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Julia Stanford hatte ihren Vater nie kennengelernt, und nun war er tot — nur noch eine schwarze Schlagzeile auf der Titelseite des Kansas City Star: Wirtschaftskapitän HARRY standford auf hoher SEE ertrunken! Sie betrachtete das Foto auf der Titelseite mit widersprüchlichen Gefühlen. Hasse ich ihn nun wegen seines unmöglichen Verhaltens meiner Mutter gegenüber — oder habe ich ihn lieb, weil er nun mal mein Vater ist? Habe ich Schuldgefühle, weil ich nie versucht habe, mit ihm in Verbindung zu treten — oder bin ich verärgert, weil er sich nie die Mühe gemacht hat, mich aufzuspüren? Aber das spielt jetzt keine Rolle mehr, überlegte sie. Er ist tot.
Für sie persönlich war der Vater zeitlebens tot gewesen, nun war er eben noch einmal gestorben und hatte sie damit endgültig um etwas betrogen, wofür sie keinen Ausdruck fand. Sie empfand unerklärlicherweise Schmerz — ein Gefühl des Verlustes. Aber das ist doch blöd! dachte Julia. Wie kann mir denn ein Mensch fehlen, den ich nie gekannt habe? Sie sah sich das Zeitungsfoto noch einmal an. Sehe ich ihm überhaupt ähnlich? Julia betrachtete sich angestrengt im Wandspiegel. Die Augen, dachte sie, ich habe die gleichen tiefliegenden grauen Augen.
Julia ging zum Schlafzimmerschrank und holte eine Pappschachtel heraus, der sie ein in Leder gebundenes Sammelalbum entnahm. Sie setzte sich auf das Bett, schlug das Buch auf und betrachtete mal wieder den vertrauten Inhalt: unzählige Fotos, die ihre Mutter, in Gouvernantentracht, neben Harry Stanford und seiner Ehefrau mit drei kleinen Kindern zeigten; die meisten Fotos waren auf der Jacht, in Rose Hill oder in der Villa von Hobe Sound aufgenommen worden.
Julia nahm die vergilbten Zeitungsausschnitte in die Hand, die Berichte über den Skandal, der sich vor langer Zeit in Boston zugetragen hatte, las die verblaßten, reißerischen Schlagzeilen:
LIEBESNEST IN BEACON HILL
SKANDAL UM MILLIARDÄR HARRY STANFORD
INDUSTRIELLENGATTIN BEGEHT SELBSTMORD
GOUVERNANTE ROSEMARY NELSON SPURLOS
VERSCHWUNDEN
Julia dachte lange über diese Zeugnisse einer fernen Vergangenheit nach.
Sie war im St.-Josephs-Krankenhaus in Milwaukee zur Welt gekommen. Ihre frühesten Erinnerungen waren triste, kleine Mansardenwohnungen und Umzüge, immer wieder Umzüge von einer Stadt zur anderen. Es hatte Zeiten gegeben, da sie kein Geld und kaum genug zu essen hatten, weil die Mutter ständig krank war und Mühe hatte, eine feste Arbeit zu finden. Julia hatte rasch begriffen, daß es nicht richtig war, die Mutter um neue Kleider oder Spielsachen zu bitten.
Als Julia mit fünf Jahren in die Schule kam, wurde sie von den Klassenkameradinnen verspottet, weil sie Tag für Tag dasselbe Kleid und immer dieselben verschlissenen Schuhe trug. Julia wehrte sich gegen die ewigen Hänseleien, reagierte mit Trotz und wurde regelmäßig zum Direktor bestellt — die Lehrer waren ratlos und wußten nicht, was sie mit ihr anstellen sollten. Sie verursachte ständig Probleme, und man hätte sie wahrscheinlich von der Schule verwiesen, wenn nicht eines für sie gesprochen hätte — sie war Klassenbeste.
Ihre Mutter hatte Julia erklärt, sie habe keinen Vater mehr, er sei tot, und Julia hatte das akzeptiert, bis sie, als Zwölfjährige, eines Tages zufällig ein Album mit Fotos entdeckte, auf denen
ihre Mutter mit fremden Menschen zu sehen war.
«Wer sind diese Leute?«hatte Julia wissen wollen.
Da hielt die Mutter den Zeitpunkt für gekommen, Julia alles zu erzählen.
