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Obwohl die Türaufschrift renquist, renquist & Fitzgerald lautete, so waren doch die beiden Renquists längst dahingeschieden. Simon Fitzgerald dagegen war höchst lebendig und trotz seiner sechsundsiebzig Lebensjahre der Dynamo der Kanzlei, in der unter seiner Leitung sechzig Anwälte tätig waren. Er wirkte erschreckend dürr, sein schlohweißes Haar glich einer Löwenmähne, und er hatte die aufrechte Haltung eines Berufsoffiziers, als er in seinem Büro auf und ab marschierte, doch innerlich standen die Zeichen bei ihm auf Sturm.
Er blieb vor seiner Sekretärin stehen.»Hat Mr. Stanford bei seinem Anruf keinerlei Hinweise darauf gegeben, weshalb er mich so dringend sprechen wollte?«
«Nein, Sir, er hat mich nur informiert, daß er Sie am Montag morgen um neun Uhr bei sich zu Hause erwartet und daß Sie sein Testament und einen Notar mitbringen sollten.«
«Vielen Dank. Bitten Sie Mr. Sloane zu mir herein.«
Steve Sloane gehörte zu den innovativen Nachwuchsanwälten der Kanzlei. Absolvent der Harvard Law School, Anfang Vierzig, hochgewachsen und schlank, blond, mit amüsiert blickenden Augen und einem durchdringenden, forschenden Blick, aufgeschlossen, von entgegenkommendem Wesen, das selbst eine gespannte Atmosphäre entkrampfte: Er war der Troubleshooter des Anwaltsbüros und der Kronprinz von Simon Fitzgerald. Wenn ich einen Sohn gehabt hätte, dachte Fitzgerald, so hätte ich mir gewünscht, daß er wie Steve wäre.
Der eintretende Sloane musterte ihn mit einem Ausdruck mißbilligenden Erstaunens.
«Du hier? Du solltest eigentlich in Neufundland sein, beim Lachsangeln«, sagte Steve streng.
«Etwas Unvorhergesehenes. Setz dich, Steve. Wir haben ein Problem.«
Steve seufzte.»Sonst noch Neuigkeiten?«
«Es betrifft Harry Stanford.«
Harry Stanford war ein Renommierklient der Kanzlei. Mit der Wahrnehmung der juristischen Interessen seines Konzerns hatte er eine Handvoll anderer Kanzleien betraut; seine Privatangelegenheiten ließ er jedoch von Renquist, Renquist & Fitzgerald erledigen, wo allerdings außer Simon Fitzgerald bisher niemand seine persönliche Bekanntschaft gemacht hatte. Er war eine Legende.
«Was hat Stanford denn jetzt schon wieder angestellt?«fragte Steve.
«Er hat sich ums Leben gebracht.«
«Er hat was?«stieß Steve entsetzt hervor.
«Ich habe soeben von der Polizei in Korsika ein Fax erhalten, demzufolge Stanford offenbar gestern von seiner Jacht ins Meer gestürzt und ertrunken ist.«
«O mein Gott!«
«Du hast ihn nie kennengelernt, aber ich bin über drei Jahrzehnte lang der Anwalt seines Vertrauens gewesen — er war ein schwieriger Mensch. «Fitzgerald lehnte sich im Sessel zurück und dachte an die Vergangenheit.»Im Grunde hat es immer zwei ganz und gar verschiedene Harry Stanfords gegeben — den Stanford, wie ihn die Öffentlichkeit kannte, der es auf geniale Weise verstand, die Vögel vom Baume des Kapitals in seine Netze zu locken, und der Schweinekerl, dem es einen Heidenspaß machte, andere Menschen zu zerstören. Er war ein unglaublicher Charmeur, der sich jedoch urplötzlich in eine Kobra verwandeln und sich gegen jeden wenden konnte. Er war eine gespaltene Persönlichkeit — er war beides in einem,
Schlangenbeschwörer und Schlange.«
«Klingt interessant.«
«Es ist gut dreißig Jahre her — einunddreißig Jahre, um genau zu sein —, daß ich in diese Kanzlei eingetreten bin, und damals hat ihn der alte Renquist betreut. Du kennst ja das Klischee von der >Überlebensgröße< bestimmter Menschen — nun ja, Harry Stanford war wirklich überlebensgroß. Wenn es ihn nicht gegeben hätte — den hätte bestimmt keiner erfunden. Er war ein Gigant, besaß eine unvorstellbare Tatkraft sowie unbändigen Ehrgeiz, er war ein großer Sportler, als Student Boxchampion seines Colleges und ein hervorragender Polospieler. Als Mensch war Harry Stanford aber bereits in jungen Jahren unmöglich. In meinem langen Leben bin ich niemandem begegnet, der so wie er ohne den leisesten Anflug von Mitgefühl war. Er war ein Sadist und ausgesprochen rachsüchtig — er hatte den Instinkt eines Aasgeiers. Es machte ihm ungeheuren Spaß, seine Konkurrenten in den Bankrott zu treiben, und wenn man den Gerüchten glaubt, hat er mehr als einen Selbstmord auf dem Gewissen.«
