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12.
Ebene von Tarsus
September 1097
Das Land war wild und weit, und im orangeroten Licht des späten Tages schien es zu glühen.
Nach Norden hin wurde die Ebene von steil aufragenden Felsen begrenzt, deren Gestein die Farbe von Blut angenommen hatte. Riesigen steinernen Wächtern gleich schienen sie jene schmale Pforte zu hüten, die das zerklüftete Hochland Kilikiens mit dem Meer verband, das weit im Süden als ferner Dunst zu erahnen war.
Conn atmete innerlich auf.
Nach der schrecklichen Trockenheit und Dürre des Hochlands tat es gut, wieder Büsche und Bäume zu sehen, auch wenn sie karg und anders geformt waren als zu Hause. In der warmen Luft glaubte er einen Hauch von salziger Frische zu spüren, sodass die Müdigkeit ein wenig von ihm abfiel und seine Knochen trotz des langen Ritts nicht mehr ganz so schmerzten.
»Also wirklich«, meinte Bertrand, der neben ihm im Sattel saß und die Strapazen weitaus besser wegsteckte. Sein Helm hing am Kinnriemen am Sattelknauf, sein wirres dunkles Haar flatterte im Abendwind und umrahmte sein breites Grinsen. »Für einen Angelsachsen, der gleichsam über Nacht zum Normannen wurde, sitzt du inzwischen gar nicht schlecht auf dem Gaul.«
»Findest du? Ich komme mir eher vor wie ein Ochse beim Eiertanz.«
»Ein schöner Vergleich«, lachte Bertrand, »zumal ein Ochse von Eiern ebenso wenig Ahnung haben dürfte wie ein Angelsachse vom Reiten.«
»Lass ihn in Ruhe, Bertrand«, mahnte Baldric, der sein schnaubendes Ross an Conns andere Seite lenkte. »Einen Gebirgspass auf dem Rücken eines Pferdes zu bezwingen ist immer eine Herausforderung. Conwulf hat seine Sache mehr als gut gemacht.«
»Danke«, zeigte sich Conn für das Lob erkenntlich – anerkennende Worte kamen seinem einstigen Herrn, der unversehens zu seinem Adoptivvater geworden war, ohnehin nur selten über die Lippen.
»Aber du musst deine Haltung im Sattel verbessern«, fügte Baldric hinzu, wobei sein einzelnes Auge Conn kritisch taxierte. »Sitz aufrecht und nimm die Schultern zurück. Oder soll Bertrand etwa doch noch Recht bekommen?«
Trotz seiner schmerzenden Knochen und des schweren Kettenhemdes, das seine Schultern nach unten zog, straffte sich Conn augenblicklich, was Bertrand einen weiteren Schwall gackernden Gelächters entlockte. Baldric nickte grimmig, gab seinem Pferd die Sporen und schloss wieder zur Spitze des unter seinem Kommando stehenden Spähtrupps auf, zu dessen einundzwanzig Mann auch Conn, Bertrand, Remy und Berengar gehörten.
Conn unterdrückte eine Verwünschung. Den Namen eines normannischen Ritters zu tragen war eine Sache – seine Rüstung zu tragen noch einmal etwas ganz anderes. Bislang hatte er stets zu Fuß gekämpft und folglich nur kurzes, bis zu den Oberschenkeln reichendes Rüstzeug zu tragen gehabt. Wenn Conn auf dem Pferd saß, bestand Baldric jedoch darauf, dass auch er das lange Kettenhemd eines normannischen miles trug, das bis zu den Knien reichte und an Vorder- und Rückseite geschlitzt war, um das Sitzen im Sattel zu erleichtern. Zusammen mit dem gepolsterten Untergewand, das die Franken gambeson nannten, und dem schweren, mit Nasenschutz versehenen Spangenhelm bot diese Rüstung zwar den denkbar besten Schutz gegen feindliche Schwerthiebe und Pfeile, die aus dem Hinterhalt abgeschossen wurden; jedoch zahlte man bei glühender Hitze und anstrengenden Aufstiegen für diese Sicherheit einen hohen Preis.
