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26.

Antiochia

Nacht zum 3. Juni 1098

Der Name des Offiziers, der den südöstlichen Mauerabschnitt von den Ausläufern des Berges Silpius bis zum Turm der »zwei Schwestern« befehligte, war Firuz al-Zarrad.

Firuz war kein mittelloser Mann.

Anders als viele Kämpfer, die auf den Mauern und Türmen der Stadt den Wachdienst versahen, war er nicht zwangsverpflichtet worden, sondern gehörte der seldschukischen Garnison an, die die Zitadelle der Stadt besetzte. In den Diensten des Statthalters hatte er es zu einigem Ansehen gebracht. Dennoch war Firuz’ Unzufriedenheit in den letzten Wochen beständig gewachsen.

Nicht genug damit, dass die Entsatzarmee der Emire von Damaskus und Hama vernichtend geschlagen worden war; auch eine weitere Streitmacht, die im Frühjahr herangeführt wurde und dem Oberbefehl Riwans von Aleppo unterstand, wurde in einer großen Feldschlacht besiegt. Und obwohl die Christen in ihrem Lager Hunger litten und es ihnen am Nötigsten fehlte, war die Einschließung Antiochias beständig vorangeschritten und umfasste seit geraumer Zeit auch die Südmauer der Stadt, wo die Kreuzritter einen Belagerungsturm errichtet hatten. Mit einer Verbissenheit, die selbst ihren Gegnern Respekt abnötigte, arbeiteten sie an der Einnahme der Stadt. Man brauchte kein Hellseher zu sein, um zu erkennen, dass ihre Bemühungen irgendwann erfolgreich sein würden. Yaghi Siyan allerdings, der Emir der Stadt und Oberbefehlshaber der Garnison, weigerte sich noch immer, das Offenkundige zu begreifen – vielleicht aus Starrsinn, vielleicht auch aus Furcht vor der Strafe, die der Sultan für ihn bereithielt, wenn er die Perle am Orontes einfach aufgab.

So hatte Firuz damit begonnen, sich seine eigenen Gedanken über die Zukunft zu machen. Über eine Reihe von Mittelsleuten war es ihm gelungen, Kontakt zu den Christen aufzunehmen und mit ihnen zu verhandeln. Schließlich war man zu einem Ergebnis gekommen, das für beide Seiten zufriedenstellend war. Für die Kreuzfahrer bedeutete es, dass sie endlich die Früchte ihrer Monate währenden Aussaat ernten würden. Firuz al-Zarrad hingegen würde sich nie mehr mit Geldsorgen herumschlagen müssen, denn die vereinbarte Bezahlung war großzügig.

Der Turm der zwei Schwestern war auf Firuz’ Rat hin ausgewählt worden. Zum einen, weil er hier selbst Dienst tat und es für ihn als Kommandanten nicht weiter schwierig war, dafür zu sorgen, dass die benachbarten Türme und Wehrgänge in dieser Nacht nur spärlich besetzt waren. Zum anderen, weil der Turm im ohnehin weniger bewachten Süden der Stadt lag und die Distanz zur Zitadelle weit geringer war, als wenn man von Westen angriff. Alles war genau bedacht und vorbereitet worden. Man hatte Nachrichten ausgetauscht und Absprachen getroffen und war übereingekommen, dass diese Nacht am besten geeignet wäre, um das Vorhaben durchzuführen.

Firuz war allein auf dem Turm.

Die Wachen hatte er unter verschiedenen Vorwänden weggeschickt, die Fackeln gelöscht. Prüfend schaute er hinauf zum sternenübersäten Himmel, an dem eine bleiche Mondsichel hing.

Noch eine Stunde bis Tagesanbruch.

Es war so weit.

Firuz bückte sich und hob das Seil vom Boden auf. Das eine Ende schlang er um eine der alten Mauerzinnen, die seit den Tagen des Römers Iustinian über die Stadt wachten. Den Rest warf er nach draußen in die Dunkelheit und wartete.

Wartete.

Bis ein Ruck am Seil ihm zu verstehen gab, dass alles plangemäß verlaufen war. Firuz sog die laue Nachtluft tief in seine Lungen und genoss diesen letzten Augenblick der Stille. Dann fasste er das Seil und zog daran. Nicht ahnend, dass er damit den Lauf der Geschichte ändern würde.

Der Zeitpunkt war gekommen.

Jener Tag, auf den die Kreuzfahrer so lange gewartet und für den sie so aufopfernd gekämpft hatten, war endlich angebrochen. Vergangenheit, Gegenwart und sogar die Zukunft schienen einander in diesem Augenblick zu begegnen.

Sechzig freiwillige Kämpfer unter dem Kommando Bohemunds von Tarent hatten die Stadt in einem weiten Bogen umgangen und sich von Südwesten her an die Mauer herangearbeitet. Ihre Pferde hatten sie zurückgelassen und trotz der Dunkelheit den steilen Aufstieg durch die Schlucht des Wadi Zuiba gewagt. Auf diese Weise waren sie unbemerkt an die Stadt herangelangt und warteten nun am Fuß der mächtigen Mauern.

Im Wesentlichen waren es Männer Bohemunds, die dem Stoßtrupp angehörten, aber auch andere Kämpen waren dabei, Freiwillige aus den übrigen Heeresteilen, die sich im Kampf bewährt hatten und die Bohemund persönlich ausgewählt hatte.

Unter ihnen befanden sich auch Conn und Remy.

