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8.
Anatolisches Hochland
Mitte Juli 1097
Es war mörderisch.
In englischen Sommern, wenn die Sonne gegen Mittag ihren höchsten Stand erreicht und mit ihren Strahlen die Gassen von London in ein Labyrinth aus wabernder Schwüle und bestialischem Gestank verwandelt hatte, hatte Conn geglaubt zu wissen, was Hitze war.
Ein Irrtum, wie er hatte einsehen müssen.
Erst zwei Wochen lag die Schlacht im Tal des Kara Su zurück, die die Kreuzfahrer siegreich für sich entschieden hatten. Dennoch kam es Conn vor, als wäre seither eine Ewigkeit vergangen.
Noch ganze zwei Tage lang hatten sie am Wegesrand die Leichen gefallener Türkenkrieger vorgefunden, die auf der Flucht erschlagen oder von Pfeilen getroffen worden waren. Nachdem sie Dorylaeum hinter sich gelassen hatten, war es hinauf gegangen in die Weite des anatolischen Hochlandes, das sich als schier endlose Wüstenei erwies, die dem durchziehenden Heer weder Obdach noch Nahrung bot – und das nicht nur, weil die Sonne erbarmungslos vom Himmel brannte und das ohnehin schon trockene, von Staub und Sand bedeckte Land am Tage in einen wahren Glutofen verwandelte; sondern auch, weil die Seldschuken sich unter ihrem Sultan Kilidj Arslan auf ihrer Flucht nach Süden gewandt hatten und dem Kreuzfahrerheer vorauseilten. Wohin sie auch kamen, hinterließen sie verbrannte Erde und totes Land.
Die Straße, die noch aus römischer Zeit stammte und sich als steinernes Band durch die karge Landschaft zog, passierte unzählige Dörfer und kleine Städte, deren Hütten jedoch allesamt abgebrannt oder niedergerissen worden waren; auf den Äckern, die dem kargen Boden mit viel Mühe abgetrotzt worden waren, lag nichts als graue Asche; wohin man auch schaute, verwesten die Kadaver von Schafen, Ziegen und Eseln in der Sonne, deren Gestank sich zusammen mit dem bitteren Brandgeruch zu einem scheußlichen Odem des Todes vermischte. Mitunter waren am Straßenrand auch Lanzen aufgepflanzt, auf denen die Köpfe abgeschlachteter Dorfbewohner steckten, Christen zweifellos, die man umgebracht hatte, damit sie den Kreuzfahrern keine Unterstützung gewähren konnten.
Anfangs hatte sich unter den Kreuzfahrern noch Empörung über solche Gräuel geregt, und man hatte sich ereifert über die Barbarei der Heiden und ihnen blutige Rache geschworen. Doch mit jedem Tag, an dem die Männer marschierten und nichts anderes zu sehen bekamen als verwesende Körper und verbranntes Land, mit jeder Siedlung, die sie zerstört vorfanden, und mit jeder Stunde, da die Sonne vom Himmel brannte, wurden die Schreie nach Vergeltung weniger. Den Kreuzfahrern wurde klar, dass ihnen inmitten des anatolischen Hochlands eine harte Prüfung bevorstand.
Die Euphorie des Sieges, die sie noch in den ersten Tagen begleitet hatte, ließ spürbar nach. Beklemmung breitete sich aus, und dies nicht nur des grauenvollen Anblicks wegen, der sich den Männern und Frauen des Zuges bot, sondern auch, weil die Vorräte, die man auf Kamelen und Ochsenkarren mitführte, schon nach der ersten Woche aufgezehrt waren und man begriff, dass das verwüstete Land das Heer nicht ernähren würde.
Man war auf sich gestellt.
Dreißigtausend Seelen, umgeben von Hitze und Ödnis. Und Tod.
Als der erste Kämpfer leblos vom Pferd fiel – ein lothringischer Ritter, der in Ermangelung von frischem Wasser seinen brennenden Durst mit vergorenem Wein gestillt hatte –, war das Aufsehen noch groß gewesen, und manche hatten geglaubt, in diesem ungewöhnlichen Vorfall ein Zeichen des Herrn zu erkennen.
Inzwischen war das Bild von Männern und Frauen, die während des Marsches zusammenbrachen, und von Reitern, die infolge der mörderischen Hitze tot aus den Sätteln stürzten, trauriger Alltag geworden. Zuerst traf es die Schwachen: Frauen, Alte und Kinder. Später jedoch hielt der Tod auch unter den Soldaten reiche Ernte: Überhitzung, Durst, Hunger, Durchfall oder das Gift von Schlangen und Skorpionen – das Ende, so mussten die Kreuzfahrer erkennen, kam rasch in diesen Breiten, ohne dass der heidnische Feind sich auch nur ein einziges Mal blicken ließ.
