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24.
Antiochia
Anfang Januar 1098
»Chaya! Chaya!«
Calebs Stimme überschlug sich, während er aufgeregt an die Tür von Chayas Kammer klopfte. Chaya eilte, um ihm zu öffnen – und war verblüfft über das, was sie sah.
Caleb hatte sich verändert.
Seine gestreifte Kaufmannsrobe hatte er gegen eine weiße Tunika getauscht, die ihm bis zu den Knien reichte. Darüber trug er eine Schärpe und einen Schwertgurt, an dem eine gekrümmte Klinge hing. An seinem linken Arm hatte er einen runden Schild, auf seinem Kopf thronte ein konisch geformter Helm, der schon bessere Zeiten gesehen hatte und ein wenig zu groß für ihn war. Der Vergleich mit einem Knaben, der sich verkleidet hatte, um Soldat zu spielen, drängte sich Chaya förmlich auf, doch der feierliche Ernst in den Zügen ihres Cousins sagte ihr, dass dies kein Spiel war.
»Caleb! Was ist geschehen?«
»Hast du es denn noch nicht gehört? Die Armee, die der Emir von Damaskus ausgesandt hat, um die Kreuzfahrer zu vertreiben, wurde vernichtend geschlagen! Tausende seiner Krieger haben den Tod gefunden, der Rest befindet sich auf der Flucht. Nun werden die Christen Antiochia wohl mit ganzer Kraft und all ihren Kämpfern angreifen.«
»Das … das ist schrecklich«, sagte Chaya.
»Schrecklich für sie, denn an den Mauern unserer Stadt werden sie eine schreckliche Niederlage erleiden – und wenn ich persönlich dafür sorgen muss.«
»Du?«
»Ich habe mich der jüdischen Bürgerwehr angeschlossen«, verkündete Caleb voller Stolz. »Endlich darf ich mich im Kampf bewähren und den Christen das geben, was sie verdienen.«
»Oh, Caleb, mein guter Caleb«, flüsterte Chaya erschrocken. »Was hast du nur getan?«
»Was ich schon längst hätte tun sollen. Was jeder aufrechte Jude tun sollte. Ich bin bereit, meinen Glauben mit dem Schwert in der Hand zu verteidigen. Antiochia darf nicht fallen, sonst steht den Christen der Weg nach Jerusalem und ins Land der Väter offen, und das darf nicht geschehen, das weißt du so gut wie ich!«
Chaya nickte – natürlich wusste sie nur zu gut, was sich in Jerusalem befand. Das Buch von Ascalon berichtete davon, und einmal mehr verwünschte sie sich dafür, dass es sich nicht mehr in ihrem Besitz befand.
Caleb wusste den Schatten auf ihren Zügen richtig zu deuten. »Ich bin nicht gekommen, um dir Vorhaltungen zu machen, Cousine. Ich bin nur hier, um mich von dir zu verabschieden und dich um deinen Segen und dein Gebet zu bitten.«
»Oh, Caleb.« Chaya trat auf ihn zu und fasste ihn an den Schultern. Sie fürchtete um sein Leben und hätte ihn am liebsten daran gehindert, das Haus zu verlassen. Aber natürlich war ihr klar, dass sie das nicht konnte. »Meine Gebete und meine guten Wünsche begleiten dich«, sagte sie stattdessen und küsste ihn auf die gesenkte Stirn. »Möge der Herr dich beschützen.«
»Und möge er meine Klinge führen, auf dass sie viele Christenhunde ereile«, fügte Caleb feierlich hinzu.
»Möge er dich beschützen«, wiederholte sie.
»Du fühlst noch immer mit ihnen.«
»Nicht alle Christen sind schlecht. Es gibt auch gute Menschen unter ihnen.«
»So wie in jedem Volk – und doch hat der Herr einst die Sintflut gesandt, um das Böse auf Erden auszulöschen. Die Wohltaten Einzelner können nicht alle Bluttaten aufwiegen, die diese Frevler auf sich geladen haben. Sie müssen vernichtet werden, oder sie werden uns vernichten. Alle, ohne Ausnahme – auch dein geliebter Conwulf.«
»Nein«, sagte Chaya schnell und mit derartiger Leidenschaft, dass Caleb sie befremdet anschaute.
»Du liebst ihn noch immer, nicht wahr?«
»Er ist der Vater meines Kindes«, antwortete sie.
»Und ein Dieb und Lügner.«
»Das wissen wir nicht. Er hat dein Leben geschont, oder nicht?«
»Das hat er – aber vielleicht ging es ihm ja auch nur darum, deinen Geist zu verwirren und dich abermals zu täuschen?«
»Das ist nicht wahr.« Chaya schüttelte trotzig den Kopf.
Caleb lachte auf. »Was wahr ist und was nicht, wirst du spätestens an dem Tag erfahren, da die Christen mit Feuer und Schwert über uns herfallen.«
Damit wollte er sich zum Gehen wenden, als unvermittelt sein Vater in der Tür der Kammer erschien. Die Züge Ezra Ben Salomons waren dunkelrot vor Zorn. Seine buschigen Augenbrauen hatten sich unheilvoll zusammengezogen, Wut sprach aus seiner ganzen massigen Erscheinung.
»Ist es wahr?«, verlangte er von Chaya zu wissen. Caleb ignorierte er.
