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3.
Feldlager nördlich von Antiochia
8. Juni 1098
Man war so rasch vorangeschritten wie nur irgend möglich, bei Tag und bei Nacht, in Gewaltmärschen, die Mensch und Tier das Äußerste abverlangt hatten – und dennoch war die Armee, die sich unter dem Befehl Kur-Baghas, des Atabegs von Mossul, zusammengefunden hatte, zwei Tage zu spät eingetroffen, um die Eroberung Antiochias zu verhindern. Als die Vorhut der Streitmacht den Lagerplatz der Kreuzfahrer erreichte, fand sie ihn verlassen vor – der Feind hatte sich hinter die schützenden Mauern zurückgezogen, die er zuvor über Monate hinweg erfolglos bestürmt hatte.
Es war eine niederschmetternde Erkenntnis, die die Stimmung im Heer gewaltig drückte, wie Bahram al-Armeni mit Beklemmung feststellen musste.
Im Zelt Kur-Baghas, das in aller Eile errichtet worden war, während das gewaltige Heer auf den umliegenden Hügeln sein Lager bezog, waren sie zu Beratungen zusammengekommen: die Emire und Statthalter, die sich dem Befehl des Wächters von Mossul unterstellt hatten, um gemeinsam gegen die Eroberer vorzugehen, unter ihnen auch Suqman von Diyarbakir und Duqaq von Damaskus, dessen Truppen bei Al-Bira eine empfindliche Niederlage erlitten hatten. Lediglich Duqaqs Bruder Ridwan war der Versammlung ferngeblieben – ähnlich wie Duqaq hatte auch er versucht, die Kreuzfahrer auf eigene Faust zu besiegen, und war dabei gescheitert.
Bei Marj Dabik hatte sich Kur-Baghas Heer versammelt, das tausende gepanzerter ghulam-Krieger sowie unzählige Bogenschützen und Fußsoldaten umfasste. Da Kur-Bagha selbst den größten Teil davon stellte und er auf Weisung des Kalifen von Bagdad handelte, hatte niemand seinen Oberbefehl in Frage gestellt – auch Duqaq nicht, dessen Ehrgeiz seit Al-Bira merklich abgenommen hatte. Hatte Tutushs Sohn zunächst mit der Vorherrschaft über ganz Syrien geliebäugelt, war ihm inzwischen nur noch daran gelegen, die Kreuzfahrer zu vertreiben und sie von Damaskus fernzuhalten. Ob ihm klar war, dass es seine eigene Eitelkeit war, die ihm bei Al-Bira die Niederlage eingetragen hatte, wusste Bahram nicht, und er hütete sich davor, es ihm zu sagen.
Zusammen mit den anderen hohen Fürsten stand der Herrscher von Damaskus um den großen Tisch, der die Mitte von Kur-Baghas prächtigem Zelt einnahm und auf dem Karten ausgebreitet lagen, die die Mauern und Verteidigungsanlagen von Antiochia abbildeten. Die Offiziere und Unterführer standen hinter ihren Herren entlang der Zeltwände aufgereiht und warteten stumm auf den Ausgang der Beratungen.
Kur-Bagha war in vieler Hinsicht das genaue Gegenteil von Duqaq. Gedrungen und von kräftiger Statur, erweckte er den Anschein eines Mannes, der in sich selbst ruhte. Und anders als der Fürst von Damaskus, dessen Ansinnen stets darauf gerichtet war, seinen Besitz und sein Ansehen zu mehren, war Kur-Bagha sich seiner Position und der damit verbundenen Machtfülle zu jedem Augenblick voll bewusst.
Auf einem mit Kamelhaar überzogenen Sitz thronend, das Haupt von einem ausladenden muhannak-Turban umwickelt, der seiner ohnehin schon respektgebietenden Erscheinung noch zusätzliche Würde verlieh, lauschte der Atabeg den Ausführungen seiner Verbündeten. Besondere Aufmerksamkeit schien er dabei jenen Emiren zu schenken, deren Truppen bereits in Kämpfe mit den Kreuzfahrern verwickelt gewesen waren. Seinen wachen, in geheimnisvollem Grün schimmernden Augen war jedoch nicht anzusehen, was er dachte, und auch der von einem dichten Bart umrahmte Mund verriet keine Regung.
