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23.
Al-Bira, nordwestlich von Antiochia
31. Dezember 1097
Das Erwachen war böse.
Die Kämpfer der Streitmacht, die unter der Führung des Normannen Bohemund und des flämischen Grafen Robert ausgezogen war, um im weiten Hinterland Antiochias Vorräte für das hungernde Heer zu beschaffen, ruhten noch, als die Alarmrufe der Wachen sie aus dem Schlaf rissen. Hörnerklang scholl durch das Lager, heisere Befehle wurden gebrüllt.
Auch Conn fuhr in die Höhe.
Infolge der Kälte und des anstrengenden Marsches, den das Heer am Vortag bewältigt hatte, war sein Schlaf tief und voller Träume gewesen. Chaya war darin vorgekommen, ebenso wie Baldric und Pater Berengar. Wenn Conn auch nicht zu sagen vermochte, worum es genau gegangen war, blieb beim Erwachen doch ein schales Gefühl. Zeit, darüber nachzudenken, hatte er allerdings nicht.
»Was ist los?«, fragte er Bertrand, der das Lager neben ihm besetzte und ebenfalls aus dem Schlaf geschreckt war.
»Weiß nicht.« Der Normanne schüttelte das lockige Haupt. »Vielleicht wieder eine von diesen Übungen, die Bohemund so liebt.«
Doch es war keine Übung.
Als die Männer aus dem Zelt traten, sahen sie sofort, was die Wachen so in Aufregung versetzte: Ringsum auf den Hügelgraten, die das Tal umgaben, waren feindliche Soldaten aufmarschiert, seldschukische Krieger, deren Silhouetten sich bedrohlich gegen den dämmernden Morgenhimmel abzeichneten. Conn schluckte, denn soweit er es beurteilen konnte, mussten es Tausende sein.
»Zu den Waffen! Zu den Waffen!«
Der Ruf erklang, und aus der Lethargie, die die Männer eben noch gefangen hielt, wurde lärmende Betriebsamkeit. Hals über Kopf stürzten sie zurück in die Zelte, legten in aller Hast ihr Rüstzeug an und griffen zu den Waffen – während oben auf den Hügeln die türkischen Bogenschützen die Sehnen zurückzogen und einen ersten Schwarm gefiederten Verderbens auf das Feldlager niedergehen ließen.
Ein unheimliches Rauschen erfüllte die Luft, als Tausende von Pfeilen in den grauen Himmel stiegen, ihre Spitzen senkten und schließlich mit vernichtender Wucht auf das Lager und seine Bewohner niedergingen. Mit furchtbarer Gewalt schlugen die Geschosse ein, durchdrangen die Bahnen der Zelte und die Planen der Wagen, die die bislang erbeuteten Vorräte trugen. Todesschreie vermischten sich mit heiser gebrüllten Befehlen, von einem Augenblick zum anderen brach Panik unter den Kreuzfahrern aus.
Ein junger Knappe, der sich unmittelbar vor Conn auf den Boden geworfen hatte, um dem Pfeilhagel zu entgehen, wurde ins Genick getroffen und war augenblicklich tot. Andere bekamen Pfeile in den Oberkörper und blieben schreiend liegen. Auch Tiere wurden von Geschossen ereilt, Pferde und Maulesel, die in entsetzliches Wiehern verfielen. Und schon setzten die Bogenschützen zu einer zweiten Salve an …
»Bockmist«, ereiferte sich Bertrand. Hastig eilten auch sie ins Zelt zurück, um sich die Kettenhemden überzustreifen, die ihnen zumindest etwas Schutz vor den feindlichen Geschossen gewähren würden. »Wo kommen die plötzlich alle her?«
»Wir sind fremd in diesem Land, vergiss das nicht«, erwiderte Conn. »Sie hingegen kennen jeden Stein.«
»Das ist nicht gut«, bemerkte der untersetzte Normanne kopfschüttelnd, und zum ersten Mal meinte Conn, Furcht in seinen sonst so unbekümmerten Zügen zu lesen. »Ganz und gar nicht gut …«
Sie setzten die Helme auf und griffen zu den Schilden, dann stürmten beide wieder nach draußen. Soeben ging eine weitere vernichtende Ladung von Pfeilen nieder. Die Männer rissen die Schilde hoch und duckten sich in ihren Schutz. Conns Schild erbebte, als sich gleich zwei Geschosse hineinbohrten. Beide Spitzen gruben sich tief in das Holz, jedoch drang keine hindurch.
