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16.
Östlich von Akkar
Mitte April 1099
Die Zeit des Stillstands war vorüber.
Nach langen Monaten des Wartens, in denen sich die Fürsten darin gefallen hatten, sich einerseits erbitterte Machtkämpfe um den Besitz Antiochias zu liefern und sich andererseits durch nicht enden wollende Raubzüge durch das Umland der Stadt zu bereichern, war das Heer der Kreuzfahrer zum Jahreswechsel endlich wieder aufgebrochen.
Mehrere Gründe hatten letztlich dazu geführt, dass die Anführer ihren Starrsinn aufgegeben und sich wieder auf ihre ursprüngliche Mission besonnen hatten: Zum einen hatten sie die Region beinahe leer geplündert, sodass ihnen nichts anderes übrig blieb, als einer Horde Heuschrecken gleich weiterzuziehen, um die Versorgungslage des Heeres nicht abermals zu gefährden; zum anderen hatte die Stimmung unter den einfachen Soldaten dafür gesorgt, dass die hohen Herren ihre Haltung noch einmal überdacht hatten. Der Habgier ihrer Anführer überdrüssig, hatten immer mehr Kämpfer ihren Unmut geäußert und ihn an die Vertreter der Kirche herangetragen, von denen zwar keiner auch nur annähernd über die Macht und den Einfluss eines Adhémar von Monteil verfügte; die ständigen Proteste der Priester jedoch und ihre finsteren Drohungen das Seelenheil betreffend höhlten schließlich den Stein. Lediglich Bohemund von Tarent blieb in Antiochia zurück, nunmehr als unbestrittener Herrscher; die anderen Fürsten jedoch, allen voran Raymond von Toulouse, der sich als Adhémars Nachfolger und legitimer Anführer des Unternehmens sah, verließen nach und nach die Stadt. Als Erste folgten die Normannen von Herzog Robert und die Gefolgsleute des rauflustigen Italiers Tankred dem Aufruf, und schließlich konnten sich auch die Fürsten Lothringens und Flanderns dem Drängen ihrer Heere nicht länger widersetzen.
Auch Guillaume de Rein und die Mitglieder der Bruderschaft hatten nicht unerheblichen Anteil daran, dass das Unternehmen endlich fortgeführt wurde: Unablässig hatten sie bei ihren Lehnsherren interveniert und auf einen baldigen Aufbruch gedrängt, und wann immer sich die Gelegenheit dazu bot, hatte Guillaume nicht gezögert, Seher und Visionäre für seine Zwecke einzusetzen. Allerdings, so hatte er feststellen müssen, verhielt es sich mit Prophezeiungen wie mit einer Klinge, die zu häufig benutzt wurde – sie nutzten sich ab und wurden stumpf.
Mit einer Verwünschung auf den Lippen lenkte Guillaume sein Pferd den schmalen Pfad hinauf, der zum Grat des Hügels führte, gefolgt von einem Trupp seiner Leute. Die Erinnerung an die schaurigen Ereignisse, die sich vor wenigen Tagen im Lager der Kreuzfahrer zugetragen hatten, setzte ihm noch immer zu. Zum einen, weil sein Plan misslungen war. Zum anderen aber auch, weil Eustace de Privas, der seit seiner Absetzung als Anführer der Bruderschaft als Leibwächter Eleanor de Reins fungierte und ihr wie ein Schatten folgte, im Grunde recht behalten hatte.
Genau wie Graf Raymond war auch Guillaume der Ansicht gewesen, dass die Stadt Akkar, die inmitten eines fruchtbaren Küstenstreifens unmittelbar am Meer lag und damit die Nachschublinien nach Europa öffnete, unbedingt erobert werden müsse, ehe man den Zug nach Jerusalem fortsetzen könne, doch die meisten Fürsten des Rates waren anderer Meinung gewesen. Die einen zogen es vor, parallel zur Küste nach Palästina vorzustoßen und die befestigten Städte der Araber – neben Akkar auch Tripolis, Sidon, Tyron und Acre – schlicht zu umgehen. Da dieses Vorgehen bedeutet hätte, in das Gebiet des noch immer mächtigen Emirs von Damaskus einzudringen, und es zudem die Gefahr barg, von allen Nachschubwegen abgeschnitten zu werden, hatte sich Guillaume entschlossen, erneut zu seiner mächtigsten Waffe zu greifen, um die Fürsten umzustimmen.
