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Kapitel 16

Ursula hatte die Zeit von Erich Schwabes Besuch bei Karlheinz

Petsch genützt, um mit Erichs Mutter die unmögliche Situation durchzusprechen. In den vergangenen drei Tagen hatten sie keine Gelegenheit dazu gehabt. Erich war immer um sie gewesen. Nach den Monaten der Trennung war es, als wolle er keine Minute mehr verschenken, in der er Ursula oder seine Mutter nicht sah.

Noch in der Nacht seiner Rückkehr hatte Frau Schwabe ihren Sohn mit dem erfreut, was er sich über ein Jahr lang immer als >Heim-kehrmahlzeit< gewünscht hatte. Sie hatte Kartoffeln geschält und gerieben und ihm einige Pfannen voll Reibekuchen gebacken. Dazu gab es Apfelmus, aus den Äpfeln gekocht, die Petsch im Herbst aus dem Vorgebirge mitgebracht hatte.

«Es war vor Weihnachten«, sagte Frau Hedwig Schwabe und schob eine neue Pfanne Reibekuchen auf Erichs Teller,»ich war bei dir in Bernegg, da war ein neuer Angriff auf Köln, und dieser Petsch suchte Schutz hier im Keller. Damals war er noch Feldwebel und auf Urlaub. Tja, und seitdem kennt er uns. Er hat viel für Ursula und mich getan.«

Erich Schwabe nickte und legte den Arm um Uschis schmale Schulter.»Es war gut, daß ihr nicht allein wart«, sagte er glücklich.»Ich will in den nächsten Tagen mit ihm reden und ihm sagen, daß sich nichts geändert hat. Wir werden jetzt das Haus zusammen aufbauen.«

Das war es, was Ursula nun herausschrie, kaum daß Schwabe den Keller verlassen hatte.

«Es geht nicht, Mutter. Es geht einfach nicht. Einmal wird er es erfahren. Karlheinz muß in eine andere Gegend ziehen, es gibt doch soviel Möglichkeiten für ihn.«

«Wir können ihn nicht dazu zwingen.«

«Aber bitten! Anflehen! Erich darf es nie, nie erfahren!«

Frau Hedwig Schwabe sah starr auf ihre verarbeiteten, faltigen Hände, sie wußte, welchen Schock es auslösen würde, wenn die Wahrheit an den Tag käme. Und sie selbst hatte keine Entschuldigung für die Monate, in denen sie die Gegenwart Petschs ertragen hatte. Sie hatte zwar aufgepaßt, und sie wußte, daß zwischen Ursula und ihm nichts mehr gewesen war, nur noch die Erinnerung an das, was aus der Angst des Alleinseins geboren worden war. Aber verstand das ein Mann wie Erich? Als dann Petsch immer wieder kam, trotz viermaligen Hinauswurfs, und als er anfing, die Steine zu klopfen und die Trümmer zu planieren, als die erste neue Mauer stand — da hatte auch Hedwig Schwabe ihren Widerstand aufgegeben. Außerdem hatte sie Hunger, und Petsch brachte jeden Tag etwas in den Keller: Butter, Eier, Schinken, Schmalz, Kartoffeln, Brotmarken, Kuchen, frisches Gemüse, einmal einen Sack mit zehn Köpfen Blumenkohl, Sauerkraut, rote Rüben und einen Sack mit Rohzucker. Und jedesmal hatte Frau Schwabe gesagt:»Nehmen Sie es mit — wir sind nicht käuflich!«Und Petsch hatte ebenso regelmäßig die Dinge einfach im Keller liegen lassen und gewußt, daß Frau Schwabe nach zwei Stunden resignierend die Schultern heben und zu kochen und einzumachen beginnen würde.

Schließlich war es zur Gewohnheit geworden. Petsch sorgte für Ursula und Frau Schwabe wie ein Sohn und Ehemann, er aß mit ihnen, verbrachte seine Freizeit mit ihnen, wanderte sonntags mit ihnen in den Grüngürtel und war bei Schwabes das, was man >zu Haus< nennt.

Der Gedanke, was werden würde, wenn Erich Schwabe zurückkehrte, stand als große Frage vor ihnen in all den Monaten. Aber niemand sprach ihn aus. Nur einmal sagte Petsch zu Ursula:»Ich werde das Kind wie mein eigenes lieben. «Und Ursula hatte geantwortet:»Ich will davon nichts mehr hören. Ich liebe Erich. Nur Erich — damit du's weißt!«

Nun war Erich Schwabe zurückgekommen, ein Mensch ohne Gesicht, dessen Zukunft nur auf Liebe und Vertrauen baute, ein Mann, so voll kindlicher Freude, daß einem bei seinem Anblick das Herz stockte, wenn man darüber nachdachte, was man ihm verschwieg.

«Erich wird mit Karlheinz Freundschaft schließen«, sagte Hedwig Schwabe langsam.»Was gewesen ist — wir sollten es alle vergessen, Uschi. Man kann es nicht ungeschehen machen, aber man kann die Erinnerung daran in sich abtöten.«

«Nicht, wenn ich ihn täglich sehe!«rief Ursula verzweifelt.