«Setz dich, mein Schatz. «Sie nahm Julias Hand und hielt sie ganz fest. Sie konnte die Wahrheit nur direkt sagen; es gab keine Möglichkeit, sie ihrer Tochter schrittweise zu erzählen.»Das ist dein Vater, das dort ist deine Halbschwester, und die beiden Jungen sind deine Halbbrüder.«
Julia hatte die Mutter völlig verwirrt angeschaut.»Das verstehe ich nicht.«
Und so war die Wahrheit schließlich ans Licht gekommen und hatte Julias Seelenfrieden zerstört. Ihr Vater war noch am Leben, und sie hatte eine Halbschwester und zwei Halbbrüder! Es wollte ihr nicht in den Sinn.»Warum… warum hast du mich angelogen?«
«Du warst zu klein, um das verstehen zu können. Dein Vater und ich… wir hatten ein Verhältnis. Er war verheiratet… und ich mußte ihn verlassen, damit ich dich behalten konnte.«
«Ich hasse ihn!«rief Julia.
«Du darfst ihn nicht hassen.«
«Wie hat er dir das antun können?«wollte Julia wissen.
«Es war ja nicht nur seine Schuld. «Ihr tat jedes Wort weh.»Dein Vater war ein sehr attraktiver Mann, und ich war damals noch ein dummes junges Ding. Ich hätte wissen müssen, daß es für uns beide keine Zukunft gab, aber er hat mir erklärt, daß er mich liebt, gewiß… aber er war verheiratet, und er hatte Kinder. Und… dann bin ich schwanger geworden. «Das Sprechen machte ihr Mühe.»Ein Reporter bekam von der Sache Wind und brachte alles in die Zeitung, und da bin ich weggelaufen. Ich hatte zuerst vor, irgendwann zu ihm zurückzukehren, nach deiner Geburt, mit dir, doch seine Frau hat sich das Leben genommen, und ich… Danach konnte ich ihren Kindern nicht mehr in die Augen sehen. Es war doch meine Schuld, verstehst du. Deshalb darfst du ihm nicht die Schuld geben.«
Es gab da jedoch einen Aspekt bei der Geschichte, den sie Julia nicht erzählte. Der Standesbeamte hatte nach der Geburt des Babys gemeint:»Wir müssen die Geburtsurkunde ausstellen. Der Name des Babys lautet Julia Nelson?«
Rosemary hatte schon zustimmen wollen, aber dann hatte sie trotzig überlegt: Nein. Sie ist Harry Stanfords Tochter, und sie hat ein Recht auf seinen Namen und seine Unterstützung.
«Meine Tochter hat den Namen Julia Stanford.«
Anschließend hatte sie Harry Stanford geschrieben und ihm Julias Geburt mitgeteilt — aber nie Antwort erhalten.
Die Vorstellung, daß sie mit Leuten verwandt war, von deren Existenz sie nichts gewußt hatte, ließ Julia keine Ruhe; ebenso die Tatsache, daß ihre neuen Verwandten so berühmt waren, daß die Zeitungen ständig über sie berichteten. Und deshalb ging Julia in die öffentliche Bibliothek, um alles zu lesen, was sich über Harry Stanford finden ließ. Sie entdeckte zahllose Artikel über ihn. Er war Milliardär, und er lebte in einer anderen Welt, von der sie und ihre Mutter ausgeschlossen waren.
Als Julia eines Tages wieder einmal wegen ihrer Armut von den Klassenkameradinnen verhöhnt wurde, gab sie trotzig zurück:»Ich bin aber gar nicht arm! Mein Vater ist einer der reichsten Männer der Welt. Wir besitzen eine Jacht und ein Privatflugzeug und ein Dutzend schöner Häuser.«
Ein Lehrer hatte dies gehört.»Julia, komm mal her.«
Julia trat vor.
«Du darfst nicht solche Lügen erzählen.«
«Es ist aber keine Lüge«, widersprach Julia.»Mein Vater ist wirklich ein Milliardär! Er ist mit Königen und Staatspräsidenten bekannt!«
Der Lehrer musterte das kleine Mädchen in den schäbigen
Kleidern, das da vor ihm stand, und sagte:»Julia, das ist nicht wahr.«
Julia blieb stur.»Es ist schon wahr!«
Und wieder einmal mußte sie sich bei dem Direktor melden, und danach hatte sie den Namen ihres Vaters in der Schule nie mehr erwähnt.