Den Seher Bartholomaois.
Plötzlich zügelte Guillaume sein Pferd und fuhr im Sattel herum.
»Wer war das?«, fuhr er den Kämpen an, der hinter ihm ritt. Sein Name war Bernier, ein verarmter Ritter aus der Gegend von Castres.
»Was meint Ihr, Herr?«, fragte Bernier und schaute verblüfft unter seinem Nasenschutz hervor.
»Dieser Schrei, dieses Heulen«, beharrte Guillaume ungehalten. »Wer von euch ist das gewesen?«
Schon um dem bohrenden Blick seines Anführers zu entgehen, wandte sich Bernier zu seinem Hintermann um, der die unausgesprochene Frage weitergab. Doch keiner der rund zwanzig Reiter, die dem Trupp angehörten, wusste etwas zu erwidern.
»Ich … ich habe nichts gehört, Herr«, gestand Bernier vorsichtig. »Möglicherweise habt Ihr Euch geirrt?«
Der Blick, der aus Guillaumes grünen Augen stach, war so scharf wie der eines Raubvogels. Prüfend hielt er nach dem Schuldigen Ausschau, bis ihm der Gedanke dämmerte, dass er sich tatsächlich geirrt haben könnte.
»Möglicherweise«, erwiderte er nur, wandte sich wieder nach vorn und gab seinem Pferd die Sporen, um es rasch den steilen Pfad hinaufzutreiben. Seinen Erinnerungen entging er dadurch jedoch nicht.
Mit einer flammenden Ansprache war Peter Bartholomaios vor den Fürstenrat getreten und hatte erklärt, dass der Heiland selbst ihm erschienen sei und die Eroberung Akkars wünsche – doch anders als zuvor in Antiochia zeigten die Fürsten sich unbeeindruckt. Vor allem Robert von der Normandie und dessen Geistlicher Arnulf von Rohes äußerten ihre Zweifel an der Vision, und es half auch nichts, dass Guillaume mit dem Mönch Desiderius einen zweiten Zeugen präsentierte, der vorgab, Bischof Adhémar in der Hölle gesehen zu haben, wo er für seine Zweifel an der Echtheit von Bartholomaios’ Weissagungen ewige Qualen erleide. Ein Gottesurteil wurde anberaumt, dem Bartholomaios sich stellen musste: Gelang es ihm, mit der Heiligen Lanze in der Hand über ein Bett aus glühenden Kohlen zu wandeln, ohne dabei Schaden zu nehmen, galten seine Visionen als bewiesen, und die Fürsten erklärten sich bereit, Raymond unter diesen Voraussetzungen bei der Belagerung Akkars unterstützen zu wollen.
Guillaume nahm nicht an, dass auch nur einer von ihnen daran geglaubt hatte, dass der Seher die Prüfung bestehen könnte – Bartholomaios jedoch war verblendet oder vielleicht auch wahnsinnig genug gewesen, sich auf das Wagnis einzulassen. Mit dem Speer in der Hand schritt er durch die schwelende Glut – und erlitt schwerste Verbrennungen.
Seit acht Tagen nun dauerte seine Todesqual schon an, und Guillaume schauderte beim Gedanken an das unmenschliche Geschrei, das vor allem nachts durch das Lager hallte und den Kreuzfahrern den Schlaf raubte. Es war einer der Gründe dafür, dass Guillaume es in diesen Tagen vorzog, Erkundungsritte in das Hinterland von Akkar zu unternehmen – Bartholomaios’ Schreie jedoch schienen ihn auch noch bis hierher zu verfolgen.
Endlich erreichte der Trupp den Grat der Erhebung, eine schmale Felskante, die so scharf war, als wäre sie mit dem Messer geschnitten worden. Karges Land erstreckte sich von hier gen Osten, in dem auch um diese frühe Jahreszeit nur vereinzelte Grasbüschel und Gestrüpp vegetierten. Erst weit jenseits davon, in der dunstigen Ferne allenfalls zu erahnen, erstreckte sich die fruchtbare Ebene des Orontes, der diesen Landstrich in weiten Windungen durchfloss. Umso deutlicher fiel der Trupp von rund zehn Reitern ins Auge, die die Talsohle passierten.