«Klingt ja ganz so, als ob er ein wahres Ekel gewesen wäre.«
«War er auch — einerseits, aber er hatte auch eine andere Seite: In Neu-Guinea hat er ein Waisenhaus, in Bombay ein Krankenhaus gestiftet, und er hat Millionen für wohltätige Zwecke gespendet, und zwar anonym. Er war ein Mensch, bei dem niemand wissen konnte, was er im nächsten Augenblick tun würde.«
«Und wie ist er zu seinem Reichtum gekommen?«
«Kennst du dich in der griechischen Mythologie aus?«
«In diesem Bereich sind meine Kenntnisse leicht eingerostet.«
«Die Geschichte von Ödipus ist dir aber vertraut?«
Steve nickte zustimmend.»Hat seinen Vater umgebracht, damit er an die Mutter herankam.«
«Richtig, und genauso war's bei Harry Stanford, nur daß der seinen Vater umbrachte, damit er ans Stimmrecht seiner Mutter herankam.«
Steve war sprachlos.»Wie bitte?«
Fitzgerald lehnte sich vor.»Harrys Vater hat als Lebensmittelhändler in Boston angefangen. Das Geschäft ging so gut, daß er bald einen zweiten Laden aufmachte, und es dauerte gar nicht lange, bis er Eigentümer einer hübschen kleinen Kette von Filialen war. Nach Harrys Collegeabschluß hat er ihn zum Teilhaber und Mitglied der Geschäftsführung gemacht. Aber wie ich schon sagte — Harry hatte einen unbändigen Ehrgeiz, und er hatte Visionen. Er wollte nicht bei Fleischfabriken und Gemüsegroßhändlern einkaufen, sondern plädierte dafür, daß die Lebensmittel-Ladenkette ihr eigenes Gemüse anbaute und Ländereien zur Aufzucht eines eigenen Viehbestands für die Fleischversorgung erwarb, mit dem man auch den Konservenbedarf selber decken konnte. Der Vater war dagegen, und es kam zwischen den beiden häufig zu Streitereien.
Dann hatte Harry die größte Idee aller Zeiten. Er entwickelte den Plan zur Gründung einer Supermarktkette, wo schlichtweg alles verkauft werden sollte — von Automobilen und Möbeln bis zu Lebensversicherungen, und das alles zu Discountpreisen; finanzieren wollte er das Ganze hauptsächlich über die Kunden, die durch Beitragszahlungen als Mitglieder sozusagen Kleinaktionäre ohne Stimmrecht würden. Der Vater hielt Harry für übergeschnappt und lehnte den Plan ab. Harry war jedoch nicht bereit, zu akzeptieren, daß sich ihm jemand oder etwas in den Weg stellte — also beschloß er, sich den alten Herrn vom Halse zu schaffen. Er überredete ihn zu einem langen Urlaub, und während der Abwesenheit des Vaters machte Harry sich daran, die Mitglieder des Aufsichtsrats von seiner Idee zu überzeugen.
Er war ein brillanter Verkäufer und hat es geschafft, ihnen sein Konzept zu verkaufen. Seine Tante und seinen Onkel, die beide im Aufsichtsrat saßen, hat er überredet, für ihn zu stimmen. Danach hat er die anderen Aktionäre mit Sitz und Stimme im Aufsichtsrat becirct, hat sie mittags zum Gespräch in Luxusrestaurants eingeladen, und mit einem ist er zur Fuchsjagd ausgeritten, mit einem anderen zum Golfspielen gegangen. Einer stand unter dem Pantoffel seiner Frau — also hat Harry mit der Frau geschlafen, und sie hat ihren Mann für ihn herumgekriegt. Allerdings befanden sich die meisten Firmenanteile im Besitz seiner Mutter, deren Votum folglich entscheidend war. Und Harry hat seine Mutter tatsächlich dahin gebracht, daß sie ihre Stimmrechte an ihn abtrat — damit er ihren Mann ausbooten konnte.«
«Unglaublich!«
«Als Harrys Vater dann aus den Ferien zurückkehrte, mußte er feststellen, daß seine Verwandten ihm in seiner eigenen Firma das Ruder aus der Hand genommen hatten.«
«Großer Gott!«
«Das ist aber noch nicht alles, denn das war Harry noch lange nicht genug. Als sein Vater in sein eigenes Büro wollte, mußte er feststellen, daß er Hausverbot hatte. Und vergiß eines nicht: Harry war damals gerade erst Anfang Dreißig. Kein Wunder, daß man ihm im Betrieb den Spitznamen >der Eismensch< verpaßt hatte. Doch Ehre, wem Ehre gebührt, Steve. Er hat es aus eigener Kraft geschafft, Stanford Enterprises zu einem der größten Mischkonzerne der Welt aufzubauen. Die Firma expandierte, bis sie Bauholz, Chemie, Kommunikation, Elektronik und einen atemberaubenden Immobilienbesitz umfaßte. Und am Ende war er auch noch einziger Aktionär.«
«Er muß ja wirklich unvorstellbare Erfolge gehabt haben«, kommentierte Steve.