Die Belagerung Antiochias hatte angedauert. Im Februar hatte sich eine große Streitmacht der Seldschuken bei Harenc gesammelt, die in einer Feldschlacht nahe des Antiochiasees besiegt worden war. Im Monat darauf war eine Flotte englischer Schiffe im Hafen von Sankt Symeon angelangt, die Baumaterial für Belagerungsgeräte und einigen Proviant gebracht hatte, die Not der Kreuzfahrer jedoch nicht hatte beenden können. Im Lager wurde weiter gehungert und gedarbt, und es gab Gerüchte, dass eine Gruppe frevlerischer Geheimbündler sogar Menschenfleisch aß, um bei Kräften zu bleiben. Die Anzahl derjenigen Ritter, die dem Mangel zum Opfer fielen, die bei den andauernden Überfällen der Seldschuken getötet wurden oder das Lager verließen, um die Heimreise anzutreten, ging in die hunderte. Zuletzt war selbst der byzantinische Feldherr Tatikios, dem rund zweitausend Kämpfer unterstanden, unter fadenscheinigen Vorwänden abgezogen. Und als ob all dies noch nicht genügt hätte, war auch noch Kunde von einem großen muslimischen Heer ins Lager der Kreuzfahrer gedrungen, das sich Antiochia näherte und unter dem Kommando Kur-Baghas stand, dem mächtigen Atabeg von Mossul.

Der Feldzug im Zeichen des Kreuzes stand damit kurz vor dem Scheitern, weshalb der Fürstenrat eine letzte große Anstrengung beschlossen hatte, um Antiochia einzunehmen. Nun musste Verrat bewerkstelligen, wozu die Tapferkeit und das Geschick der Männer bislang nicht ausgereicht hatten, und es war einmal mehr der Normanne Bohemund, dem dabei eine Schlüsselrolle zukam.

Keiner der Männer wusste, was sie oben auf dem Turm erwartete. Würde der Türke, den Bohemund bestochen hatte, Wort halten? Würde es gelingen, die Stadt, die bislang jedem Ansturm und allem Beschuss getrotzt hatte, im Handstreich zu nehmen?

Die Anspannung stieg.

Conns spürte, wie sich sein Pulsschlag steigerte. Den Schild trug er auf dem wieder verheilten Rücken, das Schwert ruhte noch in der Scheide, damit er die Hände frei hatte zum Klettern. Nicht nur er und Remy, auch Baldric und Bertrand hatten sich freiwillig für den Einsatz an vorderster Front gemeldet, wenn auch jeweils aus anderen Gründen. Während es Baldric darum ging, die Schuld abzutragen, die er auf sich geladen hatte, waren Bertrand und Remy vor allem auf Beute aus; und Conn gehörte dem Trupp nur deshalb an, weil sich der Turm der zwei Schwestern weit im Süden befand und damit in der Nähe des jüdischen Viertels. Denn bei allem, was andere Kämpfer im Sinn haben mochten, musste Conn vor allem an Chaya denken. Er gab sich keinen Illusionen darüber hin, was geschehen würde, wenn die Kreuzfahrer über die Stadt herfielen. Chaya zu finden und an einen sicheren Ort zu bringen war das einzige Ziel, das er in dieser Nacht verfolgte.

Während Bohemund Baldric als zu alt abgelehnt und den guten Bertrand wohl als ein wenig zu geschwätzig empfunden hatte, war er nur zu gern bereit gewesen, den hünenhaften Remy in seine Reihen aufzunehmen. Conn war wohl nur dabei, weil sein heldenhafter Einsatz in der Schlacht vor Dorylaeum im Lager die Runde gemacht hatte – während seine Verfehlung bei Al-Bira offenbar nicht bis an Bohemunds Ohr gedrungen war. Während Baldric und Bertrand nun also bei den regulären Truppen kämpften, die unter der Führung Godefroys de Bouillon, Raymonds de Toulouse und Herzog Roberts die Einfalltore bestürmen würden, würden Conn und Remy zur ersten Welle gehören, die den Turm bestieg, gemeinsam mit Herrn Bohemund, der es sich nicht nehmen ließ, den Angriff persönlich anzuführen.

Dicht gedrängt standen die Männer am Fuß der Mauer, an der das aus Rindsleder gefertigte Klettergeflecht emporgezogen wurde. Conn merkte, wie seine Handflächen zu schwitzen begannen, sein Mund wurde trocken. Er sandte Remy, der neben ihm stand, einen nervösen Blick. Der Normanne hatte die Halsschürze seines Kettenhemds hochgeschlagen, sodass nur seine grauen Augen zu sehen waren, aber die strahlten erstaunliche Ruhe aus, die Gelassenheit des erfahrenen Kämpfers.

Ein Geistlicher aus Boulogne, der den Trupp ebenfalls begleitete, sprach ein flüsterndes Gebet und einen Segen, woraufhin sich die Männer bekreuzigten. Dann war alles gesagt und getan, und man wartete, wie es schien, eine Ewigkeit lang.

Plötzlich der Schrei eines Falken.

Das Zeichen zum Angriff!

Ein Ruck ging durch die Reihen der Männer, und sie schickten sich an, das aus dicken Ledersträngen gewundene Geflecht hinaufzusteigen, an der senkrecht aufragenden Mauer empor. Bohemund, ein wahrer Riese von einem Mann, der selbst seine größten Ritter noch um einen halben Kopf überragte, war einer der Ersten, die die Leiter erklommen, dicht gefolgt von seinen Edlen, Conn und Remy hinterdrein.

An der behelfsmäßigen Leiter emporzusteigen erwies sich als gefährliches Unterfangen. Nicht nur, dass das knarrende Gebilde beständig schwankte und es einiges Geschick verlangte, nicht abzurutschen; das dunkle Leder war in der Dunkelheit auch kaum vom Mauerwerk zu unterscheiden, sodass man aufpassen musste, nicht danebenzugreifen.

Stück für Stück ging es hinauf, während sich unten bereits die nächsten Angreifer vorbereiteten. Conn vermied es, nach unten zu sehen, und nahm Sprosse für Sprosse – bis er endlich die Zinnen erreichte. Eine helfende Hand reckte sich ihm entgegen und zog ihn über die Brüstung, dann stand er auf dem Turm, mit zitternden Knien, aber froh, den Aufstieg unbeschadet überstanden zu haben. Er konnte sehen, wie sich Bohemund flüsternd mit einem Mann unterhielt, der orientalische Kleidung und einen von einem Turban umkränzten Helm trug – fraglos der Turmwächter, der seine eigenen Leute verraten und den Kreuzfahrern den Zugang zur Stadt ermöglicht hatte. Ein Dolch wurde gezückt, einen Lidschlag später sank der Türke mit durchschnittener Kehle nieder.