»Bereust du es schon, der Sohn unseres Herrn Baldric geworden zu sein?«, erkundigte sich Bertrand, der einen leichteren Plattenpanzer byzantinischer Bauart trug. Infolge des entbehrungsreichen Marsches durch Kappadokien und des Scharmützels mit den Türken, in das die Kreuzfahrer bei Herakleia verwickelt worden waren, bestand kein Mangel an Rüstungen und Waffen, die neue Besitzer suchten – ein halbwegs brauchbares Schwert war für fünf oder sechs Silberstücke zu bekommen, ein Schild schon für drei. »Dabei bist du selbst schuld. Hättest du wie unser guter Vater Berengar den weltlichen Dingen entsagt, wäre es dir erlaubt, mit leichterem Gepäck zu reisen.«
»Das ist ein Irrtum, mein Freund«, rief der Mönch, der zusammen mit Remy hinter ihnen ritt und jedes Wort gehört hatte. »Meine Kutte mag weniger wiegen als eine Rüstung, dafür trage ich die Bürde schwerer Verantwortung.«
»Tatsächlich?« Bertrand drehte sich im Sattel um. Seine kleinen Schweinsäuglein blitzen dabei listig. »Und was für eine Verantwortung, lieber Pater, sollte das sein? Meint Ihr etwa Eure Sprachkenntnisse im Kauderwelsch der Muselmanen, derentwegen man Euch diesem Erkundungstrupp zugesellt hat?«
»Mitnichten, Freund«, entgegnete der Mönch mit mildem Lächeln, »gleichwohl ich zugestehe, dass ich die Zungen des Ostens leidlich beherrsche, nicht nur jene der Türken, sondern auch die der Syrer und Juden. Freilich nur als Gottes bescheidener Diener.«
»Freilich«, bestätigte Bertrand feixend.
»Die Verantwortung, von der ich spreche, besteht darin, über verwirrte Seelen zu wachen und sie vor dem Untergang zu bewahren.«
»Wessen Seelen meint Ihr?« Wissbegierig, fast angriffslustig reckte Bertrand das Kinn vor. »Etwa unsere?«
»Nun«, konterte der Benediktiner gelassen, »es wäre nicht das erste Mal, dass Kämpfer, die das Kreuz genommen haben, den Pfad der Tugend verlassen, oder?«
Das, wusste Conn, war nur zu wahr, selbst Bertrand konnte nicht widersprechen. Der lange Marsch und die bestandenen Kämpfe hatten eine hohe Zahl von Opfern gefordert, daran hatten auch die ruhigen Tage von Iconium nichts ändern können. Nicht nur die Zahl der Kreuzfahrer war gemindert worden, sondern auch ihre Moral. Viele, die sich dem Unternehmen in frommer Begeisterung angeschlossen hatten, waren ernüchtert aus ihrem Traum erwacht und hatten feststellen müssen, dass sie nicht nur sich selbst, sondern oft auch ihre Familien, ihre Frauen und Kinder in den sicheren Tod geführt hatten. Manche waren daran verzweifelt und hatten den Verstand verloren, andere waren mehr denn je in religiösem Eifer entbrannt und hatten sich geheimen Bündnissen angeschlossen. Wieder andere schienen alle Ideale in den Weiten der anatolischen Steppe verloren zu haben und nahmen nur noch am Feldzug teil, um sich selbst zu genügen. Plündernd fielen sie über den Feind her und bereicherten sich mit weltlichen Gütern, wenn das Himmelreich ihnen schon verschlossen schien.
Und nicht nur die einfachen Kämpfer und niederen Ritter zweifelten, sondern auch jene, die den Oberbefehl über diese größte aller christlichen Unternehmungen führten.»Schließt nicht vom Teil auf das große Ganze, Pater«, belehrte Bertrand ihn säuerlich. »Ein Fisch beliebt stets zuvorderst am Kopf zu stinken, dann erst am Schwanz.«
»Tankred ist Normanne wie Ihr, oder nicht?«, wandte Berengar ein.
