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3.
Adriatisches Meer
Elf Wochen zuvor
Conn war alles andere als wohl in seiner Haut – und das nicht, weil er zum zweiten Mal in seinem noch jungen Leben ein Schiff bestiegen hatte, das ihn einer weiten, ungewissen Ferne entgegentrug. Sondern weil die Planken unter seinen Füßen beständig schwankten und die Luft unter Deck so von Gestank durchsetzt und zum Schneiden dick war, dass er kaum noch Luft bekam. Dazu war ein Gurgeln und Brausen zu vernehmen, das aus tiefsten Tiefen zu dringen schien und ebenfalls nicht dazu angetan war, sein Vertrauen in das salandrium zu stärken, das sie im Vertrauen auf günstiges Wetter bestiegen hatten.
Ein Irrtum, wie sich nun zeigte.
»Schau an«, meinte Bertrand, der ihm in der Enge der Ladebucht gegenüber kauerte, an den leinenen Sack gelehnt, der seine wenige Habe enthielt. »Unser Angelsachse scheint das Reisen per Schiff nicht gut zu vertragen.«
»Unsinn«, beeilte sich Conn zu versichern, obwohl er merkte, wie das karge Frühstück, das er am Morgen zu sich genommen hatte, den Grund seines Magens verließ. »Es geht mir gut.«
»Genauso siehst du auch aus«, erwiderte der Normanne grinsend, dem weder die von Pferdedung durchsetzte Luft noch das unablässige Schaukeln etwas auszumachen schienen. »Nicht wahr, Remy?«
Sein hünenhafter Freund, der neben ihm auf den strohgedeckten Planken kauerte und den Kopf zwischen den angewinkelten Beinen hatte, um sich ihn nicht an der niedrigen Decke zu stoßen, gab ein beifälliges Knurren von sich, während er in stoischer Ruhe sein Schwert schliff. Verdrießlich fragte sich Conn, ob der tumbe Riese überhaupt mitbekam, was um ihn herum geschah.
»Wenn ihm das bisschen Seegang schon zusetzt, wie wird unserem jungen Angelsachsen dann erst das Schlachtgetümmel schmecken? Hast du schon einmal gegen einen wütenden Muselmanen gekämpft, Conwulf?«
Conn schüttelte gleichgültig den Kopf. Sein Magen machte ihm im Augenblick sehr viel mehr zu schaffen als irgendein Feind, der am anderen Ende des Meeres auf ihn warten mochte. Das Heilige Land und der Krieg gegen die Heiden waren noch sehr weit weg. Die aufsteigende Übelkeit hingegen sehr nahe.
»Lass ihn in Ruhe, Bertrand«, verlangte Baldric, der ebenfalls bei ihnen unter Deck saß. Andere Edle hätten das Meer vermutlich lieber durchschwommen, als auf einem salandrium zu reisen – er schien damit kein Problem zu haben. »Du hast auch noch nie im Leben gegen einen Ungläubigen gekämpft.«
»Das nicht, aber gegen starrsinnige Briten. Gegen barbarische Dänen. Und gegen rebellische Angelsachsen, die nicht wahrhaben wollten, dass die Zeit ihrer Unabhängigkeit vorüber war. Der Kampf gegen die Sarazenen sollte dagegen ein Kinderspiel sein.«
»Denkst du?« Baldrics einzelnes Auge musterte ihn. »Eines solltest du nicht vergessen, mein Freund: Die Muselmanen bevölkern jene Gebiete seit vielen hundert Jahren, und sie werden den Teufel tun, sie sich einfach wegnehmen zu lassen. Schon viel eher …«
Er hielt inne, als eine schwere Welle den Schiffsrumpf traf. Das Gurgeln verstärkte sich, die Holzbalken ächzten, jäh neigte sich das Deck.
Einige der Männer, die zusammen mit ihnen im Bugraum kauerten, in den die Zimmerleute noch zwei zusätzliche Decks eingezogen hatten, damit möglichst viele Menschen und Material transportiert werden konnten, schrien entsetzt auf, andere lachten derb. Die Pferde, die im Hauptladeraum untergebracht waren und die eigentliche Ladung des Schiffes darstellten, wurden unruhig. Zwar waren sie allesamt angeschirrt und in ihrer Bewegungsfreiheit eingeschränkt, jedoch konnte sie nichts daran hindern, laut zu wiehern, die Köpfe hin und her zu werfen und wild mit den Hufen zu stampfen, sodass manche der dünnen Bretterwände, die die Ladebucht unterteilten, splitternd zu Bruch gingen. Unter den Knechten, die zur Betreuung der Tiere abgestellt waren, brach hektische Betriebsamkeit aus. Stöcke in der einen und Hafersäcke in der anderen Hand, versuchten sie, die Tiere wieder zu beruhigen.
