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5.

Attalia

Zwei Wochen später

Wie sich gezeigt hatte, war Georgios nicht der einzige Kapitän, der sein Schiff lieber in einen sicheren Hafen gesteuert hatte, als es auf See einem ungewissen Schicksal auszusetzen.

Überall entlang der lykischen Küste drängten sich Kauffahrer und Handelsschiffe in den Häfen, die Schutz suchten vor dem Krieg, der draußen auf See entbrannt war. Und die Galeeren des Kaisers wiederum waren nicht die einzigen, die Tod und Zerstörung in diesen Teil der Welt trugen. Die Kreuzfahrer, deren Heere den langen Marsch nach Osten bewältigt hatten und nacheinander in Kleinasien eingetroffen waren, hatten das Seldschukenreich angegriffen und Nicaea erobert, und wie es hieß, unternahm der Sultan alles, um die Eindringlinge abzuwehren. Der Wahn, dessen zerstörerische Macht Chaya und ihr Vater bereits in Köln zu spüren bekommen hatten, hatte auch das Morgenland erreicht und drohte sie einzuholen.

In Attalia, wohin Georgios sein Schiff gelenkt hatte, fand Chaya Unterschlupf bei einer jüdischen Kaufmannsfamilie, die auch dem kranken Isaac Obdach gewährte. Nach seinem Zusammenbruch auf dem Schiff hatte er das Bewusstsein nur noch selten zurückerlangt, und wenn, dann nur für kurze Zeit oder von Traumbildern umfangen, die auch im wachen Zustand nicht von ihm ablassen wollten.

Ein rätselhaftes Fieber ergriff von ihm Besitz, das Chaya auch unter Aufbietung aller Heilkünste, die sie von ihrer Mutter erlernt hatte, nicht zu senken vermochte. Schließlich blieb ihr nichts anderes übrig, als die Silbermünzen ihres Vaters darauf zu verwenden, den Rat eines Arztes einzuholen. Auf Vermittlung der Kaufmannsfamilie kam sie an einen Mann namens Halikarnos, einen Griechen, der in Alexandrien Heilkunde studiert hatte und sich auf dem Weg nach Tarsus befand. Auch sein Schiff hatte einen sicheren Hafen angesteuert, sodass er vorerst in Attalia festsaß und dankbar für die Gelegenheit war, seine Kenntnisse in klingende Münze umzusetzen.

Meister Halikarnos untersuchte Isaac sorgfältig, konnte jedoch keine äußerlichen Gebrechen feststellen. Vielmehr kam er zu dem Schluss, dass der Zusammenbruch die Folge eines schwachen Herzens sei und das Fieber das Resultat ungezählter Strapazen, die den Kaufmann ausgezehrt hätten. Zudem war er der Ansicht, dass eine besondere Last auf Isaacs Seele ruhen müsse, und er ermahnte Chaya als dessen Diener dafür zu sorgen, dass sein Herr von Pflichten und Belastungen befreit werde. Chaya nickte nur und entgegnete nichts darauf. Hätte sie dem Arzt antworten sollen, dass ihr Vater eine uralte Schriftrolle hütete, deren Inhalt so geheim war, dass nicht einmal sie selbst ihn kannte?

Sie bekam Angst, nach ihrer Mutter nun auch noch den Vater zu verlieren, noch dazu inmitten unwirtlicher Fremde, deren Sprache und Gebräuche sie noch nicht einmal kannte. Tag und Nacht wachte sie an Isaacs Lager, kühlte seine glühende Stirn und legte ihm in Essig getränkte Verbände an, die die Hitze aus seinen Gliedern ziehen sollten. Dazu verabreichte sie ihm Kräuteraufgüsse und Tinkturen, die Halikarnos ihr gegeben hatte und von denen sie nur hoffen konnte, dass sie ihr Geld wert waren.

Eine Woche lang ging das Fieber nicht zurück.

Totenbleich lag der alte Isaac da, das weiße Haar hing in nassen Strähnen, Perlen von kaltem Schweiß übersäten die hohe Stirn. Sein Atem ging schwer, und immerzu formten seine Lippen unhörbare Worte, die auch dann nicht zu verstehen waren, wenn Chaya sich ganz zu ihm hinabbeugte. Bisweilen warf er den Kopf hin und her, so als wollte er die Albträume abschütteln, die ihn im Fieberwahn verfolgten. Dann ergriff sie seine klamme Hand und hielt sie fest, so als könnte sie seinen alten, gebrechlichen Körper auf diese Weise daran hindern, diese Welt zu verlassen.