»Die sehen wir uns näher an«, knurrte Guillaume, ließ die Zügel schnalzen und lenkte sein Pferd die andere Seite der Anhöhe hinab, gefolgt von seinen Leuten.
Die anderen Reiter, die in weite Umhänge gekleidet waren, sahen sie kommen, machten jedoch keine Anstalten zur Flucht, was vermuten ließ, dass sie ebenfalls Kreuzfahrer waren. Da jeder Lehnsherr seine eigenen Späher unterhielt und nach Gutdünken verfuhr, war es keine Seltenheit, dass Erkundungstrupps einander begegneten. Und mitunter machte man auch gemeinsame Sache, wenn es darum ging, ein Gehöft oder eine muselmanische Handelsstation zu überfallen.
Von weitem schon winkte Guillaume mit der Schwerthand, um seine friedliche Absicht zu bekunden. Der Anführer des anderen Trupps erwiderte die Geste, und schon wenig später standen sie einander gegenüber.
»Seid gegrüßt«, rief Guillaume, während er sein Pferd mit brutaler Gewalt zum Stehen brachte. »Mit wem habe ich die Ehre?«
»Hugh le Chasseur in den Diensten Herzog Godefroys de Bouillon«, erwiderte der schwarzbärtige Ritter, der keinen Helm, sondern nur eine Kapuze aus Kettengeflecht trug.
»Lothringer demnach«, erwiderte Guillaume nicht ohne Geringschätzung – Bouillon war der Letzte gewesen, der Antiochia verlassen und sich dem Zug nach Jerusalem angeschlossen hatte, und er gehörte zu Graf Raymonds erbittertsten Gegnern.
»So ist es«, erwiderte le Chasseur stolz, der fraglos von niederem Adel war, sich jedoch im Kampf ausgezeichnet zu haben schien. »Ist es auch erlaubt zu fragen, wer Ihr seid?«
»Guillaume de Rein«, eröffnete Guillaume, um mit einem überheblichen Augenaufschlag hinzuzufügen: »Dies sind meine Gefolgsleute.«
»Was ist Euer Ziel?«
»Das Umland zu erkunden«, gab Guillaume ausweichend zur Antwort. Er sah keine Notwendigkeit, einem Ritter von niederer Herkunft Auskünfte zu erteilen. »Und Ihr, Monsieur?«
»Auch wir wurden ausgeschickt, das Umland zu erkunden«, entgegnete der Lothringer mit einem Grinsen, das fast als unverschämt zu werten war. Guillaume fühlte Unmut.
»Und? Habt Ihr etwas entdeckt?«
»Nichts. Nichts, worüber zu berichten sich lohnen würde.«
Guillaume biss sich auf die Lippen. Ein Gefühl sagte ihm, dass Hugh der Jäger ihn belog. Ganz sicher trug er seinen Namen nicht von ungefähr, und auch wenn er noch so fest behauptete, dass seine Erkundung ereignislos verlaufen war – die prall gefüllten Beutel an den Sätteln der Lothringer sagten etwas anderes.
»Was habt Ihr da?«, fragte Guillaume mit Blick auf die Satteltaschen.
»Proviant«, war die Antwort.
»Wie lange seid Ihr schon unterwegs?«
»Zwei Tage.«
»Und trotzdem sind eure Proviantbeutel noch so gut gefüllt?«
»Wir Lothringer sind eben sparsame Menschen«, erwiderte Hugh und setzte wieder das alte Grinsen auf. Auch einige seiner Leute lachten, und Guillaume überlegte, was er tun sollte.
Für ihn stand fest, dass der Jäger und seine Soldaten unterwegs auf Muselmanen getroffen waren, die sie überfallen und ausgeraubt hatten. Vermutlich war es Beute, die ihre Sattelbeutel zum Zerreißen dehnte. Natürlich hätte Guillaume sie ihnen abnehmen können oder darauf bestehen, sie zu teilen – immerhin verfügte er über doppelt so viele Männer. Aber er entschied sich dagegen. Eine direkte Konfrontation barg Risiken, und solange nicht wenigstens erwiesen war, dass sich diese auch lohnten …
»Gott mit Euch, Hugh le Chasseur«, sagte er deshalb und hob die Hand zum Abschiedsgruß.