«Hatte er auch, im Umgang mit Männern — wie bei Frauen.«
«Ist er verheiratet gewesen?«
Simon Fitzgerald schwieg nachdenklich und erklärte schließlich:»Harry Stanford war verheiratet — mit einer der schönsten Frauen, die ich je kennengelernt habe — mit Emily Temple. Aus der Ehe sind drei Kinder hervorgegangen, zwei Jungen und ein Mädchen. Emily entstammte einer Familie der oberen Gesellschaftsschicht in Hobe Sound, Florida. Sie hat Harry angebetet, und sie hat sich Mühe gegeben, seine außerehelichen Eskapaden zu ignorieren, doch eines schönen Tages war das Maß voll. Sie hatte eine Gouvernante für die Kinder eingestellt, eine gewisse Rosemary Nelson, eine reizende junge Frau, und für Harry noch reizvoller, als sie sich weigerte, mit ihm ins Bett zu gehen. Das hat ihn schier wahnsinnig gemacht, denn er war es nicht gewöhnt, abgewiesen zu werden. Da hat Harry Stanford seinen ganzen Charme aufgeboten, er konnte unwiderstehlich sein, und zu guter Letzt hat er's eben doch geschafft, Rosemary ins Bett zu kriegen. Sie wurde schwanger und ist zum Arzt gegangen. Aber leider hatte dieser Arzt einen Schwiegersohn, der Klatschkolumnist war, und als der von der Sache Wind bekam, hat er sie in die Presse gebracht, und es gab einen furchtbaren Skandal. Du kennst ja Boston. Die Zeitungen waren voll davon. Ich habe mir damals alle Artikel ausgeschnitten.«
«Hat sie eine Abtreibung machen lassen?«
Fitzgerald schüttelte den Kopf.»Nein. Harry hat sie natürlich dazu gedrängt abzutreiben, aber sie hat abgelehnt. Es kam zwischen den beiden zu einem schrecklichen Streit. Er gab vor, sie zu lieben und sie heiraten zu wollen — was er natürlich bereits Dutzenden von Frauen erklärt hatte. Doch diesmal hatte Emily Harrys Beteuerungen mitgehört und hat sich noch in der gleichen Nacht das Leben genommen.«
«Wie gräßlich. Und was ist aus der Gouvernante geworden?«
«Rosemary Nelson ist von der Bildfläche verschwunden. Wir wissen, daß sie im St.-Josephs-Krankenhaus in Milwaukee eine Tochter zur Welt gebracht hat und ihr den Namen Julia gab. Sie hat Harry damals benachrichtigt, doch ich glaube, er hat sich nicht einmal die Mühe gemacht zu antworten, denn zu der
Zeit hatte er sich längst mit einer anderen Frau eingelassen, und an Rosemary hatte er keinerlei Interesse mehr.«
«Wie reizend… «
«Die eigentliche Tragödie geschah später, denn die Kinder haben Harry, völlig zu Recht, für den Selbstmord ihrer Mutter verantwortlich gemacht. Zu dieser Zeit waren sie zehn, zwölf und vierzehn Jahre alt gewesen, alt genug, um Leid und Trauer zu empfinden, doch zu jung, um gegen den Vater vorzugehen. Sie haben ihn gehaßt. Harrys größte Sorge war, daß seine Kinder ihm eines Tages genau das antun würden, was er mit seinem Vater gemacht hatte. Also hat er alles getan, um zu verhindern, daß es dazu kommen könnte. Er hat sie von zu Hause weggeschickt, voneinander getrennt in verschiedenen Internaten untergebracht und es so einzurichten verstanden, daß sie sich möglichst selten sahen, und sie haben von ihm kein Geld bekommen. Sie lebten von einem kleinen Treuhandvermögen, das sie von der Mutter geerbt hatten. Er hat sie immer nur nach der Methode >Zuckerbrot und Peitsche< behandelt, hat ihnen sein Vermögen als Zuckerbrot vor die Nase gehalten und alle Versprechungen jedesmal sofort wieder zurückgenommen, wenn sie ihn ärgerten.«
«Was ist aus den Kindern geworden?«