Und Chaya betete.

Nicht immer waren es fromme Worte, die sie an den Herrn richtete, und so mancher Rabbiner hätte sie vermutlich dafür getadelt. Anklagend waren ihre Gedanken bisweilen, oft auch verzweifelt, und mitunter fragte sie nach dem Sinn, der hinter alldem stehen mochte. Gab es überhaupt einen? War es, wie ihr Vater stets behauptet hatte, tatsächlich Gottes Wille, der all dies geschehen ließ? Oder waren sie dem Zufall ausgeliefert, kleine Sandkörner in einer unendlichen Wüste, ihr Schicksal nicht von Belang?

Chaya fand keine Antworten auf diese Fragen. In ihrer wachsenden Verzweiflung blieb ihr nur, sich flehend an den Herrn zu wenden und sich ihm ganz anzuvertrauen als das zerbrechliche, schwache Wesen, das sie war – und der Herr schien sie zu erhören.

Am siebten Tag nach ihrer Ankunft in Attalia schlug ihr Vater erstmals wieder die Augen auf. Sie waren blutunterlaufen und lagen so tief in ihren Höhlen, dass Chaya Angst hatte, sie würden darin versinken. Aber sie nahm es als Zeichen der Besserung.

Zwar wütete das Fieber noch immer, doch ging es vor allem in den Nächten merklich zurück. Die Abschnitte, in denen der alte Isaac zu sich kam und mit fragenden Blicken um sich spähte, wurden zahlreicher und länger, und Chaya verstand zumindest eines der lautlosen Worte, die er immer wieder sprach.

Sefer.

Das Buch.

Chaya wusste nicht, ob sie erleichtert oder wütend darüber sein sollte, dass jener geheimnisvolle Auftrag, der ihn in die Ferne geführt hatte und letztlich der Grund für seinen Zustand war, ihn auch im Fieber noch verfolgte. Zorn erfüllte sie einerseits, wenn sie auf den Köcher blickte, der an einem Wandhaken neben dem Bett ihres Vaters hing, und sie fragte sich, wie ein solch unscheinbarer Gegenstand solche Opfer rechtfertigen konnte. Andererseits war sie froh darüber, ihren Vater überhaupt wieder sprechen zu hören, also antwortete sie ihm und sprach beruhigend auf ihn ein, wollte ihm den Weg zurück ins Leben weisen.

Eines Nachts – wieder hatte sie am Lager ihres Vaters gewacht und war irgendwann eingeschlafen – wurde sie unerwartet geweckt.

»Chaya?«

Jäh schreckte sie hoch. Ein Blick zu den kleinen Fenstern, die unterhalb der Decke in die Wand eingelassen waren, zeigte ihr, dass es draußen dunkel war. Die tönerne Öllampe auf der Truhe, die zusammen mit dem Bett und dem Schemel, auf dem Chaya kauerte, die einzige Einrichtung der kleinen Kammer bildete, war nicht erloschen. Folglich war noch nicht Mitternacht.

Jetzt erst erinnerte sich Chaya, dass eine Stimme sie geweckt hatte. Sie wandte sich ihrem Vater zu und stellte verblüfft fest, dass dieser sie anschaute. Und obwohl seine Augen glasig waren und von schwarzen Ringen umgeben, schien er seine Tochter zum ersten Mal wieder wirklich wahrzunehmen.

»Vater?«, fragte sie zaghaft.

Ein schwaches Nicken war Antwort und Belohnung zugleich.

»Wo …?«, wollte der alte Isaac fragen, aber das Sprechen schien ihm schwerzufallen. Ein schmerzhafter Ausdruck huschte über sein blasses Gesicht.

»In Attalia«, gab sie zur Antwort, und beruhigend fügte sie hinzu: »Wir sind in Sicherheit.«

Wieder nickte er. »Das Buch …«

»Es ist hier.« Sie nahm den Köcher vom Haken und reichte ihn Isaac, der ihn mit zitternden Händen entgegennahm.

»Versagt«, flüsterte er dabei. »Ich habe versagt.«

»Nein, das hast du nicht. Du musst nur wieder gesund werden und zu Kräften kommen, dann …«

»Versagt«, beharrte Isaac, wispernd wie der Herbstwind. »Tod und Zerstörung überall. Unsere Feinde sind uns gefolgt.«

»Nicht hierher, Vater.« Chaya schüttelte den Kopf. »Wir sind hier sicher«, betonte sie noch einmal.

