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Auf den letzten Schachzug, die Krönung seines genialen Spielplans, kam Tyler durch Zufall.
Er hatte über das Testament des Vaters nachgedacht, als er plötzlich eine Stinkwut empfand, weil Woody und Kendall den gleichen Erbteil erhalten würden wie er. Das steht ihnen nicht zu. Wenn ich nicht gewesen wäre, hätte Vater sie völlig aus seinem Testament gestrichen. Ohne mich hätten sie gar nichts bekommen, jetzt kriegen beide je ein Drittel von allem — das ist nicht fair. Aber was soll ich dagegen machen?
Nun besaß er allerdings die eine Aktie am Konzern, die ihm seine Mutter vor langer Zeit geschenkt hatte. Und plötzlich fielen ihm wieder die Worte seines Vaters ein: »Was soll er mit dieser einen Aktie anfangen? Die Firma übernehmen?«
Tyler kam ins Grübeln. Woody und Kendall haben zusammen genau eine Zweidrittelmehrheit der Stanford-Enterprises-Aktien aus dem väterlichen Besitz. Gibt es einen Weg, daß ich mit der einen zusätzlichen Aktie meiner Mutter die Kontrolle übernehmen kann? Und wie aus heiterem Himmel fiel ihm eine so geniale Lösung dieses Problems ein, daß es ihm die Sprache verschlug.
«Außerdem muß ich Sie von der Möglichkeit eines weiteren, vierten Erben in Kenntnis setzen… Das Testament Ihres Vaters enthält die ausdrückliche Bestimmung, daß seine Hinterlassenschaft zu gleichen Teilen unter alle Nachkommen aufzuteilen ist… Sie sind sich, wie ich gewiß annehmen darf, der Tatsache bewußt, daß Ihr Vater vor vielen Jahren mit der Gouvernante hier in Rose Hill ein Kind zeugte…«
Und falls Julia auftauchen sollte, wären wir vier, überlegte Tyler. Und falls ich über ihren Stimmenanteil verfügen könnte, besäße ich fünfzig Prozent der Aktien meines Vaters plus die eine Aktie, die mir bereits gehört. Damit könnte ich die Stanford Enterprises übernehmen, und ich könnte den Stuhl meines Vaters beanspruchen. Und plötzlich machten seine Gedanken einen Sprung: Rosemary ist tot und hat ihrer Tochter wahrscheinlich nie erzählt, wer ihr Vater ist. Warum muß also unbedingt die echte Julia Stanford auftauchen?
Er war ihr vor zwei Monaten zum ersten Mal begegnet, gleich zu Beginn der neuen Sitzungsperiode. Der Gerichtsdiener hatte den Zuschauern verkündet:»Das
Bezirksgericht von Cook County tritt zusammen unter dem Vorsitz des Ehrenwerten Richters Stanford. Erheben Sie sich.«
Tyler kam aus seinen Amtsräumen, nahm auf dem Richterstuhl Platz und blickte zur Angeklagten hinüber. Der erste Fall war State of Illinois gegen Margo Posner, die Anklage lautete auf Körperverletzung und versuchten Mord.
Der stellvertretende Staatsanwalt erhob sich.»Euer Ehren, die Angeklagte ist eine gefährliche Person, die sich auf den Straßen von Chicago nicht frei bewegen sollte. Der Staat wird zeigen, daß sie ein langes Vorstrafenregister hat: Sie ist des Diebstahls in Geschäften und privat überführt und als Prostituierte amtsbekannt. Sie gehörte einer Gruppe von Frauen an, die für einen Zuhälter namens Rafael tätig waren. Im Januar dieses Jahres kam es zwischen beiden zu einem heftigen Streit, bei dem die Angeklagte den Zuhälter und seinen Begleiter mit voller Absicht und kaltblütig erschießen wollte.«
«Ist das eine oder das andere Opfer daran gestorben?«
«Nein, Euer Ehren, beide wurden mit schweren Verletzungen ins Krankenhaus eingeliefert. Die Pistole in Margo Posners Besitz war eine illegale Waffe.«
Tyler musterte die Angeklagte und war überrascht, denn sie entsprach so gar nicht der Vorstellung, die er sich nach den Worten des stellvertretenden Staatsanwalts von ihr gemacht hatte. Sie war eine gutgekleidete, attraktive junge Frau Ende Zwanzig und strahlte eine unaufdringliche Eleganz aus, die den gegen sie erhobenen Vorwürfen total widersprach. Da sieht man wieder mal, dachte Tyler. Man kann wirklich nie wissen.
