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Kapitel 8

Richter Tyler Stanford erfuhr es zuerst durch eine Sendung im Chicagoer Regionalfernsehen WBBM. Er war plötzlich wie hypnotisiert, sein Blick saugte sich am Bildschirm fest, sein Herz begann wild zu schlagen — tatsächlich, es war die Jacht Blue Skies, und dann hörte er die Meldung des Nachrichtensprechers:»… während eines Sturms im Meer vor Korsika, als es zu dem Unfall kam. Harry Stanfords Leibwächter Dmitri Kaminski wurde Augenzeuge des Geschehens, ohne jedoch seinen Arbeitgeber retten zu können. Harry Stanford galt in Finanzkreisen als einer der klügsten…«

Tyler saß wie erstarrt da, und die Erinnerungen wurden wieder lebendig…

Es waren die Stimmen gewesen, das Geschrei, das ihn mitten in der Nacht aufgeweckt hatte. Vierzehn Jahre alt war er gewesen, er hatte dem erregten Stimmengewirr ein paar Minuten lang zugehört und sich dann im oberen Flur zum Treppenaufgang geschlichen — unten, im Foyer, gingen seine Eltern aufeinander los. Seine Mutter kreischte, und er sah, wie sein Vater ihr ins Gesicht schlug.

Auf dem Bildschirm hatte die Szene gewechselt, Harry Stanford war jetzt im Oval Office des Weißen Hauses zu sehen, wo er Präsident Reagan die Hand schüttelte.»… Als eine tragende Säule der neuen Taskforce, die der Präsident zur Lösung von Finanzproblemen begründete, erwies Harry Stanford sich als bedeutender Ratgeber für…«

Sie spielten Football im hinteren Hof, sein Bruder Woody warf den Ball in Richtung des Hauses, Tyler rannte hinter dem Ball her und fing ihn, da hörte er die Stimme seines Vaters auf der anderen Seite der Hecke.»Ich liebe dich, das weißt du doch!«

Tyler blieb stehen und war glücklich, daß seine Eltern sich einmal nicht stritten, doch dann hörte er die Stimme der Frau, und es war die Stimme der Gouvernante — es war Rosemary.»Sie sind ein verheirateter Mann. Lassen Sie mich bitte in Ruhe.«

Tyler wurde übel. Er hatte seine Mutter lieb, und Rosemary hatte er auch lieb, aber der Vater war ihm fremd, der Vater machte ihm angst.

Auf dem Bildschirm flimmerten andere Bilder von Harry Stanford vorbei — wie er sich mit Margaret Thatcher der Kamera stellte… an der Seite des französischen Präsidenten Mitterrand… neben Michail Gorbatschow —, und der Nachrichtensprecher kommentierte:»Der legendäre

Wirtschaftskapitän war gleichermaßen bei Fabrikarbeitern und Weltpolitikern zu Hause.«

Er kam an der Tür zum Arbeitszimmer des Vaters vorbei, als Rosemarys Stimme nach draußen drang.

«Ich kündige.«

«Ich nehme deine Kündigung aber nicht an, du darfst nicht gehen. Du mußt jetzt vernünftig sein, Rosemary! Das ist die einzige Möglichkeit, für dich wie für mich…«

«Darauf laß ich mich nicht ein, und das Baby werde ich behalten.«

Am nächsten Tag war Rosemary nicht mehr da.

Das Fernsehen zeigte mittlerweile schon wieder andere Bilder, alte Aufnahmen: Die Familie Stanford stand vor einer Kirche und beobachtete, wie ein Sarg auf den Leichenwagen gehoben wurde, und der TV-Ansager berichtete:»… Harry Stanford mit den Kindern neben dem Sarg… Als Grund für Mrs. Stanfords Freitod werden gesundheitliche Probleme genannt. Laut Informationen der Polizei hat Harry Stanford…«

Es war erneut finstere Nacht gewesen, als sein Vater ihn wachgerüttelt hatte.»Steh auf, Junge, ich hab eine schlechte Nachricht.«

Der vierzehnjährige Tyler begann am ganzen Körper zu zittern.

«Deine Mutter ist verunglückt, Tyler.«

Eine Lüge war es gewesen, denn der Vater hatte sie umgebracht; wegen seiner Beziehung zu Rosemary hatte die Mutter sich das Leben genommen.

