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Kapitel 9

In Paris goß es in Strömen, ein warmer Juliregen, der die Fußgänger schutzsuchend in die Hauseingänge trieb, unter Dachvorsprünge und Bäume, oder sie hielten verzweifelt nach einem Taxi Ausschau. Im Vorführungssaal des großen grauen Gebäudes an einer Ecke der Rue Faubourg St-Honore herrschte Panik. Ein Dutzend halbnackter Models rannte beinahe hysterisch durcheinander, während Platzanweiser unten im Saal noch ein paar Stühle aufstellten und Schreiner letzte Dekorationen festhämmerten. Alle schrien und gestikulierten gleichzeitig, und der Lärm war ohrenbetäubend.

Im Zentrum des Sturms befand sich die Chefin persönlich, Kendall Stanford Renaud, und gab sich redlich Mühe, Ordnung in das Chaos zu bringen. Die Modenschau sollte in vier Stunden beginnen, und es hatte ganz den Anschein, als ob an diesem Tag gar nichts klappen wollte.

Eine Katastrophe: John Fairfield aus W kam völlig unerwartet nach Paris, und es gab für ihn keinen Sitzplatz.

Eine Tragödie: Die Lautsprecheranlage funktionierte nicht.

Ein Desaster: Ein Topmodel war erkrankt.

Ein Hilferuf: Hinter den Kulissen lagen zwei Maskenbildner im Streit und waren mit ihrer Arbeit im Verzug.

Eine Kalamität: An den engen, langen Röcken rissen die Nähte. Bei allen!

Mit anderen Worten, dachte Kendall sarkastisch, es ist alles ganz normal, wie immer.

Man hätte Kendall Stanford Renaud selbst für ein Model halten können; und sie hatte ja auch als Model angefangen. Vom goldblonden Haarknoten bis zu den Chanel-Pumps strahlte sie sorgsam arrangierte Eleganz aus. Alles an ihr unterstrich einen gepflegten Chic — der Winkel der Arme, die Farbschattierung des Nagellacks, das Timbre ihres Lachens. Ohne sorgfältiges Make-up hatte sie ein Alltagsgesicht; Kendall gab sich jedoch alle Mühe, daß sie niemand ungeschminkt sah. Sie war überall gleichzeitig.

«Wer hat den Laufsteg beleuchtet, Ray Charles?«

«Ich hätte gern einen blauen Hintergrund…«

«Man kann das Futter des Kleides sehen. Festnähen!«

«Ich mag es nicht, daß Models sich im Gang das Haar und Make-up zurechtmachen. Lulu soll ihr einen Ankleideraum suchen.«

Der Manager kam herbeigerannt:»Kendall! Dreißig Minuten — das ist zu lang! Viel zu lang! Die Schau darf höchstens fünfundzwanzig Minuten dauern…«

Sie unterbrach ihre Tätigkeit.»Was schlagen Sie zur Lösung des Problems vor, Scott?«

«Wir könnten einige Kleider herausnehmen und…«

«Nein. Ich werde veranlassen, daß die Models sich rascher bewegen.«

Sie hörte, aus anderer Richtung, schon wieder ihren Namen und drehte sich um.

«Kendall — Pia ist nirgends zu finden. Soll Tami die holzkohlengraue Jacke zu den Hosen übernehmen?«

«Nein, geben Sie sie Dana. Tami soll den Katzenanzug mit der Tunika präsentieren.«

«Und wer führt das dunkelgraue Jerseykleid vor?«

«Monique. Und sorgen Sie dafür, daß Monique dunkelgraue Strümpfe trägt.«

Kendall schaute zu einer Tafel mit Polaroidfotos von Models in den verschiedenen Entwürfen, die die genaue Reihenfolge der Präsentation vorgab. Sie betrachtete die Reihenfolge mit einem kritischen Blick.»Das müssen wir noch ändern. Die beigefarbene Strickjacke zeigen wir zu Beginn. Danach die Separates, gefolgt von dem trägerlosen Seidenpullover, anschließend das Abendkleid aus Taft, dann die Straßenkleider mit den Mänteln…«

In dem Moment stürzten zwei Assistentinnen auf sie zu.