Julia erfuhr den Grund, warum ihre Mutter von einer Stadt zur anderen zog — wegen der Presse. Da Harry Stanfords Name ständig in der Zeitung stand und die Boulevard- und Regenbogenpresse den alten Skandal immer wieder an die Öffentlichkeit zerrte, fanden die Reporter immer wieder heraus, wer Rosemary Nelson in Wirklichkeit war und wo sie wohnte, und dann sah sie keinen Ausweg mehr, außer wieder einmal die Flucht zu ergreifen.
Julia las jeden Zeitungsartikel über Harry Stanford, der ihr in die Hände fiel, und war jedesmal von neuem versucht, ihn anzurufen. Sie wollte Gewißheit haben — daß Harry während all der Jahre in Wahrheit verzweifelt nach ihrer Mutter gesucht hatte. Ich werde seine Nummer wählen und ihm mitteilen:»Ich bin deine Tochter. Wenn du uns sehen möchtest…«
Und dann würde er zu ihnen kommen und sich wieder in ihre Mutter verlieben und ihre Mutter heiraten, und dann würden sie alle zusammen glücklich sein.
Mit dem Tod der Mutter fanden diese Träumereien ein abruptes Ende. Julia litt unter einem überwältigenden Gefühl des Verlusts. Ich muß meinen Vater verständigen, dachte sie, Mutter war doch ein Teil seines Lebens. Sie verschaffte sich die Telefonnummer des Konzerns in Boston. Dort meldete sich eine weibliche Stimme.
«Guten Morgen, hier Stanford Enterprises.«
Julia zögerte.
«Stanford Enterprises. Hallo? Kann ich Ihnen helfen?«
Julia legte ganz langsam den Hörer auf. Dieser Anruf wäre Mutter bestimmt nicht recht gewesen.
Nun war sie also ganz allein und hatte keinen einzigen Menschen mehr.
Zur Beerdigung Rosemary Nelsons auf dem Memorial Park Cemetery in Kansas City fand sich nicht ein einziger weiterer Trauernder ein. Das ist nicht fair, Mama, dachte Julia, als sie allein am Grab stand. Du hast einen Fehler begangen und hast dafür dein ganzes Leben lang büßen müssen. Wenn ich dir doch nur einen Teil deines Leids hätte abnehmen können. Ich habe dich sehr lieb, Mama. Und ich werde dich immer liebhaben. Alles, was ihr als Erinnerung an ihre Mutter geblieben war, war eine Sammlung von Fotos und Zeitungsausschnitten.
Nach dem Tod ihrer Mutter wandten Julias Gedanken sich den Stanfords zu. Sie waren reich. Sie könnte sie doch um Unterstützung bitten. Niemals! sagte sie sich. Nicht nach all dem, was Harry Stanford meiner Mutter angetan hat.
Sie mußte jedoch irgend etwas unternehmen, um sich ihren Lebensunterhalt zu verdienen. Sie mußte einen Beruf ergreifen. Vielleicht könnte ich Gehirnchirurgin werden, dachte sie. Oder Malerin? Opernsängerin? Ärztin? Astronautin?
Sie entschied sich schließlich für einen Sekretärinnenkurs an der Abendschule des Kansas Community College.
Nach Abschluß des Lehrgangs suchte Julia eine Arbeitsvermittlungsagentur auf und fand in dem überfüllten Wartezimmer neben einer hübschen, gleichaltrigen Frau Platz.
«Hi! Ich bin Sally Connors.«
«Julia Stanford.«
«Ich muß einfach eine Stelle finden! Heute noch!«stöhnte Sally.»Ich bin aus meiner Wohnung rausgeworfen worden.«
Julias Name wurde aufgerufen.
«Viel Glück!«sagte Sally.
«Danke.«
Julia betrat das Büro.
«Bitte, setzen Sie sich.«
«Vielen Dank.«
«Wie ich aus Ihrem Bewerbungsformular ersehe, haben Sie einen College-Abschluß und aufgrund von Ferienjobs auch ein wenig Erfahrung. Außerdem hat Ihnen die Sekretärinnenschule eine exzellente Referenz ausgestellt. «Die Stellenvermittlerin suchte im Dossier, das vor ihr auf dem Schreibtisch lag.»Sie schaffen neunzig Wörter Steno pro Minute und tippen sechzig Wörter pro Minute?«
«Ja, Ma'am.«
«Dann könnte ich genau das Richtige für Sie haben. Ein kleines Architekturbüro sucht eine Sekretärin. Das Gehalt ist allerdings leider nicht besonders üppig…«
«Das ist schon in Ordnung«, warf Julia rasch ein.
