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22.
Feldlager vor Antiochia
25. Dezember 1097
»Und? Was wollte de Rein von dir?« Aufgeregt kam Baldric in das Zelt gestürmt, seine Frage klang unerwartet fordernd.
»Guten Morgen«, grüßte Conn, der sich eben erst von seinem Lager erhob. Es war noch früh, und der Schädel brummte ihm vom Würzwein, den er getrunken hatte.
»Was hat der Baron gesagt?«, wiederholte Baldric seine Frage, ohne die Begrüßung zu erwidern. Conn kannte seinen Adoptivvater inzwischen gut genug, um zu wissen, dass es ihm bitterernst war. »Hatte es etwas mit mir zu tun? Hat er sich nach mir erkundigt?«
»Nein.« Conn schüttelte das dröhnende Haupt, ein wenig befremdet über die Frage. »Er hat mir angeboten, für ihn zu kämpfen.«
»Dir? Weshalb?« Baldrics Miene verriet ehrliche Verblüffung, sein einzelnes Auge weitete sich.
»Weil ich ihm das Leben rettete, damals vor Dorylaeum.«
»Ist das wahr?« Das Erstaunen seines Adoptivvaters wurde noch größer. »Der Ritter, dem du in der Schlacht das Leben gerettet hast, war Renald de Rein?«
Conn nickte.
»Warum hast du das nie gesagt?«
»Weil ich es nicht wusste. Außerdem – was hätte es für einen Unterschied gemacht?«
»Ich kenne de Rein. Gut genug, um zu wissen, dass du dich besser von ihm fernhältst.«
»Das geht nicht. Ich habe sein Angebot bereits angenommen.«
»Du hast was getan?«
»Ich habe sein Angebot angenommen«, wiederholte Conn.
Baldrics Stimme wurde hart. »Nein! Als mein Adoptivsohn untersage ich dir …«
»Das kannst du nicht«, erwiderte Conn leise. »Selbst wenn du dein Einverständnis nicht gibst, hätte de Rein die Macht, es dir zu befehlen. Das soll ich dir von ihm ausrichten.«
»Du sollst es mir ausrichten?«
Conn nickte. Es war schwer zu sagen, was daraufhin hinter den narbigen Zügen seines Ziehvaters vor sich ging. Baldric straffte sich, der Blick seines Auges wurde kalt und unnahbar.
»Warum tust du das?«, wollte er wissen.
»Ich habe keine andere Wahl.«
»Man hat immer die Wahl.«
»Du vielleicht, weil du ein Denker bist und immer weißt, was richtig ist und was nicht«, räumte Conn ein. »Ich wünschte, ich wäre auch so, aber das bin ich nun einmal nicht. Ich bin nur ein dummer Angelsachse, genau wie Bertrand immer sagt.«
»Hat es mit Guillaume zu tun?«, fragte Baldric direkt.
Conn war verblüfft. »Woher …?«
»Von Bertrand. Er sagte, du hättest mit Guillaume de Rein noch eine Rechnung offen. Ist das wahr?«
Conn zögerte, hatte jedoch weder die Kraft noch den Willen, es zu leugnen. Er blickte zu Boden und nickte.
»Und ist das der wahre Grund dafür, dass du de Reins Ersuchen entsprochen hast?«
Conn nickte abermals, worauf Baldric ein tiefes Seufzen vernehmen ließ. »Hör mir zu, Conwulf. Ich will nicht weiter in dich dringen und dich nach den Gründen für deine Entscheidung fragen. Ich nehme an, dass es mit dem zusammenhängt, was damals in London geschehen ist, aber das ist nur eine Vermutung. Vielleicht wirst du es mir irgendwann erzählen, vielleicht auch nicht. In jedem Fall aber solltest du wissen, dass niemand zwei Herren zur selben Zeit dienen kann.«
Conn schaute auf. »Du forderst mich auf, zwischen dir und de Rein zu wählen?«
»Nein, Junge, sondern zwischen Licht und Finsternis. Zwischen unserer heiligen Mission und deinem ichsüchtigen Streben nach Rache!«
Conn brauchte nicht lange zu überlegen. Er musste nur an Nia denken und an das, was ihr angetan worden war, und sein Entschluss stand unverrückbar fest. »Das kann ich nicht«, wehrte er ab.
