37676.fb2 Das Buch Von Ascalon - читать онлайн бесплатно полную версию книги . Страница 44

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18.

Die Sonne war noch nicht aufgegangen, als Chaya das Lager verließ, noch halb trunken von der Wärme der zurückliegenden Nacht, halb ernüchtert von der Kälte des Morgens.

In aller Eile packte sie ihre Sachen und schlich aus ihrem Zelt, nicht ohne Conn, der an der noch schwelenden Glut des Feuers schlief, einen letzten, liebevollen Blick zuzuwerfen. Dann wandte sie sich ab und huschte zu den Tieren.

Sie besänftigte ihren Maulesel, indem sie ihm eine Rübe zu fressen gab. Während das Tier kaute, sattelte sie es und führte es so leise wie möglich vom Lager weg. Noch ein letzter Blick über die Schulter, und sie wähnte sich frei – ein Irrtum, wie sich schon wenige Schritte später herausstellte.

»Wohin des Wegs?«

Chaya erschrak, als plötzlich eine dunkle Gestalt zwischen den Bäumen hervortrat und ihr den Weg versperrte. Beinahe hätte sie laut geschrien, aber dann erkannte sie, dass es kein anderer als Berengar war.

»Ihr seid es«, seufzte sie erleichtert.

»Ich bin es«, bestätigte der Mönch. Im Zwielicht der Dämmerung waren seine Züge kaum zu sehen, aber Chaya glaubte zu erkennen, dass sie ungewohnt harsch und grimmig waren. »Ist es erlaubt zu fragen, was Ihr hier tut?«

»Ich verlasse das Lager«, erwiderte Chaya leise.

»Ohne Abschied zu nehmen? Ohne Euren Dank zu bekunden für die Hilfe, die man Euch zuteil werden ließ?«

Chaya nickte. »Ich weiß, wie undankbar Euch das erscheinen muss. Aber ich musste in letzter Zeit so häufig Abschied nehmen, dass ich es nicht noch einmal ertragen würde. Versteht Ihr das?«

»Vielleicht«, gestand der Mönch zu, dessen Züge sich daraufhin ein wenig entspannten. »Aber ich bezweifle, dass Conwulf es verstehen wird. Ich bin ein einfacher Ordensmann und verstehe nicht viel von derlei Dingen, Chaya. Aber selbst ich kann sehen, dass der Junge Euch gern hat. Ihr ihn nicht auch?«

Chaya blickte zu Boden, eine Antwort blieb sie schuldig. Dafür konnte sie spüren, wie sich ihr schlechtes Gewissen regte.

»Warum bleibt Ihr nicht einfach?«, fragte der Mönch.

Chaya schaute auf. »Pater Berengar, in den vergangenen Wochen habe ich Euch als ebenso klugen wie weitsichtigen Menschen kennengelernt, und als solcher wisst Ihr, weshalb ich nicht bleiben kann. Conwulf und ich gehören unterschiedlichen Welten an. Daran wird sich nichts ändern, nicht heute und nicht morgen.«

»Vielleicht habt Ihr recht. Die Zeiten – und speziell diese unheilvollen Tage – sind nicht reif für einen Christen und eine Jüdin. Geht also in Frieden und blickt nicht zurück, so ist es am besten für beide.«

Chaya nickte. »Habt Dank«, sagte sie und neigte das Haupt. Berengar trat zur Seite, um ihr den Weg frei zu machen. Nach wenigen Schritten jedoch blieb sie noch einmal stehen und wandte sich um. »Pater?«

»Ja, mein Kind?«

»Bitte bestellt Conn meine Grüße. Sagt ihm, das ich ihm von Herzen zugetan bin und mir nichts sehnlicher wünschte, als mit ihm zusammen zu sein, aber …« Sie verstummte. Tränen traten ihr in die Augen, und eben jener Abschiedsschmerz, den sie hatte vermeiden wollen, schnürte ihr die Kehle zu.

»Ich weiß, mein Kind.«

»Werdet Ihr es ihm ausrichten?«

»Das werde ich«, versicherte der Mönch.