«Sehr gut. Ich schicke Sie hin. «Sie reichte Julia ein Blatt Papier mit Namen und Adresse.»Das Vorstellungsgespräch ist morgen mittag.«
Julia lächelte dankbar. Sie war richtig aufgeregt.
Als sie das Büro verließ, wurde gerade Sallys Name aufgerufen.
«Ich drücke Ihnen die Daumen, daß Sie eine Stelle bekommen«, sagte Julia.
«Vielen Dank!«
Aus einem unerklärlichen Impuls heraus beschloß Julia, auf Sally zu warten, die zehn Minuten später mit einer glücklichen Miene aus dem Büro kam.
«Ich hab’ ein Vorstellungsgespräch! Sie hat telefoniert, morgen geh ich zur American Mutual Insurance Company, um mich für die Stelle am Empfang zu bewerben. Wie ist es Ihnen ergangen?«
«Ich werde morgen ebenfalls Bescheid wissen.«»Wir schaffen es bestimmt, da bin ich ganz sicher. Warum essen wir zur Feier nicht gemeinsam zu Mittag?«
Das Gespräch während des Mittagessens besiegelte die Freundschaft.
«Ich habe mir am Overland Park eine Wohnung angesehen«, sagte Sally.»Wohnzimmer, Küche, Bad und zwei Schlafzimmer. Eine echt hübsche Wohnung. Allein könnte ich sie mir ja nicht leisten, aber wenn wir zu zweit…«
«Liebend gern«, unterbrach Julia und kreuzte die Finger.»Falls ich die Stelle kriege!«
«Wirst du bestimmt!«versicherte ihr Sally.
Auf dem Weg zum Architekturbüro Peters, Eastman & Tolkin überlegte Julia: Das könnte die große Chance für mich sein. Ich meine, das ist doch nicht bloß so ein Job. Ich arbeite für Architekten! Für Menschen mit Visionen zur Verschönerung der Städte, Menschen, die aus Stein, Stahl und Glas Wunderwerke errichten. Vielleicht werde ich ja selber Architektur studieren, damit ich ihnen helfen und an der Umsetzung ihrer Pläne mitwirken kann.
Die Büroräume lagen in einem schäbigen alten Geschäftshaus am Amour Boulevard, wo Julia mit dem Lift in den dritten Stock fuhr und im Flur eine arg verschrammte Tür mit dem Schild PETERS, EASTMAN & TOLKIN, ARCHITEKTEN entdeckte. Vor dem Anklopfen atmete sie erst einmal tief durch.
Sie wurde bereits erwartet — im Eingangsraum standen drei Herren, die sie neugierig musterten.
«Sie kommen wegen der Stelle als Sekretärin?«
«Jawohl, Sir.«
«Ich bin Al Peters. «Der Glatzkopf.
«Bob Eastman. «Der mit dem Pferdeschwanz.
«Max Tolkin. «Der Schmerbauch.
Alle drei anscheinend in den Vierzigern.
«Es ist unseres Wissens Ihre erste Stelle als Sekretärin«, bemerkte Al Peters.
«So ist es«, entgegnete Julia und fügte sofort schnell hinzu:»Ich bin aber sehr lernfähig, und ich werde mir große Mühe geben. «Ihre Idee von vorhin, selber Architektin zu werden, ließ sie vorsichtshalber fürs erste unerwähnt; sie hatte den Eindruck, daß es ratsam wäre, damit zu warten, bis sie die drei Herren ein wenig besser kannte.
«In Ordnung, wir können es ja mit Ihnen versuchen«, meinte Bob Eastman,»und mal sehen, wie es so läuft.«
Julia wurde ganz aufgeregt.»Ach, vielen Dank. Ich werde Sie bestimmt nicht…«
«Was das Gehalt betrifft«, unterbrach Max Tolkin,»so tut es uns leid, doch für den Anfang können wir Ihnen wirklich nicht viel zahlen…«
«Das ist schon in Ordnung«, sagte Julia.»Ich…«
«Dreihundert die Woche«, sagte Al Peters.
Max Tolkin hatte leider nur zu recht gehabt — das war in der Tat nicht viel. Julia überlegte kurz und traf eine Entscheidung.»Ich bin einverstanden.«
Den drei Männern war die Erleichterung anzusehen.