Conn, Remy und die anderen acht Kämpfer, die zusammen mit ihnen auf den Turm gestiegen waren, hatten die Zwischenzeit genutzt, um sich kampfbereit zu machen. Die Schilde an den Armen und mit gezückten Schwertern stiegen sie die schmale Wendeltreppe hinab, die zum Wehrgang führte. Von dort ging es zum nächsten Turm.

Kaum hatten die Kreuzfahrer den schmalen Weg erreicht, der sich an den Zinnen entlang nach Osten zog, war vom Turm der zwei Schwestern entsetztes Geschrei zu hören. Ein Blick über die Brüstung verriet, dass die Turmzinnen unter dem Gewicht der Leiter nachgegeben hatten und das Geflecht in die Tiefe gestürzt war, mitsamt den Männern, die sich darauf befunden hatten.

In der Dunkelheit konnte Conn nicht erkennen, was aus den armen Kerlen geworden war, aber er bezweifelte, dass sie den Sturz überlebt hatten. Die übrigen Kämpfer jedoch ließen sich nicht einschüchtern. In Windeseile wurde die Leiter erneut emporgezogen, diesmal an der niedrigeren Mauer, und schon kurz darauf langte die nächste Welle von Eindringlingen auf dem Wehrgang an.

Die zuvor bereits eingeteilten Gruppen rotteten sich zusammen; Conn und Remy unterstanden dem Kommando eines italischen Normannen namens Odo, der zum Kreis von Bohemunds Vertrauten gehörte.

Im Gänsemarsch ging es den schmalen Wehrgang hinab, zu dessen rechter Seite sich das steinerne Meer Antiochias erstreckte, ein unüberschaubares Gewirr aus Kuppeln, Türmen und Häusern, über deren Dächern sich Stoffbahnen spannten, die das Mondlicht hell zurückwarfen. Die jüdische Siedlung der Stadt, so hatte Berengar Conn erklärt, befand sich nördlich des Tores von Sankt Georg. Mit jedem Schritt, den sie dem Mauerverlauf folgten, gelangte Conn also ein wenig näher an Chaya heran. Seine Sorge um sie wuchs, und sein Entschluss, sich bei der ersten sich bietenden Gelegenheit von seiner Gruppe zu lösen und nach ihr zu suchen, verfestigte sich.

Als die Männer den nächsten Turm erreichten, gab es eine Überraschung: Offenbar alarmiert durch das Geschrei der in die Tiefe gestürzten Kämpfer, trat ein türkischer Wächter aus dem Durchgang, um nach dem Rechten zu sehen. Odo reagierte ohne Zögern. Sein Schwert hieb dem Wächter das Haupt von den Schultern, der kopflose Torso wurde über die Zinnen nach draußen befördert.

Man passierte den Turm, auf dem einige Kämpfer als Besatzung zurückgelassen wurden, und schlich weiter. Wie sich zeigte, hatte zumindest der seldschukische Verräter seinen Teil der Abmachung erfüllt, denn die Türme und Wehrgänge seines Abschnitts waren nur spärlich besetzt. Die Kreuzfahrer hatten leichtes Spiel mit den wenigen Posten, und in kürzester Zeit befanden sich nicht weniger als zehn Türme und die dazwischenliegenden Mauern in ihrem Besitz.

Der Herrn Odo zugewiesene Abschnitt beinhaltete einen Mauereinlass, der durch eisenbeschlagene Torflügel gesichert, jedoch unbewacht war. Remy und einen weiteren Kämpfer ließ der Normanne auf der Mauer zurück, mit den vier restlichen, unter ihnen auch Conn, stieg er die schmalen Stufen hinab. Die Männer huschten zum Tor und lösten den Riegel. Knarrend schwangen die schweren Flügel auf, und indem Remy auf der Mauer eine Fackel schwenkte, gab er das verabredete Zeichen.

Eine Abteilung von rund zweihundert Rittern, die sich außerhalb der Stadt verborgen gehalten hatten, drängte nun heran und gelangte ungehindert herein. Und endlich – im Osten dämmerte bereits der neue Tag herauf – wurde laut das Signal zum Angriff gegeben.

Hörnerklang erscholl von den besetzten Türmen und riss die Bewohner der Stadt aus dem Schlaf, während gleichzeitig die Heeresmassen der Kreuzfahrer unter dem Kommando Herzog Godefroys und der anderen Fürsten zur Attacke auf die Mauern und Tore im Süden der Stadt ansetzten. Die unheilvolle Ruhe, die eben noch über Antiochia gelegen hatte, ging in Kampfgebrüll und entsetzten Alarmrufen unter. Der Kampf um die Stadt begann.

Die eingefallenen Ritter verloren keine Zeit. Die Wächter auf dem Südwall wurden ohne Erbarmen niedergemacht, Truppen, die zum Entsatz heraneilten, lieferte man in den Straßen und Gassen erbitterte Scharmützel. Ihre mächtigste Waffe, nämlich ihre Bogenschützen, konnten die Verteidiger nicht mehr zum Einsatz bringen, nun, da der Feind bereits innerhalb der Mauern weilte. Und so war es ein ungleicher Kampf, denn im Duell Mann gegen Mann waren die gepanzerten Kreuzfahrer den oftmals nur leicht bewaffneten und zudem schlechter ausgebildeten Soldaten der Bürgerwehr weit überlegen. Dazu kam, dass die Christen in der Stadt, die sich in den letzten Monaten in ihren Häusern verschanzt hatten, nun im wahrsten Wortsinn Morgenluft witterten. Mit Knüppeln und Schwertern bewaffnet, fielen sie über ihre muslimischen Nachbarn her, mit denen sie ehedem in Frieden gelebt hatten, und arbeiteten so den Angreifern zu.