Er hörte der Beweisführung beider Parteien zu, doch sein Blick war auf die Angeklagte gerichtet — sie hatte etwas an sich, das ihn an seine Schwester erinnerte.
Als die Plädoyers beendet waren, ging der Fall an die Geschworenen, die nach einer vierstündigen Beratung mit einem Schuldspruch bezüglich allen Punkten der Anklage in den Gerichtssaal zurückkehrten.
Tylers Blick ruhte auf der Angeklagten, als er die Strafe verkündete:»Das Gericht kann in diesem Fall keine mildernden Umstände erkennen. Sie sind hiermit zu einer fünfjährigen Haftstrafe im Dwight Correctional Center verurteilt… Der nächste Fall.«
Was ihn bei Margo Posner an Kendall erinnerte, fiel ihm erst ein, als sie abgeführt wurde: Sie hatte die gleichen grauen Augen, die Augen Harry Stanfords.
Nach Dmitris Anruf erinnerte er sich wieder an Margo Posner. Der erste Teil des Schachspiels war erfolgreich beendet. Tyler hatte jeden Zug sorgfältig vorausgeplant und hatte die klassische Eröffnung mit der Königinstrategie verfolgt. Jetzt mußte er in die mittlere Spielphase eintreten.
Tyler stattete Margo Posner in der Frauenhaftanstalt einen Besuch ab.
«Sie erinnern sich an mich?«fragte Tyler.
«Wie könnte ich Sie vergessen!«Ihre Augen blitzten ihn an.»Ich verdanke es Ihnen, daß ich hier einsitze.«
«Wie geht's?«erkundigte sich Tyler.
Sie zog eine Grimasse.»Sie wollen mich wohl verarschen! Das ist hier die Hölle!«
«Was würden Sie davon halten, herauszukommen?«»Was würde ich…? Ist das Ihr Ernst?«
«Mein völliger Ernst. Ich könnte es arrangieren.«
«Also, das… das ist ja fantastisch! Und was hätte ich als Gegenleistung zu tun?«
«Nun, es gibt tatsächlich etwas, worum ich Sie bitten werde.«
Sie betrachtete ihn kokett.»Klar doch, kein Problem.«
«Das ist es aber nicht, was ich mir vorstelle.«
«Und was stellen Sie sich vor, Richter?«fragte sie vorsichtig.
«Ich möchte Sie darum bitten, mir zu helfen, jemandem einen kleinen Streich zu spielen.«
«Was für einen Streich?«
«Ich möchte Sie bitten, sich als eine andere Frau auszugeben und deren Rolle zu übernehmen.«
«Mich als jemand anders ausgeben? Ich wüßte nicht, wie ich…«
«Für Sie springen dabei fünfundzwanzigtausend Dollar heraus.«
Ihr Ton änderte sich schlagartig.»Okay«, sagte sie rasch,»ich kann alle imitieren. Und an wen hatten Sie gedacht?«
Tyler beugte sich vor und erklärte es ihr.
Tyler sorgte dafür, daß Margo Posner auf seine Verantwortung auf freien Fuß kam.
«Ich habe in Erfahrung gebracht«, so erläuterte er dem Gerichtspräsidenten Keith Percy,»daß sie eine hochbegabte Künstlerin ist und daß ihr sehr daran liegt, ein normales, anständiges Leben zu führen. Ich halte es für wichtig, daß wir solchen Menschen, wann immer möglich, eine Chance zur Rehabilitierung geben. Meinst du nicht auch?«
Keith Percy war beeindruckt — und erstaunt.»Absolut, Tyler. Großartig, Tyler, eine ausgezeichnete Maßnahme.«
Tyler ließ Margo in seinem Haus wohnen und erzählte ihr fünf Tage lang von den Besonderheiten seiner Angehörigen.
«Wie heißen deine Brüder?«
«Tyler und Woodruff.«
«Woodrow.«
«Ach ja, richtig — Woodrow.«
«Und wie nennen wir ihn?«
«Woody.«
«Hast du auch eine Schwester?«
«Ja, Kendall. Sie ist Modedesignerin.«
«Ist sie verheiratet?«
«Sie ist mit einem Franzosen verheiratet. Er heißt… Marc Renoir.«
«Renaud.«
«Renaud.«
«Wie lautet der Name deiner toten Mutter?«
«Rosemary Nelson. Sie war die Gouvernante der StanfordKinder.«
«Warum ist sie fortgegangen?«
«Sie ist gefickt worden von…«
«Margo!«mahnte Tyler.