»Danke«, sagte Chaya. »Friede mit Euch.«

»Und mit Euch, mein Kind.«

Chaya wandte sich endgültig ab. Den Maulesel am Zügel hinter sich herziehend, durchquerte sie den Wald, bis sie auf die schmale Straße stieß, die von Alexandretta kommend zum Wadi al-Qifaysiya führte. Dort stieg sie in den Sattel und folgte dem Pfad nach Südosten, nicht ohne vorher ihr Haar und einen guten Teil ihres Gesichts unter den Windungen ihres Turbans zu verbergen.

Im Osten ging die Sonne auf und tauchte die Hügelkuppen in bernsteinfarbenes Licht – die Düsternis in Chayas Herz jedoch vermochte sie nicht zu vertreiben.

Unentwegt sah sie Conns Gesicht vor sich, seine freundlichen Züge, das dunkelblonde Haar, die milde blickenden blauen Augen. In seiner Nähe hatte sie zum ersten Mal nach dem Tod ihres Vaters wieder frei geatmet, hatte sie sich sicher und geborgen gefühlt, ohne deshalb ihres Willens und ihrer Selbstbestimmung beraubt zu sein. Niemals in ihrem Leben hätte sie vermutet, dass genau das geschehen könnte, wovor ihr Vater sie immer gewarnt und was er mit einer arrangierten Heirat geglaubt hatte verhindern zu können: Sie hatte sich in jemanden verliebt, der nicht jüdischen Glaubens war.

Es sich einzugestehen, schmerzte. Scham erfüllte sie, das Wissen, etwas Verbotenes getan und ihren Glauben verraten zu haben, und sie war in gewisser Weise dankbar dafür, dass der alte Isaac die Welt verlassen hatte, ohne je davon zu erfahren. Aber da war ebenfalls Zuneigung, das wärmende Gefühl einer neuen Liebe – auch wenn sie zum Scheitern verurteilt und die bittersüße Erinnerung an jene gemeinsame Nacht alles war, was blieb.

Entsprechend widersprüchlich waren Chayas Empfindungen, als sie die Ausläufer des Wadi al-Qifaysiya erreichte, jener fruchtbaren Senke, die sich bis nach Antiochia hinein erstreckte. Einerseits war Chaya erleichtert darüber, dass ihre Reise nun bald zu Ende sein würde, andererseits erfüllte sie tiefe Wehmut. Mit aller Macht versuchte sie, ihre Gedanken an Conn zu verdrängen und sich auf ihre Aufgabe zu konzentrieren. Ihr Ziel war das Haus Ezra Ben Salomons, dem sie das Buch von Ascalon übergeben und damit das Vermächtnis ihres Vaters erfüllen würde. Weiter versuchte sie nicht zu denken.

Die trutzigen Mauern Antiochias tauchten jenseits der grünenden Olivenhaine auf, und Chaya überquerte die Brücke, die sich über den Orontes spannte und zum westlichen Stadttor führte, inmitten eines Stromes von Flüchtlingen.

Aus allen Himmelsrichtungen kamen sie zusammen und drängten in die Stadt: Bauern aus der Umgebung, aber auch Tagelöhner, fahrende Handwerker und Kaufleute, die sich davor fürchteten, den Barbaren aus dem Norden in die Hände zu fallen. Wie es hieß, hatten die ersten Kreuzfahrer den Orontes bereits erreicht. Nicht mehr lange und sie würden vor den Toren stehen und Einlass begehren. Da nicht zu erwarten war, dass die seldschukischen Machthaber ihnen freiwillig öffneten, würde ein erbitterter Kampf die Folge sein, der auch das Umland in Mitleidenschaft ziehen würde.

Zusammen mit den Flüchtlingen passierte Chaya das Brückentor und fand sich innerhalb der Jahrhunderte alten Mauern wieder, die die Stadt in einem weiten, von vierhundert Türmen gesicherten Ring umgaben. Während der westliche Rand Antiochias noch einen Teil des Wadis umfasste und aus üppigen Gärten bestand, die zumindest einen Teil der Bevölkerung auch in Krisenzeiten zu ernähren vermochten, grenzte unmittelbar daran das braungraue Häusermeer, über dem sich weit im Osten auf dem Berg Silpius die Zitadelle der Stadt erhob.