Ein Mauerabschnitt nach dem anderen fiel.

Breschen wurden ins Mauerwerk geschlagen, durch die schließlich auch schwer gepanzerte Reiter in die Stadt eindrangen, die das Schicksal der Verteidiger endgültig besiegelten. Tod und Verderben ereilten jeden, der sich den Eindringlingen in den Weg stellte, die rasch nach Nordosten vordrangen. Ihr Ziel war die Zitadelle, deren türkische Besatzer wiederum einen Ausfall nach dem anderen unternahmen, um die Angreifer aufzuhalten.

Die Lage wurde unübersichtlich. Allenthalben waren Waffengeklirr und kreischendes Geschrei zu hören, hier und dort loderten Flammen auf, wenn Kreuzfahrer plündernd in die Häuser reicher Muselmanen einfielen. Und inmitten des Durcheinanders, das in den schmalen Gassen herrschte, fochten Conn und Remy Seite an Seite.

Von ihrer Gruppe waren sie getrennt worden, als die Horde der Angreifer das Nebentor gestürmt hatte. Während Herr Odo sich an ihre Spitze gesetzt und sie zum Sturm auf das nächste Tor geführt hatte, um weiteren Einheiten den Zugang zu ermöglichen, waren Conn und Remy zurückgeblieben, um gegen eine Schar von Garnisonssoldaten zu kämpfen, die rasch herbeigeeilt waren.

Inzwischen war kaum noch einer von ihnen am Leben. Die leblosen Körper unzähliger Erschlagener säumten die Straße, und die wenigen Seldschuken, die noch verblieben waren, leisteten nur halbherzigen Widerstand. Gegen einen führte Remy sein Schwert mit derartiger Wucht, dass es nicht nur den Schild des Kriegers spaltete, sondern auch noch tief in dessen Schulter fuhr. Mit einem Aufschrei ging der Mann nieder, worauf ein Ritter Bohemunds zur Stelle war und den am Boden Kauernden enthauptete. Conn wandte sich ab und spuckte aus. Einen Gegner zu bekämpfen war eine Sache – ihn abzuschlachten eine andere. Die unbändige Wut, die sich infolge der monatelangen Belagerung, der unzäh­ligen Rückschläge und der grassierenden Hungersnot bei den Kreuzfahrern breitgemacht hatte, war dabei, sich blutig zu entladen.

Voller Sorge musste Conn an Chaya denken, und als die letzten Seldschuken die Flucht ergriffen, rief er Remy einen kurzen Abschied zu und wollte los. Der Hüne hielt ihn jedoch zurück.

»Wohin?«, fragte er nur, wortkarg, wie es seine Art war.

»Zu Chaya. Sie braucht Schutz.«

Die stahlgrauen Augen des Normannen schauten ihn prüfend an. Conn hatte seinen Freunden erzählt, was sich auf dem Weg nach Antiochia zugetragen hatte, auch, dass die Jüdin ein Kind von ihm erwartete. Baldric war davon nicht begeistert gewesen, hatte jedoch darauf verzichtet, Conn zu tadeln – wohl weil er inzwischen um die Vergangenheit seines Ziehsohns wusste. Allerdings hatte er Conn davon abgeraten, im Chaos der Eroberung nach Chaya zu suchen, da man dabei allzu leicht zwischen die Fronten geraten konnte. Wie Remy darüber dachte, wusste Conn nicht – bis der schweigsame Normanne nickte und ihm bedeutete, vorauszugehen.

Conn widersprach nicht. Zwar behagte es ihm nicht, dass Remy seine Haut für etwas riskierte, das ihn nichts anging, aber er wusste auch, dass es nicht in seiner Macht lag, dem Hünen etwas vorzuschreiben. Im Laufschritt eilten sie durch die Südstadt, so rasch ihre Rüstungen es zuließen. An einer Straßenkreuzung trafen sie auf Kämpfer der Bürgerwehr. Einen von ihnen streckte Conn nieder, indem er ihm eine tiefe Schnittwunde beibrachte, die übrigen ergriffen die Flucht.

»Die Juden – wo?«, herrschte Conn seinen am Boden liegenden Gegner an, der keuchend die Hand auf seinen blutenden Oberarm presste. Es waren die einzigen Worte, die er auf Aramäisch beherrschte, und auch das nur leidlich. Berengar hatte sie ihm widerstrebend beigebracht, nachdem Conn ihn darum gebeten hatte.

Der Antiochier schaute furchtsam zu ihm auf, dann deutete er die Querstraße hinab. Conn nickte ihm zu, dann eilten Remy und er in die bezeichnete Richtung. Unterwegs konnten sie von links Kampflärm und lautes Geschrei hören – offenbar war das Sankt-Georgs-Tor schon gefallen, und die Kreuzfahrer befanden sich weiter auf dem Vormarsch. Nicht mehr lange, und sie würden auch das jüdische Viertel erreichen.

Conn beschleunigte seine Schritte, ebenso wie Remy, und endlich erreichten sie die Häuser der jüdischen Gemeinde. Eine breite Hauptstraße führte zu einem Marktplatz, auf dessen gegenüberliegender Seite die Synagoge stand. Der Platz war menschenleer, vermutlich hatten sich die Einwohner in ihren Häusern verschanzt und harrten furchtsam der Dinge, die über sie hereinbrechen würden. Sich um seine Achse drehend, überlegte Conn, wie er Chaya am schnellsten finden würde, als ihnen plötzlich lautes Geschrei entgegendrang.

