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4.

Antiochia

Zur selben Zeit

Es war der fünfte Tag nach der Eroberung.

Anstatt sich zu bessern, hatte sich Conns Zustand beständig verschlechtert, sodass sich die in der Heilkunde beschlagenen Mönche zuletzt keinen Rat mehr wussten. Daraufhin beschloss Baldric, anderweitig Hilfe zu suchen, entgegen Be­rengars ausdrücklicher Warnung, nicht auf heidnische Hexenkunst zu vertrauen. Während Bertrand zurückblieb, um an Conns Lager zu wachen, begab sich Baldric auf den Weg zum jüdischen Viertel.

Die Stadt glich einem Wespennest, in das man gestochen hatte.

Auf der Hauptstraße, die vom Sankt-Pauls-Tor nach Südwesten führte, zum großen Basar und von dort an von Säulen getragenen Fassaden entlang zum jüdischen Viertel, herrschte unbeschreibliches Gedränge. Bettler, Flüchtlinge, Betrunkene und Menschen ohne Obdach waren in Scharen anzutreffen, dazu Dirnen und Diebesgesindel, die sich in all dem Durcheinander gut gehender Geschäfte erfreuten. Diejenigen Händler, die noch etwas zu verkaufen hatten, hatten ihre Läden geöffnet und boten lautstark ihre Waren feil, dazu kamen Kreuzfahrer, die zum Patrouillendienst eingeteilt oder damit beauftragt waren, Arbeitskräfte und Baumaterial zu beschaffen.

Alle Streiter Christi hausten nun innerhalb der Mauern Antiochias, zusammen mit ihren Familien, ihrem Gesinde und dem beträchtlichen Tross, der den Feldzug noch immer begleitete. Die Armen unter den Kämpfern wohnten unter freiem Himmel oder in Zelten, die auf den freien Plätzen und im Südwesten der Stadt errichtet worden waren; der überwiegende Teil jedoch hatte in Gebäuden Unterschlupf gefunden, die noch bis vor wenigen Tagen wohlhabenden Muselmanen gehört hatten oder von den Angehörigen der Garnisonsoffiziere bewohnt worden waren. Sofern sie nicht freiwillig aus ihren Häusern geflüchtet waren, waren sie vertrieben und oft auch getötet worden, nicht selten von den Christen Antiochias, die sich eifrig am Kampf beteiligt hatten. Sicher waren auch noch einige Türken am Leben und versteckten sich an dunklen Orten, wo sie darauf hofften, dass die Besatzer bald wieder verschwinden würden.

Die Aussichten dafür standen nicht schlecht, wie Baldric sich grimmig eingestehen musste. Denn die Armee, die vor zwei Tagen eingetroffen war und nun genau dort weilte, wo sich noch vor Kurzem das Lager der Kreuzfahrer befunden hatte, bestand aus zehntausenden ausgeruhter Krieger, während die Streiter Christi geschwächt waren vom Kampf um die Stadt und vom Hunger. Und da man nicht wusste, worauf der Angriff des feindlichen Heerführers Kur-Bagha zielen würde, wurden überall in der Stadt hastige Vorbereitungen zur Verteidigung getroffen.

Waffen und Rüstzeug wurden ausgebessert und die ausgedünnten Vorräte an Pfeilen und Wurfgeschossen aufgefüllt, dazu versuchte man, in aller Eile die jahrhundertealten, durch die lange Belagerung in Mitleidenschaft gezogenen Mauern der Stadt zu verstärken. Die wichtigsten Baumaßnahmen jedoch gingen dort vonstatten, wo die Zitadelle des Feindes wie ein Stachel im Fleisch der Kreuzfahrer saß: In aller Eile wurde unter der Aufsicht Bohemunds von Tarent und Raymonds de Toulouse ein behelfsmäßiger Wall aufgeschüttet, der die Besatzung der Festung daran hindern sollte, den Kreuzfahrern in den Rücken zu fallen.

Die Unruhe, die über der Stadt lag, war deutlich zu spüren – Furcht, Zorn, Verzweiflung und Trotz, von allem war etwas dabei. Man hatte so lange und unter solch schrecklichen Verlusten um Antiochia gerungen, dass man die Stadt nun nicht gleich wieder aus den Händen geben wollte, folglich wollte man alles daran setzen, sie zu behaupten. Zumal klar war, dass man im Fall einer Niederlage keine Gnade zu erwarten hatte. Man hatte sie bei der Eroberung nicht gewährt und würde sie auch nicht bekommen.

