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13.

Antiochia

1. August 1098

Das Feuer in der Esse war fast heruntergebrannt.

Funken stoben auf und verloschen, während Conn gedankenverloren in der Glut stocherte.

Vor zwei Tagen waren Baldric und Bertrand aus Acre zurückgekehrt. Sie hatten Chaya und das Kind sicher zu ihren Leuten gebracht, und auch die Rückreise war ohne Zwischenfälle verlaufen. Eigentlich hätte Conn erleichtert sein müssen, doch die Gedanken und Gefühle, die die Rückkehr seines Adoptivvaters bei ihm ausgelöst hatte, waren voller Widersprüche.

Während ein Teil von ihm Chaya noch immer aufrichtig liebte, wollte ein anderer sie bestrafen für das, was sie ihm angetan hatte – aber hatte sie es nicht zu ihrer aller Wohl getan? Waren sie und das Kind bei Caleb nicht ungleich besser aufgehoben als bei ihm? Andererseits, warum hatte sie ihm nicht vertraut? Warum hatte sie ihm das Geheimnis des Buchs von Ascalon nicht offenbart, da sie einander doch so nahe gewesen waren, wie zwei Menschen nur sein konnten?

Resigniert schüttelte Conn den Kopf.

Er kannte sich selbst gut genug, um zu wissen, dass all diese Überlegungen im Grunde nur einem Zweck dienten – nämlich das schlechte Gewissen zu vertuschen, das er Chaya gegenüber hatte.

Die ganze Zeit über hatte er beteuert, mit dem Verschwinden des Buches von Ascalon nichts zu tun zu haben, und jede Anschuldigung weit von sich gewiesen. Indem er Bischof Adhémars Angebot annahm und sich bereit erklärte hatte, nach der Lade des Volkes Israel zu suchen, um sie für die Kirche in Besitz zu nehmen, hatte er jedoch gezeigt, dass sie ihn nicht zu Unrecht verdächtigt hatte. Er mochte nicht ihr Feind sein, so wie andere Kreuzfahrer es waren.

Aber er war auch nicht ihr Freund.

»Sonderbar«, grübelte Bertrand, der neben ihm an der Feuerstelle saß, die die Mitte des Wohnraumes einnahm. »Ich hatte erwartet, das Heer bei unserer Ankunft zum Aufbruch gerüstet vorzufinden, aber das Gegenteil ist der Fall. Es scheint fast, als hätten die hohen Herren das Interesse daran verloren, nach Jerusalem zu ziehen.«

»Ich habe gehört, dass es Uneinigkeit gibt im Fürstenrat«, berichtete Baldric, der ihnen gegenübersaß und an einem winzigen Stück Brot kaute. Conn und Bertrand hatten ihre Rationen bereits vertilgt.

»Uneinigkeit? Wann sind sich die hohen Herren je einig gewesen?«, fragte Bertrand augenzwinkernd dagegen.

»Gemäß dem Eid, den sie Kaiser Alexios geleistet haben, müsste Antiochia seiner Herrschaft übergeben werden«, führte Baldric weiter aus. »Aber es gibt auch Fürsten, die die Ansprüche des Kaisers in Frage stellen, allen voran Bohemund von Tarent, der sich gerne selbst zum Herrn von Antiochia aufschwingen würde. Darüber ist ein heftiger Streit entbrannt, der das Kreuzfahrerheer am Weitermarschieren hindert, von der Hitze des Sommers ganz abgesehen.«

»Von mir aus sollen sie sich ruhig Zeit lassen«, meinte Bertrand achselzuckend. »Ich hätte nichts dagegen, noch eine Weile auszuruhen.«

»In einer Stadt, in der die Menschen hungern?«, fragte Baldric zweifelnd. »In deren Gassen man nachts nicht sicher ist und Seuchen grassieren? Was ist nur aus uns geworden? Viele Kreuzfahrer haben den Eid, den sie als Pilger geleistet haben, verraten und sind zu gemeinen Räubern geworden, nicht besser als jene, die zu vertreiben wir aufgebrochen sind.«

