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15.
Küste südlich von Alexandretta
Oktober 1097
Es war ein kleiner Zug, der sich die alte Küstenstraße hinab nach Süden bewegte – klein genug, um nicht weiter aufzufallen.
Die vier Reiter führten nur zwei Packtiere mit, die Proviant, Wasser und Zelte trugen. Wer sich ihnen näherte, der hätte auf den ersten Blick nicht zu sagen vermocht, wer sie waren. Kaufleute? Krieger, die sich in den Städten des Südens als Söldner verdingen wollten? Pilger auf dem Weg zu den heiligen Stätten? Ihre weiten Mäntel und die Tücher, die sie um die Häupter geschlungen hatten, ließen keine nähere Betrachtung zu – und verhüllten zudem, dass sich auch eine Frau unter den Reitern befand.
Conn konnte nicht anders, als Chaya höchste Bewunderung für ihre Ausdauer und die Geduld zu zollen, mit der sie auch die größten Strapazen ertrug. Von Tarsus aus waren sie nach Adana geritten und von dort nach Alexandretta, das sie nach kurzem Aufenthalt am Tag zuvor verlassen hatten. Obwohl die Reise beschwerlich gewesen war, war sie ohne nennenswerte Zwischenfälle verlaufen.
Um der Entdeckung durch seldschukische Patrouillen zu entgehen, hatten sie es vorgezogen, entlang der Küste gen St. Symeon zu reisen, um sich Antiochia dann von Westen her zu nähern, durch das fruchtbare Tal des Wadi al-Qifaysiya. Und je näher das Ziel ihrer Reise rückte, desto deutlicher spürte Conn Chayas wachsende Unruhe.
»Wie soll ich Euch nur danken, Conwulf?«, fragte sie, während sie neben ihm herritt, an den Klippen entlang, die steil zum Meer hin abfielen. Bertrand hatte die Vorhut übernommen und war ein Stück voraus, während der Maulesel Berengars in kurzem Abstand hinter ihnen hertrabte, sein Reiter, wie es schien, in Kontemplation versunken. »Ihr habt mehr für mich getan, als ich jemals gutmachen könnte.«
»Herrn Baldric hat Euer Dank zu gelten«, antwortete Conn. »Hätte er mir nicht gestattet, Euch zu begleiten …«
»Die Bescheidenheit steht Euch gut zu Gesicht, Conwulf.« Sie lächelte. »Aber Ihr solltet nicht zu bescheiden sein. Ihr hattet recht, als Ihr sagtet, dass ich allein nicht die geringste Aussicht gehabt hätte, Antiochien lebend zu erreichen.«
»Das sagte ich«, gab Conn zu. »Inzwischen bin ich mir allerdings nicht mehr ganz so sicher, nach all den Fährnissen, die Ihr überstanden habt.«
Erneut lächelte sie.
Sie hatte ihm von ihrer langen Irrfahrt berichtet. Von dem Unrecht, das ihr Vater und sie in der alten Heimat zu erdulden hatten, und von den Gefahren, denen sie ausgesetzt gewesen waren; von ihrer Reise nach Italien und über das Mittelmeer und von dem langen Winter, den sie auf Kreta ausgeharrt hatten; von ihrer Weiterfahrt über das Meer bis zu jenen dunklen Tagen, da Chaya am Krankenbett ihres Vaters ausgeharrt und um seine Genesung gebetet hatte. Je mehr Conn über sie erfahren hatte, desto größer war das Gefühl von Vertrautheit geworden, das er der jungen Jüdin gegenüber empfand.
»Ich habe Euch alles über mich berichtet«, sagte sie. »Ihr jedoch hüllt Euch weiterhin in Schweigen, obschon sich unsere Reise allmählich dem Ende nähert.«
»Nur weil es da nicht viel zu erzählen gibt. Ihr wisst, was ich in London gewesen bin.«
»Ihr habt es mir gesagt. Aber Ihr habt unerwähnt gelassen, weshalb Ihr England verlassen und Euch dem Feldzug gegen die Heiden angeschlossen habt.«
Er streifte sie mit einem Seitenblick. Es war befremdlich, das Wort »Heiden« aus ihrem Mund zu hören, aber sie sagte es ohne Bitterkeit. »Es war wegen Nia«, hörte er sich selbst sagen, noch ehe er sich darüber klar geworden war, ob er über diesen Teil seiner Vergangenheit überhaupt sprechen wollte.
»Tatsächlich?« Sie schaute ihn fragend an. »Ihr habt mir nie erzählt, was aus ihr geworden ist.«
»Sie ist tot«, sagte Conn leise.