«Kendall, wir streiten uns wegen der Sitzordnung. Was wünschen Sie — sollen die Einzelhändler zusammensitzen oder unter die Berühmtheiten verteilt werden?«

Da meldete sich die zweite Assistentin zu Wort.»Aber wir könnten unsere berühmten Gäste auch mit den Leuten von der Presse zusammensetzen.«

Kendall hörte kaum mehr zu. Sie war ziemlich erschöpft, weil sie die letzten zwei Nächte durchgearbeitet hatte, um ein letztes Mal alle Details zu überprüfen.»Macht das unter euch aus«, sagte sie.

Ihr Blick wanderte durch den Saal, beobachtete das geschäftige Treiben, und sie dachte an die Modenschau, die gleich beginnen sollte, und an die Berühmtheiten aus aller Welt, die sich einfinden würden, um ihren Kreationen zu applaudieren. Eigentlich bin ich meinem Vater Dank schuldig, überlegte sie. Wenn er mich nicht mit seiner Bemerkung provoziert hätte, daß ich nie und nimmer Erfolg haben würde

Sie hatte schon immer Modedesignerin werden wollen, und bereits als kleines Mädchen hatte sie ein sicheres Gespür für Stil und Geschmack gehabt und ihre Puppen stets nach der neuesten Mode gekleidet; und als sie der Mutter ihre Kreationen vorführte, hatte die Mutter erklärt:»Du bist wirklich sehr begabt, mein Liebling. Du wirst einmal eine große Modeschöpferin.«

Davon war Kendall felsenfest überzeugt gewesen.

In der Schule besuchte Kendall Kurse, um zu lernen, wie man skizziert, Muster entwirft, perspektivisch zeichnet und Farbtöne aufeinander abstimmt.

«Du fängst am besten damit an«, empfahlen ihr die Lehrer,»daß du als Model arbeitest. Auf die Weise lernst du nämlich alle wichtigen Modedesigner kennen, und wenn du die Augen offenhältst, kannst du von ihnen eine Menge lernen.«

Als Kendall dem Vater von ihren Berufswünschen und — träumen erzählte, musterte er sie verächtlich von oben bis unten und kommentierte:»Du ein Model? Das soll wohl ein Witz sein!«

Nach Abschluß der Internatsschule kehrte Kendall nach Rose Hill zurück. Vater braucht mich, dachte sie, ich muß ihm den Haushalt führen. Es gab zwar ein Dutzend Bedienstete, doch war eigentlich niemand für alles zuständig; und da Harry Stanford viel reiste, war das Personal sich selbst überlassen geblieben. Kendall wollte ein bißchen Ordnung in den Haushalt bringen, koordinierte die Aufgaben und Pflichten, und bei gesellschaftlichen Anlässen übernahm sie die Rolle der Gastgeberin. Sie tat alles, um ihrem Vater das Leben so angenehm wie möglich zu machen. Sie sehnte sich nach seiner Anerkennung, und er überhäufte sie mit Kritik.

«Wer hat diesen inkompetenten Koch angestellt? Setz ihn sofort vor die Tür…«

«Das neue Geschirr, das du gekauft hast, gefällt mir nicht. Wo bleibt dein guter Geschmack…?«

«Wer hat dir erlaubt, mein Schlafzimmer neu streichen zu lassen? In meinem Schlafzimmer hast du nichts zu suchen…«

Was immer Kendall auch tat — es war nie gut genug.

Die erdrückende, herrschsüchtige Grausamkeit des Vaters trieb sie schließlich aus dem Haus. Lieblos war es dort ja von jeher zugegangen, denn für seine Kinder hatte der Vater noch nie Zeit und Aufmerksamkeit gehabt, sofern es nicht gerade darum ging, sie zu strafen und zu disziplinieren. Eines Tages hörte Kendall zufällig, wie ihr Vater einem Gast gegenüber bemerkte:»Meine Tochter hat ein richtiges Pferdegesicht. Bei der Visage wird sie einen Haufen Geld brauchen, um sich irgendeinen widerwärtigen Schnorrer anzulachen.«

Das hatte das Faß zum Überlaufen gebracht. Am darauffolgenden Tag war Kendall nach New York abgereist.

