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25.

Feldlager vor Antiochia

Anfang Februar 1098

Es war dunkel in dem Loch, in das Conn geworfen worden war – eine Grube, die man eigens für ihn ausgehoben hatte und die gerade so groß war, dass er mit angewinkelten Beinen darin sitzen konnte.

Wie lange er schon darin kauerte, wusste er nicht genau zu sagen – seiner Einschätzung nach war das siegreiche Heer Bohemunds, dem es gelungen war, die schon verloren geglaubte Schlacht bei Al-Bira noch zu wenden, vor rund einer Woche nach Antiochia zurückgekehrt. Für Conn, der in seinem Loch saß, spielte die Zeit keine Rolle, ebenso wenig, wie Tag und Nacht einen Unterschied machten.

Er war abgemagert infolge der schlechten Ernährung, die man ihm zukommen ließ, und er fror erbärmlich. Und, was noch schlimmer war, er hatte keine Ahnung, was ihn erwartete. Immer wieder hörte er Baldrics Stimme in seinem Hinterkopf, die ihn vor Renald de Rein warnte – warum nur hatte er nicht auf seinen Adoptivvater gehört?

Der Ausbruch der Berittenen aus der Umklammerung des Feindes hatte dem Schlachtgeschehen die entscheidende Wendung gegeben. Mit dem Mut der Verzweiflung waren die Kreuzfahrer in die ungeschützte Flanke des Gegners vorgestoßen, und ein elendes Morden war entbrannt, schlimmer als alles, was Conn je zuvor erlebt hatte. Über viele Stunden dauerte es an, und als sich der Tag dem Ende neigte, schien es, als hätte sich der gesamte Grund des Tales mit leblosen Körpern gefüllt – gefallene Muselmanen, aber auch hunderte von Kreuzfahrern, die durch Bohemunds überraschendes Manöver im Stich gelassen worden waren. Irgendwann, so erinnerte sich Conn, war die Kunde durchgedrungen, dass Graf Robert von Flandern und seine Leute, die im Zuge des Kampfgeschehens abgedrängt worden waren, den Sieg davongetragen hätten. Daraufhin ergriffen die verbliebenen Seldschuken die Flucht, und der Tag war gewonnen – nur nicht für Conn.

Zwei Schergen Renald de Reins hatten ihn mit der Begründung festgenommen, er habe angesichts der feindlichen Übermacht Feigheit gezeigt und seinem Anführer im Augenblick höchster Not die Gefolgschaft verweigert. Bertrands Proteste, Conn hätte unter Einsatz seines eigenen Lebens das seine gerettet, verhallten ungehört – den Rest der Expedition verbrachte Conn in Fesseln.

Die Rückkehr des Heeres nach Antiochia löste trotz des Sieges keinen Jubel aus. Zu hoch war der Blutzoll, den die Schlacht gefordert hatte, vom Verlust unzähliger Reit- und Lasttiere ganz zu schweigen. Auch war das eigentliche Ziel, Vorräte aus dem Hinterland heranzuschaffen, nicht erreicht worden, sodass sich der Mangel im Lager zu einer regelrechten Hungersnot auswuchs. Brot und Fleisch waren nur noch mit Gold zu bezahlen, und erneut kam es zu Auflösungserscheinungen im Heer, weil die Zahl jener Ritter, die mittellos geworden waren und deshalb mit den Ihren abziehen mussten, von Tag zu Tag wuchs. Die Stimmung im Lager litt entsprechend, und es gehörte nicht viel dazu, sich auszumalen, was vor diesem Hintergrund mit einem Kämpfer geschehen würde, den man der Feigheit und des Verrats bezichtigte.

Irgendwann – Conn wusste nicht einmal, welche Tageszeit es war – wurden die Steine über seinem dunklen Gefängnis weggewälzt, und der hölzerne Deckel, der die Grube verschloss, wurde angehoben.

Sonnenlicht fiel ein, so grell und blendend, dass es Conn in den Augen schmerzte und er sie mit den Händen abschirmen musste.

»Rauskommen«, forderte ihn eine barsche Stimme auf, und noch ehe er reagieren oder auch nur etwas erkennen konnte, packten ihn grobe Hände unter den Achseln und zerrten ihn aus der Grube. Conn stieß sich das Kinn und bekam Staub in den Mund. Er hustete und würgte, was seine Häscher arg belustigte. Dann wurde er in die Höhe gerissen und aufgefordert, mitzukommen, was ihn vor große Schwierigkeiten stellte, denn infolge der drückenden Enge seines Gefängnisses waren seine Beine wie taub. Conn versuchte, einen Schritt zu machen, brach jedoch sogleich wieder zusammen. Erneut lachten die Kerle, die er nun blinzelnd als hünenhafte, mit Helmen und Speeren bewehrte Schatten wahrnahm. Mühsam raffte er sich auf die Knie. Als er jedoch versuchte, wieder auf die Beine zu kommen, fiel er um wie ein nasser Sack, worauf die Wachen ihn kurzerhand ergriffen und mitschleppten. Immer wieder gaben Conns Beine nach, sodass er unentwegt strauchelte und stürzte, bis sie endlich ihr Ziel erreichten.