«Großartig!«sagte Al Peters.»Darf ich Ihnen das Büro zeigen?«
Die Besichtigung war im Nu erledigt. Außer dem kleinen Empfangsraum gab es drei winzige Büroräume, die eher den Eindruck erweckten, als ob sie von der Heilsarmee eingerichtet worden wären, und die Toilette befand sich am Flurende. Alle drei Herren waren Architekten, Al Peters kümmerte sich um die Finanzen, Bob Eastman fungierte als Akquisiteur von Aufträgen, und Max Tolkin war für die Entwürfe zuständig.
«Sie sind für uns drei tätig«, betonte Al Peters.
«Prima. «Julia nahm sich vor, sich bei ihnen unentbehrlich zu machen.
Al Peters blickte auf seine Armbanduhr.»Es ist genau zwölf Uhr dreißig. Wie war's mit Mittagessen?«
Julia empfand eine leichte Euphorie: Sie war akzeptiert, ins Team aufgenommen! Man lud sie zum Mittagessen ein.
«Ein kleines Stück die Straße hoch«, fuhr Al Peters fort,»finden Sie ein Delikatessengeschäft. Ich hätte gern ein Sandwich mit Corned beef auf Roggenbrot mit Senf und Kartoffelsalat. Und ein Hefeteilchen.«
«Aha.«Von wegen Einladung zum Mittagessen, dachte Julia.
«Und ich ein Pastramibrot und eine Hühnersuppe«, sagte Tolkin.
«Jawohl, Sir.«
«Für mich bitte eine Scheibe kalten Braten und ein alkoholfreies Getränk.«
«Ach ja, und geben Sie bitte acht, daß das Corned beef auch schön mager ist«, fügte Al Peters hinzu.
«Mageres Corned beef.«
«Und passen Sie auf, daß die Suppe heiß ist«, rief Max Tolkin.
«In Ordnung. Eine heiße Suppe.«
«Und«, warf Bob Eastman ein,»als alkoholfreies Getränk bitte eine Cola Light.«
«Eine Cola Light.«
«Hier haben Sie Geld. «Al Peters gab ihr zwanzig Dollar.
Als Julia eine knappe Viertelstunde später im Delikatessengeschäft dem Mann hinter der Theke die Bestellungen weitergab — ohne etwas für sich selbst zu verlangen —, meinte der Verkäufer:»Sie arbeiten bestimmt bei Peters, Eastman & Tolkin.«
In der darauffolgenden Woche zogen Julia und Sally in die möblierte Wohnung am Overland Park ein, deren Einrichtung durch langjährige Benutzung bei häufigem Mieterwechsel arg strapaziert war. Da wird garantiert niemand auf die Idee kommen, daß wir im Ritz Hotel abgestiegen sind, dachte Julia sarkastisch.
«Beim Kochen können wir uns abwechseln«, schlug Sally vor.
«Einverstanden.«
Sallys erste Mahlzeit schmeckte vorzüglich.
Als am nächsten Abend Julia den Kochlöffel übernommen hatte, meinte Sally nach dem ersten Bissen:»Julia, ich bin nicht lebensversichert — warum halten wir's nicht so, daß ich das Kochen übernehme und du das Putzen?«
Die Wohngenossinnen kamen prächtig miteinander aus. An Wochenenden gingen sie im Glenwood 4 ins Kino, die Lebensmitteleinkäufe tätigten sie im Bannister Mall, Kleiderkäufe im Super Flea Discount House. Sie gingen einmal wöchentlich abends in ein billiges Restaurant — in Stephenson's Old Apple Farm oder, wenn sie die Mittelmeerküche bevorzugten, ins Cafe Max. Und wenn sie sich's leisten konnten, schauten sie bei Charlie Charlies vorbei, um Jazz zu hören.
Die Tätigkeit bei Peters, Eastman & Tolkin machte Julia Spaß. Es wäre eine Untertreibung gewesen, wenn sie behauptet hätte, daß es der Firma nicht besonders gut ging — Klienten und Aufträge waren ausgesprochene Mangelware. Julia mußte sich eingestehen, daß von einem Mitwirken an der Verschönerung kaum die Rede sein konnte; doch die Zusammenarbeit mit den drei Architekten tat ihr gut, denn sie bildeten so etwas wie eine Ersatzfamilie, und jeder vertraute Julia seine persönlichen Probleme an. Sie entpuppte sich als eine fähige, fleißige Sekretärin und hatte das Büro binnen kurzem besser organisiert.