Berengar, der neben Conn in der Kolonne marschierte, die sich als schier endloser Wurm über die staubige Straße schleppte, bekreuzigte sich, wann immer sie den Leichnam eines jener Unglücklichen passierten, die beizusetzen man weder Zeit noch die nötige Kraft hatte.
Und er bekreuzigte sich oft in diesen Tagen …
»Möge der Herr sich eurer Seelen erbarmen«, murmelte er, als sie den Leichnam einer jungen Frau passierten, die offenbar vor ihrer Zeit niedergekommen war. Ein lebloses Bündel lag in ihren Armen, das sie selbst im Tode noch an sich zu pressen schien. Blut tränkte ihr zerschlissenes Kleid und den Boden.
Conn schaute weg. Er ertrug den Anblick nicht, zumal er Erinnerungen weckte, die er …
»Was hast du, Conwulf?«, wollte Berengar wissen.
»Nichts«, antwortete Conn knapp. Infolge des brennenden Dursts war seine Zunge angeschwollen und erschwerte das Sprechen.
Im Schatten der Kapuze, die er hochgeschlagen hatte, um sein Haupt vor den sengenden Sonnenstrahlen zu schützen, huschte ein freudloses Lächeln über die Züge des Mönchs. »Ich sehe, du bist dabei, dieselben Erfahrungen zu machen, die auch ich schon machen musste. Du solltest dich vorsehen, Conwulf, sonst könnte es sein, dass deine Seele Scha…«
Ein Stück weit vor ihnen gab es plötzlich Unruhe.
Ein Maulesel, dem das Gepäck aufgebürdet worden war, das zuvor zwei Tiere getragen hatten, brach blökend zusammen. Sein Besitzer, ein Ritter, der offenbar auch schon sein Schlachtross eingebüßt hatte und den Sattel zusammen mit dem Schild auf dem eigenen Rücken trug, riss an den Zügeln und versuchte verzweifelt, das Maultier zum Aufstehen zu bewegen, aber es konnte nicht mehr. Es würde qualvoll verenden wie so viele andere, denn wo den Menschen kaum noch etwas blieb, bekamen die Tiere erst recht nichts mehr.
»Ich habe nicht erwartet, dass es so sein würde«, gestand Conn, als sie das kraftlos mit den Hufen schlagende Tier passierten. Die Nüstern des Maulesels blähten sich unaufhörlich, Schaum stand ihm vor dem Maul, während sein Besitzer ihn mit Flüchen überschüttete.
»Niemand hat das«, meinte Berengar. »Wir alle haben uns diese Unternehmung wohl leichter vorgestellt, hatten keine Ahnung, welcher Art die Prüfungen sein würden, denen der Herr uns aussetzt – und dabei haben wird das Heilige Land noch nicht einmal erreicht.«
»Jemand sagte mir einst, dass Gott auf diese Weise die Spreu vom Weizen zu trennen pflegt«, erwiderte Conn leise. »Die Unwürdigen von den Würdigen.«
»Ein schöner Gedanke. Aber was ist mit den Kindern, die dieser Tage hungers sterben? Mit den Frauen, die niederkommen und ihre Neugeborenen zurücklassen müssen, weil ihr Busen ausgetrocknet ist? Sind sie deshalb unwürdig? Was, wenn am Ende nur Spreu übrig bleibt, Conwulf? Was dann?«
Conn wusste keine Antwort. Er hatte Baldric nur zitiert, um überhaupt etwas zu sagen und die Leere in seinem Inneren mit etwas zu füllen. »Was fragt Ihr mich?«, knurrte er deshalb. »Ihr seid der Prediger von uns beiden! Ist es nicht Eure Aufgabe, all dies hier zu erklären und einen Sinn darin zu sehen? Und was ist mit den Vorzeichen, von denen Ihr damals gesprochen habt? Dem drohenden Unheil?«
»All diese Zeichen hat es gegeben, aber wie alle Zeichen obliegen sie unserer Deutung. Was, wenn es sich in Wahrheit um eine Warnung gehandelt hat und wenn das angekündigte Unheil bereits dabei ist, über uns hereinzubrechen?«
Conn starrte den Mönch fassungslos an. Derlei Überlegungen hatte er bislang nie angestellt, und es erstaunte ihn, sie ausgerechnet aus dem Mund eines Predigers zu hören. Aber ließen sich Berengars Worte einfach von der Hand weisen? War bei alldem, was ihnen auf diesem Todesmarsch widerfuhr, auszuschließen, dass sie verdammt waren? Dass Gott sie alle strafen wollte?
Offenbar konnte Berengar sehen, dass der Gedanke Conn ängstigte, denn seine Züge wurden ein wenig milder. »Warum hast du dich dem Feldzug angeschlossen, Conwulf? Willst du dir dein Seelenheil erwerben? Oder geht es dir um weltlichen Ruhm?«
»Weder noch«, gab Conwulf zu.
