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30.
15. Juli 1099
Jerusalem
Am frühen Morgen hatte der Kampf begonnen.
Das Licht des neuen Tages hatte die Kuppeln der Stadt noch kaum berührt, als der Beschuss durch die Belagerer mit bis dahin ungekannter Heftigkeit einsetzte.
Steinbrocken und Pfeile gingen auf Mauern und Wehrgänge nieder, die den Besatzern der Heiligen Stadt signalisierten, dass dies der Tag sein würde, der über ihr Wohl oder Wehe entschied. Der Tag, an dem die Belagerer zum letzten Angriff ausholten.
Der Tag des Jüngsten Gerichts, wie Arnulf von Rohes es in seiner flammenden Predigt ausgedrückt hatte.
Hörnerklang hatte die Kreuzfahrer zu den Waffen gerufen, und die beiden Belagerungstürme waren im Schutz von Pfeilhageln und Katapultbeschuss an die Mauern herangebracht worden – jener, den Raymond hatte errichten lassen, im Südwesten der Stadt, der Turm Godefroys im Norden.
Anfangs hatten die muslimischen Verteidiger auf den plötzlichen Angriff mit Verwirrung reagiert. Massiver Widerstand war ausgeblieben, was den Kreuzfahrern erlaubt hatte, sehr nahe an die Mauer heranzurücken. Doch je länger der Kampf dauerte, desto erbitterter wurde die Gegenwehr, die die Soldaten des Statthalters mit Pfeilen und mit in naft getränkten Brandgeschossen entfesselten.
Im Inneren des sich aus drei Stockwerken zusammensetzenden Belagerungsturmes der Lothringer herrschte drückende Enge.
Dicht an dicht standen die Mannen des Herzogs, bereit und willens, sich auf den Feind zu stürzen. Durch die Ritzen, die zwischen den Bretterwänden und den darüber gespannten Tierhäuten geblieben waren, drang spärliches Licht, und hin und wieder konnten die Männer einen Blick auf das erhaschen, was auf den Mauern vor sich ging. Noch immer wurde das Kampfgeschehen auf beiden Seiten vom Geschick der Bogenschützen und vom Können der Katapultbesatzungen bestimmt, doch bald schon sollte sich dies ändern. Je näher der Turm der Mauer kam, desto geringer wurde der Beschuss, da sich die Reichweite der Katapulte nicht beliebig verkürzen ließ. Griechisches Feuer kam zum Einsatz, das jedoch nicht nur Teile des Turmes, sondern auch das hölzerne Schanzwerk der Verteidiger erfasste, sodass dichter Rauch von der Mauer aufstieg.
Es wurde dunkel im Turm, beißender Schwefelgeruch raubte den Männern den Atem – nicht nur jenen, die die oberen Stockwerke der Kriegsmaschine besetzten, sondern auch denen, die im Schutz ihrer furchterregenden Silhouette dafür sorgten, dass sie Stück um Stück an die Mauer heranrückte. Wie der Kampf im Süden der Stadt vonstatten ging und es um Graf Raymond und die Seinen stand, wusste keiner der Männer zu sagen. Man focht getrennt, und ein jeder hatte alles zu geben.
Die Holzkonstruktion des Turmes erzitterte unter den Pfeilen, die in atemberaubend schneller Folge einschlugen. Bisweilen prallten sie von den gespannten Tierhäuten ab, meist blieben sie stecken, hin und wieder drang auch einer durch die schmalen Öffnungen, durch die die Turmbesatzung nach draußen spähte. Ihre Schilde hochhaltend, die Hände an den Griffen ihrer Schwerter, warteten Herzog Godefroy und seine Mitstreiter ab, bis der Turm nur noch wenige Schritte von der Mauer entfernt war.
Dann kam der Moment der Bewährung.