»Gott auch mit Euch, Herr«, erwiderte der Lothringer, und beide hätten ihrer Wege gehen können – hätte nicht in diesem Moment etwas Guillaumes Aufmerksamkeit geweckt. Denn als der Jäger seine Rechte zum Gruß hob, sah Guillaume etwas Rotes daran blitzen.
»Was habt Ihr da?«, fragte Guillaume.
»Was meint Ihr?«
»Der Ring an Eurer Hand.«
Hugh lächelte stolz. »Ein schönes Stück, nicht wahr?«
»Allerdings. Woher habt Ihr es?«
Das Lächeln des Lothringers verschwand. »Als Gefolgsmann Bouillons bin ich Euch keine Rechenschaft schuldig, Herr. Aber ich will Euch verraten, dass ich diesen Rubin aus dem Besitz eines abtrünnigen Mönchs habe, der seinen Glauben verraten hat und in Rugia Geschäfte mit den Heiden machen wollte. Er hatte den Tod hundertfach verdient.«
Von der Hand eines Mönchs.
Guillaumes Gedanken jagten sich.
Er war sicher, den Ring seines Vaters vor sich zu haben – jenen Ring, den Renald de Rein dem Angelsachsen Conwulf geschenkt hatte, um ihn, Guillaume, zu demütigen.
Wie aber mochte das Kleinod in den Besitz jenes verräterischen Mönchs gelangt sein, von dem der Lothringer sprach? Doch wohl nur dadurch, dass er ihn nach den Kämpfen um Antiochia von des Angelsachsen kalter Hand gezogen hatte. Natürlich, so musste es gewesen sein! Ihrem Armutsgelübde zum Trotz hatten sich viele Mönche in jenen Tagen an den Toten bereichert, warum also nicht auch dieser? Und es bedeutete nicht mehr und nicht weniger, als dass der Angelsachse nicht mehr unter den Lebenden weilte!
Die Nachricht versetzte Guillaume in Hochstimmung, und er brannte darauf, den Ring wieder in seinen Besitz zu nehmen. Nicht so sehr seines Wertes wegen, sondern um ihn Renald de Rein zu präsentieren, der doch so große Stücke auf den Angelsachsen gehalten hatte.
»Ich erkenne jenen Ring wieder«, erklärte er deshalb schlicht. »Er befand sich einst in meinem Besitz.«
»Das ist Pech für Euch, Herr«, entgegnete Hugh le Chasseur, »denn der Ring hat seinen Besitzer gewechselt und gehört nun mir.«
»Dennoch ersuche ich Euch, ihn an mich auszuhändigen. Ich musste ihn lange Zeit entbehren und möchte ihn wiederhaben.«
»Nein«, antwortete der Lothringer mit dem Wort, das Guillaume von allen am meisten verabscheute.
»Ist das Euer letztes Wort?«
»Allerdings, Herr«, bekräftigte Hugh le Chasseur mit fester Stimme – und sprach damit sein eigenes Todesurteil.
Mit einem Blick über die Schulter vergewisserte sich Guillaume, dass seine Männer bereitstanden. Kaum merklich nickte er Bernier und den anderen zu, dann handelte er.
Blitzschnell zuckte die Linke zum Gürtel und zog den Dolch, den er seinem Gegner in einer einzigen fließenden Bewegung in die Brust rammen wollte. Doch das Reaktionsvermögen des Lothringers war durch unzählige überstandene Kämpfe gestählt, und so fing er Guillaumes Klinge auf halbem Weg ab. Augenblicke lang rangen die beiden Anführer miteinander, jeder von seinem Sattel aus und unter den Blicken ihrer verblüfften Männer.
»Verdammt«, rief Guillaume, »worauf wartet ihr?« – und ein Pfeil flog heran und bohrte sich in den Hals des Jägers.
Die Wucht des Aufpralls war so groß, dass er nach hinten gerissen wurde und aus dem Sattel kippte. Entsetzt schauten die Lothringer auf ihren getroffenen Anführer, während Guillaumes Leute die Schwerter zückten und auf sie einschlugen.
Guillaume selbst beteiligte sich nicht an dem Gemetzel.
Keuchend stieg er aus dem Sattel und trat zu seinem Gegner, der sich am Boden wand und vergeblich versuchte, den Fremdkörper aus seinem Hals zu ziehen. Guillaume trat mit dem Fuß auf seine Schulter und hielt ihn nieder, dann packte er die rechte Hand des Ritters, zog ihm den Ring vom Finger und steckte ihn sich selbst an.