Die beiden Kreuzfahrer fuhren herum, die Schilde abwehrbereit erhoben, um sich einer bunt zusammengewürfelten Gruppe von zehn oder zwölf Kämpfern gegenüberzusehen, die kaum zu wissen schienen, wie sie die rostigen Klingen in ihren Händen zu führen hatten. Verbeulte Helme saßen auf ihren Häuptern, ihre Harnische waren uralt. Die Entschlossenheit in ihren zumeist jungenhaften Gesichtern jedoch war unerbittlich.

Remy stieß ein verächtliches Grunzen aus und stellte sich den Angreifern kampfbereit entgegen. Ernst zu nehmende Gegner stellten sie sicher nicht dar, einzig ihre Überzahl konnte gefährlich werden. Conn postierte sich so, dass er den Rücken des Freundes schirmte, und erwartete gleichfalls den Angriff. Gefasst blickte er den heranstürmenden Kämpfern entgegen – und erkannte einen von ihnen.

»Caleb!«, rief er laut. »Halte ein, Caleb! Ich bin es, Conwulf!«

Sein Ruf wurde von den steinernen Fassaden zurückgeworden und verstärkt, sodass er das Gebrüll der Angreifer übertönte. Verblüfft blieb derjenige von ihnen, der an der Spitze stürmte und der Anführer zu sein schien, stehen. Unglaube sprach aus seinen geweiteten Augen.

»Du!«, stieß er hervor. Seine Stimme bebte vor Kampfeslust.

»Caleb«, sagte Conn noch einmal, den Schild halb erhoben. Die anderen Kämpfer hatten zwar ebenfalls innegehalten, doch ihren Blicken war anzusehen, dass sie es nicht erwarten konnten, sich auf die Kreuzfahrer zu stürzen.

»Endlich begegnen wir uns«, rief Caleb in seinem akzentbeladenen Französisch, während er die schartige Klinge hob. »Diesmal liegen alle Vorteile bei mir. Jetzt wirst du sterben, Christenhund!«

Remy blies spöttisch durch die Nase. Weder Calebs Drohgebärden noch die Überzahl seiner Leute beeindruckten den Normannen nachhaltig.

»Caleb, hör mir zu«, suchte Conn den Juden zu beschwichtigen, der offenbar entschlossen war, seinen Teil zur Verteidigung der Stadt beizutragen. »Ich muss zu Chaya! Jetzt gleich!«

»Nur über meine Leiche«, gab der andere kopfschüttelnd bekannt und trat noch einen Schritt vor.

»Ich will nicht mit dir kämpfen, heute so wenig wie in jener Nacht im Lager.«

»Das wundert mich nicht. Dein Mut mag ausreichen, um eine unschuldige junge Frau zu schwängern, aber nicht, um dich wie ein Mann zum Kampf zu stellen!«

»Ich will zu Chaya«, beharrte Conn, die Beleidigung geflissentlich überhörend. »Alles andere ist mir gleichgültig.«

»Ich sagte es dir schon einmal – sie will dich nicht sehen.«

»Verdammt, Caleb.« Von jenseits des Judenviertels brandete lautes Gebrüll heran, Hufschlag auf steinernem Pflaster war zu hören. »Es geht längst nicht mehr um das, was wir tun wollen! Chaya muss in Sicherheit gebracht werden, jetzt gleich!«

»Du wagst es?«, fuhr Caleb ihn mit zorngeweiteten Augen an. »Du wagst es, dich als ihr Retter aufzuspielen? Ausgerechnet du?«

»Ich bin nicht stolz auf das, was ich getan habe. Aber ich will, dass Chaya lebt. Du nicht auch?«

Caleb spuckte verächtlich aus. Aber man konnte sehen, dass Conns Worte nicht ungehört verhallten.

»Ihr alle solltet fliehen«, wandte sich Conn an Calebs Leute. »Werft eure Waffen weg und versteckt euch, denn die Männer, die auf dem Weg hierher sind, kennen kein Erbarmen. Ihr werdet sie nicht aufhalten können und einen sinnlosen Tod sterben.«

Er war nicht sicher, ob die jungen Männer aus Antiochia verstanden, was er sagte, aber der heisere Klang eines Kriegshorns, das jenseits der Häuser erklang, sprach eine allgemein verständliche Sprache. Die Entschlossenheit in den Gesichtern bröckelte. Einige der Bewaffneten wollten die Flucht ergreifen, aber Caleb ließ sie nicht.

»In einer aussichtslosen Lage aufzugeben ist kein Zeichen mangelnden Mutes, sondern von Besonnenheit«, sagte Conn. Waffengeklirr war zu vernehmen, begleitet von fürchterlichen Schreien. Daraufhin ließen die ersten von Calebs Leuten die Waffen fallen und wandten sich zur Flucht, auch ihr Anführer konnte sie jetzt nicht mehr zurückhalten. Einer nach dem anderen rannte davon, bis Caleb zuletzt allein vor Conn und Remy stand.

»Nun?«, fragte Conn ungerührt. »Muss ich dich mit der Klinge an der Kehle dazu zwingen, mich zu Chaya zu führen?«

Der Jude stand vor ihm, das alte Schwert in der Hand, und schien tatsächlich zu überlegen, ob er kämpfen oder sich Conns Willen fügen sollte. Schließlich obsiegte sein Verstand. Er ließ die Waffe sinken, wandte sich verdrießlich ab und huschte davon. Conn und Remy folgten ihm, und das keinen Augenblick zu früh. Denn kaum waren sie in eine Seitengasse abgebogen, langte eine Abteilung schwer gepanzerter Flamen auf dem Marktplatz an, der unter dem Hufschlag ihrer Pferde und dem heiseren Kriegsruf erzitterte.

»Deus lo vult« – Gott will es.

Conn wusste nicht, wohin Caleb sie führte.

Die Gassen des jüdischen Viertels waren so eng und verwinkelt, dass er schon nach kurzer Zeit die Orientierung verloren hatte, anders als Caleb, der die Gegend offenbar wie seinen Rock kannte.