Zuerst fielen schwere Holzbalken herab und schlugen eine Verbindung zwischen dem Turm und den Zinnen. Sodann warfen sich die Kreuzfahrer, die im zweiten Stockwerk warteten, gegen die Frontverkleidung des Turmes, die sich mit lautem Knarren löste und einer Falltür gleich niederschlug. Indem sie auf den Balken landete, bildete sie eine Brücke, die den Turm der Angreifer mit den Mauern der Verteidiger verband – und der Nahkampf begann.
Der Augenblick, auf den der Herzog und seine Männer gewartet hatten, war gekommen, und es war der ungestüme Lethold de Tournaye, der allen anderen Kämpen voran über die Brücke stürmte, die Mauerkrone überwand und wie ein Blitz unter die überraschten Streiter des Kalifen fuhr. Sogleich folgten ihm weitere Ritter nach, und kaum hatten sie auf dem feindlichen Wehrgang einen Brückenkopf errichtet, überwand auch Herzog Godefroy die Kluft und sprang seinen Leuten bei. Sein Banner, das er über den Zinnen errichten ließ, signalisierte den Fußkämpfern außerhalb der Mauern, dass eine Bresche geschlagen war, und sie legten Dutzende von Sturmleitern an.
Sowohl über den Turm, durch den immer neue Kämpfer nachrückten, als auch an verschiedenen Mauerabschnitten gelangten Kreuzfahrer in die Stadt, nur einige zunächst, dann immer mehr – und unter denen, die die Nordmauer überwanden und in das Viertel der Juden einfielen, das sich nach Süden hin bis zum Tempelberg erstreckte, waren auch Eustace de Privas und seine rachsüchtige Meute.
Die fatimidischen Soldaten, dunkelhäutige Krieger aus den fernen Wüsten Afrikas, sowie die tapfere jüdische Bürgerwehr konnten nicht anders, als dem Druck der einfallenden Massen nachzugeben – und das Morden nahm seinen Lauf.
»Hört ihr das auch?«
Abrupt war Conn stehen geblieben und lauschte.
Das Einschlagen der Katapultgeschosse hatte ausgesetzt, dafür waren von Norden her plötzlich andere Geräusche zu hören – entsetzte Schreie und das Geklirr von Waffen.
»Der Nordwall muss gefallen sein«, vermutete Chaya, die dicht hinter ihm ging und wie er ein weites Gewand mit einem Burnus trug, das sie vor neugierigen Blicken schützte.
»Dann möge Gott sich dieser Stadt und ihrer Bewohner erbarmen«, fügte Baldric hinzu, der am Ende der kleinen Gruppe ging und ihren Rücken sicherte.
Erst am Abend zuvor waren sie aus Acre eingetroffen, und nur Bahram hatten sie es zu verdanken, dass sie überhaupt noch in die Stadt gelangt waren. Indem er vorgab, ein Kaufmann aus Damaskus zu sein und neben seiner jüdischen Frau zwei fränkische Sklaven dabeizuhaben, war es ihm gelungen, das Vertrauen der Wächter zu gewinnen und durch das den Kreuzfahrern abgewandte Goldene Tor eingelassen zu werden, ehe es geschlossen wurde. In einer Herberge unweit des jüdischen Viertels hatten sie die Nacht verbracht, um noch vor Sonnenaufgang von Hörnerklang und den Einschlägen der Geschosse geweckt zu werden.
Der Angriff auf Jerusalem hatte begonnen – und den grässlichen Geräuschen nach, die durch die Gassen des Judenviertels drangen, waren die Kreuzfahrer auf dem Vormarsch.
Die Zeit schien plötzlich stillzustehen.
Conn roch den bitteren Gestank, der von Norden durch die Gassen zog und von Brand und Vernichtung kündete. Die Furcht, die die Stadt gefangen hielt, war fast körperlich zu spüren, nirgendwo war auch nur eine Menschenseele in der einsetzenden Dämmerung zu sehen. Zwar hatten die Einwohner des Viertels die Eingänge ihrer Häuser verbarrikadiert, aber nach allem, was er in Antiochia gesehen und erlebt hatte, glaubte Conn nicht, dass dies die Eroberer aufhalten würde.