»Das ist wahr – ein Sohn des guten Odo und ein Enkel Robert Guiscards, dessen hitziges Gemüt er geerbt zu haben scheint.«
»Dann teilt Ihr seine Auffassung also nicht? Ihr seid nicht der Ansicht, dass wir den Weg durch die porta cilicia wählen sollten?«
Conn verstand weniger von Politik als seine beiden wackeren Mitstreiter, aber er wusste, dass diese Frage im Mittelpunkt des Zwists stand, der im Fürstenrat entflammt war.
Nachdem man in Iconium Kraft geschöpft hatte, war man gen Osten weitergezogen. Bei Herakleia war es erneut zu einem Zusammentreffen mit dem muselmanischen Feind gekommen, den man nach einem ebenso kurzen wie heftigen Gefecht jedoch wiederum vertrieben hatte, und man war weiter bis Tyana marschiert. Von dort aus jedoch boten sich zwei Möglichkeiten, um vom Hochland hinab nach Syrien vorzustoßen: Zum einen der direkte Weg, der über die Ausläufer des Taurus und durch eine schmale Schlucht führte, die weithin als die »kilikische Pforte« bekannt war, da sie den Zugang nach Kilikien und zur Stadt Tarsus öffnete, die in der Geschichte der Apostel als die Geburtsstätte des Heiligen Paulus genannt wurde; zum anderen bot sich die Marschroute über das weit im Nordosten gelegene Caesarea an, die zwar einen beträchtlichen Umweg bedeutete, die schwer zugänglichen Pässe jedoch mied und durch das überwiegend von Christen bevölkerte armenische Bergland führte, wo man nicht mit Widerstand zu rechnen hatte. Über Marash würde man in das Tal des Orontes gelangen und brauchte dem Fluss dann nur noch zu folgen, um Antiochia zu erreichen, das nächste große Ziel des Feldzugs.
Die Meinung darüber, welche Richtung man einschlagen sollte, war unter den Anführern geteilt. Während die meisten Franken, allen voran Godefroy de Bouillon und Raymond de Toulouse, im Hinblick auf die bereits erlittenen Verluste dem weiteren, aber größere Sicherheit versprechenden Weg den Vorzug gaben, sprachen sich andere, unter ihnen Godefroys Bruder Baldwin de Boulogne und der ehrgeizige Normanne Tankred, vehement dafür aus, den direkten Weg nach Süden zu nehmen, ganz gleich, wie hoch die Verluste auch sein mochten. Zwar war es ein offenes Geheimnis, dass beide weniger den Erfolg der Unternehmung als vielmehr ihren eigenen Vorteil im Blick hatten und die reiche Beute, die die kilikischen Städte versprachen, auf sie einen größeren Reiz ausübte als die Aussicht auf ihr Seelenheil, doch war beider Einfluss und ihr Rückhalt unter ihren Rittern zu bedeutend, als dass sie einfach hätten übergangen werden können. Folglich war man übereingekommen, einen Spähtrupp auszusenden, der die kilikische Pforte erkunden und dem Fürstenrat berichten sollte. Kein anderer als der erfahrene Baldric war ausgewählt worden, diese Reiterschar anzuführen. Was die Späher allerdings vorgefunden hatten, war mehr als ernüchternd gewesen.
»Niemand, der bei Verstand ist, kann die porta cilicia ernsthaft in Erwägung ziehen«, mischte Conn sich in den Wortwechsel der beiden Freunde ein. »Die Schlucht mit dem Hauptheer zu durchqueren würde bedeuten, es völlig zu entblößen. Der Feind bräuchte sich nur in den Bergen zu verstecken und uns zu erwarten.«
»Nanu?«, fragte Bertrand und musterte ihn in gespieltem Erstaunen. »Sollte sich unter diesem Helm und diesem strohfarbenen Haar tatsächlich etwas Verstand verbergen?«
»Denkt Ihr anders darüber, Bertrand?«, wollte Berengar wissen.
»Mitnichten, Pater«, erwiderte der Normanne mit dem alten Grinsen. »Der Weisheit, die aus den Worten unseres angelsächsischen Freundes sprach, habe ich nichts hinzuzufügen. Und ich denke, dass es auch genau das ist, was unser Herr Baldric den Fürsten ber…«
Plötzlich waren von der Spitze des Trupps laute Rufe zu vernehmen. Conn und seine Gefährten tauschten fragende Blicke, dann gaben sie ihren Tieren die Sporen und schlossen zu Baldric auf, vornweg die beiden Normannen, dann Conn und schließlich der Mönch, der ein mageres, aber zähes Maultier ritt.