«Tyler ist Richter am Bezirksgericht in Chicago. Woodrow macht gar nichts — ein Playboy, der sein Leben in Hobe Sound mit Polo- und Golfspielen verplempert. Vor ein paar Jahren hat er in einem Schnellrestaurant eine Kellnerin aufgelesen, die er geschwängert und dann zur allgemeinen Verblüffung geheiratet hat. Kendall ist mittlerweile eine erfolgreiche Modedesignerin und mit einem Franzosen verheiratet. Die beiden leben in New York. «Fitzgerald stand auf.»Steve — bist du schon einmal in Korsika gewesen?«
«Nein.«
«Ich wäre dankbar, wenn du hinfliegen würdest. Man hält dort Harry Stanfords Leiche fest, die Polizei verweigert die
Freigabe. Bitte, bring die Sache in Ordnung.«
«Selbstverständlich.«
«Falls du's einrichten könntest, heute noch…«
«Gut. Ich werde es möglich machen.«
«Danke, ich weiß deinen Einsatz zu schätzen.«
In der Linienmaschine der Air France von Paris nach Korsika las Steve Sloane einen Reiseführer — er hatte gar nicht gewußt, daß Ajaccio, die größte Stadt der überwiegend gebirgigen Insel, der Geburtsort Napoleons war. Das Buch enthielt überhaupt eine Menge interessanter Informationen und Statistiken; von der Schönheit der Insel war Steve dann trotzdem völlig überwältigt. Beim Anflug fiel ihm, tief unten, ein hoher, solider Wall weißer Klippen auf, der ihn an die englische Felsküste bei Dover erinnerte. Einfach atemberaubend.
Am Flughafen von Ajaccio stieg Steve in ein Taxi, das ihn über den Cours Napoleon, der Hauptstraße, die sich vom Place General-de-Gaulle in nördlicher Richtung bis zum Bahnhof erstreckt, ins Zentrum der Stadt brachte. Steve hatte alle nötigen Vorbereitungen getroffen; auf dem Flughafen stand eine Maschine bereit, die Harry Stanfords Leiche nach Paris fliegen würde, wo der Sarg in ein Flugzeug nach New York umgeladen werden sollte. Jetzt gab es für Steve nur noch eines zu tun: die Freigabe der Leiche zu erreichen.
Steve ließ sich am Cours Napoleon vor der Prefecture absetzen, ging eine Treppe hinauf und betrat den Empfangsraum, wo ein uniformierter Sergeant hinter dem Schreibtisch saß.
«Bonjour. Puis-je vous aider?«
«Wer ist hier verantwortlich?«
«Capitaine Durer.«
«Bitte, ich möchte ihn gern sprechen.«
«Und in welcher Angelegenheit?«
Steve zückte seine Visitenkarte.»Ich bin Harry Stanfords Anwalt und bin gekommen, um seine Leiche in die Vereinigten Staaten zu überführen.«
Der Sergeant zögerte.»Einen Augenblick, bitte. «Er verschwand in Capitaine Durers Amtszimmer und zog die Tür hinter sich zu, denn hier herrschte ein dichtes Gedränge; aus aller Welt waren die Fernsehreporter und Journalisten der Nachrichtenagenturen gekommen; und alle sprachen durcheinander.
«Capitaine — warum hat er sich in dem Sturm auf See befunden, obwohl doch… «
«Wie läßt sich das überhaupt erklären, daß er mitten in der Nacht von der Jacht ins Meer…«
«Gibt es irgendwelche Hinweise, daß es sich hier um ein Verbrechen handeln könnte?«
«Haben Sie eine Autopsie angeordnet?«
«Wer hat sich sonst noch auf dem Schiff…«
«Bitte! Meine Herrschaften. «Capitaine Durer hob die Hand.»Bitte, meine Herrschaften. Bitte!«Er ließ den Blick durch den Raum wandern, über die Gesichter der vielen Reporter, die ihm jedes Wort von den Lippen abzulesen suchten — und geriet vor lauter Begeisterung fast ins Schwärmen. Von solch einem Augenblick hatte er schon immer geträumt. Wenn ich mich jetzt richtig verhalte und alles unter Kontrolle behalte, müßte mir das eigentlich einen gewaltigen Karrieresprung sichern und…
Er wurde in seinen Gedanken von dem Sergeanten unterbrochen.»Capitaine…«, flüsterte ihm der Sergeant ins Ohr und überreichte ihm Steve Sloanes Visitenkarte.