Entschlossen nickte er seinen drei Begleitern zu, und sie hasteten weiter, an der Nordseite des Tempelberges entlang, der sich hoch über ihnen erstreckte, gekrönt von der goldenen Kuppel, an der sich der erste Strahl der Morgensonne brach.
Die Zeit drängte.
Conn wusste nicht, wie viel Berengar Eleanor de Rein verraten hatte, ehe er ihr wahres Wesen erkannt und sich von ihr abgewandt hatte, aber er nahm an, dass ihre Schergen wussten, wo der Eingang in die unterirdischen Kavernen zu suchen war. Und wer vermochte zu sagen, ob sie nicht bereits in der Stadt waren?
Die Suche nach der verborgenen Lade war ein Wettlauf mit dem Schicksal, und mit Hilfe von Berengars Aufzeichungen hoffte Conn ihn zu gewinnen.
Wie Chaya ihm erklärt hatte, berichtete das Buch von Ascalon von der Geschichte der heiligen Lade, von den Tagen König Salomons bis hin zu jenen verzweifelten Stunden, da treue Priester sie vor den einfallenden Babyloniern versteckten; doch zwischen den Zeilen, versteckt in Zitaten des tanach, verbargen sich Hinweise auf den Verbleib der Lade. Für den, der sie zu deuten verstand, wiesen jene Worte den Weg zu ihrem Versteck. Der Wettlauf um den Besitz der Lade war der wahre Kampf, der an diesem Tage ausgetragen würde. Vielleicht, dachte Conn, war es nie um etwas anderes gegangen …
»Die erste Anmerkung bezieht sich auf den Eingang zum Versteck«, verkündete er, die Schriftrolle in den Händen. »Zitiert wird eine Stelle aus dem siebenten Kapitel des Buches Genesis.«
»Das erste Buch Mose.« Chaya rief sich ins Gedächtnis, was sie darüber wusste. »Das siebte Kapitel handelt von der Arche, von Noah und von der großen Flut.«
»Genau das«, stimmte Conn zu und las weiter in den lateinischen Aufzeichungen. »Berengar folgerte daraus, dass sich der Eingang zum Versteck am Wasser befinden müsse. Da Jerusalem weder am Meer noch an einem großen Fluss liegt, dachte er an eine Quelle oder …«
»… eine Zisterne«, ergänzte Bahram und deutete die Straße hinab, die an der Mauer und den Felsen des Tempelberges entlangführte. »Mir folgen!«
Der Armenier übernahm die Führung, und sie beschleunigten ihre Schritte, nur um kurz darauf vor einer Tür zu stehen, die den Zugang zu einer in den Fels geschlagenen Öffnung verschloss. Die Gefährten tauschten Blicke. Keiner von ihnen wusste, ob dies die Pforte war, nach der sie suchten, auch wenn manches dafür sprach.
»Wir werden sehen«, sagte Baldric und griff unter seine Robe. Die Axt, die er hervorholte, hatte zwei Schneiden und war für den Einsatz auf dem Schlachtfeld geschmiedet worden, aber sie leistete auch hier zuverlässige Dienste. Nach nur zwei wuchtigen Schlägen brach der Riegel aus dem staubtrockenen Holz, und die Tür ließ sich öffnen.
Rasch wurden Fackeln entzündet, und die Gefährten drangen in die Dunkelheit ein, die jenseits der Öffnung lauerte. Conn ging voraus, gefolgt von Chaya und Bahram, Baldric bildete wie zuvor den Schluss.
Feuchte Luft drang ihnen entgegen. Nach wenigen Schritten mündete der Felsengang in eine geräumige Höhle, deren Boden jäh abfiel und von einer kniehohen Mauer begrenzt wurde. Jenseits davon klafften ungeahnte Tiefen – die Zisterne.
Conn trat vor bis zum Rand, aber der Schein der Fackel reichte nicht weit genug, um den Grund zu erfassen. Auch war unten kein Widerschein zu sehen, wie es der Fall gewesen wäre, wenn sich dort Wasser befunden hätte. Kurzerhand ließ Conn seine Fackel los, sodass sie fauchend in die Tiefe fiel – und rund sechzig Fuß tiefer auf trockenen Stein traf. Vor langer Zeit mochte dies tatsächlich eine Zisterne gewesen sein, doch sie wurde längst nicht mehr benutzt.