Conn zuckte zusammen. Unwillkürlich fühlte er sich angesprochen, und ihm wurde nur noch elender zumute. Dass es die Kirche selbst war, die ihn beauftragt hatte, tröstete ihn nicht. Das Gefühl, dass er etwas Falsches tat, blieb bestehen, und einmal mehr empfand er ohnmächtige Wut auf Berengar, der ihn zu seinem Komplizen gemacht hatte. Gewiss erhielt Conn dadurch die Chance, sich an Guillaume de Rein zu rächen, und allein das war es vermutlich wert, jede erdenkliche Sünde dafür zu begehen. Aber er würde Chaya dafür verraten, und dieser Handel war ihm unerträglich. Welchem Ansinnen war der Vorzug zu geben – dem Racheschwur, den er einst geleistet hatte, oder der Gerechtigkeit? Nia schien auf der einen Seite zu stehen, Chaya auf der anderen, so als würden sie um seine Seele ringen.

»Das stimmt«, pflichtete Bertrand Baldric bei. »Viele der hohen Herren nutzen die Zeit, um Raubzüge in die Umgebung zu unternehmen und sich das zurückzuholen, was der Feldzug sie gekostet hat.«

»Können sie das denn?«, fragte Baldric dagegen. »Können Gold und Geschmeide die vielen Menschenleben ersetzen, die verloren gingen? Was, wenn wir uns geirrt haben? Was, wenn wir die Zeichen des Herrn falsch gedeutet haben und diese Unternehmung nichts als ein gewaltiger, folgenschwerer Irrtum ist. Was dann?«

Zum ersten Mal blickte Conn auf.

Sein Adoptivvater kauerte vor der Esse und starrte nicht weniger trüb in die Glut, als er selbst es getan hatte.

»Du zweifelst?«, fragte er leise.

»Muss ich das nicht?« Baldrics Auge richtete sich auf ihn. »Nichts ist so, wie wir es erwartet haben, nicht einmal der Feind, den wir bekämpfen. Was, wenn wir uns auch irren, was unsere Seelen betrifft? Was, wenn wir den Pfad des Lichts längst verlassen haben und verloren sind, ohne dass wir es merken?«

Conn schluckte den Kloß hinunter, der sich in seinem Hals gebildet hatte. Baldrics Worte machten ihm Angst, wenn auch auf eine schwer zu fassende Weise, zumal im Hinblick auf die Aufgabe, die er übernommen hatte. »Was genau meinst du, Vater?«

»Ich bin Soldat und kein Prediger, deshalb vermag ich es nicht in Worte zu fassen. Es ist nur ein Gefühl, das mich quält, seit wir aus Acre zurück sind, eine unbestimmte Ahnung, aber was, wenn …«

Er kam nicht dazu, den Satz zu beenden.

Knarrend flog die Tür des Hauses auf, und Berengar stand auf der Schwelle, dessen Gesellschaft Conn in den letzten Tagen absichtlich gemieden hatte. Ohne zu grüßen oder darauf zu warten, dass man ihn hereinbat, stürzte der Mönch an die Feuerstelle. Blankes Entsetzen stand in den blassen Zügen mit der Habichtsnase geschrieben.

»Was ist geschehen, Pater?«, wollte Bertrand wissen. »Ihr seht aus, als ob …«

»Bischof Adhémar«, stieß Berengar atemlos hervor.

»Was ist mit ihm?«, fragte Conn.

»Er ist tot«, antwortete der Mönch mit tonloser Stimme.