»Wovon sprichst du, Onkel?«, fragte Chaya eingeschüchtert. Seit er wusste, dass sie das Buch von Ascalon verloren hatte, hatte ihr Onkel kaum noch mit ihr gesprochen. Umso verwunderter war sie über diesen Ausbruch.
»Irit hat mir erzählt, dass du dich jeden Morgen nach dem Aufstehen übergibst, und Rinah hat dich im Badehaus gesehen. Sie sagt, dein Bauch weise eine verdächtige Erhebung auf.«
Chaya schloss die Augen.
Ihr war klar gewesen, dass sie die Wahrheit nicht ewig verbergen konnte. Aber sie hatte gehofft, ein wenig mehr Zeit zu haben, um …
»Willst du wohl sprechen?«, fuhr Ezra sie an. »Ist es wahr, was meine Töchter mir berichten?«
Chaya schaute zu ihm auf, bemüht, ihre Würde zu wahren. »Es ist wahr. Und deine Vermutung ist richtig, Onkel. Ich erwarte ein Kind …«
Weiter kam sie nicht.
Die Ohrfeige, die Ezra ihr mit dem Handrücken versetzte, traf sie mit voller Wucht, sodass sie benommen niederging. Caleb, der entsetzt dabeistand, starrte abwechselnd auf seinen Vater und auf seine auf den Knien liegende Cousine, wagte jedoch keinen Einwurf.
»Das genügt«, sagte Ezra mit zornbebender Stimme. »Du hast meine Gastfreundschaft und meinen guten Willen die längste Zeit herausgefordert. Dein schändliches Versagen hätte ich meines geliebten Bruders wegen noch geduldet, aber nun hast du Schande über mein Haus gebracht. Wer ist der Vater des Kindes, sprich!«
Chaya kauerte noch immer am Boden. Sie zitterte am ganzen Leib, fürchtete sich vor dem, was ihr Onkel ihr als Nächstes antun würde – aber sie schwieg.
»Wer ist der Vater?«, schrie er so laut, dass sich seine Stimme überschlug. Seine bärtige Gestalt war schrecklich anzusehen, Funken schienen aus seinen einstmals so milde blickenden Augen zu schlagen. »Sag es mir, ehrloses Weib, oder ich schwöre, dass ich die Wahrheit aus dir herausprügeln werde!«
»Nein«, weigerte Chaya sich kopfschüttelnd und unter Tränen. »Das werde ich nicht tun.«
»Ist das dein letztes Wort?« Die Drohung, die in Ezras Stimme mitschwang, war überdeutlich.
»Ja, Onkel.«
»Verdammte Hure!« Er beugte sich hinab, um sie an den Haaren zu packen und zu sich emporzureißen, aber seine fleischigen Pranken erreichten sie nicht. Denn plötzlich stand Caleb zwischen ihnen, der sich schützend vor Chaya stellte.
»Nicht, Vater!«
»Was geht es dich an? Geh mir aus dem Weg, Sohn, oder ich …«
»Ich bin der Vater des Kindes«, erklärte Caleb schlicht.
»Was?« Der Kaufmann starrte ihn an, als hätte er den Verstand verloren.
»Nein, Caleb«, rief Chaya beschwörend, »tu das nicht!«
»Ich bin der Vater«, wiederholte Caleb, ohne mit der Wimper zu zucken. »Es ist mein Kind, das Chaya unter dem Herzen trägt.«
Ezra stand wie jemand, der einen Schlag auf den Kopf erhalten hatte. Seine massige Gestalt wankte, sein Gesichtsausdruck war der eines Ochsen. »Du? Aber …«
»Wir lieben uns und werden heiraten«, erklärte Caleb seinem verblüfften Vater.
»Ist das wahr?«, fragte er an Chaya gewandt.
»So wahr ich hier vor dir stehe«, versicherte Caleb, noch ehe seine Cousine antworten konnte. »Bitte verzeih, dass wir es dir nicht früher gesagt haben, aber wir wollten dich in diesen dunklen Tagen nicht mit unseren Plänen belasten.«
Der Kaufmann gab ein Schnauben von sich, in dem seine ganze Wut zu verpuffen schien. Mit hängenden Schultern stand er da und schien sich wie ein ausgemachter Narr vorzukommen. Er öffnete den Mund, als wollte er etwas sagen, besann sich dann jedoch anders, fuhr herum und verließ die Kammer so unvermittelt, wie er eingetreten war.
»Alles in Ordnung?«, fragte Caleb und reichte Chaya die Hand, um ihr aufzuhelfen.
»Es geht schon«, versicherte sie. Wankend kam sie auf die Beine und strich sich das wirre Haar aus dem Gesicht. »Was hast du nur getan, Caleb? Das hättest du nicht tun dürfen.«
»Wäre es dir lieber gewesen, mein Vater hätte dich verprügelt und in Schimpf und Schande aus dem Haus gejagt?«
»Nein, aber …«
»Dann solltest du mir verbunden sein und das Geschenk annehmen, das ich dir biete.«
»Aber ich …« Sie schaute ihn an, dankbar und bedauernd zugleich. »Ich liebe dich nicht, Caleb.«
Er erwiderte ihren Blick, ohne dass zu erkennen war, was hinter seinen jungenhaften Zügen vor sich ging. »Dann«, erwiderte er ohne Genugtuung, aber auch ohne eine Spur von Mitleid, »wirst du es wohl lernen müssen.«