»So bist du auf Beute aus wie dieser Hitzkopf Tankred und seine italischen Kumpane?« Der Benediktiner schürzte die Lippen. »Ich muss zugeben, das hätte ich nicht von dir gedacht. Du machst mir nicht den Eindruck eines Mannes, der für Gold und Geschmeide kaltblütig töten würde.«
Conn starrte zu Boden und erwiderte nichts. Hätte er es getan, hätte er mehr von sich preisgeben müssen, als er wollte und als gut für ihn war. Sollte Berengar ihn lieber für einen gewissenlosen Söldner halten …
»Hast du schon versucht, deine Freunde zu finden?«, wechselte der Benediktiner abrupt das Thema.
»Ja, aber es ist mir noch immer nicht gelungen. Ich hoffe nur, sie sind noch am Le…«
»Wasser!«, rief in diesem Augenblick ein Soldat, der zur Linken auf einem Hügel auftauchte und heftig gestikulierte, um auf sich aufmerksam zu machen. »Wir haben eine Quelle entdeckt!«
Das Wort allein genügte, um Conn einen Schauer über den Rücken zu jagen. Den letzten Schluck Wasser hatte er am Tag zuvor getrunken; es hatte schal und abgestanden geschmeckt, aber immerhin war es kühl und flüssig gewesen. Seither hatte er alles Mögliche unternommen, um seinen Körper am Austrocknen zu hindern, hatte seinen eigenen Schweiß aufgeleckt und den spärlichen Tau gesammelt, der sich am Morgen niederschlug, hatte den Saft aus dem Fleisch von Kakteen gesogen, soweit noch welche zu finden gewesen waren. Die Aussicht auf belebendes Nass jedoch ließ ihn und alle anderen in der Marschkolonne aufhorchen.
»Wasser!«
Wie ein Lauffeuer verbreitete sich die Neuigkeit. Schon waren die Ersten dabei, aus der Marschordnung auszubrechen und die Anhöhe hinaufzustürmen, allen voran ein Ritter, der sein Schlachtross verloren hatte und nun auf einem Ochsen ritt. Es war ein seltsamer Anblick: Der Reiter auf seinem gehörnten Tier voraus, dicht gefolgt von staubigen, abgerissenen Gestalten, von denen einige mehr tot aussahen als lebendig. Die Vorstellung von frischem, lebensspendendem Wasser jedoch verlieh ihnen ungeahnte Kräfte.
Ein bizarrer Wettlauf setzte ein, und plötzlich hielt auch Conn es nicht mehr aus. »Kommt, Pater«, raunte er Berengar zu, und im nächsten Moment eilten auch sie im Laufschritt den Hügel hinauf. Auf der anderen Seite fiel das Gelände steil ab und mündete in eine schmale Schlucht, an deren Ende es tatsächlich eine Wasserstelle gab. Ruhig und spiegelglatt lag sie da und schien nur darauf zu warten, den brennenden Durst der Kreuzfahrer zu stillen.
Schon hatten die ersten sie erreicht und warfen sich am Ufer zu Boden, formten mit zitternden Händen behelfsmäßige Gefäße oder benutzten ihre Helme dazu, das rettende Nass zu schöpfen. Auch der Ochsenritter hatte sich bereits niedergelassen und trank in gierigen Schlucken. In dem Moment jedoch, als auch Conn und Berengar den Teich erreichten und sich im allgemeinen Gedränge einen Platz suchen wollten, verfiel der Ritter in lautes Kreischen. Würgend und spuckend fuhr er zurück, auf die Mitte des Pfuhls deutend. Auch andere Soldaten, die bereits getrunken hatten, schrien erschrocken auf und prallten zurück – und Conn sah, was der Grund für die plötzliche Aufregung war.
Mitten im Teich, dort, wo die Oberfläche das Tageslicht spiegelte und man den Grund deshalb kaum sehen konnte, lagen die Kadaver mehrerer halb verwester Tiere im Wasser!
»Gift! Gift!«, brüllte jemand. »Die Heiden haben die Wasserstelle vergiftet!«
Conn und Berengar wichen zurück. Der anfängliche Jubel war jäh verstummt, Schreie der Wut und der Enttäuschung waren zu hören, in die sich das Würgen jener mischte, die in ihrer Not von dem verdorbenen Wasser getrunken hatten und sich nun übergaben, hoffend, dass sie daran nicht zugrundegehen würden.
Dann breitete sich beklommenes Schweigen aus – und mit ihm die bittere Erkenntnis, dass es auch an diesem Tag nichts zu trinken geben würde. Und der Marsch durch das öde, trostlose Land war längst nicht zu Ende.