»Was gibt es?«, wollte Conn wissen, als er sein Tier neben Baldric zügelte. Von dem Hügelkamm aus, auf dem sie Halt gemacht hatten, konnte man das angrenzende Tal überblicken. Es wurde von einem schmalen Fluss durchzogen sowie von einer Straße, die dem Lauf des Wassers folgte. Verstreute Büsche und Bäume säumten die Straße, hohe Zypressen und gedrungene Kiefern, die seltsam geformte Schatten warfen – und in diesen Schatten wälzte sich eine Karawane über das steinerne Band der Straße: Kamele und Esel, die schwer beladen waren, dazu Reiter auf Pferden und Maultieren, die wie ein Schwarm Hornissen um den Zug schwirrten.
Da die meisten der Reiter mit langen, wehenden Mänteln bekleidet waren und Tücher um ihre Köpfe trugen, erkannte Conn nicht sofort, was sich dort unten abspielte. Als der Wind jedoch Schreie herauftrug und man im gleißenden Sonnenlicht Waffen blitzen sah, da wurde es nur zu offensichtlich.
»Das ist ein Überfall!«, rief Conn aus, während er sehen konnte, wie einer der Reiter kopfüber aus dem Sattel stürzte. Seine weiße Robe war rot gefleckt von Blut.
»Gott stehe diesen armen Seelen bei«, murmelte Berengar und bekreuzigte sich.
»Was sollen wir tun?«, fragte Conn aufgeregt und riss sein Schwert heraus. Seine Unruhe übertrug sich auf sein Pferd, das schnaubend hin und her tänzelte. »Ihnen zu Hilfe kommen?«
»Ich weiß nicht.« Bertrand, der dem Treiben ungerührt zuschaute, rieb sich das bärtige Kinn. »Eigentlich ist es eine schöne Abwechslung, den Muselmanen einmal dabei zuzusehen, wie sie sich gegenseitig umbringen.«
»Ist das dein Ernst?«, fragte Conn. Soeben fielen einige der Angreifer über eine Schar von Kameltreibern her, die nur mit ihren Stöcken bewaffnet waren und ihnen nichts entgegenzusetzen hatten. Einer nach dem anderen fiel unter den Schwerthieben der Räuber, grässliche Schreie erklangen. »Baldric! Was sollen wir tun?«
Der Anführer des Trupps antwortete nicht. Mit unbewegten Gesichtszügen saß er im Sattel, den Blick starr auf das Massaker gerichtet, das sich vor ihnen abspielte. Aber Conn hatte nicht den Eindruck, dass sein Ziehvater tatsächlich sah, was dort unten vor sich ging. Vielmehr schien das eine Auge Baldrics in eine andere Zeit zu blicken, in ferne Vergangenheit.
»Verzeiht, Herr, wenn ich Eure Gedanken störe«, ließ Berengar sich vernehmen. »Ich will nicht in Abrede stellen, dass wir fremd sind in diesem Land und die Heiden unsere Feinde – doch sollten wir nicht unterscheiden zwischen denen, die Waffen tragen und uns bekämpfen, und denen, die friedfertiger Gesinnung sind? Vergesst nicht, dass Räuber wie diese auch friedliche Christenpilger angegriffen haben.«
Es war, als würde Baldric aus einem Traum erwachen. Er fuhr hoch, der Blick seines Auges kehrte ins Hier und Jetzt zurück. »Ihr habt recht«, sagte er nur – und gab den Befehl zum Angriff.
Ein Ruck durchlief die Reihen der Reiter, dann sprengten sie den Abhang hinab, Baldric voraus, dicht gefolgt von Conn und den anderen. Die Lanzen, an denen das Kreuzbanner flatterte, wurden angelegt, sodass eine Phalanx tödlicher Eisenspitzen auf die Räuber zuflog – und sie schon kurz darauf ereilte.