»Nein, sie sind uns auf den Fersen. Sie wollen das Buch.«

»Das Buch, Vater?«

Der alte Isaac schaute sie an, und für einen Moment kam es ihr vor, als blitze in seinen Augen wieder der alte Scharfsinn auf. »Hast du dir je die Frage gestellt, Chaya, weshalb all dies in unserer Zeit geschieht?«

»Was meinst du, Vater?«

»Der neue Zorn gegen das Volk Israel. Dieser unselige Feldzug, der Tod und Verderben in das Morgenland trägt.«

»Doch, natürlich habe ich mich das gefragt. Aber ich habe keine Antwort darauf gefunden, denn Gottes Wille ist …« Sie unterbrach sich, als sie sein Mienenspiel bemerkte, den zugleich wissenden und verzweifelten Ausdruck von jemandem, der mehr wusste, als er sagen wollte. Instinktiv erriet sie seine Gedanken. »Du glaubst, dass es mit deiner Mission zusammenhängt? Mit dem Buch, das du bei dir trägst?«

»Ich weiß nicht mehr, was ich glauben soll, meine Tochter«, gestand Isaac leise und mit glänzenden Augen. »Am Anfang schien alles einfach zu sein, ein Auftrag, der mir erteilt wurde und den zu erfüllen ich geschworen hatte. Aber mit jedem Hindernis, das uns erwächst, reift meine Überzeugung, dass sich noch mehr dahinter verbergen muss.«

»Noch mehr? Wovon sprichst du, Vater?«

»Warum nur haben wir uns auf den Weg gemacht? Warum haben wir diese Reise begonnen?«

»Nun …« Chaya zögerte. Die Antwort schien so offenkundig, dass sie nicht sicher war, ob ihr Vater klaren Verstandes war oder einmal mehr im Fieber sprach. »Weil wir bedroht wurden, oder nicht? Weil das Buch im Reich nicht länger sicher war. So jedenfalls hast du es mir gesagt.«

»Und das dachte ich auch«, hauchte er. »Inzwischen jedoch frage ich mich …«

»Ja, Vater?«, hakte sie nach. Sie konnte sehen, wie er schwächer wurde, aber sie wollte eine Antwort, ehe der Abgrund des Fiebers ihn erneut verschlang.

»Wird unser Volk ohne jeden Grund angefeindet? Oder ist es, weil die Andersgläubigen die Gefahr fühlen, die ihnen droht?«

»Von uns?«, fragte Chaya stirnrunzelnd nach.

»Von dem Buch«, verbesserte ihr Vater. »Und von all jenen, die um sein Geheimnis wissen … Als mein Vater mir das Amt des Trägers übergab … Sagte mir, dass Rückkehr des Buches … Zeit der Veränderung … Frage mich, ob Zusammenhang … Hat begonnen …«

Chaya schüttelte den Kopf. Die Worte ihres Vaters wurden immer rätselhafter und zusammenhangloser. War es das Fieber? Oder versuchte er tatsächlich, ihr etwas zu sagen, das von großer Bedeutung war?

»Was hat begonnen, Vater? Ich fürchte, ich verstehe nicht.«

»Kalender der Christen … Ausgang des Jahrhunderts … kein Zufall. Dass Jerusalem erobern … alles fügt sich zusammen …«

»Was, Vater? Was fügt sich zusammen?« Chayas Unruhe wurde immer größer.

»Das Ende, Chaya«, ächzte der alte Isaac so leise, dass sie es fast von seinen Lippen lesen musste.

»Das Ende? Wovon?«

»Der Zeit«, gab ihr Vater kaum noch vernehmbar zur Antwort. Das Fieber und die Erschöpfung verlangten erneut Tribut, Müdigkeit breitete sich wie eine dunkle Decke über ihn. »Und dieser Welt.«

Trotz der Wärme einer klaren Sommernacht erschauderte Chaya bis ins Mark. »Ist es das, was du fürchtest?«, flüsterte sie und wagte kaum, das Undenkbare auszusprechen. »Das … das Weltgericht?«

Aber ihr Vater gab keine Antwort mehr.

Seine Augen waren geschlossen, sein Kopf zur Seite gefallen, seine Atemzüge keuchend, aber gleichmäßig.

»Vater?« Chaya berührte ihn sanft an der Schulter. »Sag es mir, Vater, bitte …«

Isaac blieb eine Antwort schuldig. Schlaf, der so tief war, dass er an Ohnmacht grenzte, hatte ihn erfasst, und Chaya konnte nur hoffen, dass es der ruhige, erholsame Schlaf der Genesung war. Die letzten Worte ihres Vaters jedoch wirkten nach wie eine bittere Medizin. Zur Sorge um den alten Isaac gesellte sich nun auch noch dumpfe Furcht aus dem tiefsten Grund ihres Herzens.