Durch einen Säulengang gelangten sie auf eine schmale Straße und von dort zum Hintereingang eines Hauses. Caleb klopfte an, wartete dann einen Augenblick und klopfte nochmals. Daraufhin wurde die Tür entriegelt und einen Spaltbreit geöffnet. Caleb flüsterte einige Worte, worauf die Tür ganz aufschwang und er eintreten durfte.

Conn folgte ihm auf dem Fuß, ebenso wie Remy, der sich bücken musste, um den niedrigen Sturz zu passieren. Ein ältlich aussehender Mann, wohl der Hausverwalter, erwartete sie auf der anderen Seite, der die voll gerüsteten Kämpfer entsetzt anstarrte. Conn schob daraufhin das Schwert in die Scheide zurück und forderte Remy auf, es ihm gleichzutun. Der Normanne gehorchte, machte aber keine Anstalten, die Gesichtsschürze zu lösen.

Caleb forderte sie auf, mit ihm zu kommen. Durch einen Innenhof, dessen sprudelnder Brunnen ein seltsam unpassendes Bild des Friedens bot, ging es zu einer Treppe, die in den ersten Stock des Hauses führte. Dort befand sich eine Tür, an die Caleb wiederum klopfte. Eine fragende Stimme erklang, die Tür wurde geöffnet – und Conn stand Chaya gegenüber, zum ersten Mal nach jener gemeinsamen Nacht.

Acht Monate waren seither vergangen, und man hätte annehmen sollen, dass sie sich wie Fremde gegenüberstanden.

Aber das war nicht der Fall.

»Conn«, flüsterte Chaya nur.

Kein Wort von den Dingen, die zwischen ihnen standen.

Nichts von dem Diebstahl, dessen man ihn verdächtigte, und auch nichts von ihrer Schwangerschaft. Nur grenzenlose Überraschung war in ihren Zügen zu lesen, die fülliger und rosiger geworden waren. Der Blick ihrer dunklen Augen war auch nach all der Zeit noch dazu angetan, Conn alles vergessen zu lassen, was sich um ihn herum befand.

So viel hätte es gegeben, das er ihr sagen und dessen er sie versichern wollte, aber es war nicht die Stunde dafür. Wenn Chaya und das ungeborene Kind leben sollten, so musste gehandelt werden.

»Uns bleibt nicht viel Zeit«, sagte Conn. »Unsere Leute sind in die Stadt eingedrungen, und sie kennen keine Gnade. Du musst mit uns kommen, Chaya, rasch!«

»Aber …« Fassungslos glitt ihr Blick von Conn zu Remy, der in seiner blutbesudelten Rüstung einen furchterregenden Anblick bot, dann zu Caleb und wieder zurück. »Ich … ich kann nicht.«

»Vertrau mir, Chaya«, sprach Conn beschwörend auf sie ein. »Remy und ich werden versuchen, dich aus der Stadt zu bringen. Nur so bist du in Sicherheit, und das Kind ebenso.«

»Und Caleb?«

Conn streifte Chayas Cousin mit einem Seitenblick. »Wenn er es wünscht, mag er uns begleiten. Aber ich garantiere nicht …«

»Niemals!«, schrie Caleb. »Das fehlte noch, dass ich einem Christen mein Leben anvertraue!«

»Caleb! Hast du nicht gehört, was er gesagt hat?«, fragte Chaya.

»Ich habe es gehört – und ich gebe nichts darauf. Dies ist meine Heimatstadt, Chaya. Sie hat schon viele Angriffe überstanden und sogar Erdbeben getrotzt.«

»Wenn schon«, widersprach Conn, »die Streiter Christi interessiert das nicht. Sie sind bereits innerhalb dieser Mauern, und ihr Zorn ist groß genug, um jeden zu töten, der nicht ihres Glaubens ist. Willst du einen solch sinnlosen Tod sterben, Chaya? Willst du, dass das Kind in dir einen solch sinnlosen Tod stirbt?«

»Nein«, erklärte sie entschieden und wandte sich Caleb zu. »Cousin, ich bitte dich …«

Sie kam nicht dazu, den Satz zu Ende zu sprechen, denn eine große Gestalt erschien auf dem Gang, deren buschige Brauen finster zusammengezogen waren und aus deren Augen Zorn funkelte. »Was geht hier vor?«

Conn fuhr herum, Remy zückte sein Schwert so rasch, dass man ihm mit Blicken kaum folgen konnte. Schon lag die Klinge auf der Brust des Mannes, bereit, sie zu durchstoßen.

»Nein!«, rief Chaya entsetzt. »Onkel Ezra!«

Conn begriff, dass der Hüne der Mann war, den Chaya in Antiochia hatte treffen wollen. Der Bruder ihres Vaters, ein Kaufmann namens Ezra Ben Salomon.

»Ich bin Conwulf, Baldrics Sohn, und wir kommen in Frieden, Herr«, erklärte Conn knapp, hoffend, dass der andere ihn verstand. »Wenn Euch Euer Leben lieb ist, so flieht. Lasst alles zurück und versteckt Euch, bis der Sturm vorüber ist. Nur diesen Rat kann ich Euch geben.«

Er bedeutete Remy, das Schwert sinken zu lassen, worauf Ezra einige Worte sprach, die Conn nicht verstand.

»Was sagt er?«, wollte er deshalb wissen.

»Es gibt Vorratskeller unter den Häusern«, übersetzte Chaya.

»Dann haltet Euch dort verborgen«, nickte Conn dem Kaufmann zu. »Ich werde versuchen, Chaya aus der Stadt zu schaffen und einen Ort zu finden, wo sie und das Kind sicher sind.«

Ezras dunkle Augen musterten ihn. Die krausen Barthaare des Kaufmanns bebten, aber er widersprach nicht. Wortlos wendete er sich ab und verschwand die Treppe hinunter. Fast gleichzeitig war draußen auf der Straße Hufschlag zu hören. Fackelschein fiel durch das Fenster, Befehle in französischer Sprache wurden gebrüllt.