Es war das Zelt Renald de Reins.

Die Behausung des Barons war so groß, dass problemlos zwanzig Mann darin Platz gefunden hätten, bunte Banner wehten darüber im kalten Wind. Durch seine tränenden Augen, die allmählich ihre Sehkraft zurückgewannen, sah Conn den Baron.

Breitbeinig und mit vor der Brust verschränkten Armen hatte sich de Rein vor seinem Zelt aufgebaut, umrahmt von seinen Kämpen. Vor ihm auf dem Boden kauerte eine kümmerliche Gestalt, deren Kleider kaum noch mehr als Lumpen waren. Der Mann hatte das Gesicht im Staub und wagte nicht aufzublicken. Er zitterte am ganzen Körper.

»So«, hörte Conn den Baron sagen. »Du hast also Brot gestohlen.«

»N-nur einen Bissen, Herr«, drang es kleinlaut und stammelnd zurück. »Um die größte Not zu lindern.«

»Du leidest Not?«

»Ja, Herr.«

»Glaubst du, du wärst der Einzige? Viele im Lager hungern in diesen Tagen, dennoch werden sie deswegen nicht zu Dieben.«

»Verzeiht, Herr. Ich werde es niemals wieder tun.«

»Das ist richtig, denn dazu wird dir in Zukunft eine wichtige Voraussetzung fehlen. Gerard?«

»Sire?«, antwortete einer der Bewaffneten.

»Hackt ihm die Hände ab, und dann schleppt ihn durch das Lager, damit alle sehen können, was mit denen geschieht, die sich am Eigentum anderer vergreifen.«

»Ja, Sire.«

»Nein!«, schrie der Dieb, der noch immer am Boden kauerte. »Bitte tut das nicht, Herr! Lasst Gnade walten!«

Renald de Rein reagierte nicht.

Weder als der Verurteilte unter lautem Gezeter gepackt und davongeschleppt wurde, noch als ein dumpfer Schlag und ein gellender Schrei davon kündeten, dass die Strafe vollzogen worden war. Die Aufmerksamkeit des Barons galt dem nächsten Straffälligen, der ihm vorgeführt wurde, auf dass er über ihn richte.

Conn.

Die Wachen zerrten ihn nach vorn, und es gelang ihm, einige Schritte zu gehen, bevor er erneut in die Knie brach. Genau dort, wo eben noch der bedauernswerte Dieb gelegen hatte.

»Nun, Conwulf, des Baldrics Sohn?«, erkundigte sich Renald de Rein streng. »Hattest du in der Gefangenschaft Zeit zum Nachdenken?«

Conn blieb eine Antwort schuldig, er wusste nicht, was er erwidern sollte. Vor die Wahl gestellt, de Rein beizustehen oder Bertrand vor dem sicheren Tod zu bewahren, würde er immer wieder dieselbe Entscheidung treffen – auch wenn sie ins Verderben führen würde.

»Ich nehme an, das heißt Nein«, gab der Baron sich selbst die Antwort. »Was also soll ich mit dir anfangen? Du bist ein guter Kämpfer, Conwulf, aber dein von Unrast getriebener Geist neigt zur Auflehnung, und das kann ich nicht dulden.«

»Bedenkt, dass er Euch das Leben gerettet hat, Herr.«

»Wer hat das gesagt?« Wütend schaute de Rein in die Richtung, aus der der Einwurf gekommen war. Einige Soldaten, Diener und Knappen hatten sich dort versammelt, die aus Neugier zuschauten, wie der Baron über die Seinen zu Gericht saß. Auch ein Mönch war dabei, der eine schwarze Kutte trug. Ihn wiederzusehen war Conn in diesem Moment eine willkommene Freude.

»Das war ich, Herr«, erwiderte Berengar und beugte das Haupt. »Bitte verzeiht, dass ich ungefragt das Wort an Euch richte, aber ich sehe es als meine Pflicht an, Euch davor zu bewahren, Euch an diesem Mann zu versündigen, in dessen Schuld Ihr steht.«

»So«, knurrte de Rein mit einem schiefen Grinsen im Gesicht. »Wie es aussieht, hast du fromme Fürsprecher, Conwulf. Ich fürchte nur, dass Ihr über die jüngsten Entwicklungen nicht im Bilde seid, Pater. Denn ich habe diesem da ebenfalls das Leben gerettet, sodass mich keine Schuld mehr bindet.«

Berengar, der dies tatsächlich nicht gewusst zu haben schien, schaute Conn fragend an, der de Reins Worte mit einem knappen Nicken bestätigte. Es stimmte, der Vater seines Erzfeindes hatte ihm in der Schlacht das Leben gerettet, wohingegen er ihn schmählich im Stich gelassen hatte.