Capitaine Durer musterte sie kurz und reagierte schroff.»Ich habe jetzt keine Zeit für ihn«, bellte er.» Sag ihm, daß er morgen früh um zehn wiederkommen soll.«
«Jawohl, mon Capitaine.«
Capitaine Durer schaute dem Sergeanten nach, der den Raum verließ. Er hatte nicht die Absicht, sich diesen Moment des
Ruhms nehmen zu lassen — von niemandem. Er wandte sich mit einem selbstzufriedenen Lächeln den Reportern zu.»Also, was haben Sie wissen wollen…?«
Im Vorraum mußte Steve Sloane hören:»Bedaure, aber Capitaine Durer ist momentan sehr beschäftigt. Er bittet Sie, sich morgen früh um zehn Uhr zur Verfügung zu stellen.«
Steve Sloane betrachtete den Sergeanten mit einem Ausdruck ungläubigen Entsetzens.»Morgen früh? Aber das ist doch lächerlich! So lange will ich nicht warten.«
Der Sergeant zuckte mit den Schultern.»Ganz wie Sie wünschen, Monsieur.«
Steve machte eine finstere Miene.»Na gut. Ich hatte kein Zimmer gebucht. Können Sie mir ein Hotel empfehlen?«
«Mais oui.« Er sprach plötzlich englisch.»Ich beärrre mich, Ihn' das Colomba empfohlen zu haben. Avenue de Paris, Nummer acht.«
Steve zögerte.»Gäbe es nicht vielleicht doch eine Möglichkeit…«
«Zehn Uhr, morgen früh.«
Steve drehte sich auf dem Absatz um und verließ das Gebäude.
Inzwischen war Durer nur zu glücklich, sich den Fragen der Reporter stellen zu dürfen.
«Woher nehmen Sie die Gewißheit, daß es sich um einen Unglücksfall gehandelt hat?«wollte ein Fernsehjournalist wissen.
Durer richtete den Blick direkt in die Kamera.»Glücklicherweise haben wir einen Augenzeugenbericht über dieses furchtbare Ereignis. Die Kabine Monsieur Stanfords hat ein offenes Verdeck, und allem Anschein nach riß ihm der Wind wichtige Papiere aus der Hand, woraufhin er losgerannt ist, um sie wieder zurückzuholen. Als er die Hand nach ihnen ausstreckte, verlor er das Gleichgewicht und fiel ins Meer. Sein
Leibwächter hat es beobachtet und sofort Alarm ausgelöst, und das Schiff hat gestoppt. Auf die Weise konnte die Leiche geborgen werden.«
«Was hat die Autopsie ergeben?«
«Meine Herren, Korsika ist eine kleine Insel. Wir verfügen nicht über die nötigen Einrichtungen zur Durchführung einer vollen Autopsie. Unser Leichenbeschauer hat jedoch festgestellt, daß Monsieur Stanfords Tod durch Ertrinken eingetreten ist, wir haben in seinen Lungen Meereswasser entdeckt. Prellungen oder irgendwelche Anzeichen von fremdem Einwirken sind an keiner einzigen Stelle des Körpers festzustellen gewesen.«
«Wo befindet sich die Leiche jetzt?«
«Wir bewahren sie in einem kalten Lagerraum auf, bis die Genehmigung für den Transport in die Heimat erteilt wird.«
«Würde es Ihnen etwas ausmachen, wenn wir von Ihnen ein Foto aufnähmen, Capitaine?«fragte ein Fotoreporter.
Eine dramatische Sekunde lang zögerte Capitaine Durer die Antwort hinaus, bevor er sich in das Unabänderliche schickte:»Nein. Bitte, meine Herren, tun Sie Ihre Pflicht.«
Und die Blitzlichter der Kameras zuckten.
Das Colomba war ein bescheidenes, aber sauberes Hotel, und das Zimmer zufriedenstellend. Als erstes rief Steve bei Simon Fitzgerald an.
«Die Sache wird leider längere Zeit in Anspruch nehmen, als ich dachte«, sagte Sloane.