»Sie sind bereits hier«, drängte Conn. »Wir müssen verschwinden!«

»Ich werde euch zur Stadtmauer führen«, erbot sich Caleb bereitwillig. »Ohne mich werdet ihr euch in den Gassen verlaufen.«

»Warum tust du das?«, fragte Conn misstrauisch.

»Für dich ganz sicher nicht, Christ, sondern für Chaya.«

Conn überlegte nicht lange. Tatsächlich hatte er keine Ahnung, wo sie waren und welche Richtung sie einzuschlagen hatten. Sie würden Chayas streitsüchtigem Cousin wohl oder übel vertrauen müssen.

»Einverstanden«, sagte er, worauf Caleb die Führung übernahm und ihnen voraus die Stufen hinabhuschte. Conn und Chaya folgten hinterdrein, Remy bildete die Nachhut.

Sie hatten das Ende der Treppe noch nicht erreicht, als Chaya einen lauten Schrei ausstieß.

»Was …?«, wollte Conn fragen – aber die Antwort ergab sich von selbst.

Wie angewurzelt war Chaya stehen geblieben, nach vorn gebeugt und die Hand auf ihren Bauch pressend, das Gesicht schreckverzerrt, während ein wässriges Rinnsal zwischen ihren Beinen herabtroff und sich einen Weg über die steinernen Stufen suchte.

Das Kind war auf dem Weg!

Chaya begann zu weinen, als ihr klar wurde, dass es begonnen hatte, noch lange vor der Zeit.

Conn eilte zu ihr und legte schützend den Schildarm um sie, führte sie die restlichen Stufen hinab, während er ein verzweifeltes Stoßgebet zum Herrn schickte. Selten zuvor in seinem Leben hatte er sich so hilflos gefühlt wie in diesem Augenblick.

»Chaya! Ich bin hier.«

»Conn!«, wimmerte sie verzweifelt. »Das Kind … unser Kind … es kommt. Was soll ich nur tun?«

Conns Gedanken jagten sich. Sein Blick traf den von Remy, aber der Normanne war nicht weniger ratlos als er selbst. Eine Klinge zu führen und Schädel zu spalten mochten seine Sache sein – davon, ein Kind auf die Welt zu bringen, hatte auch er keine Ahnung.

Wenn Conn jedoch geglaubt hatte, dass dies seine einzige Sorge wäre, so wurde er schon im nächsten Augenblick eines Besseren belehrt. Ein dumpfes Poltern war zu hören, gefolgt von gellenden Schreien.

»Das kommt aus der Eingangshalle«, stellte Caleb aufgeregt fest. »Jemand versucht, das Tor aufzubrechen.«

Conn holte tief Luft. Die Situation verlangte nach einer raschen Entscheidung. Es brach ihm das Herz, sich ausgerechnet jetzt von Chaya zu trennen, aber wenn es nicht gelang, die Eindringlinge aufzuhalten, so würde ihr Kind ohnehin keine Chance haben.

»Bring sie in den Keller, von dem dein Vater erzählt hat«, wies er Caleb entschlossen an. »Dort tu, was getan werden muss.«

»Aber ich …«

»Danke, Freund«, sagte Conn, noch ehe Chayas verblüffter Cousin etwas erwidern konnte, und legte ihm die behandschuhte Rechte auf die Schulter. Dann wandte er sich wieder Chaya zu, die sich vor Schmerzen kaum noch auf den Beinen halten konnte, und hauchte ihr einen flüchtigen Kuss auf die Stirn.

»Ich liebe dich«, flüsterte er dabei – dann hatte er auch schon das Schwert gezückt und war auf dem Weg zum Innenhof, gefolgt von Remy, der ihm dicht auf den Fersen blieb.

Sie brauchten nur dem Kreischen der Dienerinnen nachzugehen, die jedes Poltern gegen die Eingangspforte mit hellem Geschrei beantworteten. Gerade in dem Augenblick, da Conn und Remy das Portal erreichten, brach die Tür aus den Angeln. Ein behelfsmäßiger Rammbock erschien – eine Marmorstatue, die ihres ursprünglichen Zweckes kurzerhand beraubt worden war –, dicht gefolgt von schwer gerüsteten Kämpfern, die mit blanken Waffen hereindrängten.

Die Dienerinnen stoben auseinander wie aufgescheuchte Hühner. Eine jedoch, eine betagte Jüdin mit angegrautem Haar, war zu langsam, sodass einer der Eindringlinge sie zu fassen bekam. Die Frau schrie aus Leibeskräften – bis das Schwert ihres Häschers in ihre Brust fuhr und sie durchbohrte.

»Nein, verdammt!«, brüllte Conn, erbost über diese Bluttat. Die Schwerter kampfbereit erhoben, stellten Remy und er sich den Eindringlingen entgegen.

»Wer seid ihr?«, wollte der Kreuzfahrer von ihnen wissen. Seine Augen, die wegen des Nasenschutzes am Helm leicht schielten, verrieten Verwirrung. »Was habt ihr hier zu schaffen?«

»Ich bin Conwulf, des Baldrics Sohn. Dieses Haus steht unter meinem persönlichen Schutz.«

»Tatsächlich?« Der andere, der die blutige Klinge noch erhoben hatte, grinste breit. »Und das soll ich dir glauben? Ist es nicht vielmehr so, dass du und dein schafsgesichtiger Freund sich den ganzen Mammon, den das Judenvolk hier angehäuft hat, allein unter den Nagel reißen wollen?«

Remy schnaubte.

Zum einen war offenkundig, dass sich der Disput nicht gütlich würde beilegen lassen. Die Eindringlinge, ihrer Sprechweise nach flämische Söldner, waren auf Beute aus und nicht gewillt, sie sich von anderen streitig machen zu lassen. Zum anderen verübelte der Normanne ihnen die Sache mit dem Schafsgesicht.

