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4.
Östliches Mittelmeer
Mitte Mai 1097
Die See glich einer endlosen Fläche aus stumpf gewordenem Metall, in das der Hammer eines dem Irrsinn verfallenen Schmiedes unzählige Dellen geschlagen hatte. Obschon die Sonne hoch am Himmel stand, reflektierte das graue Wasser das Licht kaum. Matt und trüb lag es da, träge und schier reglos unter einem wolkenverhangenen Himmel.
Die Brise, die von Westen wehte, war nur schwach, ein kläglicher Abgesang jener Stürme, die den Winter über gewütet und das östliche Mittelmeer in ein tosendes Inferno verwandelt hatten. Kaum merklich hob und senkte sich der Bug des kretischen Kauffahrers, den Isaac und Chaya in Heraklion bestiegen hatten, damit er sie nach Alexandretta brachte, jene Hafenstadt, von der aus es nicht mehr weit bis Antiochien war, dem eigentlichen Ziel ihrer Reise.
Da es auf einem ausschließlich von Männern besetzten Schiff fraglos sicherer war, gleichfalls als Mann zu reisen, hatte Chaya ihre Tarnung beibehalten, die inzwischen aus orientalischen Pluderhosen und einem weiten Mantel bestand. Dazu trug sie in der Manier kretischer Seeleute einen Turban um den Kopf geschlungen, der sich, wenn stechender Sonnenschein oder peitschender Wind es erforderte, auch um Hals und Nacken winden ließ.
Dergestalt verkleidet, scheute sich Chaya nicht, das Deck allein zu betreten. Die Matrosen kannten sie als Diener des Kaufmanns, der an Bord reiste, und würdigten sie kaum eines Blickes. Der alte Isaac hingegen sah es alles andere als gern, wenn sich seine Tochter von ihm entfernte und allein auf Deck herumtrieb, und so dauerte es meist nicht lange, bis er zu ihr trat, einen tadelnden Ausdruck im von Sorge gezeichneten Gesicht.
»Hier bist du«, murrte er, während er zu ihr auf das Bugkastell stieg, das sich über dem Vordeck des Kauffahrers erhob. Ein ähnlicher, noch etwas größerer Aufbau schwebte über dem Achterdeck und bildete nicht nur die Überdachung des Ruderstands, sondern verlieh dem Schiff auch ein trutziges, an eine Festung gemahnendes Aussehen, das Piraten und anderes Gesindel schon von Weitem abschrecken sollte.
»Hier bin ich«, bestätigte sie, ohne ihren Blick vom fernen Horizont zu nehmen. »Es gibt auf diesem Schiff nicht allzu viele Möglichkeiten, um sich zu verstecken.«
»Dennoch scheint mir, du hast sie alle gefunden«, konterte Isaac. Keuchend vom Aufstieg über die steile Treppe stützte er sich auf das Schanzkleid und schaute hinaus auf die See.
»Wie lange wird die Überfahrt noch dauern, Vater?«
Isaacs Augen verengten sich zu Schlitzen, während er in das fahle Licht der Morgensonne blickte, auf die das Schiff geradewegs zuhielt. »Kommt auf den Wind an. Kapitän Georgios sagt, dass wir Alexandretta unter günstigen Verhältnissen in drei Tagen erreichen können. Wahrscheinlicher sind vier bis fünf.«
»Und dann?«
»Von dort werden wir unsere Reise auf dem Landweg fortsetzen. Sicher gibt es eine Karawane, der wir uns anschließen können.«
»Und dann?«, fragte Chaya wieder. Es war nicht so sehr die Reiseroute, für die sie sich interessierte, sondern vielmehr der lederne Köcher, den ihr Vater auch an diesem Morgen unter dem Mantel trug und der sich dem Eingeweihten durch eine leichte Ausbeulung unter dem linken Arm verriet.
»Dann werden wir deinen Onkel aufsuchen. Ezra wird wissen, was mit … mit dem Buch zu geschehen hat.«
Chaya nickte.
Das Buch.