»Du magst es glauben oder nicht, Junge«, wandte sich der Baron wieder seinem Gefangenen zu, »aber ich habe viel über dich nachgedacht in letzter Zeit. Ich habe große Hoffnungen in dich gesetzt, aber im Grunde hätte ich wissen müssen, dass Baldrics Sohn …«

Er unterbrach sich, als zwei Gestalten unter dem Baldachin hervortraten, der den Eingang des Zeltes überdachte. Den einen der beiden Männer kannte Conn nicht – er war schlank und hatte langes schwarzes Haar, seiner Kleidung nach war er Südfranzose. Den anderen Mann hingegen erkannte Conn sofort.

Es war Guillaume de Rein.

Nias Mörder.

Hätte sich Conn nicht so schwach und elend gefühlt, hätte er vermutlich über die Ironie dieser Situation gelacht. Solange er Renald de Rein gedient und unter Einsatz seines Lebens für ihn in die Schlacht gezogen war, hatte er Guillaume niemals zu sehen bekommen; nun jedoch, da er seine Pflichten vernachlässigt hatte und dafür bestraft werden sollte, stand der Mörder plötzlich vor ihm, ein hämisches Grinsen in seinem blassen Gesicht, das sich für Conn anfühlte, als würde ein glühendes Eisen in eine alte Wunde gebohrt.

Sein Blick verengte sich, sodass er das Gefühl hatte, nur noch Guillaume zu sehen. Hass züngelte in ihm empor wie eine Flamme, die neue Nahrung erhielt.

»Was willst du?« Renald de Rein war offensichtlich nicht sehr erbaut über das Auftauchen seines Sohnes.

»Verzeiht mein unvermitteltes Erscheinen, Vater«, sagte Guillaume und trat näher, wobei der französische Ritter ihm wie ein Schatten folgte. »Aber ich kam nicht umhin zu hören, wie Ihr einen Namen nanntet – einen Namen, den ich in der Vergangenheit öfter zu hören bekam, wie Ihr vielleicht noch wisst.«

Conn sah den Mörder näher kommen. Sein Herzschlag steigerte sich, Blut rauschte in seinen Ohren. Nur wenige Schritte von ihm entfernt blieb Guillaume stehen.

»Das ist er also?«, fragte er mit unüberhörbarem Spott in der Stimme. »Das ist der berühmte Conwulf?«

»Das ist er«, bestätigte der Baron mit offenkundigem Widerstreben.

»Lasst mich einmal sehen.« Guillaume trat noch näher, worauf Conn den Blick senkte aus Sorge, der Mörder könnte ihn erkennen. Guillaume jedoch packte ihn bei den Haaren und riss seinen Kopf ins Genick, damit er ihm ins Gesicht sehen konnte. »Soweit ich es beurteilen kann, ist an ihm nichts Besonderes zu erkennen. Was ich sehe, sind die bäuerischen Züge eines Angelsachsen, nicht mehr und nicht weniger. Ihr müsst Euch in ihm geirrt haben, Vater.«

Conn hörte kaum, was Guillaume sagte. Er sah das bleiche Gesicht des Frevlers wenige Handbreit vor sich schweben und musste an sich halten, sich nicht mit bloßen Händen auf in zu stürzen.

»Wie es aussieht, mein guter Conwulf«, fuhr Guillaume gönnerhaft fort, »bist du beim Baron in Ungnade gefallen. So etwas passiert leicht, musst du wissen. Nun wirst du erfahren, was es bedeutet, einen Mann zu enttäuschen, dessen Erwartungen so hoch gesteckt sind, dass man ihnen unmöglich gerecht werden kann.«

Auch brauchte er sich wohl nicht zu sorgen, der andere könnte ihn erkennen. In Guillaume de Reins Welt existierte niemand außer Guillaume de Rein. Was in London geschehen war, war für ihn nicht mehr von Belang. Er hatte es längst vergessen, ebenso wie Nia. Conn jedoch würde dafür sorgen, dass er sich erinnerte.

»Was habt Ihr mit ihm vor, nun, da er Euch so sehr enttäuscht hat, Vater?«, wandte sich Guillaume mit vor Häme triefender Stimme an den Baron. »Werdet Ihr ihn für seinen Ungehorsam vierteilen? Oder wollt Ihr ihn lieber hängen, da der Hals eines Angelsachsen doch so geeignet ist für den Strick?« Er lachte heiser, und sein Begleiter und einige Soldaten fielen in das Gelächter ein.