«Wo liegt das Problem?«
«Bürokratie. Ich habe morgen früh einen Termin bei dem zuständigen Beamten, dann werde ich alles klären. Am morgigen Nachmittag sollte ich auf dem Rückflug nach Boston sein.«
«Ausgezeichnet, Steve, wir sprechen uns morgen.«
Im Restaurant La Fontana an der Rue Notre Dame aß er zu Mittag, und weil er sich irgendwie die Zeit vertreiben mußte, besichtigte er anschließend die Stadt.
Ajaccio ist eine farbenfrohe Mittelmeerstadt, die sich noch immer in dem Ruhme sonnt, der Geburtsort Napoleons zu sein. Harry Stanford hätte sich hier bestimmt zu Hause gefühlt, dachte Steve.
Auf Korsika war Hochsaison, und die Straßen wurden von Touristen aus England, Frankreich, Italien und Japan bevölkert.
Abends speiste Steve italienisch im Restaurant Le Boccaccio und kehrte dann ins Hotel zurück.
«Irgendwelche Nachrichten?«fragte er nach der Rückkehr ins Hotel an der Rezeption erwartungsvoll.
«Nein, Monsieur.«
Später fand er lange keinen Schlaf, da ihm das Gespräch mit Simon Fitzgerald über Harry Stanford einfach nicht aus dem Kopf ging.
«Hat sie eine Abtreibung durchgeführt?«
«Nein. Harry hat sie natürlich dazu gedrängt abzutreiben, aber sie hat sich geweigert. Es kam zwischen den beiden zu einem schrecklichen Streit. Er gab vor, sie zu lieben und sie heiraten zu wollen — was er bereits Dutzenden von Frauen erklärt hatte, doch diesmal hat Emily seine Beteuerungen mitgehört und sich noch in dergleichen Nacht das Leben genommen.«
Steve überlegte, auf welche Art Emily Stanford Selbstmord begangen hatte.
Schließlich sank er in einen unruhigen Schlaf.
Am nächsten Morgen erschien Steve Punkt zehn Uhr wieder auf der Prefecture, wo der Sergeant vom Vortag Dienst hatte.
«Guten Morgens, sagte Steve.
«Bonjour, Monsieur. Kann ich Ihnen behilflich sein?«
Steve reichte dem Sergeanten eine zweite Visitenkarte.»Ich bin da, um Capitaine Durer zu sprechen.«
«Einen Augenblick. «Die gleiche Prozedur: Der Sergeant erhob sich, verschwand im Amtszimmer seines Chefs und zog die Tür fest hinter sich zu.
Capitaine Durer — in einer eindrucksvollen neuen Uniform — wurde soeben von einem italienischen Fernsehteam für RAI interviewt und sprach in die Kamera.»Als ich den Fall übernahm, habe ich mich als erstes vergewissert, daß Monsieur Stanfords Tod in keiner Weise als Folge eines Verbrechens eingetreten sein konnte.«
«Und Sie waren hundertprozentig davon überzeugt, daß hier kein Verbrechen vorliegt?«fragte der Interviewer.
«Hundertprozentig. Es gibt gar keinen Zweifel daran, daß es sich um einen bedauerlichen Unglücksfall gehandelt hat.«
«Bene«, sagte der Regisseur zum Kameramann.»Bitte eine neue Einstellung, eine Nahaufnahme.«
Diesen Moment nutzte der Sergeant, um Capitaine Durer Sloanes Visitenkarte in die Hand zu drücken.»Er wartet draußen.«
«Was ist bloß in Sie gefahren?«knurrte Durer.»Sehen Sie denn nicht, daß ich beschäftigt bin? Sagen Sie ihm, er soll morgen wiederkommen. «Er hatte gerade erfahren, daß ein weiteres Dutzend Reporter nach Korsika unterwegs war — darunter auch Journalisten aus Ländern wie Rußland und Südafrika. »Demain!«
«Oui.«
«Sind Sie soweit, Capitaine?«fragte der Regisseur.