Ungerührt trat er vor, und noch ehe der Anführer der Söldner ein Wort sagen oder auch nur reagieren konnte, sank er bereits mit durchbohrtem Halse nieder, an dem Blutschwall würgend, der aus seiner Kehle schoss. Die anderen Kämpfer schrien wütend auf und drangen mit ihren Klingen auf Remy ein, dem Conn sofort zur Seite sprang. Ein hitziges Gefecht entbrannte, das Conn und sein Begleiter jedoch beherrschten. Einer der Flamen fiel unter Conns Klinge, ein weiterer wurde von Remy seiner Schwerthand beraubt und sank winselnd nieder. Die übrigen beiden, Armbrustschützen, die ihre Waffen auf dem Rücken trugen, ergriffen die Flucht und verschwanden in einer Gasse, die noch im Halbdunkel der Morgendämmerung lag.

»Danke, mein Freund«, sagte Conn schwer atmend und nickte dem hünenhaften Normannen zu. »Ich fürchte nur, du hast dich meinetwegen in große Schwierigkeiten gebracht.«

Remy lachte auf. »Daran bin ich gewöhnt«, erwiderte er in seltener Redseligkeit. »Angelsachsen machen immer Schw…«

Das Wort blieb ihm im Hals stecken, zusammen mit einem Armbrustbolzen, der die Gesichtsschürze durchschlagen hatte.

»Nein!«, brüllte Conn entsetzt – aber schon zuckte ein weiterer Bolzen heran, der sich in Remys Schulter bohrte.

Schadenfrohes Gelächter drang aus der Gasse.

Die Armbrustschützen hatten sich revanchiert.

Remy hielt sich aufrecht, trotz der beiden Geschosse, die in seinem Körper staken. Sein Blick war starr wie der eines Reptils, sein Schwertarm zitterte – dennoch setzte er sich in Bewegung, auf die Mündung der Gasse zu, in der der hinterhältige Gegner lauerte. Seine Schritte waren wankend und schwerfällig, der Schild entglitt ihm schon nach wenigen Schritten und fiel zu Boden.

»Remy, nicht!«, rief Conn und eilte zu ihm, um ihn vor weiteren Geschossen zu schirmen, aber er kam zu spät. Der nächste Bolzen, der den Freund ereilte, traf ihn in die Brust. Der riesenhafte Normanne verharrte, als wäre er gegen ein unsichtbares Hindernis gestoßen – und nur einen Herzschlag später bohrte sich ein weiteres Geschoss dicht unterhalb seines Helmes in den Kopf.

Remy war tot, noch ehe er den Boden erreichte – und Conn wurde von unbändiger Wut gepackt. Das Schwert erhoben, den Schild schützend vor sich haltend, stürmte er die Gasse hinab. Nach seiner Schätzung würden die beiden Schützen einige Augenblicke brauchen, um ihre Waffen neu zu laden, und tatsächlich erreichte er sie, noch ehe es so weit war.

Conns Schwert stieß zu und durchbohrte das Herz des Flamen, der in einer Mauernische kauerte und aus sicherer Position geschossen hatte. Der andere Schütze kam noch dazu, die Armbrust gegen eine kurze Klinge einzutauschen – den wütenden Hieben, mit denen Conn auf ihn eindrang, hatte er jedoch nichts entgegenzusetzen. Mit einer stark blutenden Schulterwunde sank er nieder.

Rasch kehrte Conn zu Remy zurück.Den hünenhaften Gefährten, der zwar kein Freund großer Worte gewesen war, der ihm jedoch stets treu zur Seite gestanden und ihn nicht zuletzt den Umgang mit dem Schwert gelehrt hatte, leblos in seinem Blut zu sehen, war entsetzlich. Conn merkte, wie ihm die Knie weich wurden. Keuchend fiel er bei ihm nieder. »Remy! Du dämlicher Kerl! Was hast du nur getan…?«

Conn war noch zu sehr im Kampfesrausch, um echte Trauer zu empfinden. Die Tränen, die ihm in die Augen schossen, waren die blanker Wut, wobei er nicht wusste, wem sein Zorn eigentlich galt. Sich selbst, weil er sich Baldrics Ratschlag widersetzt hatte, dem starrsinnigen Remy, weil er ihn begleitet und damit sein eigenes Ende heraufbeschworen hatte, oder den feigen Mördern, die in der Gasse gelauert hatten… oder dem Allmächtigen, weil er ein solches Unrecht zuließ.

Mit vor Aufregung bebenden Händen schloss Conn dem Freund die Augen und sprach ein leises Gebet, das zugleich Wehklage und Bitte um Vergebung war. Dann erhob er sich, um zum Haus Ezra Ben Salomons zurückzukehren. Es widerstrebte ihm, den Leichnam des Freundes zurückzulassen, aber er wollte Chaya suchen, wollte sie beschützen und bei ihr sein, wenn sie ihr Kind zur Welt brachte …

Doch das Schicksal wollte es anders.

Conn hatte das Ende der Gasse gerade erreicht, als ihn etwas von hinten ansprang.

Die Wucht des Aufpralls war so groß, dass er ins Taumeln geriet, während er gleichzeitig das Gefühl hatte, etwas würde ihn mit messerscharfen Zähnen in die linke Schulter beißen.

Ein lauter Schrei entfuhr ihm, und er brach zusammen. Sich am Boden windend und unfähig, sich wieder zu erheben, tastete er nach der Stelle, von der der Schmerz ausging – und berührte den hölzernen Schaft eines Armbrustbolzens!

Die Erkenntnis, einen folgenschweren Fehler begangen zu haben, durchzuckte ihn – er hatte einen der beiden Schützen am Leben gelassen. Conn merkte, wie ihn die Kraft verließ, und obwohl ein neuer Tag herandämmerte, fiel er in Dunkelheit zurück.

Sein letzter Gedanke, ehe er das Bewusstsein verlor, galt Chaya.