Frau Schwabe hob hilflos die Hände.»Was sollen wir denn sonst anderes tun?«

«Wenn ich es ihm sage?«

«Nicht jetzt. Vielleicht später. Er ist so glücklich.«

«Wir werden ein Kind haben, Mutter. Um des Kindes willen wird Erich.«

Frau Schwabe senkte den Kopf und schlug beide Hände vor das

Gesicht.»Ich weiß es nicht«, stöhnte sie.»Es ist so furchtbar. Auch ich habe mich falsch benommen. Ich habe ja auch Schuld. Ich weiß wirklich nicht, was ich tun soll.«

«Es gibt nur eine Möglichkeit: Karlheinz muß wegziehen!«

«Aber er wird nicht gehen.«

«Ich werde ihn zwingen.«

«Wie?«

«Ich werde ihm sagen, daß ich Erich alles beichten werde.«

«Darauf wartet er ja nur.«

«Dann werde ich ihn mit einem Stein erschlagen!«schrie Ursula.»Ich lasse mir mein Glück nicht nehmen. «Und plötzlich weinte sie und lehnte den Kopf an die feuchte Kellerwand.»Was habe ich denn getan?«schluchzte sie.»Es war doch nur aus Verzweiflung. Ich wußte ja gar nicht, was ich tat. Ich wollte nur etwas Wärme haben, das Gefühl, nicht allein zu sein — und du, du bist schuld daran!«

«Ich?«Frau Schwabe sprang auf.

«Ja, du! Warum hast du mich nicht mit nach Bernegg genommen? Kein Vertrauen hattest du zu mir. Allein wolltest du zu Weihnachten mit Erich sein! Egoistisch warst du — nur dich und deinen Sohn hast du gesehen, und ich war ein Nichts in diesem Augenblick. Ein in die Ecke gekehrter Dreck. Ich habe das gefühlt, und ich hatte Angst — vor den Nächten, vor den Tagen, vor der Zukunft und vor euch. Und da ist es geschehen!«

Sie warf sich auf das Bett und vergrub das Gesicht in das Kissen. Hochaufgerichtet, steif, stand Hedwig Schwabe im Keller. Die Anklage Ursulas war ihr geheimes, nun laut gewordenes Schuldbekenntnis. Es gab keine Erwiderung mehr darauf.

«Es ist gut«, sagte Frau Schwabe mit fester Stimme.»Ich werde gehen. Ich werde Platz machen. Eine alte Frau mehr oder weniger — was spielt das für eine Rolle? Aber ihr seid jung, ihr habt das Leben noch vor euch, und das Kind braucht euch, so wie Erich einmal mich gebraucht hat. Ich gehe gleich.«

«Das ist doch Dummheit, Mutter.«

«Nein, nein. Wenn es Erich einmal erfährt — ich nehme die Schuld auf mich. Ich bin eine alte Frau, mir wird man verzeihen. Und wenn nicht — was kümmert's mich? Ich habe das Leben hinter mir. Auf mich kommt es nicht an. Die Hauptsache ist, daß ihr glücklich werdet.«

Frau Schwabe packte ihren Koffer, als Erich von Karlheinz Petsch zurückkam.

«Was ist denn das?«fragte er und sah hinüber zu Ursula, die mit verquollenen, roten Augen kläglich auf dem Bett saß.

«Ich ziehe um«, sagte Frau Schwabe.

«Bist du verrückt?«Erich Schwabe nahm den halb gepackten Koffer und warf ihn zwischen Kleiderspind und Bett.»Was soll der Unsinn? Habt ihr Krach gehabt?«

«Nein. Aber der Keller ist zu klein. «Frau Schwabe drehte ihrem Sohn den Rücken zu.»Und wenn das Kind kommt. Ich kann bei einer Freundin wohnen, ganz in der Nähe. Glaub mir, es ist besser so.«

«Wir reden nicht mehr darüber, Mutter, verstanden?«Erich Schwabe legte sein Paket mit den zwei Pfund Speck auf den Tisch.»Und wegen des Platzes — auch das ist geregelt. Wir werden tauschen.«

«Tauschen?«

«Karlheinz hat sich seinen Keller fabelhaft ausgebaut. Drei Räume hat der Lümmel, fast komfortabel. Er ist bereit, mit uns zu tauschen und in unseren Raum zu ziehen.«

«Unmöglich!«rief Ursula entsetzt.

«Aber warum denn? Ein solches Angebot, Uschi! Karlheinz ist ein wirklicher Freund.«

«Es geht nicht«, sagte Ursula.»Es geht einfach nicht.«

«Nur vorübergehend. Bis wir oben unsere Wohnung stehen haben. Im Frühjahr ziehen wir alles hoch. Und für Petsch bauen wir eine Wohnung mit. Ehrensache!«

Frau Schwabe hob beide Arme.»Es muß wohl so sein«, sagte sie starr.»Es ist ein Teufelskreis.«

«Wieso ein Teufelskreis?«fragte Erich Schwabe verblüfft.