Die Zeitungen waren voll gewesen von der Geschichte. Es war ein Skandal, der die Bostoner Gesellschaft in den Grundfesten erschütterte, und die Boulevardpresse schlachtete die Sache erbarmungslos aus. Es war absolut unmöglich, es den Kindern zu verheimlichen, und die Klassenkameraden machten ihnen das Leben zur Hölle. Binnen vierundzwanzig Stunden hatten die Kinder die zwei Menschen verloren, die sie am meisten liebten, die ihnen alles bedeuteten. Und schuld daran war der Vater.

«Es ist mir ganz egal, daß er unser Vater ist«, schluchzte Kendall.»Ich hasse ihn.«

«Ich auch!«

«Und ich auch!«

Sie wollten von zu Hause weglaufen, wußten aber nicht, wohin. Und so entschlossen sie sich zur Rebellion.

Tyler bekam den Auftrag, im Namen aller mit ihrem Vater zu reden.»Wir wollen einen anderen Vater. Dich wollen wir nicht.«

Und Harry Stanford hatte ihn eiskalt gemustert und geantwortet:»Das läßt sich arrangieren.«

Drei Wochen danach waren die drei Geschwister voneinander getrennt und in verschiedenen Internaten untergebracht.

Den Vater hatten die Kinder in den darauffolgenden Jahren nur selten gesehen. Sie lasen von ihm in der Zeitung, oder sie sahen ihn im Fernsehen, in Begleitung hinreißend schöner Frauen oder im Gespräch mit berühmten Persönlichkeiten. Sie erlebten ihn immer nur bei besonderen» Anlässen«, an Weihnachten oder sonstigen Feiertagen und in den Ferien — und bei Fototerminen, damit Harry Stanford sich vor aller Welt als liebevoll sorgender Vater präsentieren konnte. Danach wurden die Kinder wieder in ihre Internate oder in getrennte Ferienlager geschickt — bis zum nächsten» Anlaß«.

Tyler stand völlig im Bann des Fernsehberichts, der Folge der Bilder von Firmen und Fabriken in mehreren Kontinenten, und immer wieder sein Vater.»… einer der größten Mischkonzerne der Welt in Privatbesitz. Harry Stanford, der dieses Wirtschaftsimperium geschaffen hat, war eine Legende… Was die Finanzexperten der Wall Street jetzt bewegt, ist die Frage: Was wird nach dem Tod des Firmengründers aus diesem Unternehmen in Familienbesitz? Harry Stanford hinterläßt zwar drei Kinder, doch ist bisher nicht bekanntgeworden, wer sein milliardenschweres Vermögen erbt oder die Konzernleitung übernimmt… «

Tyler war sechs Jahre alt und liebte es, durch das große Haus zu streunen und die vielen faszinierenden Räume zu erforschen. Es gab allerdings einen Raum, zu dem der Zutritt streng untersagt war: das Arbeitszimmer des Vaters. Tyler hatte verstanden, daß dort viele wichtige Zusammenkünfte stattfanden; denn dort gingen Männer von beeindruckender Erscheinung in dunklen Anzügen ein und aus. Doch gerade die Tatsache, daß hier der Zutritt verboten war, machte das Zimmer für Tyler unwiderstehlich.

Während einer Geschäftsreise des Vaters nahm Tyler eines Tages allen Mut zusammen und ging hinein. Es war ein riesengroßer Raum. Von dem Anblick überwältigt, blieb Tyler einen Moment ehrfürchtig stehen. Sein Blick fiel auf den immensen Schreibtisch und die Ledersessel des Vaters. Aber eines Tages wird’ ich in diesem Sessel sitzen, dachte Tyler. Eines Tages wird’ ich genauso bedeutend sein wie mein Vater. Er trat näher heran, bemerkte Dutzende von amtlich wirkenden Papieren, schlich sich hinter den Schreibtisch und nahm im Sessel des Vaters Platz. Er kam sich großartig und wunderbar vor. Jetzt bin ich auch wichtig!

«Verdammt, was machst du da?!«

Tyler fuhr erschrocken herum. An der Tür stand sein Vater, wutentbrannt.