Einer der Angreifer, ein baumlanger Kerl, der sich in eine dunkle Robe gehüllt und bis zur Unkenntlichkeit vermummt hatte, verfiel in heiseres Gebrüll, als er die Kreuzfahrer heranjagen sah. Dann wurde er von Baldrics Lanze durchbohrt.
Mit der Wucht eines Orkans fuhren die Kämpfer des Spähtrupps in den Pulk der Räuber und trieben ihn auseinander. Hufschlag dröhnte, Pferde wieherten, Lanzen splitterten und gellende Schreie erklangen, als Kreuzfahrer und Räuber aufeinandertrafen. Einige der Vermummten ergriffen sofort die Flucht. Andere setzten ihr Mordhandwerk fort, noch immer darauf aus, rasche Beute zu machen. Wieder andere stellten sich zum Kampf. Staub stieg auf, und ein wildes Handgemenge entbrannte, in dem Conn Mühe hatte, sich zurechtzufinden.
Den Schild am Arm und das Schwert in der Hand, dirigierte er sein Pferd mit den Schenkeln, was ihm mehr schlecht als recht gelang – und sah sich unvermittelt einem Feind gegenüber. Der Mann war vermummt wie die anderen, nur seine Augen waren zu sehen, aus denen kalte Mordlust blitzte. »Grünschnabel«, brüllte er Conn entgegen, »hast du es so eilig mit dem Sterben?«
Conn kam nicht dazu, sich darüber zu wundern, dass der andere Französisch sprach, denn schon hieb der Vermummte auf ihn ein. Conn riss den linken Arm mit dem Schild nach oben und spürte die Erschütterung, als die Klinge des Angreifers darauf traf. Er führte sein Schwert in einem engen Bogen und wollte zum Gegenangriff übergehen, aber sein Gegner war im Sattel weit geschickter und hatte sich bereits außer Reichweite gebracht. Schnaubend drehte sich sein Pferd auf der Hinterhand herum, und Conn sah sich auf der anderen, ungeschützten Seite einer wilden Attacke ausgesetzt.
Er parierte den Schwertstreich mit der eigenen Klinge, versuchte den Gegner zurückzudrängen, der sein Tier eng an das seine herangebracht hatte. Ein wilder Schlagabtausch entbrannte, bei dem jeder dem anderen einen Vorteil abzuringen suchte. Die Klingen trafen dabei nur selten aufeinander, es war ein wüstes Hauen und Stoßen, das jener Eleganz, die Conn bei den seldschukischen Kriegern vor Dorylaeum ausgemacht hatte, völlig entbehrte. Wieder flog der Stahl seines Gegners heran, und Conn duckte sich im Sattel, um dem Hieb zu entgehen, jedoch etwas zu spät. Die Klinge traf seinen Helm und fegte ihn vom Kopf, sodass dieser nun ungeschützt war. Der Vermummte ließ höhnisches Gelächter vernehmen und wollte ein zweites Mal zuschlagen, doch Conn reagierte, indem er mit der Schildhand nach dem Zügel griff und sein Pferd dazu brachte, sich aufzubäumen.
Wiehernd stieg der Hengst in die Höhe und schlug mit den Vorderhufen, woraufhin der Angreifer ausweichen musste. Verschreckt trieb er sein eigenes Tier zurück, um den Hufen zu entgehen, aber das Pferd kam ins Straucheln und ging nieder.
Mit einer Verwünschung kippte der Vermummte aus dem Sattel und fand sich auf dem Boden wieder. Das weite Gewand, das er trug, hinderte ihn daran, sogleich wieder aufzuspringen und sich zu verteidigen. Conn nutzte die Chance. Als der Räuber wieder auf die Beine kam, stand Conn bereits vor ihm, die Klinge zum Stoß erhoben. Der Vermummte versuchte noch, seinen Schild zu heben, aber zu spät – Conns Klinge fuhr in seine Eingeweide. Der Mann verharrte wie versteinert, der Blick seiner Augen trübte sich. Dann kippte er rücklings zu Boden, wo er seinen letzten Atemzug tat.