«Ich kann diesen Petsch nicht sehen!«schrie Ursula grell.»Ich ekle mich vor ihm!«»Aber er ist doch ein fabelhafter Kamerad«, sagte Erich hilflos.»Schon morgen könnten wir umziehen. Wer macht uns heute schon noch so ein Angebot?«

«Laß uns hier wohnen bleiben«, flehte Ursula.»Der Keller ist groß genug. Auch wenn das Kind kommt.«

«Ich verstehe euch nicht!«Erich Schwabe zog seine Jacke aus und warf ein paar Kohlen in den blubbernden Eisenofen.»Karlheinz' Keller ist wärmer, er hat ihn sogar mit Platten isoliert. Und Mutter kann einen eigenen Raum haben. Und sogar heißes Wasser hat er. Irgendwo hat er einen elektrischen Boiler ausgebaut und sich damit eine Duschanlage gebaut. Das alles stellt er uns zur Verfügung. Und da soll ich nein sagen? Ursula kann das Kind baden, und das Kleine liegt dann wenigstens an keiner feuchten Kellerwand.«

«So ist es!«sagte Frau Schwabe laut. Sie winkte energisch ab, als Ursula etwas dazwischen rufen wollte.»Ganz gleich, was ist — wir ziehen morgen um! Es wird alles so kommen, wie es kommen muß.«

«Warum hilfst du mir nicht, Mutter?«schrie Ursula.

Ratlos starrte Erich Schwabe zwischen den beiden Frauen hin und her. Er verstand nichts und begriff nicht die glühende Erregung, die in Uschi brannte. Frau Schwabe schüttelte wild den Kopf.

«Können wir etwas ändern?«rief sie hart.»Es geht alles seinen Lauf aber wir haben drei warme, ausgebaute Räume.«

«Und sogar einen Kachelofen.«

«Na also. Morgen ziehen wir um!«

In der Nacht lag Ursula schlaflos neben ihrem Mann und starrte gegen die dunkle Kellerdecke. Angst lag wie lähmender Frost in ihrem Körper. Sie wußte, daß man heute eine langsam glimmende Zündschnur angesteckt hatte.

Bis kurz vor Weihnachten hatte sich die Stube B/14 wieder zusammengefunden. Zwar nur mit Kartengrüßen, aber über alle Entfernungen hinweg waren die Brücken geschlagen worden. Nur von Walter Hertz war keine Nachricht gekommen.»Det is klar«, schrieb der

Berliner aus dem Harz, wo er seine Mutter gesund wiedergefunden hatte.»Der futtert im siebten Himmel. Alleene mit det Mä'chen — habt Verständnis, Jungs!«

Kaspar Bloch und Fritz Adam hatten schon Verbindung mit den Universitäten aufgenommen. Sie konnten sofort studieren. Christian Oster schrieb eine kurze Karte:»Mir geht es gut. Das Wetter ist schrecklich. Wie geht es euch? Gruß Christian. «Weiter nichts, eine nichtssagende, dumme Nachricht, mit der niemand etwas anzufangen wußte. Am ausführlichsten, aber auch am unleserlichsten schrieb der Wastl Feininger. Mit Negern war nix, berichtete er. Die Resi war treu geblieben, was ihn sehr verwunderte, denn früher — Sakrament, da stand's Kammerfensterl bei der Resi immer offen. Im übrigen aber hatte die Sau geferkelt, das letzte, übriggebliebene Schwein, und man habe von dem Wurf nur sechs angegeben, aber neun waren's. Also würde es bald ein Spanferkelchen geben, heimlich im Stall gebraten, und wer kommen wolle, der solle nur anrücken. Beim Wastl brauchte keiner zu hungern, keiner aus Bernegg.

Auch an Dr. Lisa Mainetti hatten sie geschrieben. Als habe man es abgesprochen, kamen die Grüße und Weihnachtswünsche fast gleichzeitig auf Schloß Bernegg an. Der Wastl schickte sogar ein Päckchen mit zwei Würsten und einem tellergroßen Handkäse. Aber auch hier fehlte eine Nachricht von Walter Hertz. Lisa hatte alle Briefe und Karten sortiert und war sehr nachdenklich geworden. Sie glaubte nicht an alles in Vergessenheit tauchende Flitterwochen, sie empfand ein ungutes Gefühl, wenn sie an Walter Hertz dachte, an diesen großen Jungen mit der so zarten, zerbrechlichen Seele, den niederdrückenden Komplexen und der Angst vor der Zukunft, die vor ihm wie eine unerforschte Wüste lag.

Am Heiligen Abend kam James Braddock hinauf nach Schloß Bernegg. Er hatte die Offiziersmesse verlassen und war mit dem Jeep allein losgebraust, in einer halsbrecherischen Fahrt den glatten Bergweg hinauf. Er platzte in die einfache Weihnachtsfeier des Lazaretts hinein. Die Patienten saßen um einen geschmückten Baum und packten die Geschenkpakete aus, der Pfarrer von Bernegg hatte eine Andacht gehalten, und nun bimmelte die kleine Glocke auf der Schloßkapelle hinaus in die Heilige Nacht, eine winzige, helle Stimme, die hinunter bis in die kleine Stadt flog. Ein anderer Glöckner zog nun an dem alten Seil, der Mann mit dem halben Gesicht war auch entlassen worden und lebte irgendwo in Hessen.