«Wer hat dir erlaubt, an diesem Schreibtisch zu sitzen?«

Der zitternde kleine Junge begann zu stottern.»Ich… ich wollte doch nur sehen, wie das ist.«

Sein Vater stürzte auf ihn zu. »Du wirst nie erleben, wie das ist! Niemals! Und nun raus mit dir! Und bleib draußen!«

Tyler war nach oben gerannt und schluchzte hemmungslos, so daß ihm seine Mutter aufs Zimmer folgte und ihn tröstend in die Arme nahm.»Du mußt nicht weinen, mein Schatz. Es wird ja alles gut.«

«Es… wird nicht alles gut«, wimmerte Tyler.»Er… er haßt mich.«

«Nein, er haßt dich nicht.«

«Ich hab doch gar nichts verbrochen. Ich hab ja bloß auf seinem Stuhl gesessen.«

«Das ist aber sein Stuhl, mein Schatz. Auf dem darf niemand anders sitzen. Das mag er nicht.«

Er konnte nicht aufhören zu weinen, und seine Mutter hielt ihn eng umschlungen.»Bei unserer Heirat hat dein Vater mir erklärt«, sagte sie schließlich,»er wolle mir das Gefühl geben, daß ich Anteil habe an seinem Unternehmen, und er hat mir eine Aktie geschenkt. Es war so etwas wie ein Familienscherz. Diese eine Aktie schenk ich nun dir. Ich werde sie auf deinen Namen in einen Treuhandfonds übergeben, und damit hast du jetzt Anteil am Unternehmen, du gehörst dazu. Einverstanden?«

Da es insgesamt nur einhundert Stanford-Enterprises-Aktien gab, war Tyler also zum stolzen Besitzer von einem Hundertstel der Firma geworden.

Harry Stanford reagierte verärgert, als er von der Schenkung seiner Frau erfuhr.»Was hast du dir eigentlich dabei gedacht? Was kann er denn mit der einen Aktie machen? Die Firma übernehmen?«

Tyler schaltete den Fernseher aus, blieb jedoch noch lange sitzen, um die Konsequenzen der Nachricht zu überdenken. Er empfand tiefe Befriedigung. Normalerweise war es so, daß Söhne erfolgreich sein wollen, um den Vätern eine Freude zu machen. Tyler Stanford dagegen hatte immer nur nach Erfolg gelechzt, damit er stark genug würde, seinen Vater vernichten zu können.

Als Kind hatte er einen immer wiederkehrenden Traum gehabt: Er träumte, daß seinem Vater wegen Mordes an der Mutter der Prozeß gemacht wurde und daß er, Tyler, über ihn zu Gericht saß und das Urteil sprach: Ich verurteile dich zum Tode auf dem elektrischen Stuhl! Der Traum variierte manchmal in dem Sinne, daß er seinen Vater zum Tod durch den Strick oder durch Erschießen verurteilte. Und jetzt, so jubelte Tyler, war der Traum beinahe in Erfüllung gegangen.

Die Militärakademie, auf die Tyler geschickt wurde, lag in Mississippi; und die vier Jahre, die er dort verbringen mußte, waren für ihn die reinste Hölle. Tyler haßte die strenge Disziplin und Lebensweise. Während des ersten Schuljahres dachte er mehrfach ernsthaft daran, sich das Leben zu nehmen, und was ihn letztlich davon abhielt, war der Gedanke, daß er seinem Vater damit nur einen Gefallen täte. Er hat meine Mutter umgebracht. Da darf ich doch nicht zulassen, daß er mich auch noch umbringt.

Tyler gewann den Eindruck, daß die Lehrer mit ihm ganz besonders hart umsprangen, und er war überzeugt, daß er das seinem Vater zu verdanken hatte, aber er biß die Zähne zusammen und hielt durch.

Während der Ferien mußte er nach Hause, ebenso sein Bruder und seine Schwester, es blieb ihm gar keine andere Wahl. Die Begegnungen mit dem Vater wurden von Mal zu Mal unangenehmer, und unter den Geschwistern kam nie ein Gefühl von Zusammengehörigkeit, von Zuneigung oder Solidarität auf — solche Empfindungen hatte der Vater zerstört. Die drei waren einander fremd und warteten sehnlichst auf das Ende der Ferienzeit, damit sie das Weite suchen konnten.

Tyler wußte natürlich, daß sein Vater mehrfacher Milliardär war. Aber Woody, Kendall und er bekamen nur ein äußerst bescheidenes Taschengeld — das ihnen obendrein aus dem mütterlichen Nachlaß zufloß. Im Lauf der Jahre fragte sich Tyler, ob er später rechtmäßig Anspruch auf das Vermögen des Vaters erheben könnte. Daß Woody, Kendall und er von ihm betrogen wurden, stand für ihn außer Zweifel. Ich brauche einen Anwalt. Er hielt es jedoch für völlig ausgeschlossen, daß er jemanden fände, der bereit sein würde, gegen Harry Stanford gerichtliche Schritte zu unternehmen. Daher war sein nächster Gedanke konsequent: Ich will Rechtsanwalt werden.