Der Weg zum südlichen Ende der Stadt führte an der alten Kathedrale Antiochias vorbei, die von den Türken als Moschee genutzt worden war und unter der Anleitung des päpstlichen Legaten Adhémar von Monteil nun wieder ihrer ursprüng­lichen Bestimmung zugeführt wurde. Wie es hieß, sollte dem Herrn in einer feierlichen Messe für die Eroberung von Antiochia gedankt werden, doch noch wagte niemand, die Glocken zu läuten. Zu frisch waren die Wunden, zu groß die Entbehrungen – und zu überwältigend die feindliche Streitmacht, die sich im Norden sammelte.

Als Baldric das jüdische Viertel erreichte, fiel die hektische Betriebsamkeit entlang der Hauptstraße schlagartig hinter ihm zurück. Nur die Häuser am äußersten Rand des Viertels wurden von Kreuzfahrern bewohnt, die anderswo keine Bleibe gefunden hatten. Je weiter Baldric jedoch in das Viertel vordrang, desto leerer wurden die Gassen. Die Eingänge der Häuser waren verbarrikadiert, ebenso die Fenster. Baldric nahm an, dass die Bewohner im dunklen Inneren saßen und um ihr Leben zitterten. Nach dem, was geschehen war, hatten sie auch allen Grund dazu.

Der Marktplatz war verlassen, das Eingangstor der Synagoge stand weit offen. Soldaten des flämischen Grafen Robert hatten sie noch am Morgen der Eroberung geplündert, nichts und niemand hatte sie davon abhalten können. Die Trümmer umgestürzter Wagen lagen umher, hier und dort ein Leichnam, der bei der Räumung wohl übersehen worden oder vielleicht auch erst später hinzugekommen war. Ein Menschenleben galt nichts in diesen Tagen, entsprechend hatte Baldric die Hand am Schwertgriff, während er langsam über den Marktplatz ging und sich dabei vorsichtig umblickte.

Plötzlich war da eine Bewegung unmittelbar neben ihm.

Eine gedrungene Gestalt setzte hinter einer niedrigen Mauer hervor und wollte in Windeseile in die nächste Gasse flüchten – Baldric jedoch kam ihr zuvor.

»Halt!«, befahl der Normanne mit lauter Stimme, worauf die Gestalt tatsächlich kurz innehielt – genügend Zeit für Baldric, um einen beherzten Schritt zu machen und sie am Kragen ihres Gewandes zu packen. Es war ein Knabe von acht oder neun Jahren. Er schrie nicht, aber nackte Furcht sprach aus seinen Augen. Panisch wand er sich im Griff seines einäugigen Häschers, der ihn unnachgiebig festhielt.

»Das Haus Ezra Ben Salomons«, verlangte Baldric zu wissen. »Wo befindet es sich?«

Der Junge gebärdete sich weiter wie von Sinnen.

»Hörst du nicht? Ich suche das Haus von Ezra Ben Salomon!«

Plötzlich hielt der Knabe inne. Baldric nahm nicht an, dass er Französisch sprach, den Namen jedoch schien er verstanden haben.

»Ben Salomon?«, fragte er leise und schaute ängstlich auf.

Baldric nickte, worauf der Junge die Gasse hinab deutete, in die er hatte flüchten wollen.

»Ist das auch die Wahrheit?«

»Ben Salomon«, wiederholte der Knirps, wobei ein so unschuldiges Lächeln über seine Züge huschte, dass selbst der grimmige Baldric grinsen musste.

»Danke«, sagte er und ließ den Jungen los – worauf dieser pfeilschnell davonflitzte und schon im nächsten Moment in einem Mauerspalt verschwunden war.

Baldric schlug den Weg ein, der ihm bezeichnet worden war, und fand sich schon kurz darauf vor dem Eingang eines eindrucksvollen Wohnhauses wieder, das einem reichen Bürger gehören musste. Die hölzerne Tür war aus den Angeln gerissen, die Trümmer lagen auf der Schwelle. Jenseits des Eingangs herrschte schummriges Halbdunkel.

Baldric schürzte die Lippen, dann zog er sein Schwert, stieg die Stufen des Portals hinauf und trat ein.

Die Eingangshalle war verwüstet.

