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4.
Köln
24. Mai 1096
»Schwere Zeiten liegen hinter uns, meine Tochter. Aber womöglich stehen uns die wirklichen Prüfungen erst noch bevor. Jene, an denen Gott die Seinen erkennt, indem er sie prüft wie einst Abraham.«
Wie ein unheilvolles Echo schwangen die Worte ihres Vaters in Chayas Bewusstsein nach. Von den unzähligen Fragen getrieben, die sie verfolgten, seit sie vor zwei Tagen die Ratssitzung belauscht hatte, war sie zaghaft in die halb geöffnete Tür seines Arbeitszimmers getreten. Dort fand sie ihn. Er war wie immer über seine Bücher gebeugt und arbeitete trotz der späten Stunde im Schein einer Kerze. Der Anblick, der sich Chaya bot, erschreckte sie insgeheim, denn der Mann, der hinter dem breiten Tisch aus Eichenholz saß und Warenlisten sichtete, schien um Jahrzehnte gealtert.
Natürlich wusste Chaya, wie schwer der unerwartete Tod ihrer Mutter ihn getroffen hatte, aber in den letzten beiden Wochen hatte sie geglaubt, eine Besserung wahrzunehmen, fort von der abgrundtiefen, alles verschlingenden Trauer hin zu einem allgemeineren, erträglicheren Schmerz. In diesem Augenblick jedoch gewann sie den Eindruck, dass sich sein Zustand in Wahrheit verschlechtert hatte. Seine Haltung am Tisch war tief gebeugt, sein Gesicht, dessen Falten sich noch vertieft zu haben schienen, wirkte wächsern und fahl. Am meisten jedoch bestürzte Chaya die Verzweiflung in seinen Augen, als er aufblickte und sie ansah – und ihr war klar, dass es mit dem zusammenhängen musste, was im Rat besprochen worden war.
Der alte Isaac war tief in seinen Gedanken versunken gewesen und brauchte einen Moment, um sie zu erkennen und ins Hier und Jetzt zurückzufinden.
»Tochter«, sagte er mit einer Stimme, die wie ein erlöschendes Echo klang. »Nein, du störst nicht. Was kann ich für dich tun?«
Sie blieb auf der Schwelle stehen, teils aus Respekt, teils aus Reue. Obwohl sie das unbeugsame, bisweilen zur Auflehnung neigende Temperament ihrer Mutter hatte, war sie ihrem Vater gegenüber stets offen gewesen und hatte ihn nie getäuscht oder belogen. Nun jedoch hatte sie von Dingen Kenntnis erlangt, die er ihr wohl niemals aus freien Stücken gesagt hätte, sei es, weil er es nicht für notwendig erachtete oder weil er sie schützen wollte. Und dieses Wissen ließ ihr seither keine Ruhe.
»Ich habe mich noch nicht bei dir bedankt«, sagte sie leise.
»Wofür, meine Tochter?«
»Dafür, dass du Mordechais Antrag abgelehnt hast.«
»Wie im vergangenen Jahr den von Amos, dem Sohn des Goldschmieds. Und im Jahr davor jenen von Ilan, dem ältesten Spross unseres Gabbai.« Ein Seufzen entrang sich Isaacs Kehle. »Irgendwann wirst du dich entscheiden müssen – oder das Schicksal entscheidet für dich.«
»Was willst du damit sagen, Vater?«
Isaac Ben Salomon seufzte erneut. Er streifte die Warenlisten, die vor ihm ausgebreitet lagen, mit einem Blick. Dann lehnte er sich in seinem hohen Stuhl zurück und schaute seine Tochter so lange und prüfend an, dass sie nicht anders konnte, als zu Boden zu starren.
»Weißt du, wie ähnlich du ihr bist?«, fragte ihr Vater sie unvermittelt.
»Was meinst du?«
»Jedes Mal, wenn ich dich ansehe, fühle ich Trost und Schmerz zugleich. Trost, weil ich erkenne, dass etwas von ihr weiterlebt. Schmerz, weil ich dann jedes Mal von neuem begreife, was mir genommen wurde.«
»Das tut mir leid, Vater.«
»Du kannst nichts dafür, mein Kind. Es ist nur …« Isaac sprach nicht weiter, und sie konnte sehen, dass der Schmerz ihn fast zerriss. »Wie lange willst du dieses Spiel noch spielen?«, fragte er dann.