Im Lager war Chaos ausgebrochen. Nur vereinzelt wurde Gegenwehr geleistet, hier und dort entließen flämische Bogenschützen Pfeile von den Sehnen, doch ihre Anzahl war lächerlich gering im Vergleich zu den todbringenden Schwärmen, die von beiden Seiten des Tals niedergingen und sich mit hässlichem Geräusch in menschliche wie tierische Leiber bohrten.
Schreie waren allenthalben zu hören, die Befehle der Unterführer drangen kaum noch durch. Überall lagen mit Pfeilen gespickte Körper, reckten Verwundete die Arme in die Höhe im verzweifelten Bemühen um Hilfe. Immerhin war die erste Überraschung verwunden, und zumindest die schwer gerüsteten Kämpfer waren dem Hagel der Pfeile inzwischen nicht mehr ganz so schutzlos ausgesetzt. Die Fußsoldaten, deren Schuppenpanzer und lederne Röcke nur sehr viel geringeren Schutz versprachen, behalfen sich, indem sie jede Deckung nutzten, die sich ergab – von Büschen und Bäumen bis hin zu den Kadavern toter Pferde und den Vorratskarren, die sie kurzerhand umkippten, damit sie größeren Schutz gewährten.
Die Befehlshaber der Muselmanen mussten erkennen, dass ihre anfängliche Taktik, den Gegner zu überraschen und ihn mit Pfeilhageln zu überziehen, zwar aufgegangen war, jedoch bei Weitem nicht ausreichen würde, um ihn zu besiegen. Entsprechend wurden bunte Banner geschwenkt und Zeichen gegeben, mit dem Ergebnis, dass sich im nächsten Moment die Hügel selbst in Bewegung zu setzen schienen – das feindliche Fußvolk ging zum Angriff über.
Zu Hunderten stürmten leicht bewaffnete Kämpfer die Hänge herab, Armenier, Turkmenen und Araber, die je nach Herkunft mit kurzen Speeren, langstieligen Äxten oder der gefürchteten gekrümmten Klinge bewaffnet waren. Vergeblich suchten die Unterführer der Kreuzfahrer, die Reihen ihrer Männer zu ordnen und eine Verteidigung zu organisieren. Zwar fielen einige Dutzend der Angreifer den Pfeilen und Armbrustbolzen zum Opfer, die ihnen aus den Reihen der Flamen entgegenflogen, doch schon kurz darauf hatten die ersten von ihnen die Talsohle erreicht und ein heftiger Schlagabtausch Mann gegen Mann begann.
Von beiden Seiten brandeten die feindlichen Kämpfer wie eine Naturgewalt heran, und die Kreuzfahrer warfen sich ihnen entgegen. Heiseres Geschrei und Waffengeklirr erfüllten die staubgetränkte Luft, und Conn wurde klar, dass es aus diesem Hinterhalt kein Entkommen gab.
Er hatte sich oft gefragt, wie es sein würde, sich im Kampf einer erdrückenden Übermacht ausgesetzt zu sehen und zu wissen, dass man verlieren würde. Furcht spielte eine gewisse Rolle, aber sie war längst nicht so ausgeprägt, wie Conn stets vermutet hatte. Vielmehr empfand er Bedauern – über Dinge, die er gesagt und getan, aber auch über manches, das er nicht gesagt und getan hatte.
»Bertrand, ich …«, wandte er sich an den Normannen, der hinter ihm stand und den Schild halb erhoben hatte, damit sie Rücken an Rücken kämpfen und so möglichst lange Widerstand leisten konnten.
»Schon gut, du angelsächsischer Starrkopf«, schnitt ihm Bertrand das Wort ab. »Ich bin nicht nur um deinetwillen mitgekommen, ich wollte auch ein wenig Beute machen. Dämliche Idee, was? Baldric hatte wohl recht.«
»Ja, das hatte er wohl.«
Dann waren die feindlichen Streiter auch bei ihnen angelangt.
Der Krieger, der sich Conn entgegenwarf, trug einen Rock aus grauem Filz und einen Überwurf aus Wolfsfell auf Kopf und Schultern, der ihn als Bewohner der Bergregionen kennzeichnete. Die Axt, die er mit heiserem Geschrei gegen Conn schwang, war blutbesudelt.