»Ist das dein Ernst? Dein Rachedurst ist dir wichtiger als dein Seelenheil?«
Conn schüttelte den Kopf. Es schmerzte ihn zu sehen, wie sehr seine Entscheidung den alten Baldric verletzte, aber er konnte sie auch nicht rückgängig machen. »Bitte verzeih. Ich erwarte nicht, dass du mich verstehst, Vater, aber ich …«
»Wenn du zu de Rein gehst«, fiel Baldric ihm barsch ins Wort, »solltest du mich besser nicht mehr deinen Vater nennen.«
Damit war alles gesagt.
Noch einen Augenblick standen sie einander gegenüber, dann hielt Conn den vorwurfsvollen Blick des Normannen nicht mehr aus. Er wandte sich ab und stampfte wütend aus dem Zelt. Auf wen sein Zorn sich richtete, wusste er selbst nicht zu sagen, nur dass er sich elend und machtlos fühlte, zerrissen zwischen den Schwüren der Vergangenheit und den Pflichten der Gegenwart.
»Conwulf?« Bertrand, der unter einem der knorrigen Bäume saß und an einem Stück Zedernholz schnitzte, winkte ihn zu sich.
»Was ist?«, fragte Conn ungehalten.
»Du hast Streit mit Baldric?«
»Er will mich einfach nicht verstehen.«
»Vielleicht nicht«, räumte Bertrand ein. »Unser guter Baldric ist alt geworden und hat eine Menge mitgemacht, und was seine Starrsinnigkeit betrifft, kann sogar ein junger Angelsachse noch etwas von ihm lernen. Dennoch sollst du eines wissen.«
»Nämlich?« Conn reckte auffordernd das Kinn vor.
»Damals, nachdem du während der Überfahrt nach Dyrrachium über Bord gegangen warst, war Baldric mehrere Tage lang nicht ansprechbar. Er gab sich die Schuld für das Unglück, und kaum hatten wir unseren Fuß an Land gesetzt, war er wie besessen davon, nach dir zu suchen. Ich weiß nicht mehr, wie oft wir uns in jener Zeit als Kundschafter betätigt haben. Kaum waren wir zurückgekehrt, ritten wir schon wieder aus – und das alles nur, um dich zu finden.«
Conn nickte nachdenklich. Im Nachhinein erklärte das, weshalb er im Lager so lange vergeblich nach Baldric und den Seinen gesucht hatte. Und auch, wie Baldric zu seinem Ruf als geübter Späher gekommen war.
»Als wir dich schließlich fanden«, fuhr Bertrand fort, »hat Baldric seinem Schöpfer auf Knien dafür gedankt. Als er dich an Sohnes statt annahm, war das nicht nur eine Geste. Der alte Dickschädel liebt dich wie einen leiblichen Sohn, Conn. Das solltest du nie vergessen.«
Conn atmete tief durch. »Das werde ich nicht«, versprach er und wollte gehen.
»Wohin des Wegs?«
»Mein Pferd satteln. Baron de Reins Truppen versammeln sich bereits.«
»Ich komme mit dir«, erklärte der Normanne und erhob sich.
»Das musst du nicht.«
»Doch«, widersprach Bertrand grinsend. »Alles andere würde mir der gute Baldric niemals verzeihen.«
»Du hast was getan?«
Entsetzt starrte Chaya auf ihren Cousin, der gesenkten Hauptes vor ihr stand, den Blick zu Boden geschlagen wie ein Kind, das gescholten wurde.
»Ich bin im Lager der Christen gewesen«, wiederholte er leise. »Ich wollte das Buch wiederbeschaffen. Und ich wollte deine Ehre wiederherstellen.«
»Meine Ehre?« Chaya, die auf einer der steinernen Bänke gesessen hatte, die die Säulenhalle des Innenhofs säumten, sprang erschüttert auf. »Was redest du da? Was hat das zu bedeuten?«
Caleb schaute auf. »Du weißt, was es bedeutet«, sagte er nur.
»Du … du wolltest Conwulfs Tod?«, hauchte Chaya.
»Sorge dich nicht«, erwiderte Caleb mit bitterem Spott. »Der Christ ist noch am Leben.«
»Du bist ihm also begegnet?« Chaya ertappte sich dabei, dass sie spontane Freude verspürte, obschon das Gegenteil der Fall hätte sein müssen. Kaum ein Tag war in den letzten Wochen vergangen, da sie nicht im Zorn an den jungen Angelsachsen gedacht hatte, der sie so schändlich hintergangen und ihr das Buch von Ascalon gestohlen hatte. Ihr Onkel sprach kaum noch mit ihr, und wäre es nicht um seines Bruders willen, hätte er sie wohl längst aus dem Haus gejagt.