»Oh, Conwulf! Das tut mir leid.«
»Sie hatte immer davon geträumt, England zu verlassen und in ihre Heimat zurückzukehren. Sie verblutete in meinen Armen, während ich ihre Hand hielt und ihr in die Augen sah.«
»Conwulf! Ich … ich …« Sie schüttelte den Kopf und wusste nicht, was sie erwidern sollte. Manches, was sie in der Vergangenheit gesagt hatte, schien sie plötzlich zu bedauern, vieles begann sie erst jetzt zu verstehen. »Deshalb also begleitet Ihr mich nach Antiochia. Weil Ihr genau wisst, welchen Verlust ich erlitten habe.«
»Einen geliebten Menschen zu verlieren ist die Hölle«, sagte Conn grimmig, während er weiter geradeaus schaute und ihren Blick mied, der voller Bedauern und Mitgefühl war.
»Ich habe diese Hölle zweimal durchlebt«, gestand Chaya leise. »Nur wenige Monate, ehe wir Köln verließen, starb meine Mutter.«
»Ihr … Ihr habt innerhalb kurzer Zeit beide Elternteile verloren?« Conn schaute sie fragend an. Diesmal war sie es, die ihm auswich. Stattdessen ließ sie ihren Blick über die Küste und die türkisblaue See streifen.
»Eigentlich nicht«, antwortete sie nach einer Weile. »In einem gewissen Sinn starb auch mein Vater an dem Tag, da meine Mutter ihr Leben ließ. Sie hat ihm alles bedeutet.«
»Wie ist es passiert?«
»Es war ein Unfall. Meine Mutter kam ins Handelskontor meines Vaters, um ihm getrocknete Früchte und Wein zu bringen. Er hatte den ganzen Tag gearbeitet, und sie war der Ansicht, dass er sich stärken müsse.« Ihre Stimme hatte noch mehr an Kraft verloren. Es fiel ihr sichtlich schwer, von diesen Dingen zu erzählen, womöglich tat sie es zum ersten Mal. »Einige Fässer im Lagerhaus waren nicht gesichert«, fuhr Chaya fort. Ihr Redefluss beschleunigte sich, als wäre der Schmerz auf diese Weise leichter zu ertragen. »Ein Stapel stürzte ein und begrub meine Mutter unter sich. Sie war tot, noch ehe mein Vater und seine Lagerarbeiter sie erreichen konnten.«
»Mein Gott«, sagte Conn nur.
Ein undeutbares Lächeln, das jeder Freude entbehrte, huschte über ihre anmutigen Züge. »Genau das war es, was auch mein Vater dachte«, sagte sie. »Er sah darin ein Zeichen, das der Herr ihm gesandt hatte, eine Strafe für seine Verfehlungen auf Erden.«
»Und Ihr?«
Chayas Augen füllten sich mit Tränen. »Ich weiß es nicht. Ich glaube daran, dass Gott bei uns ist und dass es für jeden von uns eine feste Bestimmung gibt – aber weshalb lässt er solches Unrecht geschehen?«
Conn nickte. »Diese Frage habe ich mir auch oft gestellt.«
»Und? Habt Ihr eine Antwort gefunden?«
»Nein«, gab Conn freimütig zu. »Aber Herr Baldric ist davon überzeugt, dass all dies Prüfungen sind, die uns auf die Probe stellen sollen. Und dass wir vor Gott nur Vergebung erlangen können, wenn wir diese Prüfungen bestehen.«
»Auch mein Vater dachte so. Er fühlte sich verantwortlich für den Tod meiner Mutter und glaubte, dass die Mission, die er zu erfüllen hätte, seine Sühne sei.«
»Mission?«, hakte Conn nach.
Chaya schaute ihn betroffen an. Sie schien selbst überrascht zu sein, das Wort gebraucht zu haben, und für einen Augenblick sah es so aus, als wollte sie noch etwas hinzufügen. »Es ist nicht wichtig«, erklärte sie jedoch dann. »Es war ihm nicht vergönnt, seine Aufgabe zu Ende zu bringen – hat er nun seinen Frieden gefunden?«
»Ich wünsche es ihm. So wie ich auch Baldric wünsche, dass er seinen Frieden finden wird.«
»Und Ihr?«
»Was meint Ihr?«
»Ist der Tod Eurer Geliebten der Grund dafür, dass Ihr Euch dem Feldzug angeschlossen habt? Sucht auch Ihr Vergebung zu finden?«
Conn zögerte. Als Baldric einst dieselbe Vermutung äußerte, hatte er noch entschieden widersprochen – vielleicht auch nur deshalb, weil er nicht bereit gewesen war, eine Wahrheit anzuerkennen, die aus dem Mund eines Normannen kam. Inzwischen jedoch war er sich nicht mehr ganz so sicher. Zwar hatte er damals kaum eine andere Wahl gehabt, als auf Baldrics Angebot einzugehen, aber inzwischen war ihm klar geworden, dass er sich tatsächlich schuldig fühlte. Und dass er nur in jenen seltenen Augenblicken inneren Frieden gefunden hatte, in denen er das Gefühl gehabt hatte, dass Gottes Gnade auf ihm ruhte.