Conn stand über ihm, schwer atmend und am ganzen Leib bebend. Ihm war klar, wie knapp und wie wenig glanzvoll sein Sieg gewesen war. Aber wenn er eines auf diesem Feldzug gelernt hatte, dann dass am Ende nur das Überleben zählte.
Der Kampf war entschieden.
Die Vermummten hatten entweder die Flucht ergriffen oder lagen erschlagen in ihrem Blut. Auch unter den Treibern und den Wachleuten der Karawane hatte es Opfer gegeben, die Kaufleute selbst hingegen schienen weitgehend unverletzt zu sein. Von den Kreuzfahrern hatte nur ein einziger das Gefecht mit dem Leben bezahlt, die übrigen waren mit mehr oder minder leichten Blessuren davongekommen, so wie Baldric, an dessen Schläfe ein dünner Blutfaden herabrann.
»Alles in Ordnung?«, erkundigte er sich vom Rücken seines Pferdes aus, das er vor Conn zügelte. Auch Bertrand und Berengar, der sich während des Kampfes im Hintergrund gehalten hatte, kamen herbei.
Conn blickte auf die blutige Klinge in seiner Hand und auf den leblos vor ihm liegenden Gegner. »Ich denke ja«, antwortete er, dann trat er auf den Gefallenen zu und löste das Tuch um seinen Kopf.
Was darunter zum Vorschein kam, entsetzte ihn – denn wider Erwarten waren es nicht die fremdländisch anmutenden Züge eines Türken oder Arabers.
»Es … es ist einer von uns!«, rief Conn fassungslos aus, als er in die totenbleiche Miene blickte.
»Ich habe es auf den ersten Blick gesehen«, erwiderte Baldric bitter. »Ihre Art, im Sattel zu sitzen und das Schwert zu führen, hat sie verraten. Aber das ist noch längst nicht alles. Sieh dir seine Rüstung an.«
Conn zerrte den Umhang des Toten herab. Kettengeflecht und ein Abzeichen kamen darunter zum Vorschein, das stilisiert war, aber deutlich zu erkennen.
»Er trägt das Kreuz«, entfuhr es Berengar in ehrlichem Entsetzen. »Er ist ein christlicher Ritter!«
»Genau wie alle anderen, die die Karawane angegriffen haben«, bestätigte Baldric. »Sie sind Kreuzfahrer, genau wie wir.«
»Also ist es wahr«, folgerte Bertrand wütend. »Tankred hat bereits Männer durch die Pforte geschickt, ohne die Entscheidung des Fürstenrates abzuwarten. Deshalb treiben sie diesen absonderlichen Mummenschanz und verhüllen ihre Gesichter.«
»Das wissen wir nicht«, gab Baldric zu bedenken. »Es könnten auch andere gewesen sein. Ich habe von einer Gruppe von Rittern gehört, die sich ›Tafur‹ nennen. Nur wenig ist über sie bekannt, aber wie es heißt, sind sie auf Blut und Beute aus.«
»Wie so viele andere«, fügte Berengar hinzu. »Furcht und Verzweiflung sind es, die solche Gesinnung hervorzubringen pflegen.«
»Der Fürstenrat muss davon erfahren«, war Conn überzeugt.
»Das wird er«, stimmte Baldric zu, »aber ich denke nicht, dass sich dadurch etwas ändern wird. Tankred und Balwin sind nicht …«
Ein schriller Schrei war plötzlich zu vernehmen, der den Normannen verstummen ließ. Conn fuhr herum und sah, dass er sich geirrt hatte. Der Angriff der Verräter hatte doch nicht nur unter den Kameltreibern und den Wachsoldaten Opfer gefordert. Einer der Kaufleute lag ebenfalls im Sand, der sich rings um ihn dunkel färbte – und entsetzt stellte Conn fest, dass er den Mann kannte.
Mit einem Aufschrei des Entsetzens fiel Chaya neben ihrem Vater nieder, der in gekrümmter Haltung auf dem Boden lag, die Hände auf die klaffende Wunde pressend, die quer über seine schmale Brust verlief. Blut tränkte seine Robe, sein Antlitz war aschfahl geworden, die Augen tief darin versunken.