Capitaine Durer setzte ein breites Lächeln auf.»Ich bin soweit.«
Unterdessen war der Sergeant ins Vorzimmer zurückgekehrt.»Es tut mir leid, Monsieur«, erklärte er in gebrochenem Englisch.»Aber Durer ist heute aus dem Geschäft.«
«Dann geht's ihm wie mir!«herrschte ihn Steve an.»Teilen Sie ihm mit, daß er lediglich das Formular unterzeichnen muß, das die Freigabe von Mr. Stanfords Leiche autorisiert, und er ist mich los. Das ist doch wohl nicht zuviel verlangt, oder?«
«Leider ja. Der Capitaine hat viiiele Verpflichtungen, und…«
«Kann ich diese Autorisierung denn nicht von jemand anderem erhalten?«
«O nein, Monsieur. Solche Autorisierung kann Ihnen nur der Capitaine erteilen.«
Steve Sloane kochte innerlich.»Und wann ist er zu sprechen?«
«Ich schlage vor, daß Sie es morgen noch einmal versuchen.«
Es war diese Wendung — noch einmal versuchen —, die Steve ins Ohr stach.»Das werde ich auch«, sagte er.»Übrigens — meines Wissens hat es bei dem Unfall einen Augenzeugen gegeben — Mr. Stanfords Leibwächter, ein gewisser Dmitri Kaminski.«
«Jawohl.«
«Ich möchte ihn gerne sprechen. Darf ich wissen, wo er sich aufhält?«
«Australien.«
«Ist das der Name eines hiesigen Hotels?«
«Nein, Monsieur. «Der mitleidige Ton seiner Stimme war nicht zu überhören.»Australien ist ein Land.«
Da wurde Steve um etliche Dezibel lauter.»Wollen Sie damit ausdrücken, daß der einzige Augenzeuge von Mr. Stanfords Tod mit Zustimmung der korsischen Polizei ausreisen durfte, bevor ihn jemand verhören konnte?«
«Capitaine Durer hat ihn verhört.«
Steve Sloane atmete einmal tief durch.»Ich danke Ihnen.«
«Keine Ursache, Sir.«
Vom Hotel aus erstattete Steve Sloane telefonisch Simon Fitzgerald Bericht.
«Sieht so aus, als ob ich noch eine weitere Nacht hierbleiben müßte.«
«Was ist los, Steve?«
«Der verantwortliche Beamte scheint überbeschäftigt. Hier ist touristische Hochsaison, und er fahndet vermutlich nach verlorenen Brieftaschen. Aber morgen sollte ich's schaffen, von hier wegzukommen.«
«Bis morgen!«
Trotz seiner Verärgerung konnte sich Steve dem Zauber der Insel nicht entziehen. Korsika hat eine Küste von über anderthalbtausend Kilometer Länge und Gebirge aus Granitstein, dessen Gipfel bis zum Juli schneebedeckt bleiben. Bis zur Übernahme durch die Franzosen hatte die Insel unter italienischer Herrschaft gestanden, und die Vermischungen beider Kulturen waren faszinierend.
Während des Abendessens in der Creperie U San Carlo fielen Steve erneut die Worte ein, mit denen Simon Fitzgerald Harry Stanfords Wesen charakterisiert hatte. »Ich bin in meinem ganzen Leben noch keinem Menschen begegnet, der so wie er ohne den leisesten Anflug von Mitgefühl war. Er war ein Sadist, er war ausgesprochen rachsüchtig.«
Nun ja, überlegte Steve, dieser Harry Stanford verursacht sogar noch als Toter jede Menge Ärger.
Auf dem Heimweg zum Hotel blieb Steve an einem Zeitungskiosk stehen, um sich die neueste Ausgabe der International Herald Tribune zu kaufen. Die Schlagzeile auf der Titelseite lautete: was wird aus dem stanfordimperium? Steve zahlte und wollte schon weitergehen, als sein Blick plötzlich auf die Schlagzeilen anderer ausländischer Zeitschriften fiel. Er nahm die Zeitungen in die Hand und las verdutzt. Es gab nicht eine einzige Zeitung ohne einen Bericht über den Tod von Harry Stanford auf der Titelseite, und auf allen Titelseiten prangte an prominenter Stelle ein Foto von Capitaine Durer — er strahlte Steve förmlich entgegen. Also war das der Grund, warum er so beschäftigt gewesen war und keine Zeit für mich hatte! Na, das wollen wir doch mal sehen!
Am nächsten Morgen erschien Steve absichtlich eine Viertelstunde zu früh und betrat schon um neun Uhr fünfundvierzig den Vorraum zum Amtszimmer Capitaine Durers. Der Sergeant saß nicht an seinem Schreibtisch, und die Tür zum anstoßenden Büro stand einen Spaltbreit offen. Steve schob sie auf und ging hinein. Der Polizeihauptmann wechselte soeben seine Uniform, um sich für die morgendliche Pressekonferenz zurechtzumachen. Bei Steves Eintreten hob er unwirsch den Kopf.