Noch immer nannte er es so, ohne ihr auch nur den geringsten Hinweis auf den Inhalt zu geben. Anfangs hatte sich Chaya von seinen Warnungen abschrecken lassen, hatte daran geglaubt, dass er sie beschützen wollte und es besser für sie war, wenn sie nicht wusste, wovon jene uralte Schrift tatsächlich handelte. Inzwischen jedoch überwog ihre Neugier bei Weitem, und sie hätte manches darum gegeben, endlich zu erfahren, wofür ihr Vater bereit war, alles hinter sich zu lassen, selbst seine leibliche Tochter.
»Vater«, setzte sie zu einem neuen Versuch an, vielleicht den einen oder anderen Hinweis aus ihm herauszulocken – als der Ausguck einen lauten Ruf vernehmen ließ.
Chaya schaute hinauf und sah den Mann im Krähennest heftig gestikulieren. Was er herunterrief, konnte sie nicht verstehen. Anders als ihr Vater, der der griechischen Sprache mächtig war und dessen Züge sich plötzlich verhärteten.
»Was ist?«, fragte Chaya.
»Schiffe«, sagte der alte Isaac nur.
Sie verließen beide das Bugkastell, überquerten das breite Oberdeck und enterten zur Achterplattform auf, wo Kapitän Georgios stand, die Arme in die breiten Hüften gestemmt und einen grimmigen Ausdruck in seinem von Salz und Sonne gegerbten Gesicht. Der Kreter war ein betagter Fahrensmann, der sich wohl bald zur Ruhe setzen würde. Seine schmalen, tief sitzenden Augen jedoch, die besorgt nach Süden blickten, waren so scharf wie die eines Falken.
In seiner Muttersprache gab der Kapitän etwas von sich, das eine Verwünschung sein mochte, denn er spuckte dabei aus und rieb sich das bärtige Kinn. Als er sah, dass seine beiden Passagiere zu ihm getreten waren, wechselte er in schlechtes Hebräisch, das er sprach, weil er öfter im Auftrag jüdischer Kaufleute segelte, die sich, obschon aus unterschiedlichen Ländern stammend, der alten Sprache als einem universellen Verständigungsmittel bedienten. »Das hat uns noch gefehlt. Erst diese wochenlangen Stürme, dann der schwache Wind. Und nun das.«
»Was?«, fragte Chaya, die am südlichen Horizont nicht mehr als ein paar dunkle, undeutliche Formen ausmachen konnte.
»Byzantinische Galeeren«, knurrte der Kreter und spuckte abermals in die See. »Dromone.«
»So weit im Osten?«, fragte Isaac verblüfft.
»Sieht ganz so aus.« Erneut spuckte der Kapitän in die See. »Offenbar genügt es Caspax nicht, jene Gebiete zurückzuerobern, die die Türken Byzanz entrissen haben.«
»Caspax?«, hakte Chaya nach, die den Namen nie zuvor gehört hatte.
»Der Befehlshaber der byzantinischen Flotte«, erklärte Georgios. »Kaiser Alexios hat ihn beauftragt, die verlorenen Städte und Inseln zurückzugewinnen, weshalb seit einigen Wochen Krieg in der nördlichen Ägäis tobt. Doch wie es scheint, gehen Caspax’ Pläne noch weiter – oder seine Unterführer ziehen es vor, auf eigene Faust Beute zu machen. In jedem Fall müssen wir schleunigst verschwinden.«
»Verschwinden? Warum?«
»Weil Caspax’ Kämpfer keine Männer von Ehre sind, sondern Söldner, die aus dem ganzen Reich zusammengetrieben werden und denen nur daran gelegen ist, sich die Taschen zu füllen. Wir wären nicht der erste Kauffahrer, den sie auf offener See kapern.«
»Was? Aber das … das ist …«
»Unrecht? Diebstahl?«, fiel Georgios ihr ins Wort und schaute sie herausfordernd an. »Mit beidem hast du recht, Junge. Aber bedauerlicherweise reicht mein Einfluss beim Kaiser nicht aus, um meine Beschwerde vorzutragen. Und weil das so ist, werde ich zusehen, dass ich möglichst viel Wasser zwischen mich und diese Wölfe der See bringe. Ist das klar?«
»Was wollt Ihr unternehmen?«, erkundigte sich Isaac ernst.