»Was?«

»Eine plötzliche Erkrankung, wie es heißt … wohl eine der Seuchen, die in der Stadt grassieren.«

Conns Gesicht wurde heiß, er hatte das Gefühl, jede einzelne Haarwurzel auf seinem Kopf zu spüren. Es kam in diesen Tagen nicht selten vor, dass Menschen, die von Hunger und Strapazen geschwächt waren, von Krankheiten befallen und innerhalb kürzester Zeit dahingerafft wurden. Er erinnerte sich auch an die Hustenanfälle, die den Bischof von Le Puy bei ihrem letzten Treffen geplagt hatten. Dennoch kam es ihm seltsam vor, dass Adhémar nur wenige Tage nach ihrer geheimen Unterredung eines mehr oder minder natürlichen Todes gestorben sein sollte. Noch dazu, wo er sich auf Schritt und Tritt beobachtet wähnte.

»Das ist nicht gut«, erklärte Baldric. »Adhémar war der Vertreter des Papstes und hat die Fürsten beständig an seine Pflichten erinnert. Ohne ihn wird alles noch schwerer werden.«

»Das wird es«, bestätigte Berengar und bedachte Conn mit einem bedeutsamen Blick. »Kann ich einen Moment mit dir sprechen, Conwulf?«

Obwohl alles in ihm sich dagegen wehrte, folgte Conn dem Mönch nach draußen. Die Neuigkeit hatte auch ihn schockiert, gleichwohl ertappte er sich dabei, dass er die leise Hoffnung hegte, mit dem Tod des Bischofs könnte sich auch ihre Abmachung erledigt haben und er würde nicht gezwungen sein, zwischen Vergangenheit und Gegenwart zu wählen.

»Was wollt Ihr?«, erkundigte er sich barsch.

»Kannst du dir das nicht denken?«, antwortete Berengar mit gedämpfter Stimme. »Erscheint es dir nicht auch verdächtig, dass der Bischof so plötzlich verschieden ist?«

»Und wenn?«

»Hugo von Monteil, der Bruder Adhémars, hat gesagt, dass er keineswegs an einen Tod durch Krankheit glaubt. Er vermutet, dass der Bischof vergiftet wurde, aber er kann es nicht beweisen.«

»Vergiftet?«

»Ich muss dir nicht sagen, wen Adhémar am meisten gefürchtet hat.«

»Die Bruderschaft der Suchenden«, knurrte Conn. Und Guillaume de Rein, fügte er in Gedanken hinzu.

»Ich weiß nicht, ob Graf Hugo Kenntnis hat von dem Buch und dem Bündnis, das sein Bruder mit uns geschlossen hat«, entgegnete der Mönch. »Aber ich werde mit ihm darüber sprechen.«

»Wozu?«, fragte Conn.

»Willst du behaupten, dir wäre nicht mehr daran gelegen, dich an deinem Erzfeind zu rächen?«

»Nein, das behaupte ich nicht. Aber mir hat die Sache von Anfang an nicht gefallen, und nun, da der Bischof nicht mehr am Leben ist, sehe ich nicht, warum ich mich noch an mein Wort gebunden fühlen sollte.«

»Und die Ritterwürde, die du erlangt hast?«

»Niemand außer Euch weiß davon«, erwiderte Conn kalt. »Und Ihr tätet gut daran, es nicht öffentlich zu machen.«

»Du drohst mir? Nach allem, was ich für dich getan habe?«

»Was auch immer Ihr getan habt, habt Ihr vor allem um Eurer selbst willen getan, Pater, ich schulde Euch also nichts. Oder wollt Ihr das bestreiten?«

Berengar schüttelte das spärlich behaarte Haupt. »Ich leugne nicht, dass ich Fehler gemacht habe und dass es mich nicht nur aus Frömmigkeit, sondern auch aus Neugier dazu drängte, das Geheimnis des Buches zu ergründen. Aber ich habe es nicht nur zu meinem Wohl getan, sondern auch zu deinem, Conn, willst du das nicht einsehen? Warum, glaubst du, habe ich mich bei Bischof Adhémar für dich verwendet?«