Damals in Rouen, als Berengar gesprochen hatte.
In Genua, als er Chaya zum ersten Mal begegnet war.
In jener Nacht vor Tarsus, als er sie in ihrem Zelt aufgesucht und versucht hatte, ihr ein wenig Trost zuzusprechen.
Und jetzt, in diesem Augenblick.
Es war nicht zu leugnen, dass in den meisten Momenten, da Conn die Nähe des Herrn zu fühlen glaubte, auch Chaya nicht fern gewesen war, geradeso, als ob Gott seine Schritte in ihre Richtung gelenkt und ihre Schicksale miteinander verknüpft hätte – und das, obschon Conn ein Christ und sie eine Jüdin war.
Trotz allem, was sie trennen mochte, gab es Gemeinsamkeiten: Wie Chaya war auch Conn gezwungen gewesen, die alte Heimat zu verlassen; wie sie fühlte er sich einsam und entwurzelt und hatte tiefen Schmerz erlitten. Ihre gegenseitige Nähe spendete beiden Trost und ließ sie die Welt und sich selbst mit anderen Augen sehen.
Conn erwiderte nichts auf ihre Frage, aber er nickte stumm, und allein darin lag eine Befreiung.
Der Schmerz dauerte noch immer an und würde vielleicht niemals ganz verschwinden, aber Conn hatte nicht mehr das Gefühl, daran zugrunde gehen zu müssen. Licht brach in die Düsternis seiner Gedanken, und er wusste, dass er dies einzig der jungen Frau zu verdanken hatte, die schweigend neben ihm herritt.
Eine Woge der Zuneigung erfasste ihn, und noch ehe er recht begriff, was er tat, beugte er sich zu ihr hinüber und ergriff ihre Hand. Sie unternahm nichts dagegen und ließ ihn gewähren, was ihn dazu ermutigte, ihre Hand an seine Lippen zu führen, um sie in einer Geste der Verbundenheit zu küssen.
»Was … was tut Ihr?«
Mit einem Ruck zog sie ihre Hand zurück, und als er sah, wie sie errötete, schalt er sich einen elenden Narren.
»Chaya, ich …«
»Schon gut«, sagte sie nur und blickte stumm geradeaus. Dabei ließ sie die Zügel schnalzen, sodass ihr Maultier antrabte und sich ein wenig absetzte.
Der dünne Lichtstrahl, der für wenige Augenblicke Conns Herz erwärmt hatte, erlosch.
Den restlichen Tag über sprachen sie kaum ein Wort.
Die Reise ging weiter, dem Küstenpfad folgend, der sich oberhalb der Klippen durch karg bewachsenes Hügelland schlängelte. Im Schutz eines großen Felsens, der sie neugierigen Blicken entzog, schlugen sie schließlich ihr Nachtlager auf und entzündeten ein Feuer, um die Kälte der Nacht zu vertreiben – in Conns Herzen blieb sie bestehen.
Bertrand übernahm erneut die erste Wache, sodass Conn Zeit genug blieb, in die Flammen zu starren und düster vor sich hin zu sinnieren. Chaya hatte sich, kaum dass ihr Zelt errichtet worden war, zur Ruhe begeben, auch wenn Conn bezweifelte, dass sie bereits schlief. Sie hatte es wohl lediglich vorgezogen, allein zu sein, was er ihr bei der plumpen Vertraulichkeit, die er an den Tag gelegt hatte, nicht verdenken konnte. Was, bei allen Heiligen, hatte er sich nur dabei gedacht? Sie war schließlich keine Bauernmaid, sondern die Tochter eines wohlhabenden Kaufmanns. Wie hatte er auch nur einen Augenblick lang annehmen können, dass sie etwas für ihn empfand?
Als er Schritte hörte, sprang er auf in der Hoffnung, es könnte vielleicht Chaya sein. Aber es war nur Berengar, der Feuerholz gesammelt hatte und zurückkehrte.
Der Benediktiner, der seine schwarze Robe gegen einen unscheinbaren Kaftan getauscht hatte, warf einige trockene Äste ins Feuer. Dann ließ er sich seufzend neben Conn auf einen Stein nieder. »Alles ruhig«, erklärte er dabei. »Bertrand lässt ausrichten, dass du ihn um Mitternacht ablösen sollst.«
»Hm«, machte Conn nur und starrte weiter in die Flammen.