»Was wohl? Wir werden Abstand halten und nördlichen Kurs einschlagen.«
»Nördlichen Kurs? Aber das bringt uns nicht nach Alexandretta!«
»Schlau bemerkt, alter Mann.«
»Aber ich muss nach Antiochia, und das so rasch wie möglich. Ich habe ohnehin schon zu viel Zeit verloren!«
»Das nenne ich Pech«, konterte Georgios unbeeindruckt.
»Ihr könnt den Kurs nicht einfach ändern«, wandte Chaya ein, die die Verzweiflung ihres Vaters spüren konnte. »Wir haben Euch bereits für die Überfahrt bezahlt, und das überaus großzügig.«
»Das bestreite ich nicht. Dennoch werde ich nicht riskieren, meine gesamte Ladung und womöglich auch das Schiff zu verlieren«, gab der Kapitän bekannt, und die Endgültigkeit in seiner Stimme machte jede Hoffnung zunichte, er könnte es sich noch anders überlegen. Ohne seine beiden Fahrgäste noch eines weiteren Blickes zu würdigen, wandte er sich ab und bellte einen Befehl auf Griechisch.
»Attalia?«, fragte Isaac daraufhin entrüstet. »Ihr wollt Kurs auf Attalia nehmen?«
»Und mich im dortigen Hafen verstecken«, bestätigte Georgios und reckte herausfordernd das bärtige Kinn vor. »Oder habt Ihr einen besseren Vorschlag, alter Mann? Wenn Ihr nach Antiochia wollt, so gelangt Ihr von Attalia aus auch auf dem Landweg dorthin.«
Isaacs Züge wurden bleich, so als würde alles Blut aus ihnen weichen, seine knochigen Hände ballten sich in hilfloser Wut zu Fäusten. »Aber das wirft uns um weitere Wochen zurück!«
»Tut mir leid, alter Mann«, versicherte der Kapitän, während er bereits dabei war, das Achterkastell zu verlassen. »Aber ich habe Caspax nicht geheißen, in diesem Teil der Welt Krieg zu führen. In Zeiten wie diesen ist es am besten, sich zu verkriechen, bis sich der Sturm wieder gelegt hat. Je eher Ihr das einseht, desto besser ist es für Euch.«
Damit verschwand er, und Chaya und ihr Vater blieben allein auf der Achterplattform zurück, wie benommen vor Entsetzen. Der alte Isaac atmete hörbar, einmal mehr musste er sich stützen, um nicht niederzusinken. »Dieser Narr«, ächzte er dabei und schüttelte das gebeugte Haupt. »Er hat keine Ahnung, wovon er spricht. All das hätte nicht geschehen dürfen, niemals! Es hätte nicht geschehen dürfen. Niemals …«
»Vater?« Als Chaya hörte, wie der alte Isaac immer dieselben Worte wiederholte, in dumpfer Monotonie wie jemand, der eine Beschwörungsformel sprach, schaute sie ihn verwundert an – und sah den fiebrigen Glanz in seinen Augen. »Vater! Was ist mit dir?«
Isaac Ben Salomon wandte den Blick und starrte seine Tochter an, wobei sie das Gefühl hatte, dass er geradewegs durch sie hindurch schaute. »Chaya«, hauchte er, »sieh, was aus uns geworden ist! Wir sind dem Schicksal ausgeliefert, ein Spielball der Wellen. Mein … mein Auftrag …«
Chaya erfuhr nie, was ihr Vater hatte sagen wollen, denn ein Stöhnen entfuhr seiner Kehle, und seine hagere Gestalt verkrampfte sich. Noch einen Augenblick lang hielt er sich aufrecht, dann brach er bewusstlos auf den Planken zusammen.