Nach all den Wochen und Monaten, die sie auf See, in kleinen Siedlungen oder inmitten ungezähmter Wildnis verbracht hatte, war Chaya in keiner Weise vorbereitet auf das Gedränge, die Lautstärke und die rastlose Hetze, die in den Straßen herrschten und auf sie einstürzten. Staubwolken lagen zwischen den Gebäuden, in denen sich Pferde, Esel, Kamele und Ochsengespanne drängten. Dazwischen versuchten Menschen vorwärtszukommen, während von beiden Straßenseiten Händler riefen, die ihre Waren verkaufen wollten. Kinder schrien, Schafe blökten, hier und dort wurden heisere Befehle gebrüllt, wenn die Stadtwache das Treiben ein wenig zu ordnen suchte.

Das jüdische Viertel lag südöstlich des Zitadellenberges, sodass Chaya die Stadt durchqueren musste. Die Eindrücke, die unterwegs auf sie einstürmten, waren überwältigend. Wundersame Dinge, die sie im Vorbeigehen sah, aber nicht verstand, fremdartige Gerüche und ein Gewirr aus unverständ­lichen Sprachen machten ihr unmissverständlich klar, dass sie weiter von zu Hause entfernt war als je zuvor und dass es zum ersten Mal in ihrem Leben niemanden mehr gab, auf dessen Schutz und Hilfe sie zählen konnte. Noch immer ging sie als Mann verkleidet, doch ihr war nur zu bewusst, wie dünn der Mantel war, der sie schützte, und wie leicht er im wörtlichen Sinne zerreißen konnte.

Entsprechend groß war ihre Erleichterung, als sie die Gassen des jüdischen Viertels erreichte. Auf ihre Frage, wo sich das Haus des Kaufmanns Ezra befinde, wies man ihr den Weg zu einem Gebäude, das sich am Ende einer schmalen Straße befand. Nach außen hatte es lediglich ein Tor und zwei kleine Fenster, aber die drei Stockwerke und die Sonnensegel, die sich in luftiger Höhe über den Dachgarten spannten, ließen vermuten, dass es sich um das Haus eines wohlhabenden Bürgers handelte. Nun, da sie ihrem Ziel so nahe war, merkte Chaya, wie sich ihr Herzschlag beschleunigte. Sollte ihre Reise, die weit mehr als ein Jahr gedauert, die sie von einem Ende der Welt zum anderen geführt und die ihren Vater das Leben gekostet hatte, tatsächlich zu Ende sein?

Wie in Trance ging sie die letzten Schritte und trat unter den Baldachin, der das Eingangstor vor den Sonnenstrahlen beschirmte.

Dann klopfte sie an.

»Ja?«, fragte jemand von drinnen auf Hebräisch.

Chaya atmete innerlich auf. Es war beruhigend, eine Sprache zu hören, die sie verstand. Sie antwortete, dass sie den Kaufmann Ezra Ben Salomon in einer dringenden Angelegenheit zu sprechen wünsche, worauf die Tür geöffnet wurde und die verkniffene Miene eines ältlichen Mannes erschien, der wohl der Hausverwalter war.

»Weshalb wollt Ihr den Kaufmann sprechen?«, verlangte er zu wissen.

»Ist dies sein Haus?«

»Das ist es. Aber Ihr werdet diese Schwelle nicht übertreten, ehe Ihr mir nicht gesagt habt, wer Ihr seid und was Ihr wollt.«

Chaya holte tief Luft. Es war an der Zeit, die Maske fallen zu lassen. Mit einer flüchtigen Handbewegung streifte sie das Kopftuch ab und offenbarte ihre weichen Gesichtszüge und ihr fast bis zu den Schultern reichendes Haar.

»Was in aller Welt …?«

»Ich bin Chaya, die Tochter seines Bruders Isaac Ben Salomon«, sagte Chaya rasch, worauf der Verwalter verstummte. Sein Mienenspiel wechselte von Entrüstung zu Überraschung und schließlich zu Ratlosigkeit.

»Wartet hier«, beschied er ihr und schloss die Tür wieder. Einen bangen Augenblick lang fragte sich Chaya, ob sie ihre Chance bereits vertan und es ihr womöglich gar nicht gelingen würde, zu ihrem Onkel vorgelassen zu werden.