«Merry Christmas!«rief Major Braddock, als er Lisa Mainetti ein kunstvoll verschnürtes Päckchen überreichte. Es war mit Stanniolbändern umwickelt und mit einer großen, dicken Schleife verziert.

Sie saßen in einer Ecke des großen Gemeinschaftsraums, vier Verwundete schöpften aus großen amerikanischen Thermoskesseln ein Festessen aus — eine dickflüssige, rosa Rosinensuppe. Dazu gab es Kekse und eine Fruchtstange. Im Nebenraum wartete eine andere Überraschung, die man erst nach dem Auftragen des aus Preßtee hergestellten Tees verraten wollte: zehn Marzipantorten, die von der amerikanischen Unteroffiziersmesse aus Bernegg heraufgeschafft worden waren.

«Ich habe auch ein Geschenk für Sie, Miß Doktor«, sagte Major Braddock etwas stockend.

«Ich pack' es gleich aus.«

Braddock hielt Lisas Hand fest, die das Päckchen aufschnüren wollte.»Nicht das Paket, das ist unwichtig. Ich habe eine Nachricht für Sie, die Sie erfreuen wird: Ich werde in Kürze versetzt werden.«

Aus Dr. Mainettis Hand fiel das Päckchen auf den Tisch zurück.»Das — das nennen Sie eine Bescherung, Major?«

«Ich dachte, es würde Sie freuen, mich nicht mehr zu sehen.«

«Sie wissen genau, wie ich — wie sehr ich. «Dr. Mainetti schwieg. Braddock nickte wehmütig.

«Unsere herrliche Haßliebe, Miß Doktor. Was wird nun aus ihr? Ich gehe zurück in die Staaten. Dort habe ich eine nette kleine Farm, auf der ich mein Leben beenden werde. Mammi wartet schon auf mich, und sie wird mir jeden Morgen eine Pfanne voll Spiegeleier mit Speck braten, dazu Toast und Tomatensaft, eisgekühlt, eine Kanne Nescafe und hinterher eine lange Virginia. Und dann werde ich tagsüber über die Weiden reiten oder in den Ställen herumlungern, allen im Wege sein, und abends kommen die Nachbarn, die Bums und Welles, die Smiths und Fairwells, und wir spielen Bridge bis zum Umfallen, und ich erzähle von den Tagen in Old Germany. Ist das nicht ein herrliches, beschauliches Leben? Es ist die Sehnsucht von Millionen, die es nicht kennen: ein Häuschen, ein Frauchen, ein paar Enkelchen und viel, viel Zeit. Und meinen Whisky muß ich heimlich in einer Stallecke trinken. Die Flasche verstecke ich immer in der Futtertruhe unter den geschnitzelten Rüben.«

Dr. Mainetti lachte auf.»Das sollte man sich ansehen: Der starke Major Braddock schleicht sich heimlich in den Stall und trinkt zitternd seinen Whisky an der Schweinetruhe.«

«So hat jeder vom Leben seinen Teil mitbekommen. «James Brad-dock legte die Hand auf Lisas Arm. Es waren kalte, harte Finger.»Ich muß Ihnen etwas sagen, Miß Doktor.«

«So ernst, Major?«

«Man sollte Sinnlosigkeiten immer ernst nehmen, dann geschähe weniger Unglück auf der Welt. Vor allem ist es gut, wenn man rechtzeitig erkennt, daß es Sinnlosigkeiten sind.«

«Und Sie haben da etwas erkannt?«

Es sollte spöttisch klingen, aber Braddock spürte in diesen Worten dennoch so etwas wie Mitgefühl. Er nickte mehrmals.

«Eben weil es Sinnlosigkeiten sind, kann ich es Ihnen jetzt unbefangen sagen: Ich habe mich in Sie verliebt, Lisa.«

«Ich weiß es, Major«, sagte Dr. Mainetti schlicht.

«Sie haben es gewußt?«

«Man sollte es nicht glauben — aber ich bin eine Frau! Unausgesprochene Wünsche spüren wir, als seien sie laut gesagt. Ich habe Sie immer bewundert, Major, wie tapfer Sie alles hinunterschluckten, was Ihnen schon in der Kehle steckte.«

«Ich habe im stillen Professor Rusch immer schon gehaßt. Ihretwegen, Lisa.«

«Aber Sie waren klug genug, zu erkennen, daß Sie gegen Rusch nicht ankommen konnten.«

«Ich habe mich gezwungen, das zu ertragen. Zum letztenmal war es, als wir im Lager Darmstadt waren. Nicht Ihretwegen oder Ruschs wegen waren wir dort. Ich wollte mich von dem Wahn heilen, Sie jemals zu besitzen. «Braddock sah auf seine Hände.»Es war eine gute Therapie«, sagte er leise.»Ein radikaler chirurgischer Schnitt. Nun, da ich bald zurück in die Staaten fahre, kann ich Ihnen das alles sagen, ohne rot oder verlegen zu werden wie ein verliebter Schüler.«

Sie schwiegen und dachten beide an die Wochen und Monate, die hinter ihnen lagen. Das Erleben eines ganzen Menschenalters war in diese Monate zusammengepreßt worden, sie würden sie nie vergessen können.