«Qu'est-ce que vous faires ici? C'est un bureau prive! Allez-vous-en!«
«Ich bin von der New York Times«, erklärte Steve Sloane, und sofort hellte sich Durers Gesicht auf.»Ach so, treten Sie doch ein, treten Sie ein. Sie sind… wie haben Sie doch gesagt?«
«Jones. John Jones.«
«Darf ich Ihnen vielleicht etwas anbieten? Einen Kaffee? Kognak?«
«Nein, vielen Dank.«
«Bitte. Bitte, nehmen Sie doch Platz. «Durers Stimme wurde feierlich.»Sie sind natürlich wegen der schrecklichen Tragödie gekommen, die sich auf unserer kleinen Insel zugetragen hat. Der arme Monsieur Stanford.«
«Wann gedenken Sie seinen Leichnam freizugeben?«fragte Steve.
Capitaine Durer ließ ein Seufzen vernehmen.»Ach, das wird noch viele, viele Tage dauern, fürchte ich. Im Fall eines so bedeutenden Menschen wie Monsieur Stanford gibt es ja so viele Formalitäten auszufüllen. Die Formalitäten müssen eingehalten werden, Sie verstehen.«
«Ich denke schon«, räumte Steve ein.
«Eventuell zehn Tage. Möglicherweise auch zwei Wochen.«Dann, dachte Durer, wird das Medieninteresse abgeflaut sein.
«Hier, meine Visitenkarte«, sagte Steve und reichte sie Durer.
Der Capitaine streifte sie mit einem flüchtigen Blick; dann schaute er gründlicher hin.»Sie sind Anwalt. Sie sind kein Reporter?«
«Nein, ich bin Harry Stanfords Anwalt. «Steve Sloane erhob sich.»Ich verlange Ihre Autorisierung zur Freigabe seiner Leiche.«
«Ach, ich würde sie Ihnen ja gern geben«, erklärte Capitaine Durer mit einem Ausdruck tiefsten Bedauerns.»Leider sind mir jedoch die Hände gebunden. Ich wüßte nicht, wie…«
«Bis morgen.«
«Ausgeschlossen! Es besteht keinerlei Möglichkeit…«
«Dann mache ich Ihnen den Vorschlag, daß Sie sich mit Ihren Vorgesetzten in Paris in Verbindung setzen. Es ist so: Zum Stanford-Konzern gehören mehrere große Fabriken in Frankreich, und ich hielte es für bedauerlich, wenn unser Vorstand beschließen sollte, sie allesamt zu schließen und statt dessen in anderen Staaten neu zu investieren.«
Der Capitaine musterte ihn befremdet.»Ich… in dergleichen Dingen bin ich ohne jeden Einfluß, Monsieur.«
«Ich dagegen«, versicherte ihm Steve,»verfüge gerade in diesen Dingen über großen Einfluß. Sie sorgen jetzt dafür, daß Mr. Stanfords Leiche für morgen freigegeben wird, oder Sie befinden sich in Schwierigkeiten von einem Ausmaß, das Sie sich momentan noch gar nicht vorzustellen vermögen. «Er wollte gehen.
«Warten Sie! Monsieur! In einigen Tagen könnte ich eventuell… «
«Morgen. «Und Steve war auf und davon.
Es dauerte genau drei Stunden, bis Steve in seinem Hotel einen Anruf entgegennahm.
«Monsieur Sloane? Ich habe eine wunderbare Nachricht für Sie! Es ist mir gelungen, es zu bewerkstelligen, daß Mr. Stanfords Leichnam Ihnen unverzüglich übergeben wird. Ich hoffe, Sie wissen die Bemühungen zu würdigen, welche…«
«Danke. Die Maschine, die Mr. Stanfords Leichnam in die Vereinigten Staaten fliegen wird, startet morgen früh um acht Uhr. Ich gehe davon aus, daß alle notwendigen Formalitäten bis dahin erledigt sind.«
«Selbstverständlich, machen Sie sich keine Sorgen, ich werde…«
«Gut. «Steve legte auf.
Capitaine Durer blieb lange unbeweglich am Schreibtisch sitzen. Merde! Was für ein Pech! Ich hätte noch mindestens eine weitere Woche berühmt bleiben können.
Bei der Landung der Maschine auf dem Logan International Airport von Boston stand ein Leichenwagen bereit. Die Begräbnisfeierlichkeiten waren für drei Tage später angesetzt.
Steve Sloane meldete sich unverzüglich bei Simon Fitzgerald.
«Jetzt ist der Alte also endlich heimgekehrt«, meinte Fitzgerald.»Das wird eine schöne Familienfeier.«
«Eine Familienfeier?«
«Richtig, und sie dürfte wirklich recht interessant werden«, antwortete er.»Harry Stanfords Kinder werden sich versammeln, um den Tod ihres Vaters zu feiern. Tyler, Woody und Kendall.«