Die Malereien an Wänden und Decke waren rußgeschwärzt, Scherben tönerner Amphoren bedeckten den Boden, die knirschten, sobald Baldric darauftrat. Vorsichtig bewegte er sich weiter und erreichte einen schmalen Gang, der auf einen von Säulen gesäumten Innenhof führte. Der Brunnen dort schien versiegt zu sein, das Standbild in seiner Mitte war umgestürzt. Von den Durchgängen, die auf den Säulengang mündeten, waren die Vorhänge herabgerissen worden, die Trümmer hölzerner Möbel lagen überall verstreut. Nicht nur Habgier war hier am Werk gewesen, stellte Baldric fest, sondern auch blinde Zerstörungswut.

Ein plötzliches Geräusch ließ ihn verharren.

Zu seiner Linken klaffte ein schmales Fenster, dahinter herrschte unergründliches Dunkel, in dem sich jemand zu verbergen schien.

»Ich tue euch nichts«, erklärte Baldric und hielt das Schwert so von sich gestreckt, dass es mit der Spitze nach unten zeigte. Auf diese Weise bekundete er seine friedlichen Absichten, konnte sich aber auch verteidigen, wenn es nötig werden sollte. »Ist dies das Haus von Ezra Ben Salomon? Ich bin auf der Suche nach …«

Er konnte den Satz nicht zu Ende sprechen, denn ein Schatten setzte plötzlich durch die Fensteröffnung. Im einfallenden Tageslicht sah Baldric eine gekrümmte Klinge blitzen, er sprang zurück und brachte sein Schwert empor. Wuchtig trafen die beiden Waffen aufeinander, jedoch nur wenige Male – dann zerbrach die gegnerische Klinge mit blechernem Klang. Mit einer Verwünschung auf den Lippen sprang der Angreifer zurück, und erstmals konnte Baldric sein Gesicht sehen. Es gehörte einem jungen Mann von vielleicht zwanzig Wintern, aus dessen Augen dem Ritter blanker Hass entgegenschlug. Er schien wild entschlossen, sich mit den Überresten seiner schäbigen Klinge auf Baldric zu stürzen.

»Tu das nicht«, rief Baldric. Er betonte jedes einzelne Wort, weil er hoffte, dass der andere die Bedeutung seiner Worte so erfassen würde. »Wenn du mich erneut angreifst, muss ich dich töten, und das will ich nicht.«

»Wieso nicht?«, scholl es zu Baldrics Überraschung in zwar schlechtem, aber dennoch verständlichem Französisch zurück. »Ihr habt schon so viele Unschuldige getötet. Was kommt es auf einen mehr oder weniger an?«

»Ich bin nicht hier, um zu kämpfen«, erklärte Baldric und schob sein Schwert demonstrativ zurück in die Scheide.

»Was willst du dann, Christenhund?«

»Ist dies das Haus Ezra Ben Salomons?«

»Was deinesgleichen davon übrig gelassen hat.«

»Ich bin auf der Suche nach der Jüdin Chaya. Mir wurde gesagt, dass sie hier lebt.«

»Was willst du von ihr?«

»Kannst du mich zu ihr bringen, ja oder nein?«

Der junge Mann taxierte den Normannen, die Zähne gefletscht wie ein Raubtier. Baldric glaubte ihm anzusehen, dass er wusste, von wem die Rede war. Die Frage war eher, ob er sein Wissen teilen würde.

»Bitte«, fügte der Ritter deshalb hinzu. »Ein Leben ist in Gefahr.«

»Wessen Leben?«, fragte der Jude unbeeindruckt.

»Das des Angelsachsen Conwulf«, erklärte Baldric und straffte sich. »Er hat Chaya einst das Leben gerettet. Sie steht in seiner Schuld.«

»Meine Cousine steht in niemandes Schuld, Christenhund!«, spie der junge Mann und verriet damit nicht nur, dass er Chaya kannte, sondern sogar seine Verwandtschaft mit ihr. »Und nach allem, was dieser elende Engländer ihr angetan hat, solltest du seinen Namen in diesem Haus besser nicht mehr in den Mund …«

»Es ist gut, Caleb«, brachte ihn jemand zum Verstummen. Eine Frau trat aus einem der Durchgänge. Sie trug einen blauen Umhang und einen Schleier vor dem Gesicht. Als sie ihn lüftete, dankte Baldric seinem Schöpfer – es war Chaya.