»Keineswegs. Du solltest wissen, Sohn, dass meine Geduld gegenüber denjenigen, die mich enttäuscht und mein Vertrauen missbraucht haben, beinahe grenzenlos ist. Also werde ich ihm das Leben lassen, schon weil seine Kampfkraft dem Heer erhalten bleiben soll. Stattdessen werde ich mich damit begnügen, ihm das linke Auge auszustechen, damit er in Zukunft nur noch das Rechte sehe. Das soll Baldrics Sohn gleichermaßen Erinnerung wie Warnung sein, sich mir niemals wieder zu widersetzen.«

Conn stockte der Atem. In der Vergangenheit hatte er dem Tod so oft ins Auge geblickt, dass er einen Teil seines Schreckens verloren hatte. Die Aussicht, verstümmelt zu werden, entsetzte ihn jedoch sichtlich.

»Nicht doch«, meinte Guillaume und verzog in geheucheltem Bedauern das Gesicht. »Du solltest dich glücklich schätzen, Angelsachse. Denn der Baron pflegt mit jenen, die ihn enttäuschen, nicht immer so milde zu verfahren. Nicht wahr, Vater

Das letzte Wort betonte er auf seltsame Weise, aber Conn war zu sehr damit beschäftigt, die Beherrschung zu wahren, als dass er daraus irgendwelche Schlüsse hätte ziehen können. Er begriff, dass er mit dem Rücken zur Wand stand und nichts zu verlieren hatte. Nur noch der eine Wunsch beseelte ihn: wenigstens den Racheschwur zu erfüllen, den er vor langer Zeit geleistet hatte.

Plötzlich hielt Guillaume, der sich bereits von ihm hatte abwenden wollen, inne. »Baldric?«, hakte er nach, als würden die vorhin gesprochenen Worte erst jetzt bei ihm ankommen. »Etwa jener Baldric, von dem Ihr mir einmal erzählt habt?«

Der Baron nickte widerwillig.

»Also, das nenne ich einen Zufall, und einen höchst sonderbaren dazu. Wie der Vater so der Sohn, nicht wahr? Aber wie kommt ein Normanne, der die Angelsachsen einst wie Vieh geschlachtet hat, dazu, sich einen von ihnen zum Sohn zu nehmen? Ist das nicht seltsam?«

Conn war wie vor den Kopf geschlagen. Was, in aller Welt, faselte der Mörder da?

»Hat dein Adoptivvater es dir etwa nicht gesagt?«, bohrte Guillaume genüsslich nach, der Conns Gesichtsausdruck richtig deutete. »Wie bedauerlich, das muss er wohl vergessen haben. Vielleicht ist er ja in Wahrheit meiner Ansicht – nämlich dass ein Angelsachse so wertlos wie der and…«

Weiter kam er nicht, denn Conn verlor die Beherrschung. Seine Geliebte mochte Guillaume de Rein ihm genommen haben, seinen Vater würde er ihm nicht auch nehmen!

Zwar hatte Conn seine Bewegungsfähigkeit noch längst nicht vollständig zurückerlangt, aber es reichte aus, um sich nach vorn zu werfen und sich wie ein Raubtier auf Nias Mörder zu stürzen.

Guillaume, der von der Attacke ebenso überrascht war wie die Wachen, stieß einen entsetzten Schrei aus. Die Wucht des Aufpralls riss ihn zu Boden, und ein wildes Handgemenge entbrannte. Im ritterlichen Duell Schwert gegen Schwert mochte Conn dem Sohn des Barons unterlegen sein – wenn es jedoch darum ging, mit bloßen Händen und nach dem Gesetz der Straße zu kämpfen, lagen die Vorteile klar auf seiner Seite. Schon lag der Hochmütige unter ihm, und Conns geballte Fäuste fuhren herab und trafen ihn ins staubige Gesicht, brachen ihm die Nase, aus der hellrotes Blut spritzte. Guillaume kreischte, und Conn wollte ihn an der Kehle packen, um das Leben aus ihm herauszupressen – dazu allerdings kam es nicht mehr.

Etwas traf ihn hart am Hinterkopf.

Heißer Schmerz durchzuckte ihn bis zu den Zehenspitzen, sodass er sich nicht mehr bewegen konnte. Ein zweiter Hieb ereilte ihn und raubte ihm für einen Augenblick die Besinnung. Er fand sich im Staub wieder, auf der Seite liegend, während Guillaume rücklings von ihm fortkroch, Tränen in den Augen und quiekend wie ein Ferkel, die goldberingte Hand auf seine blutende Nase pressend.