»Was … was für ein Spiel?«
Er lächelte. »Wie ich schon sagte, ähnelst du deiner Mutter in vielen Dingen. Wie sie gibst du dich nicht leicht mit Dingen zufrieden. Wie sie brichst du mitunter die Regeln. Und genau wie sie pflegst du zu erröten, wenn du etwas zu verbergen suchst.«
»Etwas zu verbergen?«
»Ich weiß, dass du dort gewesen bist, Chaya«, beendete der alte Isaac das Versteckspiel sanft, aber bestimmt.
»Dort?«
»In der Synagoge, als der Rat zusammentrat.«
»Aber ich …«
»Sei unbesorgt«, versicherte er, als er das wachsende Entsetzen in ihren Zügen sah, »außer mir hat keiner den flüchtigen Schatten bemerkt, der jeweils nur für einen kurzen Moment auf der Frauenempore erschien, um dann ebenso rasch wieder zu verschwinden. Und da ich dich gut kenne …«
»Verzeih mir, Vater«, sagte Chaya mit gesenktem Haupt. »Es lag nicht in meiner Absicht, den Rat zu belauschen. Ich wollte nur erfahren …«
»… was ich Mordechai mitteile«, brachte der alte Isaac den Satz zu Ende, »denn in meiner greisen Eitelkeit hatte ich dich über meine Entscheidung im Unklaren gelassen. In gewisser Weise trifft mich also die Schuld und nicht dich.«
»Du bist mir nicht böse?« Sie schaute zaghaft auf.
»Nein. Obschon ich hoffe, dass es sich nicht wiederholen wird. Hätten die anderen Ratsmitglieder von der Sache Kenntnis erhalten, ließe sie sich nicht so ohne Weiteres aus der Welt schaffen.«
»Ich weiß, Vater«, versicherte Chaya schuldbewusst. »Es steht dir frei, mich angemessen zu bestrafen.«
»Das ist nicht mehr nötig, denn du wurdest bereits bestraft, mein Kind. Zu viel Wissen kann eine schwere Strafe sein, nicht wahr?«
Sie nickte. In den vergangenen zwei Tagen war keine Stunde verstrichen, in der sie nicht über das nachgedacht hatte, was sie in der Ratssitzung gesehen und gehört hatte.
»Allerdings muss ich sagen, dass du sie mit Würde trägst, meine Tochter. Offen gestanden hatte ich dieses Gespräch schon sehr viel früher erwartet.«
»Wirklich? Dann sag mir bitte, Vater, ob es wahr ist, was der Parnes sagt. Droht uns wirklich Gefahr von den Christen?«
»Mordechai und seine Anhänger bestreiten es. Sie können sich nicht vorstellen, dass die Christen ihre Hand gegen uns erheben werden, und wollen lieber Geschäfte mit ihnen machen.«
»Und du? Was ist deine Meinung?«
»Ich habe ihm widersprochen, wie du weißt – worauf er mir unterstellt hat, ich würde die Lage zu meinen Gunsten nutzen wollen, um Gewinn daraus zu schlagen.«
»Aber das ist nicht wahr!« Überzeugung sprach aus Chayas Augen.
»Woher willst du das wissen?«
»Vater«, sie lächelte verlegen, »du hast mich nicht vergebens zu schreiben und zu rechnen gelehrt. Ich habe Einsicht in die Bücher genommen. Die Geschäfte gehen schlechter als früher. Und das, obwohl all diese Fremden in der Stadt weilen.«
»Das tun sie. Aber in diesen Tagen verlässt weder Leder noch Eisen das Lager, denn ich verspüre kein Verlangen danach, ihnen den Strick zu verkaufen, den sie uns womöglich irgendwann um den Hals legen werden. Ich möchte nicht, dass das Blut unserer Leute an meinen Händen klebt. Kannst du das verstehen?«
»Natürlich.« Sie nickte. »Aber warum hast du das nicht vor dem Rat gesagt? Wieso hast du dich nicht verteidigt?«
Ein freudloses Lächeln glitt über die Züge des alten Kaufmanns. »Weil mein Herz voller Kummer ist in diesen Tagen und mir die Kraft dazu fehlt. Und weil wir beide wissen, dass es vor allem verletzter Stolz ist, der Mordechai Ben Neri so sprechen lässt.«
»Willst du damit sagen, dass es ein Fehler war, seinen Antrag abzulehnen?«, fragte Chaya leise.