In den Fels geschlagene Stufen wanden sich am Rand der Grube in die Tiefe. Ihnen folgten die Gefährten, bis sie etwa auf halber Höhe auf eine schmale Öffnung stießen, die wenig mehr als ein Felsspalt zu sein schien, den eine Laune der Natur im Gestein geformt hatte. Unterhalb davon zeigte der verfärbte Fels an, dass das Wasser der Zisterne nie weiter gestiegen war als bis hierher.
Conn verharrte. Vergeblich versuchte er, das Dunkel jenseits des Spalts mit Blicken zu durchdringen.
»Was hast du?«, fragte Baldric.
»Ich denke, dass dies unser Weg ist.«
»Was bringt dich darauf?«
»Berengars nächster Hinweis. Er bezieht sich auf das zweite Kapitel des Buches Jona.«
»Ich kenne diese Stelle«, sagte Chaya, »mein Vater hat sie mir oft vorgetragen: ›Und der Herr bestellte einen großen Fisch‹, heißt es dort, ›um Jona zu verschlingen‹.«
»Deus adiuva!«
Schrecklich hallte der Schlachtruf der Lothringer durch die Gassen. Die Nordmauer war gefallen und Truppen in großer Anzahl in die Stadt eingedrungen, die nun durch die Häuserreihen stürmten und den wenigen Widerstand, auf den sie noch trafen, einfach hinwegfegten.
Die Verteidigung an der Nordseite der Stadt war zusammengebrochen. Nachdem sie den Angreifern über Wochen hinweg die Stirn geboten hatten, mussten die Soldaten der Garnison nun weichen und zogen sich zum Tempelberg zurück, der sich einer uneinnehmbaren Festung gleich im Osten der Stadt erhob – doch sie waren nicht die Einzigen, die sich in ihrer Furcht dorthin wandten. Auch die meisten Bewohner des jüdischen Viertels hatten es vorgezogen, nicht in ihren Häusern auszuharren, sondern auf dem Tempelberg Schutz zu suchen, zusammen mit vielen Muslimen, die sich dort eine letzte Zuflucht erhofften. Und kaum war das Tor von Sankt Stephan im Nordwesten der Stadt geöffnet, strömten tausende weiterer Kreuzfahrer in die Stadt. Auch ihr Ziel war die golden schimmernde Kuppel, die sich weithin sichtbar über der Stadt erhob und reichen Ruhm und Beute versprach.
Ein entsetzliches Schlachten setzte auf den Straßen ein, denn wem die fränkischen Krieger auch begegneten, der wurde ohne Rücksicht niedergemacht, ganz gleich ob es sich um Soldaten, Knechte oder Bettler handelte. Ein Strom von Blut kroch von Norden her auf den Tempelberg zu, und je mehr die Kreuzfahrer mordeten, desto größer wurde ihr Hass und desto vernichtender der Rausch, in den sie sich steigerten.
Unter ihnen war auch Eustace de Privas, der an der Spitze all jener Kämpfer stand, die der Bruderschaft verblieben waren. Dies war der Tag, für den sie gelebt hatten und für den ihre Gemeinschaft gegründet worden war.
Der Auftrag, den Eleanor de Rein ihm erteilt hatte, stand dem Ritter aus der Provence so deutlich vor Augen, als hätte er sich selbst dazu entschlossen. Von der verderblichen Wirkung des Giftes, das sie ihm in kleinen Dosen verabreichte und ihn zum willfährigen Diener machte, ahnte er nichts. Am Tempelberg, so hatte sie ihm gesagt, musste es eine Pforte geben, die ins Innere des Berges führte, ein Zugang, verborgen in einer alten Zisterne.
Dort verbarg sich der Schlüssel zur Macht – und dorthin wollten auch Guillaumes Mörder.