Als Harry Stanford von den Berufsplänen seines Sohnes erfuhr, spottete er:»Anwalt willst du also werden? Soso. Da gehst du vermutlich von der Annahme aus, daß ich dir bei den Stanford Enterprises eine Stellung verschaffe. Mach dir da nur keine falschen Hoffnungen, denn ich würde dich nicht mal in die Nähe meines Konzerns kommen lassen!«

Nach dem Jurastudium hätte Tyler als Anwalt in Boston praktizieren können; im übrigen hätten sich gleich Dutzende von Firmen glücklich geschätzt, ihn in den Vorstand zu berufen. Tyler zog es jedoch vor, die Nähe des Vaters gänzlich zu meiden und weit weg zu ziehen.

Er beschloß, in Chicago eine eigene Kanzlei zu gründen, und anfangs tat er sich schwer, weil er es ablehnte, aus seinem Namen Kapital zu schlagen, und Klienten Mangelware blieben. Im übrigen war es so, daß in Chicago alles über die» Maschine «lief, die einflußreiche Lawyers Association of Cook County im inneren Stadtbezirk — eine Tatsache, die Tyler ebenso rasch begriff wie den Vorteil, den es einem jungen Anwalt bringen müßte, sich diesem Juristenverband anzuschließen. Dank dieser Verbindung fand er eine Stellung im Büro des Staatsanwalts, und es dauerte nicht lange, bis Tyler, der einen scharfen Verstand und eine rasche Auffassungsgabe besaß, sich dort unentbehrlich gemacht hatte. Bei den Prozessen, in denen er Anklage erhob — und zwar wegen aller möglichen Verbrechen —, gab es eine unverhältnismäßig hohe Quote an Verurteilungen.

Er machte rasch Karriere und wurde für seine unermüdliche Arbeit schließlich mit der Ernennung zum Bezirksrichter von Cook County belohnt, ein prestigeträchtiges Amt im Zentrum Chicagos. Er hatte es weit gebracht und fand, nun hätte der Vater endlich Grund, stolz auf ihn zu sein — ein Irrtum, wie sich herausstellte.

«Du? Ein Bezirksrichter? Gütiger Himmel — dir würde ich ja nicht mal das Amt des Schiedsrichters in einem Bäckerwettbewerb anvertrauen!«

Richter Tyler Stanford war ein kleingewachsener, leicht übergewichtiger, schmallippiger Mann mit stechenden Augen und berechnendem Blick. Er besaß weder das Charisma noch die beeindruckende äußere Erscheinung des Vaters. Sein herausragendstes Charakteristikum war eine tiefe, sonore

Stimme — ein optimales Instrument für Urteilsverkündungen.

Als Mensch war Tyler Stanford schüchtern und zurückhaltend; niemand wußte, was er wirklich dachte. Er wirkte wesentlich älter als vierzig und war völlig humorlos — ein Mangel, auf den er stolz war, weil er das Leben als zu ernst empfand, um Leichtfertigkeit gutheißen zu können. Er hatte nur ein einziges Hobby, das Schachspiel, dem er einmal wöchentlich in einem örtlichen Klub nachging und jedesmal siegte.

Bei seinen Kollegen genoß Tyler Stanford hohes Ansehen, und sein Rat war gesucht. Daß er zu den Stanfords gehörte, wußte eigentlich keiner, denn seinen Vater erwähnte er nie.

Die Amtsräume von Richter Stanford lagen im großen Justizpalast von Cook County an der Ecke von Twentysixth und California Street, ein vierzehnstöckiges Gebäude mit einem breiten Treppenaufgang. Es stand in einer unsicheren Gegend, daher auch der Hinweis am Eingang: gemäss ANORDNUNG DES GERICHTS HABEN SICH ALLE EINTRETENDEN PERSONEN EINER DURCHSUCHUNG zu STELLEN.