Die Ungewissheit währte zum Glück nicht lange, denn schon kurz darauf wurde die Tür erneut geöffnet und nicht der mürrische Hausverwalter stand auf der Schwelle, sondern ein stämmiger Mann, der um die sechzig Jahre alt sein mochte. Von seinem Gesicht, das von einer großen Knollennase beherrscht wurde, war kaum etwas zu sehen, da die obere Hälfte von einem Turban verhüllt und die untere von einem grauen krausen Bart überwuchert wurde. Seine Leibesfülle wurde von einem weiten Gewand bedeckt, über dem er einen losen Mantel aus bestickter Seide trug, dazu eine Schärpe um den beträchtlichen Wanst. Auf den ersten Blick war dieser Mann für Chaya ein Fremder, denn nichts an ihm schien an die hagere, asketische Erscheinung Isaac Ben Salomons zu erinnern. In seinen dunklen, von buschigen Brauen überwölbten Augen jedoch erkannte Chaya ihren Vater wieder.

»Onkel Ezra?«, fragte sie zaghaft.

Der Beleibte stand vor ihr wie vom Donner gerührt. Dann hellte sich seine bärtige Miene plötzlich auf. »Chaya! Nichte!«

Ein breites Grinsen erschien auf seinem Gesicht, etwas erwidern konnte Chaya nicht mehr, denn die Pranken ihres Onkels packten sie an den Schultern und im nächsten Moment wurde Chaya mit einer Innigkeit an die breite Brust des Kaufmanns gedrückt, dass sie kaum noch Luft bekam. Nur für einen kurzen Augenblick ließ er sie los und schob sie auf Armlänge von sich weg, um sie zu betrachten, dann zog er sie erneut an sich heran und umarmte sie so herzlich wie ein Vater ein verloren geglaubtes Kind.

»Dass es mir altem Mann vergönnt ist, das noch zu erleben«, sagte er mit Tränen in den Augen und dankte Gott in einem kurzen Gebet. Erst dann gab er Chaya wieder frei, noch immer überwältigt vor Freude. »Verzeih einem alten Narren seine Gefühlsduselei, mein Kind.« Sein Tonfall erinnerte Chaya unweigerlich an ihren Vater. »Aber von dem Tag an, da Issac mich in einem Brief über euer Kommen unterrichtete, gab es keine Stunde, in der ich nicht an euch gedacht und für eure sichere Ankunft gebetet habe – und nun endlich seid ihr hier.«

»Ich bin hier, Onkel«, erklärte Chaya leise und beugte traurig das Haupt.

»Und – Isaac?«

Chaya wagte es nicht aufzublicken. Sie wollte das Entsetzen in den Zügen ihres Onkels nicht sehen, wollte nicht an ihren eigenen Schmerz erinnert werden. Sie schüttelte einfach nur den Kopf und blickte zu Boden. Aber wenn sie geglaubt hatte, dass Ezra in Wehklagen ausbrechen würde, so hatte sie sich geirrt. »Armes Kind«, sagte der Kaufmann stattdessen in ehrlichem Bedauern, während er ihr den Arm auf die Schulter legte und sie ins Haus zog. »Was hast du alles durchmachen müssen? Du wirst mir alles berichten, was geschehen ist, hörst du? Jede Einzelheit. Doch nun komm erst einmal herein und sei willkommen in meinem Haus. Mögest du hier Erholung finden von der langen Reise …«

»… und Trost«, fügte jemand hinzu, der hinter Ezra im Halbdunkel des Ganges stand.

Es war ein junger Mann, der etwa in Chayas Alter sein mochte, vielleicht ein wenig jünger. Sein schwarzes Haar war kurz geschnitten, sein Kinnbart noch kaum gewachsen. Ein Lächeln lag auf seinem schmalen Gesicht, die dunklen Augen blickten in stiller Erwartung.

»Darf ich vorstellen?«, fragte Ezra, nachdem er die Tür hinter Chaya geschlossen und wieder verriegelt hatte. »Dies ist Caleb, mein einziger Sohn und dein Cousin.«

»Schalom, Chaya«, sagte Caleb, ohne sie aus den Augen zu lassen.

»Schalom, Caleb«, erwiderte sie und beugte leicht das Haupt.