In ihrem Hotelzimmer hatte Kendall sich Gedanken gemacht. Also gut, ich bin jetzt in New York. Und was ist der nächste Schritt auf meinem Weg, um Designerin zu werden? Wie kriege ich einen Fuß in die Modebranche? Wie kann ich es dazu bringen, daß überhaupt jemand von mir Notiz nimmt? Und da war ihr wieder der Rat ihrer Lehrerin eingefallen. Du fängst am besten damit an, daß du als Model arbeitest.

Am nächsten Morgen studierte Kendall das Branchenverzeichnis, schrieb sich einige Model agenturen und ihre Adressen auf und machte sich auf den Weg. Ich muß offen und ehrlich sein, sagte sich Kendall. Ich werde ihnen sofort gestehen, daß ich nur vorübergehend bei ihnen arbeiten kann, bis ich als Designerin anfangen werde.

Sie betrat das Büro der Agentur, die auf ihrer Liste an erster Stelle stand. Dort saß eine Frau mittleren Alters am Empfang.»Kann ich Ihnen helfen?«fragte sie.

«Ja. Ich möchte Model werden.«

«Ich auch, Schätzchen. Schlagen Sie sich's aus dem Kopf.«

«Wie bitte?«

«Sie sind zu groß.«

Kendall straffte sich.»Ich möchte gern mit der Person sprechen, die hier die Verantwortung hat.«

«Sie steht vor Ihnen. Ich bin die Eigentümerin des Ladens.«

Die nächsten Termine verliefen keineswegs erfolgreicher.

«Sie sind zu klein.«

«Zu mager.«

«Zu dick.«

«Zu jung.«»Zu alt.«

«Der falsche Typ.«

Am Ende der Woche wollte Kendall fast verzweifeln, denn auf ihrer Liste mit Agenturen stand nur noch ein einziger Name.

Bei Paramount Models, der Spitzenagentur in Manhattan, war die Rezeption nicht besetzt.

Aus einem Büroraum drang eine Stimme.»Am kommenden Montag wäre sie verfügbar, aber nur für diesen einen Tag. Sie ist für die folgenden drei Wochen fest gebucht.«

Kendall schlich zur Tür und lugte in den Raum — das Telefongespräch wurde von einer Dame im maßgeschneiderten Kostüm geführt.

«Gut. Ich werde sehen, was sich machen läßt. «Roxanne Marinack legte auf und hob den Blick.»Bedaure, Ihr Typ ist bei uns zur Zeit nicht gefragt.«

«Ich kann aber jeden Typ verkörpern, den Sie brauchen«, erwiderte Kendall mit dem Mut der Verzweiflung.»Ich kann größer oder kleiner sein, als ich bin. Jünger oder älter, dünner…«

Roxanne hob die Hand.»Aufhören!«

«Ich will doch nur eine Chance. Ich brauche eine Chance…«

Roxanne wartete. Die junge Frau hatte so etwas positiv Eindringliches an sich — und eine exquisite Figur. Nein, ausgesprochen schön war sie wirklich nicht, doch mit dem richtigen Make-up…»Haben Sie irgendwelche einschlägige Erfahrung?«

«Ja, ich habe mein Leben lang Kleider getragen.«

Da mußte Roxanne lauthals lachen.»Na schön, dann zeigen Sie mir mal Ihre Mappe.«

Kendall schaute sie verständnislos an.»Meine Mappe?«

Roxanne seufzte nachsichtig.»Mein liebes Kind — kein Model, das etwas auf sich hält, läuft ohne ein Portfolio herum.

Die Fotomappe ist Ihre Bibel. Sie enthält all das, woran Ihre prospektiven Kunden sich ein erstes Bild machen. «Roxanne stieß erneut einen Seufzer aus.»Besorgen Sie sich zwei Porträtaufnahmen — eines mit lächelnder, das andere mit ernster Miene. Und jetzt drehen Sie sich bitte einmal um.«

«In Ordnung. «Kendall drehte sich im Kreis.

«Langsamer. «Roxanne musterte sie kritisch.»Gar nicht so übel. Ich brauche ein Foto von Ihnen im Badeanzug oder in Unterwäsche — was immer Ihrer Figur mehr schmeichelt.«

«Ich bring Ihnen beide«, versprach Kendall beflissen.