»Vater! Vater!«
Das Maultier, auf dem der alte Isaac gesessen hatte, war durchgegangen, als die Räuber angriffen, und so hatten sie einander aus den Augen verloren. Verzweifelt hatte Chaya sich selbst in Sicherheit zu bringen und dabei gleichzeitig nach ihrem Vater Ausschau zu halten versucht, ihn inmitten von Staub und Getümmel jedoch nicht ausmachen können. Erst jetzt fand sie ihn.
Zu spät.
»Vater«, schluchzte Chaya abermals, während sie verzweifelt überlegte, wie sie die Blutung stillen konnte. Aber das wenige, was ihre Mutter ihr über die Heilkunst beigebracht hatte, würde nicht ausreichen, um die Wunde zu verschließen, die die Klinge des Mordbrenners geschlagen hatte. Der alte Isaac war dem Tod geweiht, der schon jetzt mit klammer Hand nach ihm griff.
»Chaya«, murmelte der Kaufmann, wobei seine blutigen Hände nach den ihren tasteten. Seine Augen waren leer, und sie wusste nicht, ob er sie überhaupt noch sehen konnte.
»Ich bin hier, Vater«, flüsterte sie deshalb und ergriff seine Hände – und erschrak insgeheim darüber, wie kalt sie bereits waren. Dennoch schien ihn die Berührung zu beruhigen. Sein Atem, eben noch keuchend und stoßweise, wurde gleichmäßiger.
»Sei … sei nicht traurig, mein Kind«, presste er mühsam hervor. »Ich werde deine Mutter wiedersehen … werden wieder vereint sein vor Gottes Angesicht.«
»I-ich weiß, Vater«, hauchte sie. Tränen quollen aus ihren Augen.
»Bedaure nur, dass Mission nicht zu Ende … nun an dir, Aufgabe zu erfüllen …« Er ließ sie los und wühlte sich mit bebenden Händen unter seine zerschlissene Robe. Als sie wieder zum Vorschein kamen, umklammerten sie den Köcher mit dem Buch von Ascalon. Das Leder war blutbesudelt. »Nimm es an dich, Tochter. Nun ist es an dir … zu Ende zu bringen, was vor langer Zeit begonnen …«
»Aber ich bin kein Träger wie du, Vater«, wandte Chaya entsetzt ein. Der Gedanke, mit dieser Aufgabe allein und auf sich gestellt zu sein, ängstigte sie zu Tode.
»Doch, das bist du«, widersprach der alte Isaac. Obwohl das Leben mit jedem Augenblick mehr aus ihm wich, brachte er ein mattes Lächeln zustande. »Kennst das Geheimnis … ebenso gut wie ich.«
In ihrer Verzweiflung brauchte sie einen Moment, um zu begreifen. »Du … du weißt es?«, fragte sie fassungslos. »Du weißt, dass ich das Buch gelesen habe?«
»Schon lange. Anfangs darüber gegrämt … aber nun weiß ich, nur deiner Bestimmung gefolgt … Nimm das Buch, Chaya. Nimm es an dich und bringe zu Ende, was mir nicht …« Er verstummte, als eine Woge von Schmerz durch seinen gepeinigten Körper fuhr. Seine Gesichtszüge verzerrten sich. Dennoch behielt er den Köcher fest in den Händen. Als sich seine Glieder wieder entkrampften, reichte er ihn Chaya.
Zögernd nahm sie das Behältnis entgegen – um unverhoffte Zuversicht zu fühlen, als sie das alte Leder berührte, so als ob eine unsichtbare Kraft von dem alten Gegenstand ausging, die sie erst in dem Augenblick spürte, als sie ihn zum ersten Mal rechtens in ihren Händen hielt, als seine neue Trägerin.
»Sei unbesorgt, Vater«, versicherte Chaya mit einer Ruhe, deren Ursprung sie selbst nicht zu ergründen vermochte. »Ich werde die Schrift mit meinem Leben beschützen. Und ich werde nicht zulassen, dass Ar…«
»Sprich den Namen nicht aus«, beschwor ihr Vater sie in einem letzten Aufbäumen verbliebener Lebenskraft. Seine Augen weiteten sich dabei, und er starrte sie eindringlich an. »Vertraue niemandem und offenbare das Geheimnis keinem Unwissenden, sei er nun jüdischen oder anderen Glaubens, hörst du?«
»Ich verspreche es«, erwiderte sie, nun wieder mit den Tränen ringend. Dabei schob sie den Behälter unter ihr eigenes Gewand, wo sie ihn von nun an tragen würde.