»Liebst du ihn denn?«
»Natürlich nicht.« Sie schüttelte entschieden den Kopf.
»Dann war die Entscheidung richtig«, entgegnete Isaac schlicht, und in dem jungenhaften Lächeln, das kurz über seine bärtigen Züge huschte, konnte sie für einen Moment den Mann wiedererkennen, der er einst gewesen war.
Chaya verspürte den plötzlichen Drang, ihrem Vater nahe zu sein. Sie verließ ihren Platz an der Tür, huschte über den steinernen Boden und ließ sich neben seinem Stuhl nieder, wie sie es früher oft getan hatte, als sie noch ein kleines Mädchen und die Dinge einfacher gewesen waren. Sie nahm seine alte, von Furchen durchzogene Hand, küsste sie und presste sie an ihre Wange.
»Nanu?«, wunderte er sich. »Wofür ist das?«
»Für deine Liebe, Vater. Und für dein Verständnis.«
»Mordechai Ben Neri denkt vor allem an eine Person«, knurrte Isaac, »und das ist Mordechai Ben Neri. Er mag der wohlhabendste Mann unserer Gemeinde sein und über weitreichende Verbindungen verfügen. Aber genau wie sein Vater ist er ein Strolch.«
»Dennoch hast du erwogen, mich ihm zur Frau zu geben? Obschon er um meine Hand angehalten hat, als wäre ich eine wohlfeile Dreingabe zu deinem Kontor, das er erwerben wollte?«
Isaac schaute auf sie herab. »Auch schlechte Absichten pflegen bisweilen Wohltaten hervorzubringen, mein Kind. Mordechai war wohl der Ansicht, ich hätte durch den Tod deiner Mutter die Freude an meinem Beruf und an meinen Geschäften verloren, und damit hatte er recht. Ich bereue nicht, dich ihm nicht zur Frau gegeben zu haben«, fügte er sanft hinzu. »Aber vielleicht hätte ich ihm das Kontor verkaufen sollen.«
»Ist das dein Ernst? Als ich noch klein war, pflegtest du immer zu sagen, dass dieses Haus dein Leben sei. Jeden einzelnen Stein davon hast du dir mit deiner Hände Fleiß verdient.«
»Gott hat es gefallen, mich wohlhabend zu machen, meine Tochter. Ob ich es verdient habe, ist eine andere Frage. Dieses Lager dort draußen und alle Fässer, Körbe und Kisten, mit denen es gefüllt ist, haben mir tatsächlich einmal viel bedeutet. Und es hat eine Zeit gegeben, da mir diese Zahlen«, er deutete auf die Warenlisten auf dem Tisch, »wichtiger gewesen sind als die Worte des Rabbiners. Heute erkenne ich, was ich für ein Narr gewesen bin.«
»Aber Vater …«
»Nein, Chaya.« Isaac schüttelte traurig den Kopf. »Versuche nicht, mich vom Gegenteil zu überzeugen. Gott hat mir eine schwere Lektion erteilt. All das hier«, er fuhr mit dem dürren Arm durch die Luft und beschrieb eine Bewegung, die das Arbeitszimmer und das Lager ebenso einschloss wie die darüber liegende Wohnung, »bedeutet mir nichts mehr. Es ist leer und sinnlos geworden, seit deine Mutter nicht mehr hier ist. Sie war der Mittelpunkt meines Lebens – unglücklicherweise erkenne ich das erst jetzt, da sie von uns gegangen ist.«
»Sie hat dich geliebt, Vater.« Auch sie betrauerte den Tod ihrer Mutter, und es tat weh, an sie zu denken. Aber noch ungleich schlimmer war es für Chaya, ihren Vater derart leiden zu sehen.