»Eigentlich müsstest du Caleb noch aus deinen Kindertagen kennen, aus der Zeit, bevor ich Köln verließ, um ins Land der Väter zu gehen und dort für Isaac – ich meine für deinen Vater – eine Handelsniederlassung zu gründen. Ihr habt zusammen gespielt, als ihr noch klein wart.«

»Ich erinnere mich dunkel.« Chaya nickte. »Du hast mich an den Haaren gezogen und mich mit Lehm beworfen.«

»Wirklich?« Caleb errötete ein wenig. »Das würde ich heute nicht mehr tun, glaub mir.«

»Das glaube ich dir gern.« Sie lächelte. »Du bist ein ansehnlicher junger Mann geworden.«

»Sag so etwas nicht«, ging Ezra dazwischen. »Du bringst den armen Burschen nur in Verlegenheit.« Er lachte, freilich auf Calebs Kosten, der darüber noch mehr errötete. Dann wurde der Kaufmann plötzlich wieder ernst. »Sag, mein Kind, hast du …? Ich meine …«

Ihm war anzusehen, dass es etwas gab, das er nicht beim Namen nennen wollte, wohl weil er nicht wusste, ob seine Nichte überhaupt Kenntnis hatte von den Dingen, die ihren Vater bewegt hatten. Chaya beschloss, das Versteckspiel zu beenden.

»Können wir offen reden?«, fragte sie.

»Natürlich«, versicherte der Kaufmann verblüfft. »Wegen Caleb mach dir keine Sorgen. Als mein zukünftiger Erbe ist er in das Geheimnis eingeweiht und ein Träger wie …«

»… wie Vater und du«, brachte Chaya den Satz zu Ende. »Auch ich kenne das Geheimnis, Onkel, aber nicht deshalb, weil Vater sein Versprechen gebrochen und es mir offenbart hätte, sondern weil ich es ohne sein Wissen und gegen seinen ausdrücklichen Willen zu ergründen suchte. Ihn trifft also keine Schuld daran, dass es kein Träger, sondern eine Trägerin war, die das Buch ins Land der Väter zurückgebracht hat.«

»Dann – ist es also hier?«, fragte Ezra atemlos.

»Ja, Onkel«, bestätigte Chaya und legte die Hand auf jene Stelle ihres Gewandes, wo sie den ledernen Köcher verborgen hielt.

»Dann sei der Herr gepriesen für seine Gerechtigkeit und seine mächtige Hand – denn nichts anderes als göttliches Walten kann es gewesen sein, das dir das Geheimnis offenbarte und dich die Bürde deines Vaters übernehmen ließ. Sei willkommen in meinem Haus, Chaya – deine Mission ist zu Ende.«

Die nächsten Stunden verbrachte Chaya damit, sich auszuruhen.

Man wies ihr eine Kammer zu, die Zugang zu einem kleinen Dachgarten hatte, von dem aus man die alte Kathedrale von Antiochia sehen konnte, die sich eindrucksvoll aus dem Häusermeer erhob. Aus Furcht davor, sie könnten mit den herannahenden Kreuzfahrern sympathisieren oder gar innerhalb der Stadtmauern einen Aufstand anzetteln, hatte Yaghi Siyan, der türkische Statthalter von Antiochia, alle christlichen Würdenträger der Stadt verwiesen, sodass die Kathedrale verwaist war und nun von den Muslimen zum Gebet genutzt wurde. Von oben betrachtet hatte die Unruhe, die allenthalben herrschte, etwas von einem wimmelnden Ameisenhaufen, und unwillkürlich fühlte sich Chaya an ihre alte Heimat erinnert. Wehmut wollte sich in ihr Herz schleichen, doch die Erleichterung darüber, endlich jemanden zu haben, mit dem sie die Last des Wissens um das Buch von Ascalon teilen konnte, war stärker als das Heimweh.

Am späten Nachmittag wurde sie zum Essen gerufen. Ezras Gattin Batya, eine Jüdin aus Antiochia, die er zur Frau genommen hatte, nachdem Esther, die Mutter Calebs, vor einigen Jahren verstorben war, holte Chaya ab und führte sie nach unten in den von Palmen gesäumten Innenhof, auf den das Speisezimmer mündete. Da es die Tage zwischen Neujahr und dem Versöhnungsfest waren, wurde eine zwar sättigende, jedoch einfache Mahlzeit gereicht, die aus Linsen, Fisch und getrockneten Früchten bestand. Chaya, der es lange nicht möglich gewesen war, sich an die Vorschriften der Kaschrut zu halten, war dankbar dafür, nach langer Entbehrung wieder koschere Speisen essen zu können. Etwas beruhigend Vertrautes lag darin – zugleich aber fühlte sie sich auch an ihre Verfehlung erinnert, als die ihre Religion die Liebe zu einem Christen brandmarkte.