Der Eifer entlockte Roxanne ein freundliches Lächeln.»Fein. Sie sind… ähm… irgendwie anders, aber wir könnten es ja mal versuchen.«

«Vielen Dank.«

«Danken Sie mir nicht zu früh. Es sieht leichter aus, als es in Wirklichkeit ist, als Model für Modezeitschriften zu arbeiten. Das ist ein harter Job.«

«Ich bin bereit, an mir zu arbeiten.«

«Wir werden sehen. Ich will es riskieren und nehme Sie zu einigen Schautreffs mit.«

«Verzeihung?«

«Auf einem Schautreff informieren sich unsere Kunden über alle neuen Models. Dort zeigen sich übrigens auch Models von anderen Agenturen, und da geht es so ähnlich zu wie auf einem Viehmarkt.«

«Damit werd’ ich schon fertig.«

So hatte alles angefangen. Kendall erschien auf einem guten Dutzend Schautreffs, bevor ein Designer Interesse bekundete, sie zum Vorführen von Kleidern einzusetzen, und bei dieser Gelegenheit war sie dermaßen verspannt, daß sie sich beinahe durch zu vieles Reden alles wieder verdarb.

«Ich finde Ihre Kreationen wirklich schön, ich glaube, sie würden mir auch gut stehen, das heißt, ich meine natürlich, sie würden allen Frauen gut stehen, die Entwürfe sind ja so herrlich, ich glaube aber, daß sie mir ganz besonders gut stehen würden. «Sie war so nervös, daß sie richtig ins Stottern kam.

Der Designer nickte mitfühlend.»Es ist Ihr erster Job, nicht wahr?«

«Ja, Sir.«

Er hatte tatsächlich gelächelt.»Gut. Ich werde es mit Ihnen versuchen. Wie heißen Sie noch?«

«Kendall Stanford. «Sie fragte sich, ob er wohl eine Verbindung zwischen ihr und den Stanfords erkennen würde; doch dazu bestand selbstverständlich keinerlei Anlaß.

Roxanne hatte recht gehabt: Das Leben eines Models war unglaublich hart. Kendall mußte damit leben lernen, daß sie bei ihren Vorstellungsterminen immer wieder abgelehnt wurde, daß ein Schautreff nach dem anderen ergebnislos verlief, daß sie wochenlang arbeitslos war. Und wenn sie Aufträge hatte, so war sie bereits morgens um sechs Uhr hergerichtet, absolvierte eine Fotoserie nach der anderen und war oft genug erst gegen Mitternacht wieder zu Hause.

Als sie nach einem solch langen Tag in der Garderobe in den Spiegel schaute, stöhnte sie auf:»Morgen werd’ ich nicht arbeiten können. Seht doch nur meine verschwollenen Augen!«

«Leg dir Gurkenscheiben auf die Augen!«riet eine Kollegin.»Oder du kannst auch Kamilleteebeutel in heißes Wasser tun, sie abkühlen lassen und anschließend für ein Viertelstündchen auf die Augen legen.«

Und wirklich — am nächsten Morgen sahen die Augen wieder frisch aus.

Kendall beneidete die Models, die ständig angefordert wurden. Sie konnte hören, wie Roxanne die Buchungen arrangierte.»Ursprünglich hatte ich Scaasi einen zweitrangigen Anspruch auf Michelle eingeräumt. Rufen Sie Scaasi an, und teilen Sie ihm mit, daß Michelle für den Termin jetzt definitiv verfügbar ist, das heißt, ich biete ihm die Möglichkeit, sie zu buchen…«

Kendall begriff sehr rasch, daß sie an den Kleidern, die sie vorführte, niemals Kritik üben durfte. Als sie einige Spitzenfotografen der Branche kennengelernt hatte, ließ sie für ihr Portfolio eine Fotoserie von sich machen. Sie kaufte sich eine Spezialtasche für Fotomodelle, die optimalen Platz für ihre Berufsausrüstung bot — Kleidung, Make-up, Manikürset und Schmuck. Sie fand heraus, wie man das Haar fönen muß, damit es mehr Volumen bekommt; und daß man dem Haar mehr Lockenpracht verleiht, wenn man angewärmte Wickler benutzt.