»Du musst dafür sorgen, dass das Buch … Antiochia erreicht«, fuhr ihr Vater stockend fort. »Ezra wird wissen … was damit zu geschehen …«
Seine Worte gingen in ein langgezogenes Stöhnen über. Erneut verzerrten sich seine Züge vor Schmerz. Als er die Augen wieder öffnete, war sein Blick fliehend und gehetzt, so als ob ihm klar wäre, dass ihm nur noch wenige Herzschläge blieben.
»Gräme dich nicht, meine Tochter«, sagte er, als er ihre Tränen bemerkte, »denn siehe, der Winter ist vergangen, der Regen ist vorbei, die Blumen zeigen sich im Lande …«
Trotz ihrer Trauer und Verzweiflung musste Chaya lächeln, als sie ihn jenen Satz aus dem Hohelied Salomons rezitieren hörte, der die Lieblingsstelle ihrer Mutter gewesen war. Noch einmal bäumte sich der Körper des alten Isaac auf, so als wollte er sich dem Unausweichlichen widersetzen. Dann jedoch entkrampften sich seine Züge und wurden ruhig.
»Adonai segne und behüte dich, meine Tochter und Erbin«, flüsterte er so leise, dass sie ihn kaum noch hören konnte. »Er wende sein Angesicht dir zu und gebe dir …« Er verstummte und blickte suchend umher, so als wäre ihm plötzlich entfallen, was er hatte sagen wollen. Doch er behielt die Herrschaft über seinen Geist, schien den Satz unbedingt zu Ende bringen zu wollen.
»Adonai … gebe dir Frieden, mein Kind«, hauchte er.
Noch einmal schien sein fliehender Blick sie zu erfassen, und etwas wie ein Lächeln spielte um die dünnen Lippen des alten Kaufmanns. Dann wurden seine Augen glasig, und Chaya brach über dem Leichnam ihres Vaters zusammen.
Es war nicht Schmerz allein, der sie überwältigte, nicht die Trauer oder die Furcht vor dem, was vor ihr lag, sondern auch ohnmächtige Wut, der Zorn darüber, dass alles vergeblich gewesen war. Wozu hatte ihr Vater die alte Heimat verlassen, wozu solche Beschwernisse auf sich genommen, wozu all seine Zweifel überwunden, seine Angst und selbst die Abgründe des Fieberwahns, wenn er nun so kurz vor dem ersehnten Ziel einen grausamen Tod starb, hingemetzelt von der Hand eines namenlosen Mörders?
Ungehemmt schossen die Tränen aus ihren Augen, während sie sich an den leblosen Körper klammerte, weder bereit noch willens, ihn loszulassen. Es war ihr gleichgültig, ob andere sie so sahen oder ob sie ihre Tarnung damit gefährdete. Die Trauer war in ihr und ließ sich nicht aufhalten, brach sich Bahn wie ein Regenguss nach langer Dürre. Wie lange sie so verharrte, wusste sie nicht zu sagen, jedes Gefühl für Zeit kam ihr abhanden.
Bis irgendwann ein Schatten auf sie fiel.
Der Sand neben ihr knirschte, und ihr wurde klar, dass jemand zu ihr getreten war. Widerstrebend löste sie sich vom Leichnam des alten Isaac und schaute mit tränenverschwommenem Blick an dem Fremden empor. Sie konnte nur seine Silhouette sehen, sah den Schwertgriff an seiner Seite und den Helm, den er abgenommen hatte und unter dem Arm trug. Der heiße Wind verwehte sein Haar, und obschon sie sein Gesicht im Gegenlicht nicht sehen konnte, hatte Isaac Ben Salomons Tochter das Gefühl, diesen Mann zu kennen.
»Chaya«, sagte er in diesem Augenblick, »seid Ihr das?«