Im Anschluss an das Mahl zogen Batya und ihre beiden Töchter Irit und Rinah sich zurück, worauf Ezra Chaya bat, von ihrer langen Reise zu berichten. Chaya begann zu erzählen: von den Ereignissen von Clermont und den beunruhigenden Vorfällen, zu denen es daraufhin im Reich gekommen war; von ihrer überstürzten Abreise und der langen Wanderschaft gen Süden; von der verzögerten Überfahrt und Isaacs Fieber; von der syrischen Karawane und den Gefahren einer aus den Fugen geratenen Welt.

Auch vom Tod ihres Vaters berichtete sie in allen Einzelheiten, und es überraschte sie selbst, mit welcher Gefasstheit sie das tat. Vielleicht, weil seit jenen schmerzlichen Ereignissen nun doch schon ein wenig Zeit verstrichen war. Vielleicht aber auch, weil in der Zwischenzeit etwas geschehen war, das wieder Licht und Freude in ihr Leben gebracht hatte.

Einen Augenblick lang schweiften ihre Gedanken ab, und sie musste an Conwulf denken. Ihr Onkel hatte selbst gesagt, dass ihre Aufgabe beendet war. Was, wenn sie ihre wiedergewonnene Freiheit dazu nutzte, die Stadt zu verlassen und …

»So bist du also hierhergelangt«, unterbrach Ezras sanfte Stimme ihren Gedankengang, die sie so sehr an ihren Vater erinnerte. »Gottes Pfade sind für Menschen wahrlich unergründlich. Doch es ist sein Wille, auf den wir vertrauen.«

»Das tun wir, Onkel. Dennoch bin ich mir in diesem Fall nicht sicher, ob es Gottes Wille gewesen ist oder mein Eigensinn. Wider Vaters Beschluss habe ich es ertrotzt, ihn auf seiner Mission zu begleiten. Dabei hätte mir von Beginn an klar sein müssen, dass ich ihn nur von seiner Aufgabe ablenke und er sich meinetwegen in Gefahr begibt. Wäre ich in Köln geblieben und hätte Mordechai Ben Neri geheiratet, wie Vater es für mich vorgesehen hatte, wäre womöglich alles anders …«

Sie unterbrach sich, als sie sah, wie Ezra verlegen die Lippen schürzte und einen langen Blick mit Caleb tauschte.

»Demnach weißt du es noch nicht?«, erkundigte sich ihr Cousin vorsichtig.

Chaya schaute fragend von einem zum anderen. »Was meinst du? Was soll ich nicht wissen?«

»Was sich nach eurer Abreise in Köln ereignet hat«, antwortete Caleb leise, und wieder wechselten sein Onkel und er einen Blick, was Chaya höchst beunruhigend fand.

»Nun, wir … wir hörten Gerüchte«, sagte sie. »Während wir in Italien weilten, hieß es, dass jener Graf Emicho, der in Mainz grässliche Bluttaten verübte, Köln zwar erreicht hätte, jedoch unverrichteter Dinge wieder abgezogen sei, nachdem er in der Stadt keine Juden mehr vorfand.«

»Das ist er«, stimmte Ezra zu. »Aber Soldaten aus der Stadt und dem Umland haben sich in den darauf folgenden Wochen zu Banden zusammengeschlossen, die durch die Lande zogen und nach unseren Schwestern und Brüdern suchten. Glücklicherweise war ihnen auf ihrer Jagd kein allzu großer Erfolg beschieden, denn wie zu hören war, haben unsere Leute klug und besonnen gehandelt, sodass sich die meisten von ihnen den Nachstellungen des Pöbels entziehen konnten. Zweiundzwanzig jedoch fanden den Tod – unter ihnen auch Mordechai Ben Neri und Daniel Bar Levi, der Vorsteher der Kölner Gemeinde.«

»Was? Seid ihr sicher?«, fragte Chaya erschrocken.