Vergeblich.
»Offenbar«, feixte Bertrand, »ist unser angelsächsischer Freund nicht der Einzige, der das Reisen zur See nicht verträgt. Sag, bist du ein Pferd, Conn?«
»Lieber ein Pferd als ein ständig maulender Esel«, entgegnete Conn trocken, und es war eine der seltenen Gelegenheiten, bei denen er Baldric grinsen sah. Selbst Remy gab, seiner unbeteiligten Miene zum Trotz, ein amüsiertes Blöken von sich, sodass auch Bertrand schließlich lachen musste.
»Deinen Witz hast du dir immerhin bewahrt, was angesichts unserer Umgebung nicht schaden kann«, sagte Bertrand.
»Willst du dich beschweren?«, fragte Baldric.
»Das nun gerade nicht. Obwohl ich auch nichts dagegen gehabt hätte, die Überfahrt ausschließlich in menschlicher Gesellschaft zu verbringen. Pferde und Maultiere entsprechen nicht gerade meinem üblichen Umgang.«
»Ein Hurenschiff gab es nun einmal nicht«, konterte Baldric. »Dies hier ist mehr als angemessen, schließlich sind wir demütige Pilger, nicht mehr und nicht weniger.«
»Genau wie die vierhundert armen Teufel, deren Boot kurz nach dem Auslaufen auseinanderfiel. Sie sind alle ertrunken …«
»… und ihre Seelen haben die ewige Ruhe und den Frieden bei Gott gefunden«, ergänzte Baldric gelassen. »Nicht zufällig waren ihre leblosen Körper, die in den darauf folgenden Tagen an Land gespült wurden, mit dem Zeichen des Herrn versehen.«
»So hieß es jedenfalls«, pflichtete Bertrand bei.
»Und daran glaubt Ihr, Baldric?«, fragte Conn.
»Warum nicht, Junge? Wenn wir unseren Glauben nicht mehr haben, was bleibt uns dann noch?«, entgegnete sein Herr.
Conn kam nicht dazu, über eine Antwort nachzudenken, denn das Schiff wurde erneut von einem harten Stoß getroffen. Wieder knarrte und knackte es, und das Deck neigte sich, diesmal zur anderen Seite.
Conns Magen krampfte sich abermals zusammen, und er verwünschte die launische See, die sich in diesem Jahr überhaupt nicht beruhigen zu wollen schien. Der Winter war längst zu Ende, trotzdem traten noch immer Stürme auf. Es gab Stimmen, die behaupteten, dies wäre ein Zeichen dafür, dass sich der Herr von den Kreuzfahrern abgewandt und dem Feldzug seine Gunst entzogen hätte. Nicht wenige Ritter und ihre Vasallen hatten in den vergangenen Wochen das Weite gesucht und die Rückreise in ihre Heimat angetreten. Baldric jedoch war überzeugt, dass auch dies nur eine weitere Prüfung des Allmächtigen war. Seine Überzeugung reichte aus, um auch Conns Zweifel zu zerstreuen.
Nur nicht die seines Magens.
Als wiederum ein Brecher das Schiff traf und es zur Seite kippte, diesmal so weit, dass einige der ledernen Riemen, die die Pferde hielten, aus den Verankerungen gerissen wurden und eines der Tiere freikam, hielt Conn es nicht mehr aus. Er spürte, wie der Inhalt seines Magens emporstieg, und hatte plötzlich das Gefühl, in der Enge des Zwischendecks zu ersticken.
Er brauchte Luft. Sofort!
Wie von einer Giftschlange gebissen, schoss er in die Höhe und stieß prompt an die niedrige Decke. Wie von einem Fausthieb getroffen, ging er zu Boden, dunkle Flecke vor Augen.