Instinktiv riss Conn den Schild hoch, der unter dem Aufprall erbebte, dann stieß er mit der eigenen Klinge zu. Der Muselmane, dessen Schild wesentlich kleiner war, wehrte die Attacke erfolgreich ab, gab sich jedoch eine Blöße, als er zu einem weiteren Hieb ausholte. Conns Klinge bohrte sich in seine Brust, sein Kampfgebrüll erstarb. Ächzend ging der Mann nieder, doch sofort waren zwei seiner Kameraden heran und nahmen seinen Platz ein. Das Hauen und Stechen ging weiter, überall im Lager. An einigen Stellen waren die Angreifer bereits durchgebrochen und drangen zur Mitte der Talsohle vor, um die Streitmacht der Kreuzfahrer zu teilen und dann die einzelnen Gruppen zu vernichten – und es sah aus, als ob dieser Plan aufgehen würde.
»Bertrand!«, schrie Conn. Er konnte nicht wagen, sich nach dem Freund umzusehen, spürte ihn jedoch auch nicht mehr hinter sich.
»Ich bin hier«, kam es zurück, allerdings aus einigen Schritten Distanz. In der Hitze des Kampfes war Bertrand abgedrängt worden, sodass Conns Rücken nun ungeschützt war.
Mit einem überraschenden Ausfall versuchte er, zumindest einen der beiden Angreifer loszuwerden, die ihn mit grimmiger Wut bedrängten. Dem einen brachte er eine Wunde an der Schulter bei, der andere griff umso erbitterter an. Das Blatt der Axt zischte heran, und einmal mehr hob Conn den Schild. Die Wucht des Aufpralls war jedoch so groß, dass sie ihn aus dem Gleichgewicht brachte. Conn taumelte, worauf sein Gegner unbarmherzig nachsetzte. Ein Tritt traf Conn und brachte ihn zu Fall, wobei er sich das Kinn am Rand des Schilds stieß. Heißer Schmerz durchzuckte ihn. Als er wieder nach oben blickte, sah er den Wolfskrieger über sich stehen, die Axt beidhändig erhoben, um ihm Schädel und Helm gleichermaßen zu zerschmettern.
Conn war wie vom Donner gerührt. Ihm wurde bewusst, dass dies das Ende war – und es kam ihm entsetzlich sinnlos vor.
Warum war er nicht in London beim Diebstahl geschnappt worden wie der arme Tostig und hatte ein schmähliches Ende am Galgen gefunden? Warum war er nicht in der stürmischen See ertrunken oder während des langen Marsches nach Osten verhungert? Warum hatte er all diese Fährnisse überstanden, wenn ein grässlicher Axthieb seinem Leben nun ein so jähes und grausames Ende setzte?
Conn wusste, dass er keine Antwort bekommen würde. Instinktiv schloss er die Augen, als könnte er das Unausweichliche so verhindern – als plötzlich etwas sein Gesicht benetzte. Er riss die Augen auf und sah, dass sich der Rock seines Gegners rot verfärbt hatte. Aus seiner Brust ragte die blutige Spitze eines Schwertes.
Der muslimische Kämpfer beendete sein Leben in Todeszuckungen. Das Schwert wurde herausgerissen, der leblose Körper des Wolfskriegers brach zusammen – und hinter ihm stand Renald de Rein, begleitet von zwei seiner Ritter. Helm, Gesicht und Rüstung des Barons waren blutbesudelt, seine kleinen Augen loderten vor Kampfeswut. »Damit ist die Schuld wohl beglichen, Angelsachse«, sagte er.
Conn murmelte einen knappen Dank und sah zu, dass er die Beine wieder unter seinen Körper brachte. Ringsum wogte der Kampf weiter; Conn sah Bertrand, der sich einer erdrückenden Übermacht von Turkmenen gegenübersah, und wollte ihm zu Hilfe kommen, doch de Rein hielt ihn zurück.
»Komm mit«, forderte er ihn auf.
»Wohin?«
»Zu den Pferden! Wir wagen den Ausbruch!«
Conn starrte de Rein in das fleischige, von roten Sprenkeln übersäte Gesicht. Ausbruch – dieses Wort weckte Hoffnung. Aber es bedeutete auch, dass die Bogenschützen und Fußsoldaten, all jene, die nicht über ein Pferd und schwere Panzerung verfügten, zurückbleiben und dem sicheren Tod überlassen würden.
Auch Bertrand.
»Nein«, rief er instinktiv und schüttelte den Kopf. »Das dürfen wir nicht!«
»Willst du die Befehle Herrn Bohemunds anzweifeln?«, brüllte de Rein über den Schlachtenlärm hinweg.