In diesem Gebäude verbrachte Tyler seine Tage, hier saß er bei Verhandlungen wegen Einbruch, Vergewaltigung, Schießereien, Drogenmißbrauch und Mord zu Gericht. Er fällte unerbittlich strenge Urteile und galt als Richter, der mit der Todesstrafe rasch bei der Hand war. Den ganzen Tag lang hörte er sich an, was Angeklagte zu ihrer Entschuldigung an mildernden Umständen geltend machten — bittere Armut, Kindheitstraumata aufgrund von Mißbrauch und Mißhandlung, zerrüttete Elternhäuser und so weiter und so fort —, und ließ nichts gelten. Ein Verbrechen war ein Verbrechen und mußte als Verbrechen bestraft werden. Im Hintergrund seines Bewußtseins aber stand bei ihm stets der Vater.

Bei seinen Kollegen war über Tyler Stanfords Privatleben wenig bekannt. Man wußte wohl, daß er eine schwierige Ehe hinter sich hatte und nach der Scheidung allein lebte — in einem Fünfzimmerhaus an der Kimbark Avenue in Hyde Park, das im Stil des achtzehnten Jahrhunderts erbaut worden war, in einem Wohnviertel mit vielen schönen alten Häusern, denn Hyde Park war von der verheerenden Feuersbrunst verschont geblieben, die 1871 Chicago verwüstet hatte. Tyler hatte unter den Nachbarn keine Freunde; er lebte dort praktisch wie ein Unbekannter. Dreimal in der Woche kam eine Haushälterin, die Einkäufe erledigte er selbst, auf jene methodische Art und Weise, die seine ganze Lebensführung regelte. An jedem Samstagmorgen fuhr er für die nötigen Besorgungen entweder zu dem kleinen nahe gelegenen Einkaufszentrum Harper Court, zu Mr. G's Fine Foods oder zu Medici's an der Fiftyseventh Street.

Zu offiziellen Anlässen kamen Tylers Kollegen nebst Ehefrauen, die natürlich spürten, daß er einsam war, und ihn mit alleinstehenden Freundinnen bekannt machen wollten oder zu einem Abendessen zu sich einluden. Er lehnte jedesmal ab.

«An diesem Abend bin ich beschäftigt.«

Es hatte den Anschein, daß er immer beschäftigt war, doch niemand wußte, was er an den Abenden eigentlich machte.

«Tyler interessiert sich eben nur für die Rechtsprechung und sonst für gar nichts«, erklärte ein Richter seiner Frau.»Außerdem ist es für ihn noch zu früh, sich wieder um Frauen zu kümmern. Er hat gerade erst eine Ehe hinter sich, und die soll ja ganz schrecklich gewesen sein.«

Und damit hatte der Kollege durchaus recht.

Nach der Scheidung hatte Tyler sich geschworen, nie mehr eine feste Bindung einzugehen, aber dann war ihm Lee begegnet, und auf einmal sah alles ganz anders aus. Lee war nicht nur schön, sondern einfühlsam und liebevoll — genau die Art von Mensch, mit dem Tyler für immer und ewig Zusammensein wollte. Tyler empfand eine tiefe Liebe für Lee.

Aber warum sollte Lee, ein erfolgreiches Model mit Scharen von Bewunderern, von denen die meisten überaus wohlhabend waren — und Lee schätzte die schönen Seiten des Lebens —, ausgerechnet ihn, Tyler, lieben?

Tyler hatte es für hoffnungslos gehalten, um Lee zu werben, und im Vergleich mit den anderen Männern hatte er sich bei Lee keine Chancen ausgerechnet. Doch nun, nach dem Tod des Vaters, könnte sich über Nacht alles ändern. Er könnte plötzlich reicher sein, als er es sich in seinen wildesten Träumen ausgemalt hatte.

Jetzt war er in der Lage, Lee die Welt zu Füßen zu legen.

Tyler begab sich in das Amtszimmer des Gerichtspräsidenten.»Es tut mir leid, Keith, aber ich muß für ein paar Tage nach Boston verreisen. Familienangelegenheiten. Hättest du jemanden, der meine anstehenden Fälle übernehmen könnte?«

«Selbstverständlich. Ich werde es in die Wege leiten«, erwiderte der Gerichtspräsident.

«Ich danke dir.«

Am Nachmittag des gleichen Tages war Richter Stanford bereits nach Boston unterwegs. Während des Flugs fielen ihm die Worte ein, die ihm der Vater damals, an jenem furchtbaren Tag, an den Kopf geworfen hatte:»Ich weiß um dein schmutziges Geheimnis.«