Gelassen hörte Kur-Bagha sich alles an.
Die Ausführungen Suqmans, der für einen massiven Angriff auf die in Mitleidenschaft gezogene Nordmauer der Stadt plädierte; die Argumente Janah al-Dawlas, des Emirs von Homs, der einem Angriff von Westen die besten Erfolgsaussichten einräumte; die Warnungen Duqaqs, der sich gegen eine direkte Konfrontation mit den Kreuzfahrern aussprach und nach den bei Al-Bira gewonnenen Erfahrungen lieber darauf setzen wollte, die Belagerten auszuhungern. Jeder Führer brachte seine Vorstellungen zu Gehör, und nicht selten kam es dabei zu Meinungsverschiedenheiten der Fürsten, die einander den Ruhm neideten, noch ehe er errungen war, und sich vor dem mächtigen Kur-Bagha in ein möglichst günstiges Licht zu setzen suchten – der Vergleich mit Kindern, die um die Gunst des Vaters buhlten, drängte sich Bahram auf.
Kur-Bagha ließ sie gewähren, bis er irgendwann genug hatte. Mit einer Geste brachte er den Emir von Menbidj zum Schweigen, der eben noch wortreich seine Sicht der Dinge angepriesen hatte. »All dies Reden«, sagte der Atabeg in die entstehende Stille, »ist nutzlos, solange wir nicht wissen, was der Feind unternehmen wird. Sobald wir unseren Angriff auf eine bestimmte Stelle konzentrieren, werden wir verletzlich, und die Christen wissen das.«
»So ist es, großer Kur-Bagha«, stimmte Duqaq beflissen zu. »Deshalb bin ich dafür, die Belagerung aufrechtzuerhalten. Wir wissen um die Zustände in der Stadt. Die Kreuzfahrer sind ausgehungert und dem Ende nahe. Alles, was wir brauchen, ist ein wenig Geduld.«
»Oder noch mehr Truppen«, wandte Kur-Bagha ein. »Würde der Emir von Aleppo uns unterstützen, könnten wir die Stadt vollständig einschließen und sie an mehreren Orten gleichzeitig angreifen.«
»Ridwan hat uns seine Hilfe verweigert, mächtiger Atabeg«, wandte Duqaq ein, dem die Vorstellung, seinen Bruder an seiner Seite zu haben und sich die Kriegsbeute womöglich noch mit ihm teilen zu müssen, offenkundig nicht gefiel. »Er ist ein Feigling und verdient unsere Aufmerksamkeit nicht.«
»Dann müssen wir versuchen, Kenntnis von dem zu erlangen, was innerhalb der Stadtmauern vor sich geht. Ahmed?« Der Atabeg winkte einen seiner Offiziere heran.
»Ja, Herr?«
»Ich werde Euch mit dem Oberbefehl über die Zitadelle beauftragen. Noch heute Nacht werdet Ihr mit einer kleinen Schar von Kriegern aufbrechen, von Westen her unbemerkt in die Festung eindringen und das Kommando über die dortige Garnison übernehmen. Fortan werdet Ihr mir über alles Kunde geben, was sich in der Stadt ereignet.«
»Ja, Herr.« Ahmed Ibn Merwan verbeugte sich tief, Stolz über die verantwortungsvolle Aufgabe spiegelte sich in seinen Zügen. Dann verließ er das Zelt, um seinen Trupp zusammenzustellen und die nötigen Vorbereitungen zu treffen.