»Ihr lebt«, stellte er erleichtert fest. »Also war Conns Opfer nicht vergeblich.«

»Sein Opfer?« Das Spiel ihrer dunklen Augen verriet Furcht. »Was ist geschehen?«

»Conn liegt schwer verwundet, Chaya. Und er braucht Eure Hilfe.«

Es war ein Mysterium.

In der Abgeschiedenheit seines bescheidenen Quartiers, das sich im Kellergewölbe eines alten Wohnhauses befand, brütete Berengar über der von ihm gestohlenen Schriftrolle. Je mehr er jedoch davon entzifferte, desto überzeugter war er, zumindest diese eine Sünde nicht vergeblich begangen zu haben.

Die Übersetzung kam nur langsam voran.

Obwohl Berengar viele alte Sprachen und Schriftzeichen kannte, stellte ihn das geheimnisvolle Pergament, dessen Behälter mit dem Siegel Salomons versehen gewesen war, vor immer neue Rätsel.

Das verwendete Hebräisch ähnelte zwar der sefat hathora, also jener Hochsprache, in der die Thora verfasst war, wich jedoch auch in einigen Punkten von ihr ab. Fraglos handelte es sich um altes Hebräisch, jedoch war es weniger ausgefeilt und daher mühsamer zu übersetzen – zumal für jemanden, der die klare, leicht nachzuvollziehende Grammatik eines lateinischen Textes gewohnt war. Schwer zu übersetzende Stellen wechselten mit Passagen ab, die direkt dem Alten Testament entnommen waren. Doch die Dinge, von denen dort die Rede war, waren aus ihrem Zusammenhang gerissen und ergaben keinen Sinn, oder vielleicht hatte der Mönch auch nur noch nicht den richtigen Zugang gefunden. Und das, obwohl er nun schon seit über einem halben Jahr darüber brütete.

Natürlich nicht unablässig.

Berengars seelsorgerische Pflichten erlaubten es nicht, sich dem Text in dem Maße zu widmen, wie er es gerne getan hätte. Wenn er doch die Muße dazu fand, musste er sich an Orte zurückziehen, an denen er sicher sein konnte, von niemandem beobachtet zu werden – und diese waren in der Zeltstadt beinahe noch seltener anzutreffen gewesen als das so dringend benötigte Brot. In den Tagen seit der Eroberung jedoch hatte sich Berengar der Schriftrolle mit neuer Hartnäckigkeit zugewandt – und das nicht nur, weil es ihn selbst danach verlangte, sondern auch, weil der starrsinnige Baldric sich nicht davon hatte abbringen lassen, die Jüdin um Hilfe für Conn zu ersuchen.

Berengars Befürchtung, dass sein dreister Diebstahl ans Licht kommen könnte, wenn es zum erneuten Zusammentreffen mit Chaya kam, war nicht unbegründet – schließlich hatte auch Conwulf ihm schon Fragen bezüglich jener Nacht gestellt, in der das Buch verschwunden war. Und wer vermochte zu sagen, ob die Jüdin ihn nicht insgeheim längst verdächtigte? Die Zeit drängte, und Berengar brannte mehr denn je darauf, der Schriftrolle ihr Geheimnis zu entlocken.

Längst war ihm offenbar geworden, dass sein erster Eindruck ihn nicht getäuscht hatte. Was auch immer der Kern des Textes war, es musste von großer Bedeutung sein. Denn je weiter Berengar in seiner Lektüre vorankam, desto schwieriger wurde es, den Inhalt zu erfassen, so als würde sich das Buch absichtlich seinem Verständnis entziehen.

Während der Anfang des Buches aus der Feder eines Laien zu stammen schien und von Vorgängen am Hof des weisen Königs Salomon berichtete – Berengar vermutete, dass es eine Frau gewesen war, vielleicht eine Hofdame des Königs, die den Text verfasst hatte –, wurde später von Ereignissen berichtet, die aus den alttestamentarischen Geschichtsbüchern bekannt waren, jedoch eine andere Sichtweise schilderten. Und immer wieder waren Passagen aus den Psalmen und den Büchern der Propheten eingestreut, die jedoch nicht für sich selbst zu stehen, sondern in ein größeres Ganzes eingebunden schienen, in ein Geheimnis, das das Buch eifersüchtig hütete.