«Haben Sie etwas Neues von Rusch erfahren?«fragte Dr. Mainetti in die Stille hinein. Braddocks Kopf zuckte hoch. Aus seinen Gedanken gerissen, starrte er Lisa verwirrt an.

«Von Rusch? Nein, nein — nichts!«

«Er hat nicht zu Weihnachten geschrieben.«

«Vielleicht kommt die Post zwischen Weihnachten und Neujahr.«

Er hielt wieder Lisas Hand fest, als sie erneut zu dem Päckchen griff und die Stanniolbänder lösen wollte.

«Bitte erst, wenn ich wieder fort bin«, sagte Braddock hart.

«So geheimnisvoll?«Sie wog das Päckchen in der Hand.»Es ist leicht. Darf ich raten?«

«Bitte.«

«Seife, Nylonstrümpfe, Wäsche?«

«Nein.«

«Eine Dose Pralinen oder Kekse?«

«Nein.«

«Kaffee oder Tee?«

«Nein.«

«Ich gebe es auf. «Lisa legte das Päckchen auf den Tisch zurück.»Alles andere ist schwerer.«

«Für mich ist der Inhalt schwer genug. Zu schwer.«

«Für Sie?«Dr. Mainetti betrachtete das Päckchen mit vorgeneigtem Kopf.»Ich platze vor Spannung, Major!«

Nach dem Essen und dem Tee mit den Marzipantorten fuhr Brad-dock wieder hinab nach Bernegg. Lisa Mainetti trug das geheimnisvolle Päckchen auf ihr Zimmer und wickelte sorgfältig das Papier ab. Vielleicht war es etwas Zerbrechliches; bei Major Braddock waren Überraschungen nie ausgeschlossen.

Ein länglicher Pappkarton kam zum Vorschein. Als Lisa den Deckel abhob, sah sie nichts als einen dünnen Brief auf einem Bett aus eng zusammengedrückten Tannenzweigen liegen. Verwundert hob sie das Kuvert an das Licht der Tischlampe und las zuerst die Anschrift:»James Braddock, Major.«

Lisa zögerte, ehe sie mit dem kleinen Finger in den engen Schlitz der Kuvertklappe fuhr und den Umschlag langsam aufriß. Sie sah, daß das Kuvert schon einmal geöffnet worden war und daß man es nachher kunstvoll mit Klebstoff wieder verschlossen hatte.

Ein einziger Bogen Papier lag in dem Umschlag. Ein Privatbrief, den sie daran erkannte, daß kein gedruckter Briefkopf vorhanden war.»Dear Sir«, begann die Anrede. Tatsächlich ein Brief an Braddock.

Dr. Mainetti rückte die Lampe näher und begann, das Schreiben zu übersetzen. Es lautete:

«Auf Ihre Anfrage teilen wir Ihnen mit, daß in Zusammenhang zwischen den militärischen und zivilen Ermittlungsbehörden, dem CIC und der deutschen Staatsanwaltschaft die Ermittlungen gegen Prof. Walter Rusch, z. Z. im Lager Darmstadt, abgeschlossen worden sind.

Die Verdachtsmomente haben sich als unbegründet erwiesen. Prof. Rusch wird an einem noch zu bestimmenden Tag nach dem 1. Januar aus Darmstadt entlassen werden.

Wir hoffen, Ihnen hiermit.«

Weiter las Lisa nicht. Der Brief flatterte aus ihren Händen. Mit dem Ellenbogen stieß sie die Lampe vom Tisch, sie zerschellte auf den Dielen, und völlige Dunkelheit hüllte Lisa Mainetti ein.

«Braddock«, stammelte sie.»James Braddock — das werde ich dir nie, nie vergessen.«

Sie rannte zum Telefon und rief die Kommandantur in Bernegg an. Ein Sergeant war am Apparat.»No, Major Braddock ist fort. No, nicht weiß, wohin. Fort mit Jeep«, sagte er.

Lisa Mainetti ließ den Hörer zurückfallen. Dann saß sie in der Dunkelheit am Fenster und sah hinaus in den verschneiten Schloßpark. Unten, im Gemeinschaftssaal, sangen die Verwundeten Weihnachtslieder. Von den Hügeln um Bernegg wehte der Wind einen Nebel von Pulverschnee ins Tal und über die weiten Wälder.

«An einem Tag nach dem 1. Januar«, sagte Lisa leise und legte die heiße Stirn an die eisige Fensterscheibe.»Ich werde dasein, Walter.«

Am Neujahrsmorgen fuhr sie nach Darmstadt. Braddock hatte ihr 14 Tage Urlaub gegeben und einen amerikanischen Arzt aus dem Hauptlazarett in Würzburg als Vertreter während ihrer Abwesenheit geschickt.