Es gab unendlich viel zu lernen. Die Fotografen — bei ihnen erfreute sie sich größter Beliebtheit — waren besonders hilfreich. Einmal nahm sie einer beiseite, um ihr einen Rat zu geben:»Kendall — reservieren Sie Ihr Lächeln stets für die letzte Aufnahme. Auf die Weise reduzieren Sie nämlich die Faltenbildung der Mundpartie.«

Kendall wurde zunehmend beliebter. Sie war kein typisches Fotomodell, kein arrogant-gestyltes Schönheitsideal wie die anderen, sie bot mehr — eine anmutige Eleganz.

«Sie hat Klasse«, bemerkte ein Werbeagent.

Er brachte es auf den Punkt.

Im übrigen war Kendall einsam. Sie hatte zwar immer wieder mal ein Rendezvous, fand jedoch niemanden, der ihr etwas bedeutete. Sie arbeitete unermüdlich und zielbewußt, litt aber unter dem Eindruck, daß sie ihrem eigentlichen Ziel nicht näher war als zur Zeit ihrer Ankunft in New York. Ich muß einen Weg finden, um mit den Topdesignern in Kontakt zu kommen, sagte sie sich.

«Ihre nächsten vier Wochen sind voll ausgebucht, Kendall«,

erklärte Roxanne.»Sie werden allseits geschätzt.«

«Roxanne…«

«Ja, Kendall?«

«Ich möchte nicht länger als Fotomodell arbeiten.«

Roxanne starrte sie ungläubig an.»Was sagen Sie da?«

«Ich möchte auf dem Laufsteg arbeiten.«

Dem Laufsteg galt der Ehrgeiz der meisten Models, denn bei Modeschauen Kleider vorzuführen — das war nicht nur die schönste, sondern auch die lukrativste Aufgabe, die es für ein Model gibt.

Roxanne schien gar nicht begeistert.»Es ist schier unmöglich, da Fuß zu fassen und…«

«Ich werde es schaffen.«

Roxanne musterte sie mit einem forschenden Blick.»Sie sind wirklich fest entschlossen, nicht wahr?«

«Ja.«

Roxanne nickte.»Also gut. Wenn es Ihnen damit ernst ist, müssen Sie zunächst einmal auf einem Balken laufen lernen.«

«Wie bitte!?«

Roxanne erklärte es ihr.

Am gleichen Nachmittag kaufte Kendall ein schmales, zwei Meter langes Holzbrett, das sie zuerst mit Sandpapier glättete und dann auf den Fußboden legte. Die ersten Gehversuche auf dem Brett mißlangen; sie fiel herunter. Es wird zwar nicht leicht sein, sagte sich Kendall, aber ich krieg das schon hin.

Sie stand Morgen für Morgen noch früher auf, um sich im Laufen — auf den Fußballen — auf dem schmalen Balken zu üben. Führe mit dem Becken. Spüre es mit den Zehen. Senke die Fersen. Und dank eines systematischen Trainings konnte sie ihr Gleichgewicht von Tag zu Tag besser halten.

Vor einem hohen Spiegel lief sie zu Musik auf dem Balken hin und her. Sie lernte, mit einem Buch auf dem Kopf zu gehen, steigerte ihre Sicherheit, indem sie beim Üben immer wieder Sportschuhe und Shorts gegen hochhackige Schuhe und Abendkleid tauschte.

Als Kendall es endlich geschafft zu haben glaubte, sprach sie erneut bei Roxanne vor.»Ich riskiere meinen Hals«, sagte Roxanne.»Aber Ungaro sucht ein neues Laufstegmodel, und ich habe Sie empfohlen. Er wird Ihnen eine Chance geben.«

Kendall war völlig aus dem Häuschen. Ungaro! Einer der berühmtesten Modedesigner der Welt!

Kendall traf eine Woche später in Ungaros Atelier ein und gab sich Mühe, einen möglichst lockeren Eindruck zu machen.