»Ganz einfach, weil Ihr jemanden brauchtet, der Euch nach Jerusalem begleitet. Jemanden, den Ihr leicht beeinflussen und kontrollieren könnt. Mit anderen Worten, einen angelsächsischen Narren wie mich.«

»Aber nein, du missverstehst meine …«

»Außerdem wolltet Ihr Euer schlechtes Gewissen mir gegenüber erleichtern. Ihr dachtet, wenn Ihr mich zum Komplizen macht, würde das Eure Schande schmälern. Aber das ist nicht der Fall, Berengar. Der Bischof ist nicht mehr am Leben, und damit betrachte ich auch unsere Abmachung als hinfällig.«

»Conwulf, ich …«

Conn ließ ihn abermals nicht ausreden. Abrupt wandte er sich ab, ging ins Haus zurück und warf die Tür zu. Dann wartete er mit pochendem Herzen, bis die knirschenden Schritte von Berengars Sandalen sich entfernt hatten – und hoffte, dass er die richtige Entscheidung getroffen hatte.

Antiochia

September 1098

»Danke, dass Ihr meiner Einladung gefolgt seid.«

Eustace de Privas fuhr herum. Er hatte erwartet, dass seine Gastgeberin die Halle durch den Vordereingang betreten würde. Stattdessen stand sie plötzlich hinter ihm.

»Mylady.« Der Ritter aus der Provence verbeugte sich. Als er sich wieder erhob, stand die schattengleiche Erscheinung Eleanor de Reins unmittelbar vor ihm.

Eustace verspürte dieselbe Beklemmung, die er auch in Caen empfunden hatte, damals, als Eleanor zu ihm gekommen war und um Aufnahme ihres Sohnes in den Kreis der Bruderschaft gebeten hatte. Aus machtpolitischen Erwägungen hatte Eustace damals zugestimmt, denn Eleanors Familie verfügte in der Normandie über erheblichen Einfluss, und da die Normannen einen nicht unbedeutenden Teil des Heeres stellten, war es überaus wichtig, auch sie in der Bruderschaft vertreten zu wissen. Allerdings hatte Eustace nicht damit gerechnet, dass der anfangs so zurückhaltende und unter seinem strengen Vater leidende Guillaume einst so forsch agieren und sogar versteckte Ansprüche auf die Führung der Bruderschaft erheben würde. Und ihm war klar, dass diese offenkundige Veränderung einen Namen hatte.

Eleanor de Rein.

Es war unbestreitbar, dass die Gattin des Barons de Rein großen Einfluss auf ihren Sohn ausübte, und ganz offenbar schien sie diese Einflussnahme nun auch auf die Bruderschaft ausdehnen zu wollen – doch Eustace war fest entschlossen, jedes Ansinnen in diese Richtung von sich abprallen zu lassen. Er und niemand sonst hatte die Bruderschaft ins Leben gerufen, und er würde sich seinen Führungsanspruch von niemandem streitig machen lassen.

»Sicher fragt Ihr Euch, weshalb ich Euch um dieses Treffen ersucht habe«, ergriff Eleanor wieder das Wort. Ihre hagere Erscheinung und die bleichen, reglosen Züge hatten etwas Furchteinflößendes. Das Gebende um Hals und Kopf, das nur ihr Gesicht frei ließ, verstärkte Eustaces Eindruck, mit einem lebenden Leichnam zu sprechen.

»Das ist wahr, Mylady«, bestätigte er mit einem leisen Schaudern.