Schon bald stand für Berengar fest, dass jene in den Text eingestreuten Verweise nicht von gewöhnlichen Schriftgelehrten stammten, sondern von in der Kabbala bewanderten Mystikern. Er wusste es deshalb so genau, weil auch er sich als junger Novize einst den Geheimnissen der Kabbala gewidmet hatte. Fasziniert war er den Spuren jener Lehre gefolgt, für die alles vom Menschen Geschaffene ein Abbild der göttlichen Schöpferkraft war und die deshalb in Worten und Zahlen ein Abbild von Gottes Wahrheit suchte – so lange, bis die ihr innewohnenden Rätsel seinen Verstand in einen Mahlstrom gezogen hatten, aus dem er beinahe nicht mehr herausgefunden hätte. Sein damaliger Meister Ignatius hatte ihm daraufhin untersagt, sich jemals wieder mit der jüdischen Geheimlehre zu befassen. Eine Regel, die Berengar inzwischen gebrochen hatte, wie so viele andere.

Trotz seiner Vorkenntnisse kostete es ihn Zeit und Mühe, die Rätsel zu lösen, und es gelang ihm nicht bei allen. Doch aus den Bruchstücken, die Berengar erfuhr, glaubte er schließlich zu erahnen, wovon die Schriftrolle tatsächlich handelte.

Der Mönch merkte, wie sich sein Herzschlag beschleunigte. Schweiß trat ihm auf die Stirn, obwohl es kühl war in seinem dunklen Keller.

Konnte es wirklich wahr sein?

Im selben Maß, wie sich der Inhalt des Buches ständig zu verkomplizieren schien, veränderte sich auch die Schrift. Aufgrund ihrer Ebenmäßigkeit hatte Berengar sie zunächst für das Werk eines berufsmäßigen Schreibers gehalten, dann jedoch ging ihm auf, dass es wenigstens zehn verschiedene sofer gewesen waren, die an dem Buch gearbeitet und es im Lauf der Zeit wohl beständig erweitert und ergänzt hatten. Aber zu welchem Zweck?

Fieberhaft arbeitete Berengar weiter, ruhelos flogen seine Augen zwischen der Schriftrolle und dem lateinischen Bibelkodex hin und her, den er aufgeschlagen neben sich liegen hatte. Vielleicht, so dachte er, war seine frühere Beschäftigung mit jüdischer Mystik auch der Grund dafür gewesen, dass der Anblick des signum Salomonis sein Interesse geweckt hatte. Mehr noch, hatte womöglich die göttliche Vorsehung dafür gesorgt, dass er in jungen Jahren jene Vorkenntnisse erworben hatte? War er dazu auserwählt, diese Schrift zu übersetzen?

Am hellen Tage wären ihm Gedanken wie diese vermutlich abwegig erschienen. Im flackernden Schein der Öllampen jedoch entbehrten sie nicht einer gewissen Zwangsläufigkeit, ja einer Logik, der sich wohl selbst ein scharfsinniger Denker vom Schlage eines Augustinus nicht ohne Weiteres hätte entziehen können.

Hatten Kirchenväter wie er nicht stets versucht, die Existenz Gottes zu beweisen? Hatten sie nicht gefordert, dass es eine allgemein gültige Wahrheit geben müsse, in der sich die Gegenwart des Allmächtigen widerspiegele?

Was, so fragte sich Berengar mit einer Mischung aus Ehrfurcht und Schaudern, wenn es genau das war, wovon das Buch handelte? Wenn dies der Grund dafür war, dass die Jüdin und ihr Vater so versessen darauf gewesen waren, das Buch ins Gelobte Land zu bringen und es vor fremdem Zugriff zu bewahren?

Von Voraussagen und Prophezeiungen war darin die Rede, vom Wiedererstarken des Volkes Israel, von der Einberufung eines neuen Sanhedrin und einem neuen Königreich Jerusalem – Dinge, die Berengar halbwegs verstand, jedoch nicht einordnen konnte. Handelte es sich lediglich um die haltlosen Visionen religiöser Eiferer? Oder steckte mehr dahinter, barg das Buch die Kraft des Göttlichen?

Das entscheidende Stück des Mosaiks fehlte noch, jener letzte Hinweis, der die ungeheuerliche Vermutung bestätigte, die der Mönch bereits seit geraumer Zeit hegte, gemäß der Ankündigung im vierten Buch der Psalmen:

Der Herr ist König! Es zittern die Völker. Er thront auf den Cherubim. Es wankt die Erde. Groß ist der Herr in Zion, erhaben ist Er über alle Völker. Preisen sollen sie Deinen Namen, den großen und mächtigen – heilig ist er.