Conn hatte das Gefühl, sein Schädel würde platzen. Guillaumes Begleiter, der französische Ritter, stand plötzlich über ihm. Mit dem Knauf seines Schwertes hatte er auf Conns Hinterkopf gedroschen und den Kampf beendet. Nun holte er mit der Klinge aus, um Conn mit einem Streich zu enthaupten – und schlug ohne Zögern zu.

»Halt!«, rief Renald de Rein, kurz bevor die Klinge Conns Kehle traf, wo sie verharrte.

»Was soll das?«, ereiferte sich Guillaume, der wie ein angestochenes Schwein umhersprang und dabei Blut verspritzte. Seine Stimme näselte. »Der Angelsachse hat versucht, mich umzubringen! Er hat den Tod mehr als verdient!«

»Das zu entscheiden liegt nicht in deiner Macht«, widersprach der Baron.

»Aber Sire«, wandte nun auch der Provenzale ein, der Conn noch immer in Schach hielt. »Ihr habt doch selbst gesehen, wie …«

»Schweigt, Eustace de Privas. Was Ihr mit Guillaume zu schaffen habt und welche Ränke Ihr gemeinsam mit ihm spinnt, ist Eure Sache. Hier jedoch habt Ihr nichts zu sagen, also enthaltet Euch Eurer Meinung.«

Dem Franzosen war anzusehen, dass er mit dem Gefangenen lieber kurzen Prozess gemacht hätte. Mit offenkundigem Widerwillen nahm Eustace sein Schwert von Conns Kehle und rammte es zurück in die Scheide. Einige der Knappen und Diener lachten daraufhin, jedoch nur so lange, bis Guillaume wutschnaubend in ihre Richtung blickte.

»Ist es das, was Ihr damit bezweckt, Vater? Wollt Ihr mich zum Gespött der Leute machen? Ich verlange Genugtuung! Setzt diesen da auf ein Pferd, damit ich ihn mit meiner Lanze durchbohren kann. Ich verlange Gerechtigkeit, hört Ihr? Gerechtigkeit!«

»Du verlangst Gerechtigkeit? Seit wann, Guillaume? Dieser da«, der Baron deutete auf Conn, »ist freiwillig in den Kampf gezogen, um für das Heer die dringend benötigten Vorräte heranzuschaffen, während du es vorgezogen hast, auf deinem Hintern zu sitzen und dich mit deinen seltsamen Freunden zu treffen. Nennst du das Gerechtigkeit?«

Guillaume antwortete nicht.

»Wer Gerechtigkeit verlangt, muss auch bereit sein, Gerechtigkeit zu üben. Was mit dem Angelsachsen zu geschehen hat, bestimme ich daher ganz allein.«

»Aber er hat versucht, mich zu töten!«

»Und dafür werde ich ihn bestrafen. Mit vierzig Stockhieben auf den Rücken.«

»Vierzig Stockhiebe?«, näselte Guillaume aufgebracht. »Das ist alles?«

»Dreißig«, verbesserte sich de Rein und schien es fast zu genießen. »Hast du noch etwas zu sagen?«

Guillaume starrte ihn an.

Seine Lippen bebten, die Wangenknochen mahlten, aber er erwiderte nichts mehr. Stattdessen wandte er sich ab und stampfte davon, dicht gefolgt von Eustace und einigen Soldaten.

Renald de Rein blickte ihnen nach, und es war unmöglich zu sagen, was dabei in seinem klobigen Schädel vor sich ging. Dann setzte er sich in Bewegung und trat auf Conn zu, der noch immer benommen am Boden lag. »Unerschrocken bist du, das muss man dir lassen. Allerdings auch wild und schwer zu kontrollieren. Diesen Angriff wird Guillaume dir nicht verzeihen, also sei künftig auf der Hut. Und lass dir die Stockhiebe eine Lehre sein, sonst wirst du mich noch kennenlernen. Genau wie dein Vater.«

Achtundzwanzig.

Neunundzwanzig.

Dreißig.

Die Stimme des Normannen Gerard klang Conn noch immer im Ohr. Mit eiserner Hand hatte de Reins Scherge den Stock geführt, wobei er jeden Schlag laut mitgezählt hatte. Dazwischen war jeweils das hässliche Fauchen zu hören gewesen, mit dem das Holz niederging, gefolgt von einem trockenen Klatschen, das im Verlauf der Bestrafung zu einem ekelerregenden Schmatzen geworden war.

Ein um das andere Mal hatte der Normanne den Stock niedergehen lassen, bis die Anzahl der Schläge erfüllt war. Die Qual dabei war fast unerträglich gewesen, und mehrmals hatte Conn geglaubt, die Sinne müssten ihm vergehen vor Schmerz. Aber er lebte noch, und auch beide Augen waren ihm geblieben.