Conns Blicke flogen zwischen de Rein und dem bedrängten Bertrand hin und her, der sich nicht mehr lange halten können würde.
»Bertrand ist mein Freund«, stieß er hervor. »Ich muss ihm helfen!«
»Nein. Ich bin dein Anführer! Deine Sorge hat mir zu gelten und niemandem sonst, verstanden?«
Connwulfs Zögern währte nur einen Augenblick. »Ich kann nicht, Herr!«, rief er, und noch ehe der Baron etwas erwidern konnte, hatte sich Conn bereits abgewandt und in das Kampfgetümmel gestürzt, das ihn sogleich verschlang.
Was de Rein tat, bekam er nicht mehr mit – seine ganze Aufmerksamkeit galt Bertrand. Mit zusammengebissenen Zähnen schwang Conn das Schwert und fällte einen feindlichen Kämpfer, einen weiteren rannte er mit dem Schild über den Haufen. Mit wuchtigen Hieben schlug er um sich und bahnte eine blutige Schneise in den Kordon der Krieger, die den armen Bertrand umlagerten. Erst als er den Freund erreichte, der am linken Ohr heftig blutete und dessen Helm eine tiefe Delle aufwies, merkte Conn, dass er die ganze Zeit über wie von Sinnen geschrien und seine Wut laut hinausgebrüllt hatte. Im wilden Rausch des Kampfes brachte er einem weiteren Turkmenen eine klaffende Wunde bei, dann rief er Bertrand zu, dass sie sich zu den Pferden durchschlagen sollten.
Conn war wahrlich nicht stolz darauf, aber er war zu der Einsicht gelangt, dass der gestrenge Bohemund recht hatte: Wenn sie blieben und bis auf den letzten Mann niedergemacht wurden, war die Schlacht in jedem Fall verloren. Wenn hingegen den berittenen Kämpfern der Ausbruch gelang, bestand noch ein Funke Hoffnung.
Bertrand hatte weit weniger Probleme, dem Befehl Herrn Bohemunds zu folgen. Seite an Seite mit Conn bahnte er sich einen Weg durch das wogende Getümmel, hin zu den Pferden. Zwar waren viele Schlachtrosse im Pfeilhagel verendet, der überwiegende Teil hatte jedoch unter ausladenden Bäumen gelagert und war den Geschossen entgangen. Da auch die Anzahl der Reiter durch den Beschuss reduziert worden war, waren genügend Tiere vorhanden.
In aller Eile wurden sie gesattelt. Schon bestiegen die ersten Ritter ihre Pferde, die Schilde hochhaltend, um sich gegen Speere, Pfeile und Steine zu schützen, die einige der Muselmanen aus ledernen Schlingen schleuderten. Wo sein eigenes Pferd abgeblieben war, wusste Conn nicht – Bertrand und er stiegen in die nächsten herrenlosen Sättel und lenkten ihre Tiere zu den anderen.
»Die Reihen schließen! Schildwall bilden!«
Den Rittern war klar, dass jeder Versuch, den Kordon der Angreifer zu durchbrechen, zum Scheitern verurteilt war, wenn jeder einzeln für sich kämpfte. Nur gemeinsam, Ross an Ross und Schild an Schild, hatten sie eine Chance, den Wall der Feinde zu überwinden, und so drängten sich Pferde wie Reiter eng aneinander, während sie sich zum nordwestlichen Ausgang des Tals bewegten. Unterwegs schlossen sich ihnen weitere Reiter an, sodass es ein Pulk von beinahe siebenhundert Kämpfern war, der schließlich das Ende der Talsohle erreichte und in geschlossener Formation gegen die Reihen der Angreifer vorrückte.
Pfeile und Wurfgeschosse gingen auf die gepanzerten Kämpen nieder, und obwohl die Reiter alles daransetzten, sich nach vorn und nach oben mit ihren Schilden abzuschirmen, fanden hin und wieder einige ihr Ziel. Ein italischer Normanne aus den Reihen Bohemunds, der direkt neben Conn ritt, wurde tödlich getroffen, als sich ein Armbrustbolzen in sein linkes Auge bohrte. Doch Rosse und Kämpfer waren so dicht gedrängt, dass der Leichnam nicht vom Pferd fallen konnte. Schwankend hielt er sich im Sattel, als wollte er seinen Kameraden auch im Tode noch beistehen – nur eines von vielen bizarren Bildern, die sich in Conns Gedächtnis brannten.