»Ja«, flüsterte er, und seine Augen füllten sich mit Tränen. »Und ich habe sie ebenfalls geliebt. Nur leider fand ich selten die Worte, es ihr zu sagen. Nun ist es zu spät dafür, und kein anderer als ich trägt daran Schuld.«
»Das ist nicht wahr.«
»Nein?« Er lächelte schwach. »Wie ich schon sagte – du bist eine schlechte Lügnerin, und auch das hast du von ihr. Ich weiß, dass ich gefehlt habe. Und ich weiß, dass Gott mich bestraft hat, indem er mir nahm, was ich als fest gegeben erachtete, statt ihm an jedem einzelnen Tag dafür zu danken. Nur du bist mir geblieben«, fügte er sanft hinzu und strich über ihre schwarzen Haare. »Du bist alles, was mir noch etwas bedeutet.«
»Und deine Arbeit? Das Kontor?«
Der Kaufmann schüttelte den Kopf. »Wer weiß zu sagen, was sein wird? Wir sollten damit aufhören, uns an Dinge zu klammern, die nicht von Bestand sind. Vielleicht wird all dies schon bald in Rauch und Feuer aufgehen. Und wieso auch nicht? Mir ist nicht mehr daran gelegen.«
Chaya fühlte, wie leises Entsetzen sich ihrer bemächtigte. So hatte sie ihren Vater noch nie zuvor reden hören. »Du glaubst also, dass die Drohungen wahr werden könnten? Dass die Christen tatsächlich ihre Hand gegen uns erheben?«
Isaac schaute sie lange an. »Das weiß Gott allein. Geliebt haben sie uns nie, doch haben sie uns stets gewähren lassen – in jüngster Zeit jedoch hat ihre Abneigung gegen uns ein gefährliches Ausmaß angenommen. Und durch den Tod deiner Mutter ist mir eines offenbar geworden – dass wir in einer Zeit des Umbruchs und der Veränderung leben. Kein Volk auf Erden weiß besser als das unsere, dass solche Zeiten schmerzvoll und voller Abschiednehmen sind.«
»Abschiednehmen?« Ihre Augen verengten sich. »Wovon sprichst du?«
Der Blick ihres Vaters blieb auf sie geheftet, obwohl er sie nicht wirklich zu sehen schien. Vielmehr kam es Chaya vor, als würde er in eine ferne, dunkle Zukunft schauen, die sich irgendwo jenseits der mit Listen und Verzeichnissen gefüllten Regale des Arbeitszimmers befand. »Schwere Zeiten liegen hinter uns, meine Tochter«, flüsterte er. »Aber womöglich stehen uns die wirklichen Prüfungen erst noch bevor. Jene, an denen Gott die Seinen erkennt, indem er sie prüft wie einst Abraham.«
»W-was genau bedeutet das?« Natürlich kannte Chaya die Geschichte des gottesfürchtigen Abraham, dem vom Herrn aufgetragen worden war, seinen eigenen Sohn zu opfern. Aber sie verstand nicht, warum ihr Vater ausgerechnet dieses Beispiel wählte. »Du machst mir Angst.«
»Das möchte ich nicht.« Isaacs Blick, der jäh wieder in die Gegenwart zurückzufinden schien, verriet ehrliches Bedauern. »Nicht Leichtfertigkeit ist es, die mich diese Worte wählen lässt, sondern die ehrliche Sorge eines Vaters, und ich wünschte, es gäbe einen anderen Weg als jenen, den ich möglicherweise beschreiten muss.«
»Was für einen Weg? Wovon sprichst du?«
»Ich kann es dir nicht sagen, meine Tochter.« Er breitete die Arme aus, worauf sie sich erhob und ihn umarmte, sich an ihn schmiegte, wie sie es als kleines Mädchen getan hatte, wenn ihr Cousin Caleb sie gestoßen und sie sich die Knie wund geschlagen hatte. »Aber ich versichere dir, dass du mich verstehen wirst. Eines Tages, Chaya, wirst du mich verstehen.«