»Ich bat Euch, in mein Haus zu kommen, weil ich mit Euch über die Zukunft sprechen möchte.«

»Über die Zukunft?« Eustace hob die Brauen. »Wessen Zukunft, Mylady?«

»Eure Zukunft Und die von Guillaume.«

»Nun«, erwiderte der Provenzale voller Zuversicht, »was meine Zukunft betrifft, so sehe ich sie in einem durchaus günstigen Licht.«

»Das glaube ich Euch gern, Monsieur, aber doch nur, weil der Kampf um Antiochia eine entscheidende Wendung genommen hat. Wäre die Lanze damals nicht gefunden worden, hätten unsere Kämpfer wohl nicht mit derartiger Verbissenheit gegen die Muselmanen gefochten, und wir würden kaum hier stehen, um diese Unterhaltung zu führen.«

»Damit mögt Ihr recht haben. Allerdings weiß ich nicht, warum Ihr diese Dinge erwähnt.«

»Kommt, Eustace. Beleidigt mich nicht, indem Ihr mich wie eine Närrin behandelt. Ich weiß, welche Rolle Eure Bruderschaft beim Fund der Lanze gespielt hat, und ich weiß auch, dass es Guillaume war, der den Ausschlag dazu gegeben hat. Er hat es mir selbst erzählt.« Ein dünnes Lächeln spielte um ihre blutleeren Lippen. »Ein Sohn sollte vor seiner Mutter keine Geheimnisse haben.«

»Auch dann nicht, wenn er einen feierlichen Eid geleistet hat?«, empörte sich Eustace.

»Wollt Ihr behaupten, Ihr hättet noch niemals einen Eid gebrochen?«, fragte Eleanor dagegen und zuckte mit den Achseln, die sich durch das samtene Kleid und den Überwurf abzeichneten. »Schwüre werden jeden Tag geleistet, und je höher jene stehen, die ihr Wort verpfänden, desto häufiger werden sie gebrochen. Statt Guillaume zu zürnen, solltet Ihr Euch glücklich schätzen, dass seine List die entscheidende Wendung brachte – denn wie ich hörte, seid Ihr in jenen Tagen nicht in der Lage gewesen, eine solche herbeizuführen.«

»Das ist wahr«, bekannte Eustace widerwillig. Da Eleanor so umfassend unterrichtet schien, war leugnen wohl sinnlos.

»Seither jedoch ist eine fast verwerflich zu nennende Trägheit unter den Kreuzfahrern eingekehrt. Anstatt zu kämpfen, begnügen sie sich damit, ihre Wunden zu lecken und sich dem Wohlleben hinzugeben, selbst die Prediger sind mancherorts verstummt. Es ist nicht zu übersehen, dass manche Ritter mehr Gefallen daran finden, im Umland auf Raubzug zu gehen und persönlichen Besitz anzuhäufen, als dem ursprünglichem Ziel des Feldzugs zu dienen, nämlich der Eroberung von Jerusalem. Sogar unter den Fürsten scheint Uneinigkeit darüber ausgebrochen zu sein.«

»Auch das ist wahr. Namentlich Bohemund von Tarent wehrt sich dagegen, den Feldzug fortzusetzen …«

»… es sei denn, man würde ihm die Herrschaft über Antiochia übertragen«, fügte Guillaumes Mutter hinzu und bewies damit einmal mehr, wie gut sie informiert war. »Dass er durch seine Selbstsucht das ganze Unternehmen gefährdet, scheint diesem Emporkömmling dabei völlig gleichgültig zu sein.«

»Mylady, offen gestanden wundert es mich, Euch in dieser Art über den Fürsten von Tarent sprechen zu hören. Immerhin ist Euer Gemahl der Baron bekanntermaßen sein ergebener Anhänger.«

Eleanor stellte erneut ihr Totenkopflächeln zur Schau. »Ihr solltet nicht den Fehler machen, mich mit meinem Gemahl gleichzusetzen. Renald mag Gefallen daran finden, sich den Mächtigen anzudienen – mir hingegen erschien es von jeher erfolgversprechender, selbst Macht zu erlangen.«

»Eine Einstellung, die von Ehrgeiz und Weitsicht spricht«, sagte Eustace. Auch wenn Eleanors forsches Auftreten ihn verunsicherte, ja verstörte, kam er nicht umhin, von ihr beeindruckt zu sein. In jungen Jahren, sagte er sich, war sie wohl eine Schönheit gewesen mit ihren stechend grünen Augen und den schmalen, vornehmen Zügen – ehe das Alter oder ihre Erfahrungen sie zu jenem bleichen, an einen Geist gemahnenden Geschöpf hatten werden lassen, als das sie ihm nun gegenüberstand.