»Conwulf? Bist du in Ordnung?«
Baldrics besorgte Frage drang nur wie aus weiter Ferne an sein Ohr. Auf allen vieren kroch er zu der Leiter, die nach oben auf Deck führte. Dass er dabei über andere Kämpfer und deren Habe stieg, war ihm gleichgültig – ihre empörten Ausrufe und wüsten Beschimpfungen vermischten sich zusammen mit dem Knarren der Planken und dem Wiehern der Pferde zu einem undeutlichen Rauschen. Ein Schwall von Erbrochenem schwappte ihm über die Lippen, er war nicht mehr in der Lage, den Blick zu fokussieren. Atemnot plagte ihn, sein Pulsschlag raste, während er unbeirrt weiterkroch.
Er musste hinaus, brauchte Luft …
Fausthiebe trafen ihn, und irgendjemand hielt ihn fest, während sich das Schiff erneut zur Seite neigte. Irgendwo übergab sich jemand, und der Gestank wurde noch schlimmer. Conn trat zu, um sich zu befreien, schleppte sich weiter voran – und bekam endlich die Holme der grob gezimmerten Leiter zu fassen.
Hinaus, nur hinaus …
Conn brauchte einen Moment, um sich emporzuziehen und Tritt zu fassen, dann erklomm er Sprosse für Sprosse, auf Beinen, die weich wie Butter waren. Dabei würgte er und rang verzweifelt nach Atem. Womöglich hätte er das Bewusstsein verloren, wäre durch das Luk, das Tag und Nacht offen stand, um das Leben unter Deck einigermaßen erträglich zu machen, nicht frische Luft hereingedrungen. Conn sog sie gierig in seine Lungen. Ein Schwall Wasser traf ihn von oben, Salz brannte in seinen Augen. Dann hatte er das Ende der Leiter erreicht und schleppte sich hinaus auf das Vordeck.
Es war Nacht.
Heftiger Wind blies ihm entgegen, Regen peitschte ihm ins Gesicht. Auf Deck war die Hölle losgebrochen.
Eines der beiden Dreieckssegel, die das mächtige Rundschiff antrieben, war nicht rechtzeitig gerefft worden und hatte sich infolge des heftigen Windes losgerissen. Wuchtig schlugen die Seilenden hin und her, der Kapitän bellte heisere Befehle und wies die Mannschaft an, das Segel endlich einzuholen und das Deck zu sichern. Der Sturm schien die Seeleute völlig überrascht zu haben.
Auf zittrigen Knien wankte Conn zur Back und übergab sich. Schwallweise ergoss sich der Inhalt seines Magens in die gurgelnde pechschwarze See, während sich seine klammen Hände mit aller Macht an das von Regen und Gischt glitschige Holz krallten.
Irgendwann war sein Magen leer, und die würgenden Krämpfe, die ihn schüttelten, brachten nur noch bittere Flüssigkeit zutage. Mit dem Ärmel der Tunika wischte sich Conn den Mund und wollte sich von der Back abwenden, um wie ein geprügelter Hund zurück unter Deck zu schleichen. Doch just in dem Augenblick, da er sich umwandte, flog etwas auf ihn zu. In der Dunkelheit und im prasselnden Regen sah er etwas heranrauschen und riss instinktiv die Arme hoch, um es abzuwehren – zu spät.
Der hölzerne Block, der am Ende eines losgerissenen Seils befestigt war, traf ihn an der Schläfe, und das mit derartiger Wucht, dass Conn für einen Moment die Besinnung verlor. Der heftige Schmerz ließ sein Bewusstsein flackern wie eine Kerzenflamme, benommen wankte er zurück – und stieß gegen die nur hüfthohe Back. Noch ehe er recht zu sich kam, kippte sein Oberkörper bereits nach hinten. Er begriff, dass er sich festhalten musste, wollte er nicht kopfüber in die schäumenden Fluten stürzen, aber seine Hände griffen ins Leere – und er fiel.
Ein entsetzter Schrei entrang sich seiner Kehle, der jäh verstummte, als die Wogen ihn verschlangen. Conn tauchte in die kalte Dunkelheit, Erinnerung und Gegenwart vermischten sich für ihn. Hatte er dies nicht schon einmal erlebt? Oder erlebte er es gar noch immer? War nichts von dem, was er in den vergangenen Wochen gesehen und erlebt hatte, wirklich gewesen? Hatte sich alles nur in seiner Vorstellung abgespielt, in jenem schrecklichen Moment, da er auf der Flucht vor den königlichen Wachen in die ungewisse Tiefe gesprungen war? Lag Nias Tod in Wahrheit nur wenige Augenblicke zurück?