»Auge und Ohr innerhalb der Stadtmauern haben wir nun«, meinte Kur-Bagha, »aber das allein genügt noch nicht. Wir müssen wissen, was in den Köpfen der Christen vor sich geht, müssen lernen, sie zu verstehen.«
»Wie können wir das?«, wandte Suqman von Diyarbakir ein. »Die Kreuzfahrer sind anders als alle Gegner, gegen die wir je gefochten haben. Sie kämpfen mit furchtbarer Entschlossenheit, und ihre Schwerter, obschon rostig und plump, werden in ihren Händen zu schrecklichen Waffen. Sie versklaven die Besiegten nicht, und sie nehmen auch keine Gefangenen, um sie gegen Lösegeld wieder freizulassen. Sie scheinen nur darauf aus zu töten – aber aus welchem Grund? Was hat sie zu solchen Bestien werden lassen?«
Kur-Bagha nickte. »Das, mein Freund, sind die Fragen, die wir stellen müssen. Erst wenn wir den Feind verstehen, werden wir auch in der Lage sein, seine Schwächen zu erkennen und ihn zu besiegen.«
»Dann stellt Eure Fragen«, forderte Duqaq von Damaskus den Atabeg und die anderen Emire und Fürsten auf. »Denn Bahram al-Armeni, der Anführer meines askar, ist ein Christ. Obschon er dem Irrglauben erlegen ist, diente er meinem Vater Tutush viele Jahre und in zahlreichen Schlachten. In meiner Voraussicht ahnte ich, dass er unserer Sache nützlich sein könnte, deshalb befahl ich ihm, mich zu dieser Unterredung zu begleiten.«
Erstaunt wandten die anderen Anführer sich um, und ehe Bahram recht begriff, wie ihm geschah, fühlte er rund hundert Augenpaare auf sich lasten. Dass Christen in den seldschukischen Armeen dienten, war nichts Besonderes – dass es einer von ihnen jedoch zum Offizier und gar zum Kommandanten der Reiterei gebracht hatte, war für viele Anwesende, vor allem für Kur-Baghas arabische Unterführer, eine Überraschung.
»Wohlan also, Bahram al-Armeni«, forderte der Atabeg von Mossul Bahram auf, »berichte uns, was du weißt. Sage uns, was in den Köpfen der Christen vor sich geht.«
Bahram schürzte die Lippen, um etwas Zeit zu gewinnen. Auf eine Frage wie diese war er nicht gefasst gewesen, zumal sie ihm etwas klarmachte, was er insgeheim wohl längst geahnt hatte – nämlich dass der Angriff der Kreuzfahrer ihn in sehr persönlicher Weise betraf.
Vorher hatten seine muslimischen Herren ihn als das genommen, was er nun einmal war – als einen Ungläubigen, gewiss, dem sie aber dennoch Respekt und Achtung entgegenbrachten. Er hatte es ihnen gedankt, indem er ihnen mit großem Einsatz und seiner ganzen Loyalität diente. Das Eintreffen der Kreuzfahrer jedoch hatte sie ihm gegenüber misstrauisch werden lassen. Sicher sahen sie ihn noch immer als ihren Verbündeten, aber aufgrund seines Glaubens gingen sie auch davon aus, dass er dem Feind näher stand als sie selbst. Bislang hatten nur seine Leistungen gezählt, seine strategischen Kenntnisse und seine Tapferkeit vor dem Feind – nun plötzlich spielte auch seine Religion eine Rolle.
»Ehrwürdiger Kur-Bagha«, antwortete Bahram deshalb vorsichtig. »Ich habe es schon meinem Fürsten gesagt und sage es nun auch Euch – ich weiß nicht, was in den Köpfen der Kreuzfahrer vor sich geht oder was sie bewegt. Auch wenn ich getauft bin und an die Auferstehung Jesu Christi glaube, so bin ich dennoch ein Sohn des Morgenlands und vermag Euch weder zu sagen, was jene Menschen planen noch weshalb sie mit derartiger Bitterkeit kämpfen.«
»Könnt Ihr es nicht?«, fragte der Emir von Menbidj, ein kleiner Mann mit finsterem Blick. »Oder wollt Ihr es nicht? Steht Ihr Euren Glaubensbrüdern näher als uns?«
»Die Loyalität des Armeniers steht außer Frage«, ergriff Duqaq für Bahram Partei – wohl auch deshalb, weil jede Kritik an seinem Schützling auch seine eigene Urteilsfähigkeit in Zweifel zog. »Er hat sie oft genug unter Beweis gestellt.«
»Auch in Kämpfen gegen Christen? Oder ging es dabei gegen Söhne Mohammeds?«, fragte Kur-Bagha.