Warum das so war, konnte er nur mutmaßen – vermutlich hing es nicht so sehr mit ihm selbst zusammen als vielmehr mit Dingen, die Renald de Rein und seinen Sohn betrafen. Der Baron war ein grausamer Mann, der vor keiner Brutalität zurückschreckte, um seine Ziele zu erreichen, Unerschrockenheit und Mut gehörten jedoch ebenfalls zu seinen Charaktereigenschaften. Guillaume de Rein hingegen hatte offenbar nur die Ruchlosigkeit von seinem Vater geerbt. Mit der verzweifelten Attacke auf seinen Sohn hatte sich Conn zwar dessen Todfeindschaft zugezogen, die Sympathien des Barons jedoch teilweise zurückgewonnen.

»Jetzt, Junge. Beiß zu.«

Mit aller Kraft presste Conn seine Zähne auf das Stück Holz, das man ihm zwischen die Kiefer geschoben hatte. Die Strafe war unmittelbar nach der Urteilsverkündung vollzogen worden. Danach hatte man Conn einfach am Fuß des Felsblocks liegen lassen, über dem man ihn verprügelt hatte. Zwei Schatten waren daraufhin über ihm aufgetaucht, und Conn war ebenso dankbar wie erleichtert gewesen, als er Bertrand und Remy erkannte, die ihn hochhoben und quer durch das Lager trugen, in den Schutz von Baldrics Zelt.

Der Schmerz, der sich in diesem Moment wie flüssiges Eisen über Conns malträtierten Rücken ergoss, war so heiß und brennend, dass ihm Tränen in die Augen schossen. Aber er unterdrückte jede Klage.

»Das Salz bereitet höllische Qualen«, erklärte sein Adoptivvater dazu, während er die Körner in die blutigen Striemen rieb. »Aber es sorgt auch dafür, dass die Wunden rasch verheilen, verstehst du?«

Conn versuchte ein Nicken, aber es wollte ihm nicht recht gelingen, weil seine Nackenmuskeln zu verkrampft dazu waren. Noch einmal verabreichte Baldric ihm eine Ladung Schmerz, dann half er ihm dabei, sich auf seine Schlafstatt niederzulassen, wo Conn erschöpft liegenblieb, bäuchlings, um jede Berührung seines Rückens zu vermeiden. Baldric setzte sich neben ihn, und eine Weile lang wurde es still im Zelt, nur das Knacken des Feuers war zu hören, das der Normanne in der Mitte des Zeltes entzündet hatte.

»Baldric?«, fragte Conn irgendwann.

»Ja, Junge?«

»Ist es wahr?«, erkundigte sich Conn vorsichtig.

»Was meinst du?«

»Guillaume«, brachte Conn mühsam hervor. »Er sagte etwas, das ich nicht verstanden habe. Er …«

»Ich weiß, was er sagte«, erklärte Baldric ruhig. »Berengar hat es mir berichtet.«

»Und?«

Baldric seufzte, so als hätte er geahnt, dass er sich dieser Frage stellen musste. Die Antwort schien ihm dennoch nicht leichtzufallen.

»Ich war nicht immer der, als den du mich kennst, Conwulf. Einst habe ich schreckliche Dinge getan, Junge. So entsetzlich, dass ich bis heute schwer daran trage.«

Conn schürzte die blutverkrusteten Lippen. Er ahnte, dass ihm nicht gefallen würde, was er zu hören bekam, aber er wollte die Wahrheit wissen. »Was für Dinge?«

Baldric schaute ihn lange an, dann brach er sein Schweigen. »Es war im Jahr der Eroberung. Herzog William hatte seine Truppen über den Kanal gebracht und verfolgte ein klares Ziel: Er wollte Harold Godwinson, der sich widerrechtlich zum König von England ausgerufen hatte, dazu zwingen, die Entscheidung in einer großen Feldschlacht zu suchen – und was war besser dazu angetan, den Zorn eines Herrschers und seiner Vasallen auf den Plan zu rufen, als deren Ländereien zu verwüsten, ihre Ernten zu verbrennen und ihr Vieh abzuschlachten?

Als der Feldzug begann, war ich ein junger Ritter. Überzeugt davon, dass die Ansprüche unseres Herzogs gerechtfertigt seien, folgte ich William in den Krieg – gegen den ausdrücklichen Willen meines Vaters, der der Ansicht war, William sollte lieber zu Hause bleiben und sich darum kümmern, seine Herrschaft in der Normandie zu festigen.«

»Und?«, fragte Conn.

