlich nicht«, versicherte der Gescholtene beflissen und senkte das triefende Haupt wie ein gescholtener Köter. »Jedenfalls nicht ausschließlich. Aber die Männer reden nun einmal.«

»Worüber?«, wollte Baldric wissen.

»Nun – über das, was es in jenen fremden Ländern wohl zu holen gibt«, erklärte Bertrand mit einem zaghaften, um Vergebung heischenden Lächeln. »Natürlich geht es um unser Seelenheil und darum, der Christenheit zu dienen. Aber was ist falsch daran, sich dabei auch die Taschen zu füllen? Abgesehen davon, dass er einer heiligen Sache dient, ist dies ein Feldzug wie jeder andere, oder?«

»Wenn du das denkst, mein Freund«, erwiderte Baldric mit einiger Resignation in der Stimme, »hast du in den vergangenen Wochen nichts gelernt und deine Zeit verschwendet.«

»Offen gestanden fürchte ich das ohnehin.« Bertrand trat zum Feuer und streckte die Handflächen vor, um sie zu wärmen. »Nun, da Godefroy lange vor uns das Ziel erreicht hat und es erwiesen ist, dass wir zu spät kommen werden, frage ich mich …«

»Was?«, hakte Baldric nach, als der andere zögerte.

»Ob es überhaupt noch einen Sinn hat, hier zu bleiben«, rückte Bertrand kleinlaut heraus und starrte in den Topf mit der Suppe.

Conn hatte aufgehört zu rühren. Sowohl er als auch Remy schauten zu Baldric hinüber, halb erwartend, dass dieser wütend werden und die Beherrschung verlieren würde. Doch der Ritter blieb ruhig sitzen, während sein einzelnes Auge Bertrand musterte. »Was genau versuchst du mir zu sagen, Freund? Hat dich der Mut verlassen? Willst du lieber umkehren und nach Hause gehen?«

»Ich wäre beileibe nicht der Einzige, der so denkt«, entgegnete Bertrand, weiter in den Kessel stierend, von dem ein bitterer Geruch aufstieg. »Wie es heißt, haben letzte Nacht wieder zahlreiche Kämpfer das Lager verlassen.«

»Wie viele?«, fragte Baldric.

»Die Rede ist von fünfzehn, aber vermutlich sind es in Wirklichkeit noch sehr viel mehr.«

»Mutlose und Verblendete. Sie alle haben das Ziel dieses Unternehmens aus den Augen verloren.«

»Das allein ist es nicht«, gab Bertrand zu bedenken. »Die meisten dieser Männer haben sehr viel mehr verloren als nur ihr Ziel. Viele von ihnen haben Weib und Kinder zu Hause zurückgelassen. Andere hat dieser lange Marsch alles gekostet, was sie hatten. Ihre Mittel und Vorräte sind aufgebraucht.«

»Wie kommen sie dann zurück?«, fragte Conn.

»Sehr einfach, mein junger Diener«, erwiderte Baldric zähneknirschend und voller Abscheu. »Sie veräußern das Letzte, das ihnen noch geblieben ist – ihre Pferde, ihre Rüstung und sogar ihre Waffen.«

»Ist das wahr?« Conn hob die Brauen. Er konnte sich vorstellen, dass ein Ritter sein Pferd verkaufte, wenn es sich nicht vermeiden ließ – aber seine Waffen? Seine Rüstung? Gar sein Schwert? Wo war der Hochmut geblieben, wo der Stolz, den Conn den Normannen stets zugeschrieben hatte?

»Ich nenne auf dieser Welt nicht viele Dinge mein Eigen«, sagte Baldric leise, »aber ich würde sie ohne Zögern opfern, wenn ich mir dadurch ewiges Heil erwerben könnte. Jene hingegen stellen ihre Sehnsucht nach dem Schoß ihrer Weiber über die Sorge um ihre unsterbliche Seele. Und dafür«, fügte er mit einem bedeutsamen Blick in Bertrands Richtung hinzu, »verdienen sie Verachtung.«

Conn sah den Gescholtenen zusammenzucken. Bertrands sonst so unbekümmerte Züge waren erstarrt, die Wangen hohl und farblos. Mit einem Holzspan stocherte er in der Glut des Feuers.