Julia wollte dem Kundenmangel abhelfen, sie wußte nur nicht, wie, bis ihr eines schönen Tages eine Möglichkeit in den Sinn kam, als sie im Kansas City Star eine Meldung entdeckte:
Ein neugegründeter Chefsekretärinnenverein unter dem Vorsitz von Susan Bandy traf sich zu einem Clubessen.
«Könnte sein, daß ich heute mittag ein bißchen später zurückkomme«, meinte Julia am nächsten Tag.
Al Peters lächelte freundlich.»Kein Problem, Julia. «Sie waren froh, daß sie so eine Sekretärin wie Julia hatten.
Als Julia im Plaza Inn eintraf und sich schnurstracks zu dem gekennzeichneten Saal begab, wurde sie an der Tür von einer Frau angesprochen:»Kann ich etwas für Sie tun?«
«Gewiß. Ich bin zum Chefsekretärinnenessen gekommen.«
«Ihr Name?«
«Julia Stanford.«
Die Frau checkte ihre Namensliste.»Bedaure, aber ich kann Ihren…«
Julia grinste.»Typisch Susan, ich werd gleich ein Wörtchen mit ihr reden. Ich bin Chefsekretärin bei Peters, Eastman & Tolkin.«
Die Frau machte einen unsicheren Eindruck.»Also… «
«Machen Sie sich keine Sorgen. Ich spreche gleich mit Susan.«
Julia marschierte zielbewußt auf eine Gruppe schick gekleideter Damen zu, die in einer Ecke des Bankettsaals standen, um sich bei einer von ihnen höflich zu erkundigen:»Verzeihung, wo ist Susan Bandy?«
«Dort drüben«, sagte die Frau und deutete auf eine hochgewachsene, auffallend hübsche Mittvierzigerin.
Julia ging zu ihr hinüber.»Hallo, ich bin Julia Stanford.«
«Hallo.«
«Ich arbeite bei Peters, Eastman & Tolkin. Sie haben doch bestimmt schon von uns gehört.«
«Nun, ich…«
«Ein expandierendes Architekturbüro in Kansas City.«
«Verstehe.«
«Ich habe leider nur sehr wenig Zeit, aber ich würde gern alles in meinen Kräften Stehende tun, um die Vereinsarbeit zu unterstützen.«
«Das ist sehr freundlich von Ihnen, Miss…?«
«Stanford.«
Damit war der Anfang gemacht.
In dem Verein waren die meisten führenden Firmen vertreten, und es dauerte gar nicht lang, bis Julia ihr Kontaktnetz aufbauen konnte. Sie aß mindestens einmal wöchentlich mit einem Vereinsmitglied allein zu Mittag.
«Unsere Firma plant ein neues Gebäude in Olathe.«
Julia gab die Nachricht schnurstracks an ihre Chefs weiter.
«Mr. Hanley will sich ein Sommerhaus in Toganoxie bauen.«
Bevor irgend jemand anders von solchen anstehenden Aufträgen erfuhr, waren sie bereits bei Peters, Eastman & Tolkin gelandet.
«Sie haben eine Gehaltserhöhung verdient, Julia«, erklärte Bob Eastman eines Tages.»Sie leisten fantastische Arbeit. Sie sind eine Spitzenkraft.«
«Würden Sie mir einen Gefallen tun?«
«Klar doch.«
«Ernennen Sie mich offiziell zur Chefsekretärin, das würde meine Glaubwürdigkeit erhöhen.«
Julia las gelegentlich in der Zeitung über ihren Vater, hin und wieder sah sie ihn auch in einem Fernsehinterview. Gegenüber Sally oder ihren Arbeitgebern erwähnte sie ihn nie.
Als Teenager hatte Julia oft von ihrer Entführung an irgendeinen herrlichen, zauberhaften Ort geträumt, weg von Kansas City, in eine Luxusstadt mit Jachten, Privatflugzeugen und Palästen, doch die Nachricht vom Tode ihres Vaters beendete für immer die Verwirklichung solcher Träume. Na ja, dachte sie halb belustigt, immerhin hab’ ich meinen Weg in Kansas gemacht,
Jetzt bin ich allein. Jetzt habe ich gar keine Verwandten mehr. Aber Moment mal, überlegte Julia, das ist ja gar nicht wahr, ich habe ja noch eine Halbschwester und zwei Halbbrüder. Sie sind meine Angehörigen — meine Familie. Sollte ich sie besuchen? Wäre das eine gute Idee? Eine schlechte Idee? Was würden wir wohl füreinander empfinden?
Julia traf eine Entscheidung, die für sie zur Frage von Leben oder Tod werden sollte.