»Ich habe meinen Willen durchgesetzt, worauf mein Vater mich meines Namens und meiner Besitzungen enthob. Aber da ich überzeugt war, das Richtige zu tun, schloss ich mich dennoch dem Feldzug nach England an. Meinen Vater wie auch die heimatliche Burg habe ich niemals wiedergesehen. Da ich nun ohne Besitz war, wurde ich dem Befehl eines Ritters unterstellt, der nur wenig älter war als ich selbst und genau wie ich darauf brannte, sich im Dienst des Herzogs zu bewähren. Der Name dieses Ritters war Renald de Rein.«

»Ich verstehe«, murmelte Conn – deshalb also kannten sich die beiden. »Was ist dann geschehen?«

»Wir erhielten den Auftrag, ein angelsächsisches Dorf zu verwüsten, das sich unweit von Hastings befand. Wir kamen in der Nacht und trafen sie völlig unvorbereitet. Wir steckten die Dächer der Häuser in Brand und töteten das Vieh in den Ställen. Aber de Rein war der Ansicht, dass das noch nicht genügte. Er war so davon besessen, William zu gefallen, dass er uns befahl, die Bewohner des Dorfes ebenfalls zu töten und ihre Köpfe auf hölzerne Pfähle zu spießen, als Abschreckung für alle, die es sahen.«

Conn war bleich geworden, seine Schmerzen fühlte er kaum noch. Gebannt lauschte er Baldrics Erzählung, die weit mehr zu sein schien als ein bloßer Bericht, schon viel eher eine Beichte.

»Wir zögerten zunächst, de Rein jedoch nicht. Er ritt auf den Dorfältesten zu und enthauptete ihn, worauf Panik unter den Dorfbewohnern ausbrach. Wild schreiend liefen sie auseinander, und de Rein rief, wir dürften keinen von ihnen entkommen lassen, andernfalls werde er uns bitter dafür bestrafen. Also taten die Männer, was ihnen befohlen worden war.«

Er unterbrach sich und blickte starr vor sich hin. Conn hatte den Eindruck, als sehe Baldric auch nach all den Jahren noch immer die Gräuel jener Nacht vor sich.

»Wie Wölfe fielen wir über sie her, und ein schreckliches Morden entbrannte. Nicht nur die Männer, auch Frauen, Alte und Kinder wurden ohne Rücksicht getötet.«

»Und du?«, fragte Conn atemlos. »Was hast du getan?«

»Ich stand am Fluss und sollte darauf achten, dass niemand entkommt. Da sah ich plötzlich einen Jüngling auf mich zukommen. Er war ein wenig jünger als ich selbst, hatte einen Bart und blondes Haar, und ein Pfeil hatte ihn getroffen, der in seinem linken Unterarm steckte. Er versuchte, zum Fluss zu gelangen, um den Mördern zu entgehen, aber ich sah ihn kommen und versperrte ihm in den Weg.«

»Und dann?«

»Ich stellte ihn, und er fiel nieder. Ich stand über ihm, das Schwert in der Hand, und wollte zustechen. In seiner Sprache, die ich damals nicht verstand, flehte er um Erbarmen, und ich konnte die Angst in seinen Augen sehen.«

»Hast du ihn entkommen lassen?«

Baldric starrte weiter geradeaus, er schien Conn nicht ins Gesicht schauen zu wollen. »Nein«, gestand er leise. »Ich habe zugestoßen und sein Herz durchbohrt. Dann habe ich sein Haupt von den Schultern getrennt, genau wie de Rein es befohlen hatte. Die Furcht des jungen Angelsachsen und sein Entsetzen über meine Untat waren darin wie eingemeißelt.«

Erneut wurde es still im Zelt.

Conn wusste nicht, was er sagen sollte.

Obwohl jene Ereignisse lange zurücklagen, bestürzten sie ihn. Plötzlich sah er manches in einem anderen Licht.

»Die Geschichte ist noch nicht zu Ende«, ergriff Baldric wieder das Wort. »Wir kehrten ins Lager zurück und erstatteten Bericht, und de Rein rühmte sich, unter den Angelsachsen Angst und Schrecken verbreitet zu haben. Anderntags wurden wir ausgeschickt, ein weiteres Dorf zu zerstören, und alles wiederholte sich. Schlimmer noch, nun, da wir uns an die Schreie und das Entsetzen in den Augen der Dorfbewohner gewöhnt hatten, gingen wir unserem Mordhandwerk nach wie seelenlose Schatten, und ich stieg zu de Reins Unterführer auf. Des Nachts allerdings, wenn ich versuchte, Ruhe zu finden, verfolgten mich die Gesichter derer, die ich erschlagen hatte, und ich erwachte schreiend und schweißgebadet, so sehr bedrückte mich die Last meiner Taten – bis ich es schließlich nicht mehr aushielt. Als de Rein uns eines Tages erneut anwies, die Einwohner eines Dorfes zu töten, missachtete ich seinen Befehl und verweigerte ihm die Gefolgschaft.«

»Und – was hat er getan?«, fragte Conn, worauf Baldric endlich den Blick wandte und ihn ansah.