Das Ende der Welt.

War dies das Geheimnis, das das Buch von Ascalon enthielt? Verriet es, wo und wann das Weltgericht stattfand, jener Jüngste Tag, vor dem sich nicht nur Juden fürchteten, sondern auch Muselmanen und Christen? Stand er womöglich unmittelbar bevor?

Chaya spürte, wie sich ihr Pulsschlag beschleunigte. Ihr Gesicht wurde heiß, ihre Handflächen schwitzten. Sie musste Antworten bekommen, und da ihr Vater nicht in der Lage war, sie ihr zu geben …

Als ihr Blick den ledernen Köcher traf, der wieder über dem Bett an der Wand hing, erschrak sie über ihre eigene Entschlossenheit.

Nur einmal hatte sie versucht, das Mysterium zu ergründen und das geheime Buch zu lesen. Einen zweiten Anlauf hatte sie, sei es aus Respekt oder aus heimlicher Furcht, nicht unternommen. Die dunklen Andeutungen ihres Vaters jedoch ließen sie alle Bedenken vergessen. Chaya wollte die Wahrheit erfahren, und sie war nicht gewillt, sich noch länger davon abhalten zu lassen.

Was verbarg sich hinter dem Buch von Ascalon?

Sie beugte sich zu dem Köcher und nahm ihn vom Haken. Eine gefühlte Ewigkeit lang wog sie das unerwartet leichte Behältnis in den Händen und betrachtete das Siegel, das im flackernden Lichtschein zu erkennen war: den sechszackigen, ineinander verschränkten Stern, das Siegel Salomons, wie ihr Vater es nannte. Ehrfurcht ergriff von ihr Besitz, und einen flüchtigen Moment lang erwog sie, von ihrem Vorhaben abzulassen. Dann fasste sie sich ein Herz und öffnete den Verschluss der Kappe.

Chaya war bereits dabei, die ledernen Schnüre aus den Ösen zu ziehen, als ihr Vater sich regte.

Ein geräuschvoller Atemzug, eine ruckartige Bewegung – der Kopf des alten Isaac flog in die Höhe.

»Was …?«

Chayas Herzschlag wollte fast aussetzen. Wie versteinert kauerte sie auf dem Schemel, das verbotene Objekt in den Händen. Sie wartete darauf, dass sich ihr Vater zu ihr drehen und sie auf frischer Tat ertappen würde. Aber was auch immer Isaacs Ruhe gestört haben mochte, es war nicht von langer Dauer. Er murmelte einige unverständliche Worte, dann schloss er die Augen und sank zurück auf das strohgefüllte Lager. Schon einen Atemzug später war er wieder eingeschlafen.

Rasch klappte Chaya die Verschlusskappe des Behälters auf und griff hinein. Sie konnte die dünne Haut von Pergament fühlen, die hölzernen Stäbe, auf die es gerollt war. In einem jähen Entschluss zog sie es heraus und hielt eine Schriftrolle in Händen, die auf den ersten Blick nichts Ungewöhnliches an sich hatte.

Weder war sie mit besonderen Verzierungen versehen, noch war sie versiegelt. Im Grunde, so dachte Chaya enttäuscht, unterschied sie sich in nichts von jenen unzähligen Listen und Aufstellungen, die ihr Vater im Arbeitszimmer des Handelskontors aufbewahrt hatte. Sollten sich Daniel Bar Levi und der alte Isaac am Ende geirrt haben? Waren sie einem Betrug aufgesessen?

Chayas Ehrfurcht wich und mit ihr das Gefühl, etwas Verbotenes zu tun. Ohne zu zögern drehte sie an den Stäben und entrollte das Pergament.

Am Schriftbild konnte sie erkennen, dass das Buch von talentierter Hand, wenn nicht gar von der eines berufsmäßigen Sofers verfasst worden war. Jeder einzelne Buchstabe wirkte wie ein Kunstwerk und war von einer Ausgewogenheit und Harmonie, wie sie sonst nur auf Thorarollen anzutreffen war. Dazu war die Schrift von einer ungewohnten, altertümlich anmutenden Art, wie Chaya sie noch nie zuvor gesehen hatte. Auf geradezu unwiderstehliche Weise fühlte sie sich von den alten Zeichen angezogen.

Einzelne Worte stachen ihr ins Auge und fanden in ihr Herz, und im flackernden Licht der Öllampe begann sie zu lesen.