Die Tiere, eben noch langsam trabend, verfielen in Galopp, und die Kämpfer in der vordersten Reihe, unter ihnen auch Herr Bohemund selbst, legten ihre Lanzen ein – um sie nur wenige Augenblicke später in die Körper ihrer überraschten Feinde zu stoßen. Die Muselmanen wichen entsetzt zurück, als die massierte Reiterei in ihre Reihen brach. Nun, da die Distanz überwunden war und der Nahkampf ausbrach, verwarfen die Ritter ihre enge Schlachtformation und fächerten sich auf, fielen mit der Wucht eines Ungewitters über die verschreckten Feinde her.
»Vorwärts! Vorwärts!«, trieb Herr Bohemund die Seinen an, während sein Schwert einem seldschukischen Krieger tief in die Schulter fuhr – und von der Aussicht beflügelt, der Todesfalle zu entkommen und das Schlachtgeschehen womöglich doch noch zu wenden, gaben Conn und Bertrand ihren Pferden die Sporen.
Von jenem Höhenzug aus, den Fürst Duqaq zum Feldherrenhügel erkoren hatte, beobachtete Bahram al-Armeni, was unten im Tal vor sich ging – und traute seinen Augen nicht.
Aus nordöstlicher Richtung hatte sich das Heer, das aus den vereinten Armeen von Damaskus und Hama bestand und an die zwölftausend Mann zählte, den Kreuzfahrern genähert. Die unübersichtliche, von tiefen Schluchten durchzogene Landschaft hatte es den Angreifern ermöglicht, bis auf kurze Distanz an das feindliche Heer heranzukommen. Den Rest hatten sie nach Einbruch der Dunkelheit bewältigt und bei Tagesanbruch Stellung auf den Hügeln bezogen, die das Lager der Kreuzfahrer umgaben; als diese am Morgen endlich merkten, dass sie eingekreist worden waren, war es bereits zu spät gewesen.
Die Falle war zugeschnappt, und zusammen mit der Überraschung hatte sich auch das Schlachtenglück auf der Seite der Angreifer befunden, die zu tausenden in das Tal stürmten, um den überrumpelten Gegner niederzumachen und ihn zu lehren, Syrien niemals wieder zu betreten. Zu hunderten waren die Kreuzfahrer den Pfeilen und Schwerthieben der ajnad zum Opfer gefallen, die Seite an Seite mit Hamas Soldaten kämpften, unterstützt von arabischen und armenischen Truppen. Eine ganze Weile lang hatte es so ausgesehen, als ob die Sache der Kreuzfahrer bei Al-Bira ein ebenso jähes wie blutiges Ende nehmen würde – doch soeben geschah etwas, womit weder Bahram noch einer der anderen Heerführer gerechnet hatte.
Die berittenen Kämpfer der Christen ließen jene ihrer Leute, die zu Fuß auf verlorenem Posten kämpften, zurück, um am nördlichen Ausgang des Tals einen Ausbruch zu wagen!
Im Süden des Lagers, wo sich die gepanzerten Reiter bereits zurückgezogen hatten und ihre fehlende Kampfkraft klaffende Lücken hinterließ, brachen daraufhin alle Dämme. Turkmenische Schwertkämpfer, arabische Lanzenträger und Fußvolk aus den rauen Bergregionen Armeniens – sie alle fielen über die Soldaten der Kreuzfahrer her, die ihnen nichts mehr entgegenzusetzen hatten und ohne Ausnahme niedergemacht wurden.
Am anderen Ende des Taleinschnitts jedoch bot sich ein gegenteiliges Bild, denn einer Streitmacht von mehreren hundert Reitern war es gelungen, mit einem geschlossenen Schildwall aus dem Lager auszubrechen. Wie eine Naturgewalt fuhren die Ritter in die Reihen der Armbrustschützen und Leichtbewaffneten, die das Tal nach Norden hatten abriegeln sollen. Die Männer, von denen die meisten der Miliz von Damaskus angehörten, hatten ihrerseits kein Mittel gegen die hoch zu Ross kämpfenden und schwer gepanzerten Christen. Unter den Schwerthieben der Ritter fielen sie wie Ähren auf dem Feld zur Erntezeit.
Bahram sog scharf die Luft ein. Zwar waren es wenigstens zweitausend Mann, die den Ausgang nach Norden versperrten, aber wenn es den Kreuzfahrern gelang, auch ihre Reihen zu durchbrechen und anschließend jenen Truppen in die Flanke zu fallen, die die Fußkämpfer der Christen attackierten, so bestand durchaus die Gefahr, dass sich das Schlachtenglück wendete.