»Das bin ich«, bestätigte Caleb nickend.
»Und? Was hat er gesagt?«
»Was interessiert dich das? Ich denke, du hasst ihn?«
»Was hat er gesagt?«, wiederholte Chaya.
Caleb schnaubte verächtlich. »Dass er das Buch nicht gestohlen hat – was hätte er auch sonst sagen sollen?«
»Ist das alles?«
»Das ist alles. Und er hat mein Leben geschont, als er es hätte nehmen können. Die Klinge lag bereits an meiner Kehle.«
»Ihr habt gekämpft?«
Caleb nickte. »Nicht viel hätte gefehlt, und mein Dolch hätte den Christenhund ereilt.«
»Und dann?«, fragte Chaya entrüstet. »Glaubst du, sein Tod hätte irgendetwas bewirkt? Dass er das Buch von Ascalon zurückgebracht hätte? Warum nur dürstet ihr Männer immer nach Blut?«
»Weil nur Blut die Schande reinwaschen kann, die über dich gekommen ist, Cousine.«
»Die Schande?« Chaya blickte an sich herab. Noch war die Wölbung ihres Bauchs nur klein und unter dem Stoff ihres Kleides nicht zu sehen, aber schon bald würde sich dies ändern. »So siehst du es also? Dann lass dir sagen, Caleb Ben Ezra, dass diese Schande nicht über mich gekommen ist wie ein Unwetter oder ein Schicksalsschlag. Ich habe mich Conwulf freiwillig hingegeben, und deshalb trifft mich mindestens ebenso große Schuld wie ihn.«
Caleb verzog missbilligend das Gesicht, so als ob er derlei Einwände gar nicht hören wollte. »Du verteidigst ihn? Trotz allem, was geschehen ist?«
»Was wir getan haben, war falsch, das weiß ich jetzt. Auch wenn ich es gerne ungeschehen machen würde, ich kann es nun einmal nicht.«
»Und das Buch?«
Chaya zuckte mit den Schultern. »Wenn du jemandem die Schuld am Verschwinden des Buches geben willst, dann kannst du ebenso gut mich beschuldigen. Ich habe es von meinem Vater bekommen, und ich habe ihm geschworen, es unter Einsatz meines Lebens zu hüten. Es war meine Aufgabe, meine Pflicht – und ich habe versagt, Caleb. Ich ganz allein!«
»Aber doch nur, weil dieser elende Bastard dich getäuscht und hintergangen hat!«
»Das wissen wir nicht mit Bestimmtheit. Du hast gehört, dass Conn seine Unschuld beteuert …«
»Und? Du schenkst den Lügen des Christen doch hoffentlich keinen Glauben mehr? Hast du mir nicht selbst erzählt, dass er in London ein Dieb gewesen ist? Einmal ein Dieb, immer ein Dieb!«
»Was ich glaube, ist nicht von Bedeutung. Ich weiß nur, dass Conn dein Leben geschont hat, was er nicht hätte tun müssen, denn du hattest ihn angegriffen. Es wäre sein gutes Recht gewesen, sich mit gleichen Mitteln zur Wehr zu setzen. Aber er hat dich am Leben gelassen, und dafür bin ich ihm dankbar. Was hast du dir nur dabei gedacht, eine solche Dummheit zu begehen?«
»Ich wollte dir damit helfen«, erwiderte er ein wenig unbeholfen.
»Mein guter Caleb, du hilfst mir nicht, indem du dich umbringen lässt. Oder indem du den Vater des Kindes tötest, das ich in mir trage. Du bist der Einzige, der von meinem Zustand weiß, und ich habe es dir nicht erzählt, damit du losziehst und meine Ehre mit Blut reinwäschst, sondern weil du der Einzige bist, der mir geblieben ist und mit dem ich sprechen kann.«
»Ist das wahr?«, fragte Caleb hoffnungsvoll.
»Aber ja«, versicherte sie lächelnd. »Du neigst zum Jähzorn und bisweilen auch zur Aufschneiderei. Aber du bist auch der einzige Freund, den ich noch habe.«
Calebs Hoffnung zerplatzte wie eine Seifenblase.
»Natürlich«, murmelte er säuerlich. »Nur ein Freund.«