»So sicher wir sein können. Ein Händler aus Venedig brachte die Nachricht im vergangenen Winter, der sie wiederum von einem jüdischen Kaufmann erfahren haben wollte, der oft in Köln weilt.«

»Ich verstehe.« Chaya nickte. Sie verspürte ein schmerzhaftes Ziehen im Bauch, nicht aus Trauer, denn dazu hatte sie Mordechai Ben Neri weder gut genug gekannt noch gemocht. Die Nachricht bestürzte sie dennoch, denn wenn ein Mann wie Mordechai, der es doch stets verstanden hatte, sich mit den Christen gutzustellen und Schaden von sich abzuwehren, der Mordlust der Fanatiker zum Opfer gefallen war, um wie vieles mehr mussten dann alle anderen Juden im Reich um ihr Leben fürchten?

»Die Christen sind Bestien«, zischte Caleb, der ihre Gedanken zu erraten schien. »Tiere in Menschengestalt. Wohin sie auch kommen, haben sie Tod und Zerstörung im Gefolge. Wir müssen sie aufhalten, sie erschlagen wie räudige …«

»Caleb«, rief Ezra seinen Sohn zur Ordnung. »Deine Hasstiraden helfen uns nicht weiter.«

»Das Fasten, das die Rabbiner predigen, aber auch nicht, Vater«, konterte der Jüngling trotzig, und an dem Funkeln in seinen Augen glaubte Chaya zu erkennen, dass es nicht der erste Streit war, den die beiden über dieses Thema austrugen.

»Du musst es Caleb nachsehen, Nichte. Wie so viele in diesen Tagen fürchtet er sich vor dem, was kommen wird, und er glaubt, seine Angst mit dem Geschrei nach Gewalt vertreiben zu können.«

»Das ist nicht wahr, Vater«, widersprach Caleb entschieden und bekam einen roten Kopf – zum einen aus Zorn, zum anderen wohl auch, weil Ezras Worte seine Eitelkeit kränkten. »Ich fürchte die Krieger des Kreuzes nicht! Gäbe es in unserer Gemeinde mehr, die so denken wie ich, hätten wir die Angreifer längst in die Flucht geschlagen!«

»Ein Kreuzfahrer ist es auch gewesen, der mich gerettet hat«, gab Chaya zu bedenken. »Es ist unstrittig, dass Diebe und Mörder unter ihnen sind. Aber wir dürfen nicht vergessen, dass es auch andere gibt, die die Gebote ihrer Religion achten und zwischen Freund und Feind wohl unterscheiden.«

»Aber ein Christenhund hat deinen Vater getötet!«, wandte Caleb wenig rücksichtsvoll ein.

»Und ein anderer hat mich vor einem grausamen Schicksal bewahrt«, hielt Chaya dagegen. »Oder glaubst du, ich säße hier vor euch, wenn die Tafur nicht vertrieben worden wären?«

»Chaya hat recht«, stimmte Ezra seiner Nichte zu. »Wir dürfen nicht in dieselbe Blindheit verfallen, mit der unsere Feinde geschlagen sind. Wir werden die Welt nicht ändern, indem wir ihre Schlechtigkeit annehmen, sondern indem wir das bewahren, was gut und gerecht ist auf Erden.«

Sein Blick verstärkte sich wie eine Flamme, die neue Nahrung fand, und Chaya begriff, worauf ihr Onkel angespielt hatte – auf das Buch von Ascalon. »Du hast sehr mutig gehandelt, Nichte. Doch nun ist die Zeit gekommen, die Last der Verantwortung anderen zu übertragen.«

Chaya zögerte. Weshalb, wusste sie selbst nicht genau zu sagen. Vielleicht, weil es ihr schwerfiel, sich von etwas zu trennen, das ihrem verstorbenen Vater so teuer und kostbar gewesen war. Vielleicht, weil sie in der kurzen Zeit, in der sie im Besitz des Buchs gewesen war, den Hauch des Ewigen verspürt hatte. Vielleicht aber auch, weil sie für einen kurzen Moment in Calebs Augen einen begehrlichen Glanz zu entdecken glaubte.