»Dies sind beides Eigenschaften, die für eine Frau gefährlich sind«, erwiderte sie ohne Zögern, »weshalb ich früh damit begonnen habe, Männer das tun zu lassen, was ich für richtig hielt.«

Sie trat an den langen Tisch, der die eine Hälfte der Halle einnahm, und griff nach den mit Wein gefüllten Bechern, die dort standen. Einen behielt sie selbst, den anderen reichte sie Eustace.

»Ich gestehe, dass ich beeindruckt bin von Eurer Offenheit, Mylady«, gestand dieser, nachdem sie getrunken hatten.

»Und ich will auch weiter offen mit Euch sein. Denn für die Pläne, die ich gefasst habe, ist es überaus wichtig, dass wir Jerusalem erreichen. Und da die Fürsten unter sich uneins sind, brauchen wir etwas, das ihren Streit beendet und sie dazu veranlasst, den Feldzug fortzuführen.«

»Ich ahne, worauf Ihr hinauswollt«, versicherte Eustace zwischen zwei Schlucken Wein, »und ich beginne außerdem zu mutmaßen, dass es nicht Guillaumes, sondern in Wahrheit Euer Plan gewesen ist, der die Wende vor Antiochia herbeigeführt hat.«

»Das steht Euch frei«, erwiderte Eleanor lächelnd.

»Aber ich verwehre mich entschieden dagegen, Peter Bartholomaios wieder für unsere Zwecke einzusetzen. Einmal ist es gutgegangen. Ein zweites Mal werde weder ich noch die Bruderschaft dieses Risiko eingehen.«

»Weshalb nicht? Was fürchtet Ihr?«

»Was ich fürchte?« Eustace lachte freudlos auf. »Entdeckung natürlich, was sonst? Was, glaubt Ihr wohl, geschieht, wenn die Täuschung bekannt würde?«

»Wir würden brennen«, entgegnete Eleanor ungerührt. »Aber ich glaube nicht, dass es das ist, was Euch daran hindert. Ihr fürchtet vielmehr, dass Guillaume Euch an Einfluss überflügeln könnte, nicht wahr? Und hier ist es nun, wo seine und Eure Zukunft und die der Bruderschaft einander berühren.«

»Bei allem, was Ihr sagt, solltet Ihr nicht vergessen, dass ich die Bruderschaft der Suchenden gegründet habe, Mylady. Ich bin ihre Zukunft!«

»Meint Ihr?« Sie nahm einen Schluck Wein, und der Blick, den sie ihm über den Becher hinweg sandte, hatte etwas Herausforderndes. »Ich würde Euren Standpunkt teilen, wenn Ihr bereit wärt, Euch für die hohen Ziele einzusetzen, die Ihr Euch gegeben habt – aber das seid Ihr nicht. Letzten Endes ist Euch an Eurem eigenen Wohl mehr gelegen als an der Bruderschaft, das habt Ihr schon einmal bewiesen.«

»Mylady!« Zorn schoss Eustace in die Adern. Geräuschvoll stellte er den halb geleerten Becher auf den Tisch zurück. »Viele Ritter, auch die tapfersten, haben während der Belagerung Antiochias Schwäche gezeigt, das könnt Ihr mir nicht vorwerfen. Und was Bartholomaios’ Glaubwürdigkeit betrifft, so traue ich ihr nicht mehr.«

»Weshalb nicht? Adhémar von Le Puy kann sie nicht mehr untergraben.«

»Der Bischof ist tot, das ist wahr. Aber sagt Euch der Name Arnulf von Rohes etwas?«