»Nun?«, fragte der Mönch, nicht auf Französisch wie sonst, sondern auf Englisch, das er ebenfalls zu beherrschen schien.
»Nun was?«
»Mein guter Conwulf, ohne dass ich es wollte, bin ich heute Zeuge geworden von … du weißt schon.«
Conn ließ ein dumpfes Schnauben vernehmen. »Erinnert mich nicht daran, ich bitte Euch.«
»Es liegt mir auch fern, dich in Verlegenheit zu bringen«, versicherte Berengar, »aber ich kam nicht umhin zu bemerken, dass du etwas für die Jüdin zu empfinden scheinst.«
»Und?«, fragte Conn barsch.
»Ich möchte dich warnen.«
»Wovor?«
»Ich sagte es schon einmal, Conwulf – als vom Herrn gesandter Begleiter dieses Feldzugs fühle ich mich für das Seelenheil jener verantwortlich, die unter dem Kreuz kämpfen. Auch für deines.«
»Tatsächlich?« Conn wandte den Blick und schaute den Mönch mit einer Mischung aus Trotz und Zweifel an. »Ist meine unsterbliche Seele denn gefährdet, Pater?«
»Das kann ich nicht beurteilen, denn in dein Herz vermag ich nicht zu blicken, Conwulf. Dein Gewissen wird dir diese Frage beantworten. Wenn du es lässt.«
»Was versucht Ihr mir einzureden, Pater? Dass Chaya meine Verdammnis bedeutet?«
»Du solltest keinen Spott damit treiben, Conwulf. Der Schritt von der Unbekümmertheit zur Blasphemie ist nur ein geringer.«
»Und wenn schon – sie hat ihren Vater verloren und Schlimmes durchgemacht. Was ist falsch daran, sie zu trösten?«
»Nichts – solange du dabei nicht vergisst, wer du bist und wofür du stehst. Nämlich für die Reinheit des Glaubens und die Wahrheit.«
»Die Wahrheit wird nicht weniger wahr, wenn ich mit einer Jüdin spreche.«
»Das nicht. Aber ich hege die Sorge, dass du die Wahrheit nicht mehr von der Lüge unterscheiden kannst, wenn die Jüdin dich erst mit ihren Reizen umgarnt.«
»Was redet Ihr da?« Conn schaute verständnislos in die bleichen Züge des Mönchs, über die der Widerschein des Feuers irrlichterte. »Wart nicht Ihr selbst dafür, Chaya nach Antiochia zu begleiten?«
»Gewiss. Aber ganz sicher ging es mir nicht darum, zarte Bande mit ihr zu knüpfen. Sie ist eine Frau, Conwulf – mit allen Vorzügen und Gefahren, die ihr mit ewiger Sündhaftigkeit behaftetes Geschlecht nun einmal in sich birgt.«
»Als da wären?«, fragte Conn provozierend. Er schätzte es nicht, auf diese Weise belehrt zu werden, zumal seine Gefühle ohnehin zurückgewiesen worden waren. Und ihm missfiel die Art und Weise, wie Berengar über Chaya sprach.
»Sie ist nicht aufrichtig zu dir«, behauptete der Mönch.
»Woher wollt Ihr das wissen?«
»Was hat sie dir über sich erzählt?«
»Genug«, war Conn überzeugt.
»Auch über die Beweggründe ihres Hierseins? Über den Grund, warum sie unbedingt nach Antiochia will?«
»Sie hat ihrem Vater ein Versprechen gegeben, das sie erfüllen muss. Genügt Euch das als Antwort?«
»Genügt es dir?«
»Gewiss.«
»Dann weißt du sicher auch, was sich in dem Behältnis befindet, das sie ständig bei sich trägt«, bohrte der Mönch weiter.
»Woher wisst Ihr …?«
»Ich habe es gesehen, an jenem Tag, als ihr sterbender Vater es ihr übergab. Und auch später sah ich es wieder, wenn auch nur für einen Augenblick. Sie hütet es wie ihren Augapfel, nicht wahr?«
»Möglich.« Conn zuckte die Schultern.
»Aber du weißt nicht, was sich darin befindet, oder?«
»Nein«, antwortete er.
»Ich verstehe.«
»Was versteht Ihr?«
Berengar schaute ihn an und schien Conn etwas sagen zu wollen. Dann besann er sich jedoch anders und stand auf, um sich zur Ruhe zu betten. »Ich verstehe dein Handeln und bin erleichtert, dass dir die Jüdin nichts verheimlicht und sie keine dunklen Pläne hegt«, sagte der Mönch nur, ehe er sich abwandte und im Dunkel jenseits des Feuerscheins verschwand.