»Es ist gut«, redete Ezra ihr zu. »Du hast die Aufgabe, die dir so unvermittelt übertragen wurde und auf die du nicht vorbereitet sein konntest, nach bestem Gewissen erfüllt. Nun ist die Zeit gekommen, um das Buch jenen zu übergeben, die wissen, wie sie damit zu verfahren haben.«

»Und dieses Wissen«, fügte Caleb hinzu, wobei es erneut in seinen Augen funkelte, »wird unseren Feinden schlecht bekommen.«

»Was meinst du damit?«, wollte Chaya wissen.

»Wenn du den Inhalt der Schrift kennst, brauchst du diese Frage nicht zu stellen. Du weißt, was das Geheimnis vermag, oder nicht?«

»Ich weiß es, aber ich frage mich, ob dies seine Bestimmung ist.«

»Darüber werden andere zu befinden haben«, stellte ihr Onkel klar. »Calebs und meine Aufgabe wird es sein, das Buch nach Jerusalem zu bringen, wo den Voraussagen gemäß an einem geheimen Ort ein neuer Sanhedrin zusammentreten und wie in den Tagen des Zweiten Tempels über das zukünftige Schicksal unseres Volkes entscheiden wird.«

Chaya nickte. Ezras Worte deckten sich mit dem, was sie in der geheimen Schrift gelesen hatte. Demnach gab es im Volke Israel nicht nur Träger und Bewahrer, sondern auch Räte, die über Generationen hinweg das Amt ihrer Väter geerbt hatten für jene Zeit, in der der Sanhedrin, der einst das höchste politische Gremium in Judäa gewesen war, wieder tagen würde. Und angesichts der Tatsache, dass das Buch von Ascalon nach jahrhundertelanger Wanderschaft wieder in seine Heimat zurückgekehrt war, war dieser Tag nicht mehr fern.

Erleichtert darüber, die Schrift endlich aus den Händen geben zu dürfen, griff Chaya unter ihr Gewand und beförderte den Köcher zutage, der das Siegel Salomons trug und den sie wie einst ihr Vater von außen unsichtbar am Lederriemen über der Schulter trug. Sie öffnete die Schnalle und nahm den Riemen ab, stellte den Behälter vor sich auf den Tisch. Ein Leuchten huschte daraufhin über die Züge Ezras und seines Sohnes.

»Das ist es«, stellte Ezra mit vor Andacht bebender Stimme fest. »Nur ein einziges Mal, vor vielen Jahren, habe ich es erblickt, dennoch erkenne ich es wieder.«

»Darf ich es sehen, Vater?«, fragte Caleb, der seine Aufregung kaum zügeln konnte. In ungeduldiger Erwartung rieb er sich die Hände, kleine Schweißperlen standen ihm auf der Stirn. »Darf ich einen Blick auf die Worte werfen, die unserem Volk Rettung und Freiheit bringen werden?«

»Ja, Sohn. Die Zeit ist reif dafür.«

Mit vor Ehrfurcht bebenden Händen griff er nach dem Köcher und öffnete den Verschluss. Dann drehte er die Röhre behutsam, um ihr die Rolle zu entnehmen – doch wie weiteten sich seine Augen, wie entsetzten sich seine Züge, als er nicht die ersehnte Schrift, sondern ein brüchiges Stück Pergament in den Händen hielt!

»Herr im Himmel!«, rief er aus, während er vergeblich versuchte, noch eine zweite Schriftrolle aus dem leeren Köcher zu schütteln. »Was bei allen Propheten …?«

Als Caleb sah, dass etwas nicht stimmte, riss er seinem Vater das Pergament aus den Händen und entrollte es, worauf es an einigen Stellen brach.

Es war ein Palimpsest, an vielen Stellen abgeschabt und neu beschrieben, und nicht hebräische Zeichen, sondern lateinische Buchstaben prangten darauf.

»Was hat das zu bedeuten?«, schrie er so laut, dass es von der Gewölbedecke widerhallte und bis hinaus in den Garten drang. »Wer hat das getan?«

Chaya war kreidebleich geworden.

Ungläubig starrte sie auf das Palimpsest, während sie das Gefühl hatte, in einen tiefen Abgrund zu stürzen.

Nur eine Antwort fiel ihr auf Calebs Frage ein.

Conwulf.