Ungaro reichte ihr das erste Teil, das sie auf dem Laufsteg vorführen sollte.»Viel Glück.«

«Danke.«

Als sie dann den Laufsteg betrat, war es ganz so, als ob sie nie etwas anderes gemacht hätte, und selbst die Kolleginnen waren beeindruckt. Die Modenschau wurde für Kendall ein Bombenerfolg, jetzt zählte sie zur Elite, und nach und nach arbeitete sie für viele Berühmtheiten der Branche — für Yves Saint Laurent, Halston, Christian Dior, Donna Karan, Calvin Klein, Ralph Lauren und St. John. Kendall war sehr gefragt und ständig unterwegs. Die Modenschauen der Pariser Haute Couture fanden in den Monaten Januar und Juli statt, in Mailand fiel die Hochsaison in die Monate März, April, Mai und Juni, in Tokio lagen die Höhepunkte im April und Oktober. Für die vielbeschäftigte Kendall wurde das Leben hektisch, doch sie genoß es jede Minute.

Kendall war fleißig, und sie lernte unentwegt dazu. Da sie als Model die Entwürfe großer Modedesigner trug, nutzte sie die Gelegenheit, über Verbesserungen nachzudenken, die sie — wenn sie mal Designerin wäre — durchführen könnte. Sie bekam ein Auge dafür, wie die Kleidung dem Körper angepaßt werden mußte, wie die Stoffe sich bewegten und im Körperrhythmus mitschwangen. Sie vervollständigte ihre Kenntnisse über Schnitte, Stoffe und beim Schneidern; sie entwickelte ein Gespür dafür, welche Körperteile Frauen verbergen, welche sie hervorheben wollten. Sie fertigte in ihrer Wohnung eigene Entwürfe an; und ihr fielen unentwegt neue Ideen ein. Bis sie eines schönen Tages eine Mustermappe mit eigenen Entwürfen zusammenstellte, unter den Arm klemmte und damit zum Chefeinkäufer bei I. Magnin's ging, der sich stark beeindruckt zeigte und sich erkundigte:»Von wem stammen diese Entwürfe?«

«Von mir.«

«Die sind gut. Sogar sehr gut.«

Es dauerte keine zwei Wochen, und Kendall erhielt eine Anstellung als Assistentin bei Donna Karan; und so lernte sie die geschäftlichen Aspekte der Bekleidungsindustrie kennen. An den Abenden und Wochenenden aber entwarf sie weiterhin Modelle, und ein Jahr später hatte sie die erste eigene Modenschau — eine Katastrophe.

Die Entwürfe waren zu gewöhnlich, und niemand zeigte Interesse. Als Kendall eine zweite Modenschau veranstaltete, kam niemand mehr.

Ich bin in der falschen Branche, dachte Kendall.

«Du wirst einmal eine berühmte Modedesignerin.«

Was mache ich falsch? grübelte Kendall.

Und irgendwann, es war mitten in der Nacht, und sie wälzte sich schlaflos im Bett, kam ihr dann die rettende Idee: Ich denke bei meinen Entwürfen immer an die Models, die die Sachen vorführen. Da liegt der Fehler. Ich muß an echte Frauen denken, an Frauen, die in einem gewöhnlichen Beruf tätig sind und neben ihrem Beruf ein normales Familienleben führen. Schön, aber bequem müssen die Kleider sein. Schick, aber praktisch.

Nach einem weiteren Jahr des Lernens und harten Arbeitens präsentierte Kendall ihre dritte Modenschau, die auf Anhieb

Nach Rose Hill fuhr Kendall nur selten zu Besuch. Es war jedesmal ein schreckliches Erlebnis, denn ihr Vater hatte sich nicht verändert, er war eher noch unerträglicher geworden.

«Hast dir wohl noch immer keinen Mann angeln können, wie? Wirst du wahrscheinlich sowieso nie schaffen.«

Auf einem Wohltätigkeitsball lernte sie Marc Renaud kennen, der in der internationalen Abteilung eines New Yorker Börsenmaklers Devisengeschäfte tätigte. Er war fünf Jahre jünger als Kendall, ein hochgewachsener, schlanker Franzose, höflich und liebenswürdig — und Kendall war sofort von ihm angetan. Er lud sie für den nächsten Abend zum Dinner ein, und Kendall ging noch in der gleichen Nacht mit ihm ins Bett. Danach waren sie jeden Abend zusammen.

«Kendall«, sagte Marc eines Abends,»weißt du eigentlich, daß ich mich heillos in dich verliebt habe?«

«Ich habe mein ganzes Leben lang nach dir Ausschau gehalten, Marc«, erwiderte sie leise.