«Ich meine, Harry Stanford schwängerte sie.«
«Was ist aus Mrs. Stanford geworden?«
«Sie beging Selbstmord.«
«Was hat deine Mutter dir von den Kindern Stanfords erzählt?«
Margo dachte nach.
«Nun?«
«Einmal bist du auf dem Teich aus dem Schwanenboot ins Wasser gefallen.«
«Ich bin nicht ins Wasser gefallen«, widersprach Tyler heftig.»Ich wäre beinahe ins Wasser gefallen.«
«Genau, und Woody wäre beinahe verhaftet worden, weil er im öffentlichen Park Blumen gepflückt hat.«
«Das war Kendall…«
Er war erbarmungslos. Sie gingen die Szenarien immer wieder durch, bis spät in die Nacht hinein und bis Margo total erschöpft war.
«Kendall ist von einem Hund gebissen worden.«
«Von dem Hund bin ich gebissen worden.«
Sie rieb sich die Augen.»Ich kann schon gar nicht mehr richtig denken. Ich bin furchtbar müde und brauche ein bißchen Schlaf.«
«Schlafen kannst du später!«
«Wie lange soll das denn noch weitergehen!?«wehrte sie sich trotzig.
«Bis ich überzeugt bin, daß du es geschafft hast. Also — noch mal von vorn.«
Und so ging es weiter, bis Margo alles fehlerlos beherrschte. Tyler war erst an dem Tag mit ihr zufrieden, als sie auf jede Frage sofort die richtige Antwort parat hatte.
«Nun bist du soweit«, erklärte er und schob ihr ein Bündel juristischer Papiere hinüber.
«Was ist das denn?«
«Eine Formalität«, erwiderte Tyler wie nebenbei.
Was er sich von ihr unterschreiben ließ, war ein Vertrag, mit dem sie ihren Anteil an der Hinterlassenschaft von Harry Stanford auf eine Firma übertrug, die einer anderen Firma unterstand, die sich wiederum im Besitz einer ausländischen Firma befand, deren Alleininhaber Tyler Stanford war. Es war absolut unmöglich, die Zusammenhänge bis zu Tyler zurückzuverfolgen.
Tyler händigte Margo fünftausend Dollar in bar aus.»Den Rest bekommst du, wenn die Sache abgeschlossen ist«, erklärte er,»wenn du alle überzeugt hast, daß du Julia Stanford bist.«
Von dem Augenblick an, als Margo in Rose Hill auftauchte, hatte Tyler die Rolle des Advocatus Diaboli gespielt.
«Sie können sich gewiß in unsere Lage versetzen, Miss…
ähm… Ohne einen hieb- und stichfesten Beweis können wir unmöglich akzeptieren, daß… Nach meiner Überzeugung ist diese Dame eine Hochstaplerin… Wie viele Bedienstete haben während unserer Kindheit in diesem Haus gearbeitet?… Dutzende, stimmt's? Und von denen könnte manch einer gewußt haben, was diese junge Dame uns vorhin erzählt hat. So wie sie ja auch das Foto von einem der Hausmädchen, Chauffeure, Butler oder Köche von damals erhalten haben könnte… Vergeßt bitte nicht, daß es hier um Riesensummen geht.«
Es war ein meisterlicher Schachzug von ihm gewesen, die Forderung zu stellen, daß sie sich einem DNS-Test unterziehen sollte. Er hatte Hal Baker angerufen und ihm entsprechende Instruktionen gegeben:
«Holen Sie Harry Stanfords Leiche aus dem Grab, und lassen Sie sie verschwinden.«
Und dann der begnadete Einfall, einen Privatdetektiv heranzuziehen. Er hatte damals Hal Baker angerufen und ihn später auch als Frank Timmons vorgestellt.
Tyler hatte ursprünglich nur daran gedacht, daß Hal Baker vortäuschen sollte, die nötigen Schritte zur Identifizierung von Julia Stanford vorgenommen zu haben; dann fand er jedoch, daß der Bericht mehr Eindruck machen würde, wenn Hal Baker die Sache selbst recherchiert hätte; und Bakers Ergebnisse waren von seinen Geschwistern und auch von Fitzgerald und Sloane sofort akzeptiert worden.
Und auch später hatte es nicht die geringsten Probleme mit Tylers Plan gegeben. Margo Posner hatte ihre Rolle perfekt gespielt, und der Vergleich der Fingerabdrücke hatte die Sache besiegelt, und alle waren davon überzeugt, es mit der wahren Julia Stanford zu tun zu haben.