Er sah ihr Gesicht vor sich, nicht blutig und zerschunden, sondern lebendig und schön. Ihr schwarzes Haar. Ihre zarte, leicht gebräunte Haut, ihre dunkelbraunen Augen. Erst als Conn seine Lippen auf die ihren presste, erkannte er, dass es nicht Nia war, die er küsste, sondern eine andere junge Frau.
Chaya!
Wie ein Leuchtfeuer glomm ihr Name in der Dunkelheit auf und holte seinen verwirrten Geist ins Hier und Jetzt zurück. Erst jetzt spürte Conn seine brennenden Lungen und den nadelnden Schmerz des kalten Wassers. Er riss die Augen auf und konnte ringsum nichts als teerige Schwärze erkennen. Aber anders als damals, da er sich willenlos den Fluten ergab, wollte er nun leben!
Alle Kräfte einsetzend, die ihm noch verblieben waren, begann er wie wild mit den Armen zu rudern. Einen quälenden Moment lang glaubte er, dass seine Lungen ihn im Stich lassen und er es nicht schaffen würde, aber unvermittelt durchstieß er die Oberfläche und bekam wieder Luft.
Hastig sog er sie ein, bekam dabei einen Schwall Gischt ab, sodass er hustete und röchelte, während seine Beine gleichzeitig Wasser traten, damit er nicht unterging. Salz brannte in seinen Augen, und er konnte zunächst nichts sehen. Als sich seine Sicht wieder klärte, sah er sich rings von tosenden Wellenbergen umgeben, die sich zu riesigen Gebirgen häuften, um schon im nächten Moment wieder dunkle Abgründe zu öffnen, in die Conn gerissen wurde. Ein Sog erfasste ihn und zog ihn hinab. Es kostete ihn unbändige Kraft und Mühe, den Kopf über Wasser zu halten und dafür zu sorgen, dass das schwarze, ringsum brodelnde und schäumende Inferno ihn nicht wieder verschlang.
Erneut ging es hinauf in ungeahnte Höhen. Im einen Moment hatte es den Anschein, als wollte die See Conn geradewegs in den nächtlichen Regenhimmel ausspucken. Schon einen Herzschlag später jedoch stürzte er wieder in die Tiefe, fand sich von schwarzen Mauern umgeben, deren Zinnen aus weißer Gischt bestanden – und jenseits derer sich das Schiff befinden musste. Doch Conn hielt vergeblich nach dem salandrium Ausschau. Zu hoch waren die Wälle, die die Fluten aufschütteten, zu tief die Gräben, in die er fiel.
Die Orientierung hatte er längst verloren. Mit Armen und Beinen rudernd, war er verzweifelt damit beschäftigt, sich über Wasser zu halten. Das Schwimmen hatte er leidlich in einem kleinen Weiher gelernt, der so flach gewesen war, dass man darin unmöglich ertrinken konnte. Wie lange diese Kenntnisse – und seine Kräfte – ausreichen würden, um ihn über Wasser zu halten, war fraglich. Ächzend wühlte er sich aus einer Woge empor, die ihn unter sich begraben hatte, und stieß einen gellenden Schrei aus.
»Hilfe!«, brüllte er, heiser vor Erschöpfung. »So helft mir doch!« Aber der heulende Wind trug seine Stimme davon, und das Rauschen der Wellen übertönte auch noch den letzten kläglichen Rest.
Plötzlich konnte er sie sehen: die gedrungenen Formen des Schiffes, das der Gewalt des Sturmes trotzte. Steil bäumte es sich auf und kippte gefährlich zur Seite, vom losgeschlagenen Segel waren nur noch Fetzen übrig, die im Wind flatterten – und Conn erkannte, wie weit entfernt es bereits war.
Er begann zu schwimmen.