»Lernt daraus, Jägersmann«, belehrte er den Sterbenden, während er den Rubin so in die Sonne hielt, dass sich das Licht darin brach und den Stein funkeln ließ. »Niemand sollte versuchen, mir etwas streitig zu machen.«
Feldlager der Kreuzfahrer, Akkar
Zur selben Zeit
Renald de Rein war ein Fremder geworden.
Ein Fremder in seinem eigenen Zelt.
Sein Weib war gefühllos wie ein Stein, sein Sohn (oder vielmehr der Bursche, den er zeitlebens als seinen Sohn ausgegeben hatte) ein selbstsüchtiger Geck, der mehr nach seiner Mutter kam, als es Renald je bewusst gewesen war. Um ihrer Gesellschaft zu entgehen, hatte der Baron die Nähe anderer Edler gesucht und sich an der Seite Bohemunds von Tarent einiges Ansehen erstritten. Doch Bohemund und seine Männer waren in Antiochia zurückgeblieben, anders als Renald, dem nichts anderes übrig blieb, als der Schlange und ihrer Brut zu folgen, wollte er nicht riskieren, dass sie das Geheimnis von Guillaumes Herkunft offenbarten und den Baron zudem auch des Mordes an seinem Bruder bezichtigten. Beides hätte seinen Namen und seine Ehre auf alle Zeit vernichtet.
So war Renald also wieder allein, ein einsamer Mann, der das Gefühl hatte, feindliches Territorium zu betreten, sobald er das Zelt betrat, das seiner Familie als Obdach diente.
Er trat in das Vorzelt, griff in die mit Wasser gefüllte Schüssel und wusch sich den Staub aus dem Gesicht, der in diesem Land allgegenwärtig zu sein schien – als er aus dem Hauptraum des Zeltes Stimmen vernahm. Sie unterhielten sich nur flüsternd, so als wäre das, was sie zu sagen hatten, nicht für fremde Ohren bestimmt – woraufhin der Baron nur noch aufmerksamer lauschte.
»Gestohlen? Was heißt das?«
»Das heißt, dass ich sie nicht mehr finden kann. Die Schriftrolle ist wie vom Erdboden verschluckt.«
»Und Ihr vermutet, dass sie gestohlen wurde?«
»Allerdings! Ich habe sie gehütet wie meinen Augapfel, bis vor ein paar Tagen.«
»Was ist geschehen?«
»Man rief mich, einem Sterbenden die Beichte abzunehmen, aber als ich hinkam, war sein Leichnam bereits erkaltet.«
»Also eine Falle?«
»Das nehme ich an. Zwar bemerkte ich erst am nächsten Tag, dass das Buch verschwunden war, aber ich bin mir dennoch sicher, dass ein Zusammenhang besteht. Und ich glaube auch zu wissen, wer der Dieb gewesen ist.«
»Wer?«
»Der Einzige, der außer mir das Geheimnis kennt.«
De Rein hörte begierig zu. Flüsternde Stimmen waren wenn überhaupt nur an ihrer Eigenheit zu sprechen zu unterscheiden, dennoch war er überzeugt, dass eine davon seinem Weib Eleanor gehörte. Bei der anderen war er sich nicht sicher, aber er vermutete, dass es sich um den Benediktinermönch handelte, der seit einiger Zeit ein und aus ging. Angeblich, damit er für Eleanors Seelenheil betete, aber Renald vermutete, dass es dabei um ganz andere, sehr viel weniger spirituelle Dinge ging.
»Ihr meint den Angelsachsen Conwulf?«, hörte er sie fragen.
»Ja, Mylady. Zufällig habe ich erfahren, dass er früher ein Dieb gewesen ist. Er weiß also, wie man es anstellt, sich unbemerkt anderer Menschen Besitz anzueignen.«
»Und Ihr nehmt an, dass er auf dem Weg nach Acre ist?«
»Ja, Mylady. Da er des Hebräischen nicht mächtig ist, braucht er jemanden, der ihm die Schrift entschlüsseln kann. Also wird er nach Acre gehen und die Jüdin fragen.«
»Dann müssen wir unsere Pläne ändern. Guillaume muss eingeweiht werden. Und wir müssen rasch handeln, oder alles wird verloren sein.«
Renalds Stirn legte sich in Falten.