Eleanor hob die schmalen Brauen. »Der Prediger Herzog Roberts von der Normandie?«

»Ebenjener. Im Gegensatz zu Le Puy erfreut er sich bester Gesundheit, und er lässt keine Gelegenheit aus, an der Echtheit der Lanze zu zweifeln und den Herzog gegen uns aufzubringen. Wie wird er wohl auf neue Voraussagen von Bartholomaios reagieren?«

»Darüber zerbrecht Euch nicht den Kopf«, beschwichtigte Eleanor und leerte ihren Becher. »Wie leicht könnte auch ihm etwas zustoßen, ebenso wie seinem Herzog?«

»Mylady!«

»Was denn, das erschreckt Euch?« Sie lächelte. »Gedanken wie diese sollten Euch aber nicht erschrecken, denn genau sie sind es, die den Anführer vom Untertan unterscheiden. Und Ihr, mein Freund, seid nichts als ein Untertan. Ein edler Untertan, gewiss. Aber dennoch nur ein Untertan.«

»Glaubt Ihr …?«

Eustace wollte etwas erwidern, aber noch während er sprach, vergaß er, was er hatte sagen wollen. Er merkte, wie sich etwas bleischwer auf ihn senkte, und er brauchte den Tisch als Stütze, um nicht von den Beinen zu kippen. Verwirrt starrte er auf den halb leeren Becher, von dessen Inhalt er doch nur wenige Schlucke getrunken hatte.

»Sieh mich an, Eustace«, verlangte Eleanor.

Er kam ihrer Aufforderung nach und stellte zu seiner Verblüffung fest, dass sie sich verändert hatte. Das Gebende um ihr Haupt hatte sie gelöst, sodass er ihren schlanken Hals sehen konnte und das grauweiße Haar, das einst strahlend blond gewesen sein mochte. Von Nadel und Stoff befreit, lag es eng an ihrem Kopf an und reichte ihr bis zu den Schultern.

»Was … was tut Ihr?«, stammelte Eustace, der sich kaum noch aufrecht halten konnte. Der Boden der Halle schien zu kippen.

»Was ich immer zu tun pflege, wenn ich etwas haben will«, erwiderte sie mit ruhiger Gelassenheit, während sie dazu überging, ihren Mantel und das darunterliegende Gewand abzulegen. »Ich nehme es mir.«

Eustace wollte fort, nur fort.

Er löste sich vom Tisch und wollte hinaus, aber er kam keine zwei Schritte weit. Mit einem dumpfen Aufschrei ging er nieder und fand sich am Boden wieder. Neben ihm lag der Becher, den er versehentlich mitgerissen hatte. Der restliche Wein rann aus und versickerte in den Fugen zwischen den Steinplatten, rot wie Blut.

»Ich will, dass du deinen Platz an der Spitze der Bruderschaft für Guillaume frei machst«, hörte er Eleanor sagen.

»Nie-niemals.«

»Du bist am Ende deiner Kräfte, Eustace. Was die Bruderschaft braucht, ist Führung – und dazu bist du nicht in der Lage. Oder willst du das ernstlich anzweifeln? Wenn sogar eine schwache Frau in der Lage ist, dich zu bezwingen?«

»Bezwingen«, echote er und starrte sie verständnislos an. Sie hatte ihr Gewand abgelegt und trug nur noch ein dünnes Hemd, das ihre knochige Gestalt durchscheinen ließ und ihre gespenstische Erscheinung noch verstärkte.

»Du wirst tun, was ich von dir verlange, nicht wahr?«, fragte sie, während sie den Saum langsam hob. Der Schein der Öllampen tauchte ihre Gestalt in dämonisch anmutendes Licht, ein spinnengleiches Wesen, das nur aus Knochen und dürrer Haut zu bestehen schien.

Und Eustace merkte, wie sein Widerstand schwand und er nicht anders konnte, als sich ihrem Willen zu fügen.