Mit aller Kraft, die ihm noch verblieben war, versuchte er, die Distanz zwischen sich und dem Schiff zu verkürzen, aber seine Hoffnung wurde grausam zunichtegemacht. Eine Welle schmetterte ihn in eine Senke, die so tief war, dass er das Schiff aus den Augen verlor. In verzweifeltem Zorn schrie Conn auf und schwamm abermals einige Züge, die ihn zwar an der Oberfläche hielten, ihn seinem Ziel jedoch kein Stück näher brachten. Im Gegenteil vergrößerte sich die Entfernung noch, denn als Conn den nächsten Blick auf das salandrium erhaschte, war es bereits dabei, mit dem Meer und dem nächtlichen Himmel zu verschmelzen.
»Baldric!«, brüllte Conn aus Leibeskräften gegen den Sturm und das Tosen. »Bertrand!«
Aber niemand hörte ihn, und im nächsten Moment verschwand das Schiff unaufhaltsam hinter dem Vorhang aus peitschendem Regen.
Unwiederbringlich.
Die Panik, die von Conn Besitz ergriff, war so abgrundtief wie das Meer unter seinen Füßen. Er fühlte sich unendlich klein und schwach, wie ein Staubkorn in der Unendlichkeit, dazu verurteilt, verloren zu gehen und einen elenden, unbedeutenden Tod zu sterben.
Plötzlich erblickte Conn etwas inmitten der schäumenden Wogen.
Ein Wasserfass!
Vermutlich war es nur unzureichend gesichert gewesen und über Bord gegangen. Da es zu einem guten Teil geleert war, schwamm es wie ein Korken obenauf.
Für das Schiff und seine Besatzung mochte der Verlust sich in Grenzen halten, womöglich würden sie ihn noch nicht einmal bemerken. Für Conn jedoch stellte dieses Fass ungleich mehr dar.
Es war ein Wunder.
Ein Fingerzeig Gottes.
Dankbar und verzweifelt zugleich schwamm er darauf zu. Eine Woge erfasste ihn, und einen Augenblick lang fürchtete er, erneut in eine andere Richtung getragen zu werden und das rettende Stück Holz zu verfehlen. Doch diesmal war das Glück auf seiner Seite.
Er erreichte das Fass und bekam es zu packen, umklammerte es wie einen alten, verloren geglaubten Freund – und das Fass bedankte sich für die erwiesene Zuneigung, indem es ihn einsam über Wasser hielt, die ganze Nacht hindurch, während der Sturm ihn davontrieb, hinaus in die eisige Dunkelheit und einem ungewissen Ziel entgegen.
»Und so bist du nach Hellas gelangt?«
Die sanfte Stimme Berengars, der neben ihm am Feuer saß, holte Conn in die Gegenwart zurück, wenn auch nicht sofort.
Es dauerte noch einen Moment, bis seine eigenen verzweifelten Schreie und das Tosen und Brausen in seinem Kopf verklungen waren. Erst dann nickte er bedächtig und fuhr mit tonloser Stimme fort: »Die ganze Nacht hindurch hielt ich mich wach und klammerte mich mit aller Kraft an das Fass. Mehrmals glaubte ich mich verloren, aber ich gab nicht auf. Und als der neue Tag heraufdämmerte, sah ich Land. Wie sich herausstellte, war es eine Insel …«
»Ithaka, nehme ich an.« Berengar, der in Geografie besser bewandert schien als Conn, wiegte nachdenklich das Haupt. »Das Eiland, von dem einst der wackere Odysseus zu seiner Irrfahrt aufbrach.«
»Wer?«, fragte Conn.
»Unwichtig.« Der Mönch lächelte. »Was ist dir dann widerfahren?«
»Fischer, mit denen ich mich mehr recht als schlecht verständigen konnte, brachten mich an Land, nachdem ich ihnen das einzige Geld gegeben hatte, das ich bei mir trug. Dann habe ich mich auf die Suche nach meinen Kameraden gemacht, sie aber nicht gefunden.«
»Das wundert mich nicht. Die Häfen, in denen die Kreuzfahrerschiffe anlanden, befinden sich allesamt viel weiter nördlich. Der Sturm muss dich nach Süden abgetrieben haben.«
»Also habe ich mich auf eigene Faust auf den Weg gemacht.«
»Ganz allein? In der Fremde?«
»Ich bin es gewohnt, auf mich gestellt zu sein.«
»Dennoch«, wunderte sich der Mönch, »wie konntest du überleben? Was hast du getrunken? Was gegessen?«
»Es gibt immer Wege«, antwortete Conn ausweichend – dass er einige Übung darin hatte, sich Dinge des täglichen Gebrauchs zu beschaffen, ohne dafür zu bezahlen, überging er geflissentlich. Berengar durchschaute ihn dennoch.