Am Nachmittag stand sie vor dem Lagerausgang, im tiefen Schnee seitlich der von Bulldozern freigeschaufelten Straße, und wartete. In der Kommandantur, wo sie den Brief von Braddock vorzeigte, zuckte man die Schultern.

«Kommt vom CIC, Miß«, sagte ein junger Leutnant, an den sie verwiesen wurde.

«Und wann wird er entlassen?«

«Ganz unbestimmt. Morgen, übermorgen, jeden Tag werden welche entlassen.«

«Und wann werden sie entlassen?«

«Meistens morgens.«

«Dann werde ich warten.«

Der Leutnant zog die Schultern hoch und grüßte lässig, als Dr. Mai-netti das Zimmer verließ.

Vier Tage lang stand Lisa jeden Morgen vor dem Lagerausgang. Die ausrückenden Arbeitskolonnen grüßten sie schon wie eine alte Bekannte, und die Posten riefen:»Hello! How do you do?«Sie stand an der Straßenseite im Schnee, in hohen Stiefeln und mit hochgeschlagenem Mantelkragen, und sie lief den dunklen Kolonnen entgegen, die als Freigelassene die doppelten Wachketten passierten und dann auf der Straße standen, in der Freiheit, etwas unsicher und fast verwundert, daß kein GI mehr rief» Go on!«und kein Plakatanschlag mehr verkündete: >Es ist bei Strafe verboten, Regenwürmer zu essen.<

Am fünften Tag schritt Professor Rusch durch die Posten, zeigte seinen Entlassungsschein und machte einen großen Schritt aus dem Bereich des Stacheldrahtes hinaus auf die schlammige, von dicken Rädern zermahlene Straße.

Mit einem lauten Aufschrei rannte ihm Lisa Mainetti mit weit ausgebreiteten Armen entgegen.

Christian Oster hatte sich zu Hause wieder eingelebt. Alles war so wie früher, sogar der Brandfleck an der Tapete hinter dem Bett war noch da. Dort hatte er einmal fast ein Feuer entfacht; mit einer Zigarette in der Hand war er eingeschlafen, und die Tapete hatte zu schwelen begonnen.

Auch Susanne Oster gab sich Mühe, in dem fremden Gesicht Christian zu erkennen. Zitternd war sie nach der Ankunft und nach dem zusammengesparten Abendessen zu Bett gegangen. Wie vor einem Fremden hatte sie sich nebenan ausgezogen und war schnell unter die Steppdecke geschlüpft, bevor Christian Oster von seinem Rundgang durch das Haus zurück ins Schlafzimmer kam. Diesen Rundgang hatte er immer gemacht, um zu kontrollieren, ob auch alle Türen geschlossen waren — die Haustür, die Terrassentür, die Kellertür, die Waschküchentür, die Tür von der Küche zum Gemüsegarten und die Tür zur Garage. Erst am Abend merkt man, wieviel Türen ein Haus hat.

Susannes Angst war umsonst. Ihr Mann mit dem fremden Gesicht duschte sich und legte sich dann hin. Er tastete mit der Hand nach ihr, drückte ihren Oberarm, streichelte über ihr Haar und sagte leise, stockend:»Gute Nacht, Susi.«

Dann machte er das Licht aus und tat so, als ob er einschliefe.

In Wahrheit lagen sie beide wach und lauschten auf den Atem des anderen. Sie rührten sich nicht, und jeder wartete, daß der andere sich regte, daß er ein Wort sagte, nur einen Seufzer, der eine Brücke zwischen ihren Seelen sein konnte. Aber sie schwiegen und starr-ten gegen die Wände und schliefen endlich so ein, in der Hoffnung, daß ein neuer Tag vielleicht alles noch klären würde.

Am nächsten Tag kamen die Nachbarn und die Freunde. Sie brachten zur Begrüßung Geschenke mit, die meisten etwas Eßbares, das man für andere Dinge eingetauscht hatte. Und in allen Augen sah Christian Oster ein Erschrecken, eine völlige Ungläubigkeit, eine Ratlosigkeit, die sich erst legte, wenn er sprach und man erkannte, daß es wirklich Christian Oster war.

«Alle Achtung vor der Kunst der Ärzte!«sagte Onkel Ferdinand und trank von dem Wein, den er mitgebracht hatte.»Wenn einem sein Gesicht nicht gefällt — schwupp —, bekommt man ein anderes. Wißt ihr übrigens, daß mit diesem Trick der Bormann entkommen sein soll? Ein anderes Gesicht — und weg ist er, ehe man es merkt.«

Man unterhielt sich nicht weiter darüber. Onkel Ferdinand war immer ein ungehobelter Klotz gewesen. Er ging schnell, nachdem er den mitgebrachten Wein selbst ausgetrunken hatte.

Kurz nach Neujahr fuhr Christian Oster mit seinem alten Fahrrad in die Stadt, um sich bei seiner alten Firma vorzustellen. Die Personalabteilung hatte ihm nach Bernegg geschrieben, daß es selbstverständlich sei, ihn wieder einzustellen. Er möge nach seiner Entlassung aus dem Lazarett vorsprechen.