Wovon, zum Henker, sprach seine Frau?
Sein argwöhnischer Geist witterte eine neue Verschwörung, auch wenn er nicht zu sagen vermochte, wie die Dinge zusammenhingen.
Noch nicht.
»Guillaume wird wissen, was zu tun ist«, flüsterte Eleanor. »Und er verfügt über die Mittel, es auch in die Tat umzusetzen.«
»Ihr sprecht von der Bruderschaft, nicht wahr?«
»Was wisst Ihr darüber?«
»Was man allenthalben zu hören bekommt … und dass viele sie beinahe so sehr fürchten wie die Sarazenen.«
»Gut so. Furcht ist das rechte Mittel, um sich die Menschen zu unterwerfen. Sitzt er erst als König auf dem Thron von Jerusalem, kann Guillaume sich Milde leisten – besteigen kann er ihn jedoch nur mit unnachgiebiger Härte.«
»Aber was werden die anderen Fürsten sagen?«
»Graf Raymond hat schon in Antiochia bewiesen, dass er nur zu gern bereit ist, unseren Worten Glauben zu schenken. Bohemund hat sich mit Antiochia begnügt und stellt keine Gefahr mehr dar, ebenso wenig wie Balduin von Boulogne, der sich Edessas bemächtigt hat. Godefroy von Bouillon und Robert von Flandern werden fraglos Einwände vorbringen, aber es wäre nicht das erste Mal, dass sie sich dem Druck ihrer Soldaten beugen – und die Massen werden auf unserer Seite sein, wenn bekannt wird, welchen unermesslichen Schatz wir in unseren Händen halten. Und was unseren Herzog Robert von der Normandie betrifft, so wurde für ihn bereits gesorgt.«
Renald de Rein hielt den Atem an.
Mit wachsender Bestürzung hatte er den Worten seiner Gemahlin gelauscht. Ihr Hunger nach Macht und Geltung schien wahrhaft unermesslich zu sein.
Königreich Jerusalem!
De Rein hielt es nicht mehr aus.
Mit einer energischen Bewegung riss er den Vorhang zur Seite und trat in den dahinterliegenden Hauptraum des Zeltes. Ein einziger Blick genügte ihm, um zu sehen, dass er recht gehabt hatte. Eleanor war tatsächlich in Gesellschaft des Mönchs Berengar. Auch ihr persönlicher Leibwächter Eustace de Privas war zugegen, der ihr hörig war wie ein Hund seinem Herrn.
»Du bist wahsinnig, weißt du das?«, fuhr Renald seine Gattin an. Die beiden Männer würdigte er keines Blickes. »Diesmal willst du zu viel, Weib! Du wirst auf dem Scheiterhaufen enden!«
»Ihr habt uns belauscht?«, fragte Eleanor gelassen. Der Mönch an ihrer Seite war vor Entsetzen wie versteinert.
»In der Tat – und deshalb weiß ich, dass du den Verstand verloren hast. Genügen die Ränke nicht, die du bereits gesponnen hast? Sind Mord, Verrat und Lüge nicht genug?«
»Seid vorsichtig, mein Gemahl«, riet sie ihm mit einem Seitenblick auf Berengar.
»Kennt dein Ehrgeiz keine Grenzen? Willst du deinen missratenen Abkömmling nun auch noch zum König krönen?«
»Ich bin seine Mutter«, erwiderte sie, als würde das alles erklären. »Ich will nur das Beste für ihn.«
»Nein, du willst nur das Beste für dich selbst! Jedes Mal, wenn der Junge aus deinem Schatten zu treten und auf eigenen Beinen zu stehen drohte, hast du einen neuen Plan entwickelt, um ihn dir hörig und von dir abhängig zu machen – genau wie jenen Affen dort«, er deutete auf Eustace, »der das Maul kaum noch aufmacht, seit er in deiner Nähe ist.«
»Immer noch besser, als ständig von Euch gescholten und kleingehalten zu werden. Glaubt Ihr, das hat Guillaume gefallen?«
»Mir ging es nie darum, sein Gefallen zu erregen, sondern darum, ihn zum Mann zu machen.«
»Zum Mann?« Eleanor lachte auf. »Und das sagt ausgerechnet Ihr? Wenn Ihr ein Mann wärt, Renald de Rein, hättet Ihr selbst für einen Erben gesorgt, statt Euren Bruder damit zu beauftragen!«
»Schweig, Weib«, knurrte Renald und griff zur Waffe.