Bahram fühlte sich zunehmend unwohler. »In der Hauptsache ging es dabei gegen Söhne Mohammeds. Jedoch standen bisweilen auch Christen unter ihrem Banner, und zuletzt habe ich bei Al-Bira auch gegen die Kreuzfahrer gekämpft. Dass ich Eure Fragen nicht beantworten kann, liegt nicht an mangelnder Treue, Herr, sondern einzig daran, dass ich nichts über jene Christen weiß. Sie kommen aus Ländern, in denen ich nie gewesen bin und die mir nicht weniger fremd sind als Euch. Auch lehrt uns unser Glaube, nicht zu töten und den Nächsten zu lieben, sodass ich Euch nicht erklären kann, was sie zu ihren Taten bewegt – außer vielleicht jenen Dingen, die alle Sterblichen in ihrem tiefsten Inneren bewegen.«
»Und diese wären?«, wollte Janah al-Dawlas wissen.
»Furcht«, gab Bahram ohne Zögern zur Antwort. »Zorn und Gier.«
Den Gesichtern der Emire und Unterführer war anzusehen, dass ihnen diese Antwort nicht gefiel – sei es, weil sie sich selbst darin sahen oder weil es den Feind, der sich hinter den Mauern Antiochias verschanzte und in dem sie einen finsteren Dämon sehen wollten, auf bestürzende Weise menschlich machte.
»Wenn Ihr mich also nach den Ansichten der Christen fragt, kann ich Euch nichts antworten«, fügte Bahram hinzu. »Die bisherige Erfahrung allerdings hat mir gezeigt, dass die Kreuzfahrer gefährlich sind, einer tobenden Feuersbrunst gleich, der man keinen Augenblick lang den Rücken zuwenden darf. Auch jetzt noch, so geschwächt und ausgehungert sie sein mögen, dürfen wir nicht den Fehler begehen, sie zu unterschätzen.«
»In der Tat, Armenier«, pflichtete Kur-Bagha ihm bei. »Ein verwundeter Löwe ist am gefährlichsten – und man tut gut daran, ihm nicht in sein Versteck zu folgen.«
Der Atabeg überlegte, und Bahram war froh darüber, dass sich die Fürsten und Offiziere allmählich wieder von ihm ab- und dem Heeresführer zuwandten. Einige der Blicke, die ihn streiften, verrieten jedoch unverhohlenes Misstrauen und machten ihm einmal mehr klar, dass manches anders geworden war.
»Wir werden unser Vorgehen ändern«, verkündete Kur-Bagha. »Wir werden nicht den Fehler begehen, gegen die Mauern des Feindes anzurennen und unsere Kräfte dabei aufzureiben. Wir werden vielmehr alles daransetzen, die Christen zu einem Ausfall zu bewegen.«
»Wie soll dies gelingen?«, fragte jemand.
Kur-Bagha lächelte. »Wenn die Kreuzfahrer wirklich so geschwächt sind, wie wir annehmen, so kann ihnen nicht an einer langen Belagerung gelegen sein. Wir werden die Garnison anweisen, einen Ausfall zu unternehmen und den Feind unter Druck zu setzen. Dann wird ihm nichts weiter übrig bleiben, als die Entscheidung auf freiem Feld zu suchen – und dort, meine Brüder«, sagte er, während er demonstrativ die zur Faust geballte Rechte hob, »werden wir ihn zermalmen.«