Das Werk war kaum zerstört worden, aber statt Schlafzimmer und schwerer Renaissanceschreibtische wurden einfache Türen und spindähnliche Schränke hergestellt, und in der großen Furnierhalle, wo früher die besten ausländischen Hölzer verarbeitet wurden, hatte sich eine Autowerkstatt der US Army eingerichtet.

Herr Berger, der Möbelfabrikant, ließ es sich nicht nehmen, den Heimkehrer Christian Oster selbst zu begrüßen. Emanuel Berger hatte Glück gehabt. Er war nur zahlendes Parteimitglied gewesen, und daß man ihm eine Plakette >NS-Musterbetrieb< an die Tür gehängt hatte, war nur eine Laune der Arbeitsfront gewesen, sagte er. Man wollte eben nach Berlin große Prozentzahlen melden. Darum die Plakette an einem Betrieb, der schon immer >dagegen< war. Beweis: Statt Luftschutzbetten hatte die Firma Berger Küchenstühle hergestellt. Wenn das kein Beweis von Pazifismus war.

Auf jeden Fall — Emanuel Berger hatte seinen Betrieb behalten dürfen, war in kein Nazilager gekommen und hatte sogar neue große Aufträge für den Wiederaufbau erhalten. Auch von amerikanischer Seite. Möbel für Kasernen und Baracken.

Herr Berger sah mißbilligend auf den Mann, der in sein Büro kam.»Wo kommen Sie denn her?«fragte er ziemlich grob.»Ich erwarte Besuch. Wer hat Sie denn 'reingelassen?«

«Ich bin der Besuch«, sagte Christian Oster.

«Wer sind Sie?«bellte Berger.

«Christian Oster.«

Berger sprang um seinen Schreibtisch herum. Er war rot vor Erregung und spreizte beim Sprechen die Finger wie ein springender Frosch.

«Hören Sie mal, Herrn Oster kenne ich seit Jahren! Er war Leiter meines Lohnbüros! Und wenn Sie nicht.«

«Aber ich bin doch Christian Oster, Herr Berger. «Er schluckte mehrmals, sein Hals schnürte sich wieder zu.»Meine Augen, meine Haare — die sind geblieben. Das andere liegt in Rußland. Ich war doch gesichtsverletzt. Ich habe ein anderes Gesicht bekommen.«

Herr Berger fuhr sich mit der rechten Hand über die Augen und blinzelte erschrocken.»Das — das ist doch nicht möglich.«

«Leider ja. Man kann es nicht mehr ändern.«

«Und was — was sagt Ihre Frau dazu?«

«Sie wird sich damit abfinden. Ich bin doch kein anderer Mensch geworden. Ich bin doch immer noch der Christian Oster. Nur anders sehe ich aus.«

«Eben. Eben! Das ist verwirrend. Verdammt — ich muß einen Cognac trinken! Trinken Sie einen mit, Herr — Herr Oster?«

«Schönen Dank, Herr Berger.«

Nach zwei Stunden fuhr Oster mit seinem alten Rad wieder nach Hause. Er hatte seine Stelle wieder. Er war wieder Leiter des Lohnbüros. Der bisherige Leiter wurde zum Chef des Einkaufs befördert. Schon am nächsten Tag konnte er anfangen. Sein Schreibtisch stand aufgeräumt und kahl zu seiner Verfügung. Der gleiche Tisch wie vor seiner Einberufung zur Wehrmacht. Er erkannte ihn an einem Tintenfleck auf der Platte. Damals war ihm der Füllfederhalter ausgelaufen.

Herr Emanuel Berger stand am Fenster seines Büros, als Christian Oster wieder abfuhr.»So was«, sagte Berger und biß die Spitze einer langen Zigarre ab.»Nee, so was! Ein ganz anderes Gesicht. Wenn das mal gut geht!«

Jeden dritten Tag ging Erich Schwabe in das große Kölner Krankenhaus >Lindenburg< zum Verbinden. Aber selbst in dieser Stadt der Kranken fiel er auf. Man zeigte es ihm nicht, aber er merkte es daran, daß bei jedem Verbandswechsel andere Ärzte zugegen waren, oftmals würdige Herren, die mit Herr Professor angeredet wurden und die stumm sein Gesicht abtasteten, die neueingesetzte Nase und die von Lisa Mainetti mit großer Geduld neugeformten Lippen. Zwar waren sie noch in der Rohform, aber man erkannte als Fachmann, wie es einmal werden würde.

In der >Lindenburg< waren es vor allem zwei französische Ärzte, die Schwabe betreuten. Sie waren als Kriegsgefangene in das Krankenhaus gekommen und nach der Kapitulation in Köln geblieben, weil sie sich eingearbeitet hatten und sich wohl fühlten. Sie weichten wie der Famulus Baumann in Bernegg mit größter Sorgfalt die Verbände durch, ehe sie sie ablösten, reinigten die noch nässenden wunden Stellen und verklebten dann wieder das ganze Gesicht mit breiten, rosa Hansaplaststreifen.