»Warum? Ertragt Ihr die Wahrheit nicht?«
»Schweig, sage ich.« Die Rechte des Barons schloss sich um den Schwertgriff und zog daran. Blanker Stahl kam zum Vorschein.
»Wollt Ihr mich töten? Vor einem Ordensmann als Zeugen?« Eleanor schüttelte den Kopf. »Ich glaube nicht, dass Euch eine solche Sünde jemals vergeben würde, mein Gemahl!«
De Rein zögerte.
Alles an ihr – ihre abweisende Kälte und ihre Durchtriebenheit, das falsche Lächeln in ihrem Gesicht, die Art, wie sie ihn ansah und das Wort »Gemahl« aussprach – schrie geradezu danach, vom Angesicht der Erde getilgt zu werden.
»Haltet ein, Herr, ich bitte Euch!«, ergriff nun der Mönch Berengar das Wort. »Ihr könnt nicht wissen, worum es Eurer Gemahlin geht. Als bescheidener Diener der Kirche war es mir vergönnt, eine Entdeckung zu machen, die die Menschheitsgeschichte verändern könnte.«
»Ist das so?« Der Baron schürzte abschätzig die Lippen. »Und warum seid Ihr dann hier, Pater, wenn Ihr ein Diener der Kirche seid? Ich will es Euch sagen – weil sie Euch mit ihren Ränken und ihrem Gift umgarnt hat.«
»Nein, Herr. Das ist nicht der Fall.«
»Dann habt Ihr ebenso den Verstand verloren wie sie.«
Eleanor lachte erneut. »Das würdet Ihr nicht sagen, wenn Ihr wüsstet, was uns zu Gebote steht, mein kleingeistiger Gemahl. Denn womöglich handelt es sich um die mächtigste Waffe, die Menschen je in ihren Händen hielten. Doch um sie zu benutzen, muss man Mut besitzen, Renald – mehr Mut, als Ihr jemals haben werdet. Obwohl Ihr wisst, dass ich Euch schaden will, obschon Ihr ahnt, dass ich Euch aus tiefstem Herzen verabscheue, habt Ihr es vorhin nicht über Euch gebracht, mich zu töten. Glücklicherweise bin ich in diesen Belangen weniger zögerlich.«
De Rein, bestürzt über die Offenheit ihrer Rede, sah, wie sie kaum merklich nickte, so als gäbe sie ein Zeichen. Er nahm noch wahr, dass Eustace de Privas nicht mehr dort stand, wo er die ganze Zeit über gewesen war, aber er kam nicht mehr dazu, daraus eine Folgerung zu ziehen – denn in diesem Augenblick hatte er das Gefühl, als würden ihm Brust und Rücken auseinandergerissen.
Überwältigender Schmerz durchzuckte ihn, ließ ihn wanken, und voller Entsetzen starrte der Baron auf die blutige Schwertspitze, die man mit derartiger Wucht in seinen Rücken getrieben hatte, dass sie unterhalb des Brustbeins wieder ausgetreten war.
Ein Ächzen entfuhr ihm, und er schaute auf, starrte ungläubig in die bleichen, reglosen Züge seiner Gemahlin.
»Denselben Blick«, stellte sie ungerührt fest, »habe ich auch in den Augen Eures Bruders gesehen – kurz bevor ich das Seil durchschnitt und er in die Tiefe stürzte.«
Renald wollte etwas erwidern, aber er war nicht mehr in der Lage, einen klaren Gedanken hervorzubringen. Die Beine wurden ihm weich, und er stürzte, als Eustace de Privas die Klinge herauszog.
Der Baron de Rein, der an der Seite von König William gekämpft und an der Eroberung Englands teilgenommen, der gegen Briten und Pikten gekämpft hatte und dessen Burg und Ländereien im fernen Northumbria lagen, verblutete auf fremdem Boden, niedergestreckt von feiger Mörderhand.
Und ein Mönch namens Berengar, der fassungslos dabeistand, bekam erstmals vor Augen geführt, mit wem er sich eingelassen hatte.