»Dann bist du entweder sehr geschickt oder hattest sehr viel Glück. Hellenen und Slavier kennen für gewöhnlich keine Nachsicht mit Dieben. Sie pflegen ihnen ohne Federlesens die Hände abzuhacken – und bisweilen auch andere Körperteile, wenn du verstehst.«
Conn verstand durchaus. »Ich bin am Stück geblieben«, erklärte er mit freudlosem Grinsen. »Nach zwei Wochen stieß ich schließlich auf einen versprengten Heerhaufen von Franzosen. Ihnen schloss ich mich an.«
»Fraglos Provenzalen. Die Barbaren haben ihnen hart zugesetzt«, sagte Berengar.
»Ich begleitete sie bis Thessalonicum. Von dort ging ich allein weiter, bis ich Anschluss an einen fränkischen Nachschubtross fand. Auf diese Weise gelangte ich hierher.«
»Meine Anerkennung.« Berengar schürzte die Lippen. »Viele, die weiß Gott besser gerüstet waren als du, haben den Marsch durch das feindliche Land mit dem Leben bezahlt. Du scheinst tatsächlich vom Glück begünstigt, mein Freund.«
Conn schaute auf und blickte dem Mönch offen in die schmalen, von einem wachsamen Augenpaar beherrschten Züge. »Sicher nicht«, sagte er so endgültig, dass Berengar nicht widersprach.
»Was willst du nun anfangen?«, fragte der Benediktinermönch stattdessen.
»Nach meinen Begleitern suchen. Ich hoffte, sie hier zu finden, aber …«
»Unsere normannischen Verbündeten haben das Lager vor zwei Wochen verlassen. Sie waren die letzten, die Byzanz erreichten, und hatten es entsprechend eilig, ihren Marsch fortzusetzen, um an der Belagerung Nicaeas teilzunehmen.«
»Kann ich mir denken«, meinte Conn, der unwillkürlich an Bertrands Sorge denken musste, der Krieg könnte zu Ende sein, noch ehe sie am Schauplatz des Geschehens angekommen wären. Was hätte er in diesem Augenblick darum gegeben, mit dem redseligen Normannen zu sprechen oder auch nur von ihm verspottet zu werden.
»Die Eroberung Nicaeas ist eine strategische Notwendigkeit«, erklärte Berengar weiter, der in militärischen Belangen nicht unbeschlagen schien. »Die Stadt ist stark befestigt und der Herrschaftssitz des Sultans von Rum. Von hier aus kontrolliert er den Zugang nach Anatolien – und damit auch zum Heiligen Land.«
»Ich verstehe«, sagte Conn nur. Strategische Erwägungen waren ihm einerlei. Er hatte sich nie um das große Ganze gekümmert. Sein Interesse war es vielmehr, zu überleben und seine Kameraden zu finden.
»Wie es heißt, steht Nicaea kurz vor dem Fall. Kaiser Alexios hat zweitausend seiner Krieger zur Unterstützung ausgesandt, und ein Angriff, den Sultan Kilidj Arslan zur Entlastung der Verteidiger unternommen haben soll, ist fehlgeschlagen. Angeblich hatten deine normannischen Freunde daran nicht geringen Anteil.«
Conn nickte. Er konnte sich gut vorstellen, wie der hünenhafte Remy sein Schwert über den Köpfen der Heiden kreisen ließ. Vorausgesetzt, er war überhaupt noch am Leben.
»In den nächsten Tagen wird ein Kontingent von Nachzüglern das Lager verlassen, um die Truppen vor Nicaea zu verstärken, Provenzalen und Lothringer. Ihnen solltest du dich anschließen, wenn du rasch zu deinen Leuten gelangen willst.«
»Das werde ich. Ich danke Euch.«
»Und?«, hakte der Mönch mit einem Lächeln nach, das unmöglich zu deuten war. »Brennst du schon darauf, deine Klinge in Heidenblut zu baden, junger Freund?«
»Sollte ich?«, fragte Conn dagegen.
Berengars Lächeln verschwand aus seinen Zügen. »Nein«, sagte er ebenso ernst wie entschieden. »Sicher nicht.«