»Zur Strafe hat er mich in Fesseln legen lassen und mir mit einem glühenden Dolch das linke Auge ausgestochen, damit ich, wie er sich ausdrückte, künftig nur noch das Rechte sehe.«

»Das kommt mir bekannt vor«, knurrte Conn.

»Ich wurde ausgestoßen, verlor nach meinem Namen auch noch meine Ehre und musste mich fortan als Soldat verdingen. Die Ereignisse jener Nächte jedoch haben mich nie mehr losgelassen, ganz gleich wie oft ich sie auch beichtete und dafür Vergebung zu erlangen suchte. Ich wusste, dass ich dazu verdammt sein würde, ewige Höllenqualen zu leiden, wenn es mir nicht gelang, Ablass von meinen Verfehlungen zu erhalten …«

»… und so hast du dich den Kreuzfahrern angeschlossen«, folgerte Conn.

Baldric nickte. »Indem ich das Kreuz nahm, verspürte ich zum ersten Mal in meinem Leben wieder Hoffnung. Ich flehte zum Herrn, dass er mir den rechten Weg zur Buße weisen solle – und da fand ich dich, Conwulf. Als ich dich dort am Flussufer liegen sah, halb tot und mit einem Pfeil im Arm, da wusste ich, dass Gott mein Flehen erhört und mir einen Weg gezeigt hatte, mich zu bewähren und meine Vergehen zu sühnen.«

»An mir«, vervollständigte Conn staunend. »Das also ist der Grund, warum du mich damals gerettet hast und weshalb du mich unbedingt auf die Pilgerreise mitnehmen wolltest.«

»Ja, Conwulf. Deine Rettung und die Pilgerfahrt ins Heilige Land sind die Bußen, die mir aufgegeben wurden, um das Seelenheil zurückzuerlangen.«

Conn nickte und fühlte, wie sich in seinem Hals ein Kloß bildete. Was er gehört hatte, bestürzte ihn einerseits, andererseits wollte er Baldric nicht für etwas zürnen, was mehr als drei Jahrzehnte zurücklag und was dieser aufrichtig bereute. »Es tut mir leid«, sagte er leise.

»Was tut dir leid? Dass der Mann, der dich an Sohnes statt angenommen hat, ein gemeiner Mörder ist?«

»Nein. Sondern dass ich nicht auf dich gehört habe und zu de Rein gegangen bin.«

»Ich nehme an, du hattest deine Gründe.«

Conn nickte – und ihm war klar, dass dies der Augenblick war, um auch sein eigenes Schweigen zu brechen. »Guillaume de Rein hat die Frau getötet, die ich liebte. Wir wollten eine Familie gründen, Kinder haben. Er hat sie geschlagen und vergewaltigt, sodass sie …«

»Schon gut, Junge«, sagte Baldric, um ihm den Rest zu ersparen. »Das also war es, was du damals in der Burg zu suchen hattest. Du wolltest dich an Guillaume de Rein rächen und wurdest entdeckt.«

Conn widersprach nicht.

Es war die Wahrheit, wenn auch nur ein Teil davon.

Er überlegte sich, Baldric auch noch den anderen Teil zu offenbaren und ihm von dem Mordkomplott zu berichten, das Guillaume de Rein gegen den Bruder des Königs hegte. Dass Baldric ihm keinen Glauben schenken würde, brauchte er wohl nicht mehr zu befürchten, schließlich hatte auch er unter der Willkür und der Grausamkeit der Familie de Rein gelitten. Dennoch zögerte Conn, sein Schweigen zu brechen.

Wenn er es tat, so machte er den Mann, der ihm das Leben gerettet und dem er so viel zu verdanken hatte, zum Mitwisser von Dingen, die ihn nichts angingen, und brachte damit womöglich sein Leben in Gefahr. Was war gewonnen, wenn er Baldric davon erzählte? Weder konnte dieser ihm helfen, das in jener Nacht Gehörte zu beweisen, noch war sein Einfluss groß genug, um der Familie de Rein die Stirn zu bieten.

Nein.

Conn würde für sich behalten müssen, was er wusste – so lange, bis er entweder eine Möglichkeit fand, sein Wissen gegen Guillaume de Rein einzusetzen, oder bis es nicht mehr von Bedeutung war.

»Ich glaube«, meinte Baldric, und ein Anflug von Erleichterung war in seinen sonst so strengen Gesichtszügen zu lesen, »nun verstehen wir einander besser als zuvor.«

»Ja, Vater«, versicherte Conn ohne Zögern. »Nun verstehen wir uns.«