«Es gibt da nur ein Problem: Du bist sehr erfolgreich, und ich verdiene längst nicht soviel wie du. Vielleicht in der Zukunft…«

Kendall legte ihm einen Finger auf die Lippen.»Still. Du hast mir mehr gegeben, als ich mir je erhofft habe.«

An Weihnachten reiste Kendall in Begleitung von Marc nach Rose Hill, um ihn dem Vater vorzustellen.

«Den willst du heiraten?«tobte Harry Stanford.»Er ist ein Niemand und heiratet dich nur wegen des Geldes, das du seiner Meinung nach einmal erben wirst.«

Falls Kendall wirklich noch einen Grund für eine Ehe mit Marc benötigt hätte — jetzt hatte sie ihn. Die beiden heirateten prompt am folgenden Tag in Connecticut, und die Ehe mit

Marc schenkte Kendall ein Gefühl persönlichen Glücks, wie sie es vorher noch nie gekannt hatte.

«Du mußt dich nicht von deinem Vater einschüchtern lassen«, hatte Marc ihr klargemacht.»Er hat seinen Reichtum immer als Waffe gegen dich und deine Geschwister gebraucht. Wir beide sind aber nicht auf sein Geld angewiesen. «Dies war eine Aussage, derentwegen Kendall Marc nur noch inniger liebte.

Marc war ein zauberhafter Ehemann — freundlich, rücksichtsvoll, fürsorglich. Ich hab alles, was ich mir nur wünschen kann, dachte Kendall. Leid und Kummer der Vergangenheit sind vorbei. Sie war — trotz ihres Vaters — erfolgreich geworden, und in ein paar Stunden würde sie im Zentrum der Aufmerksamkeit der Modewelt stehen.

Es hatte aufgehört zu regnen. Kendall empfand es als gutes Omen.

Die Modenschau wurde ein überwältigender Erfolg, und als Kendall zum Schluß im Blitzlichtgewitter auf den Laufsteg kam und sich vor ihren Gästen verneigte, wurde sie mit stehenden Ovationen gefeiert. Kendall hätte sich nur gewünscht, daß Marc bei ihr in Paris gewesen wäre, um ihren Triumph mitzuerleben; aber seine Firma hatte ihm nicht einen freien Tag geben wollen.

Als das Publikum gegangen war, ging Kendall in einem Zustand der Euphorie in ihr Büro.»Hier, ein Brief für Sie. Er wurde durch Boten zugestellt.«

Beim Anblick des braunen Kuverts lief es Kendall plötzlich kalt über den Rücken, und sie hätte ihn nicht öffnen müssen, um seinen Inhalt zu erfahren. Sie las:

Sehr geehrte Mrs. Renaud,

ich bedaure, Ihnen mitteilen zu müssen, daß der Verband

zum Schutz der Tiere in freier Wildbahn erneut auf Unterstützung angewiesen ist. Zur Deckung unserer laufenden Unkosten benötigen wir unverzüglich $ 100.000. Diese Summe sollte per telegrafischer Überweisung eingehen auf das Konto Nummer 804072 — A beim Schweizer Kreditverein in Zürich.

Der Brief war ohne Unterschrift.

Kendall saß da wie vom Blitz getroffen und konnte den Blick nicht von dem Stück Papier lösen. Das wird nie mehr ein Ende nehmen, diese Erpressung wird nie mehr aufhören.

In dem Moment kam eine zweite Assistentin zu ihr ins Büro gestürzt.»Es tut mir ja so leid, Kendall, aber ich habe schlechte Nachrichten.«

Noch mehr schlechte Nachrichten halte ich nicht mehr aus, dachte Kendall müde.»Was… Was ist denn geschehen?«

«Es war in den Fernsehnachrichten. Ihr Vater… Er ist tot, er ist ertrunken.«

Es dauerte eine Weile, bis Kendall es fassen konnte, dann schoß ihr als erstes der Gedanke durch den Sinn: Was hätte ihn wohl mit größerem Stolz erfüllt? Mein beruflicher Erfolg von vorhin oder die Tatsache, daß ich eine Mörderin bin?