Das Pferd, auf dem Bahram saß, ein rabenschwarzer Berberhengst mit einer Decke aus orangefarbenem Brokat und einer metallenen Schürze, die Stirn und Hals des Tieres vor feindlichen Pfeilen schützen sollte, spürte die plötzliche Nervosität seines Herrn. Kurz entschlossen riss Bahram am Zügel und drehte das Tier auf der Hinterhand herum, sprengte an den anderen Offizieren und den Unterführern der ghulam vorbei zum Befehlsstand der Emire.
Während der Statthalter von Hama auf einem Pferd saß, thronte Duqaq auf einem Kamel, auf dessen Rücken sich ein kastenförmiger Aufbau mit einem gewölbten Baldachin aus Stoff erhob. Wie schon in Damaskus trug er ein blutrotes Gewand. Als er Bahram heransprengen sah, winkte er ihm schon von Weitem.
»Sei gegrüßt, mein trefflicher Armenier«, sprach er, als Bahram den Hengst zügelte. »Bist du gekommen, um uns vom endgültigen Triumph unserer vereinten Armeen zu berichten?«
»Nein, mein Fürst«, antwortete Bahram, dem klar war, dass seine Neuigkeiten den Emiren nicht gefallen würden. »Ich komme, um zu berichten, dass einem Teil der Christen der Ausbruch geglückt ist.«
»Einem Teil?« Duqaqs schmale Züge nahmen einen missbilligenden Ausdruck an. »Von wie vielen Kämpfern sprechen wir hier?«
»Nur einige hundert«, schätzte Bahram. »Aber sie sind gepanzert und zu Pferde. Wenn es ihnen gelingt, die Reihen der ajnad zu überwinden …«
»Wenn es ihnen gelingt.« Der Ton seiner Stimme blieb gelassen. Den Emir von Hama, der neben Duqaq auf seinem Pferd saß und nervös zu ihm aufschaute, beschwichtigte er mit einer wegwerfenden Handbewegung. »Die Kämpfer der ajnad sind zahlreich wie die Sterne. Ich denke nicht, dass es ein paar hundert Christen gelingen wird, sie zu schlagen.«
»Es spricht manches dagegen«, gab Bahram zu. »Doch wenn wir sichergehen wollen, sollten wir unbedingt die ghulam zum Einsatz bringen.«
Duqaqs grüne Augen funkelten wie Smaragde. »Du willst die ghulam in die Schlacht schicken? Meine besten Krieger? Meine persönliche Garde?«
»Die ghulam wären in der Lage, den Ansturm der Christen aufzuhalten, mein Fürst. Gebt mir nur fünfhundert von ihnen, und ich werde …«
»Denkst du nicht, dass du die Fähigkeiten der Ungläubigen ein wenig überschätzt?« Der Herr von Damaskus grinste unverhohlen. »Vielleicht liegt es ja daran, dass du selbst einer von ihnen bist.«
Der Emir von Hama lachte daraufhin, und auch einige seiner Offiziere und strategischen Berater stimmten in das Gelächter ein. Es war offenkundig, dass niemand die Einwände hören wollte, die Bahram vorbrachte. Zu eindeutig war der bisherige Schlachtverlauf gewesen, als dass jemand daran gezweifelt hätte.
»Mein Fürst«, versuchte Bahram es dennoch ein weiteres Mal, »ich beschwöre Euch …«
»Was reitet dich, Armenier?«, zischte Duqaq und beugte sich auf seinem hohen Sitz drohend nach vorn. »Du hast meinem Vater lang und treu gedient, aber du solltest weder deine Kenntnisse noch deine Privilegien überschätzen. Willst du meinen Triumph im Augenblick des Sieges schmälern? Willst du, dass ich mich vor meinem Amtsbruder lächerlich mache, indem ich meine besten Krieger aussende, um einen Gegner zu bekämpfen, der bereits am Boden liegt?«
Bahram hielt dem bohrenden Blick seiner zu Schlitzen verengten Augen einen Moment lang stand, dann wich er ihm aus, wissend, dass es ebenso sinnlos wie gefährlich gewesen wäre, abermals zu widersprechen.
»Nein, mein Fürst«, sagte er deshalb, verbeugte sich im Sattel und drehte sein Pferd herum, um auf seinen Posten zurückzukehren. Er ahnte, dass die dunkle Zukunft, die die Sterne vorhergesagt hatten, in diesem Moment begann.