»Habt ihr Narren denn geglaubt, dass es einfach werden würde?«, fragte Baldric. »Habt ihr gedacht, dass wir jedes Hindernis auf Anhieb überwinden würden?«

»Nein.« Bertrand schüttelte den Kopf. »Aber diese wochenlange Untätigkeit …«

»Und? Ist dir nie der Gedanke gekommen, dass Gott uns auf diese Weise prüfen könnte? Dass er unsere Geduld auf die Probe stellen und herausfinden will, ob wir der Aufgabe würdig sind? Dass er womöglich die Spreu vom Weizen trennen will, wie der Täufer es einst am Jordan ankündigte?«

Conn hatte wieder zu rühren begonnen, weniger, weil es ihm notwendig schien, sondern aus Verlegenheit. Wenn er ehrlich war, so musste er zugeben, dass er Bertrands Argumenten insgeheim recht gegeben hatte, zumal er sich nicht aus Überzeugung auf diesen Feldzug begeben hatte, sondern weil Baldric ihn praktisch dazu gezwungen hatte. Zu seiner eigenen Verblüffung stellte er jedoch fest, dass er darüber Reue empfand – und Beschämung. Die tiefe Überzeugung, die seinen Herrn erfüllte, war auch auf ihn nicht ohne Wirkung geblieben.

Baldric fuhr fort. »Es liegt nicht an mir zu beurteilen, ob ihr Spreu seid oder Weizen. Zumindest dies muss jeder von euch selbst entscheiden. Aber wie eure Entscheidung auch immer ausfallen wird, ich werde sie ohne Widerspruch annehmen. Keiner von euch ist mir etwas schuldig. Auch du nicht, Conn.«

»Herr?« Conn schaute verwundert auf.

»Vielleicht war es ein Fehler, dich mitzunehmen. Wenn schon meine engsten Vertrauten und Freunde am Sinn dieses Feldzugs zweifeln, um wie vieles mehr musst du dich dann nach deiner Heimat sehnen, der ich dich wider deinen Willen dazu verpflichtet habe?«

»N-nun«, stammelte Conn, der nicht wusste, was er darauf erwidern sollte, »ich …«

»Wenn es dein Wunsch ist, nach England zurückzugehen, dann geh«, forderte Baldric ihn auf. »Deine Schuld ist beglichen, ich werde dich nicht aufhalten.«

»Nein?«, fragte Conn vorsichtig.

Baldric schüttelte den Kopf. »Ich schenke dir die Freiheit. Es ist meine Gabe an dich in dieser Nacht.«

Conn blieb vor Staunen der Mund offen stehen. Eben noch war er Baldrics Knappe und Diener gewesen, mehr unfrei als frei, und nun plötzlich durfte er selbst entscheiden?

Einen erleichterten Atemzug lang genoss er die Vorstellung – bis ihm klar wurde, dass er sich längst entschieden hatte.

In England gab es nichts mehr, das eine Rückkehr lohnte. Der einzige Grund wäre Guillaume de Rein gewesen, aber der befand sich unter den Kreuzfahrern, auch wenn seine Bleibe wohl weniger zugig und seine Mahlzeiten fraglos großzügiger bemessen waren. Aber seltsamerweise war es nicht nur der Wunsch nach Rache, der Conns Entschluss bestimmte. Es war, wie er verwundert feststellte, eine gewisse Zuneigung, die er zu Baldric gefasst hatte.

»Ich danke Euch, Herr«, sagte er deshalb. »Aber ich will nicht zurück nach England.«

»Warum nicht?«

»Weil ich dort nichts gewinnen, aber alles verlieren kann«, gab Conn ohne Zögern zur Antwort. »Hier verhält es sich genau umgekehrt.«

Baldric starrte ihn lange an. Dann lachte der Normanne auf eine Weise, die erkennen ließ, dass er keine andere Antwort erwartet hatte. »Gut gesprochen, Knappe«, sagte er und nickte wohlwollend. »Und wie lautet deine Entscheidung, Bertrand?«

Der Angesprochene schaute zuerst zu Conn, dann zu Remy und schließlich zu Baldric. Dabei war im Feuerschein deutlich zu erkennen, wie sich seine Züge röteten. »Ich fürchte, unser junger Freund hat mir gerade eine Lektion erteilt. Verwünscht sei sein schlichtes angelsächsisches Gemüt.«

»Das reine Herz ist offen für die Wahrheit«, drückte Baldric es schmeichelhafter aus, und sie alle lachten – bis Glockenschlag zu hören war, den der Wind vom nahen Dorf herübertrug.

»Christ ist geboren«, sagte Baldric und ließ sich auf die Knie nieder, um sich zu bekreuzigen.

»Christ ist geboren«, bestätigten Bertrand und Conn und taten es ihm gleich, und selbst der gestrenge Remy legte sein Schwert zur Seite und beugte das Haupt.

Es war der Weihnachtsabend des Jahres 1096.