Drei Tage vor Weihnachten waren die Schwabes in Karlheinz Petschs Luxuskeller umgezogen. Um allen etwaigen Komplikationen aus dem Wege zu gehen, hatte Petsch dann die Einladung zum Weihnachtsfest und zu Silvester ausgeschlagen und war angeblich zu einem Vetter nach Düsseldorf gefahren. In Wahrheit saß er bei einem Bauern in Knapsack herum, trank selbstgebrauten Knollenschnaps, baute ein Dachgeschoß des alten Hauses aus und vergnügte sich mit einer Nichte des Bauern, die aus Krefeld gekommen war, um den Onkel um einen Neujahrsbraten zu bitten.

Nach den Feiertagen kam er schwer beladen zurück, und dann klapperten sie die Baustoffhändler und Glaslieferanten ab und feilschten um Material gegen Butter und Schinken, Zigaretten und amerikanische Stangenschokolade.

«Warum tust du das alles, Karlheinz?«fragte Schwabe einmal, als sie im Vorgebirge bei einem Bauern ein Gewächshaus bauten und in der Mittagspause Sauerkraut mit einem dicken Eisbein bekamen.

«Deine Frau hat mich einmal in großer Not nicht verlassen.«

«Das war doch selbstverständlich.«

«Na ja. Und ebenso selbstverständlich ist das, was ich mache. Wenn wir jetzt nicht zusammenhalten, Kumpel, eisern wie ein Büstenhalter, rutschen wir ab!«

Sie lachten, und es war alles gut. Unter Männern sind seelische Probleme schnell gelöst und geklärt. Erich Schwabe hob sich ein halbes Eisbein auf und wickelte es in Papier. Petsch zog die Augenbrauen hoch.

«Was gibt denn das?«

«Für Uschi. Sie ißt so gern Eisbein.«

«Quatsch! Iß es selbst, Erich. Für Uschi holen wir uns noch zwei Stück vom Bauern. Oder ich streu' ihm Salz in 'n Beton. Dann bricht dem die ganze Chose in zwei Jahren zusammen und keiner weiß, woher das kommt.«

Abends saßen sie oft zusammen in Schwabes neuer Wohnung und tranken den Habra, wie im Volksmund der >Hausbrand< hieß, der heimlich in den Kellern gebrannte Schnaps aus Kornmaische oder Kartoffeln. Geniale Konstruktionen aus alten Milchkannen und Einkochkesseln bruzzelten in Hunderten von Kellern auf rostigen Küchenherden, und vom Opa bis zum Enkel hockte des Nachts alles um das Brenngerät, filterte den Schnaps durch Tierkohle, verschnitt ihn auf 38 Prozent mit abgekochtem Wasser und füllte ihn in Weinflaschen ab. Fast ständig lag über den Trümmern ein leichter Schnapsgeruch. Niemand kümmerte sich mehr darum, selbst nicht die Polizei, die nur ab und zu eine Schwarzbrennerei aushob, um der Gesetzespflicht zu genügen.

Auch Karlheinz Petsch brannte schwarz. Er hatte Kupferrohre besorgt und lange Kühlschlangen daraus gebogen. Er brannte den Alkohol zweimal, ehe er ihn filterte.»So rein ist kein staatlich überwachter Sprit«, sagte er stolz, als er die ersten Flaschen zu Schwabes brachte.»Übermorgen kriege ich drei Zentner Korn. Das setzen wir alles an. Und dann wird gebrannt wie in den Wodkafabriken.«

«Und wo sollen wir hin mit den hundert Flaschen?«fragte Erich Schwabe.

«Auch dafür hat Holzauge gesorgt!«Karlheinz Petsch lachte und schlug Schwabe auf die Schulter.»Für dreihundert Pullen Habra kann ich ein Auto bekommen, einen alten Opel P4. Aber der Karren läuft noch wie eine Jungfrau zum Rendezvous. Mensch, Erich — einen eigenen Wagen! Was das bedeutet! Schneller Material herbei, weitere Kundenkreise, kleine Spritztouren nach Bayern — wir werden die Firma Schwabe und Petsch schon schaukeln, was?«

Eine Woche lang brannten Erich Schwabe und Karlheinz Petsch in einem leerstehenden Keller von Schwabes Haus dreihundertneununddreißig Weinflaschen voll Kornschnaps. Als sie aus dem Keller krochen, rochen sie nach Schnaps, als hätten sie darin gebadet.»Unser Auto steht«, sagte Erich Schwabe.»Wohin geht die erste Tour?«

«Wohin unsere Uschi will!«schrie Petsch.

Ursula wandte sich wortlos ab und ging in den Nebenraum zu Hedwig Schwabe. Erich hob die Schultern.

«Trotz allem, Karlheinz — bist eben nicht ihr Typ.«

Petsch putzte sich geräuschvoll die Nase. Verdammt, dachte er. Er ist ein so feiner Kumpel. Es wäre schade, wenn das in die Brüche ginge — wegen damals. Aber ich komme von Uschi, diesem blonden Biest, nicht los. Was kann ich dafür.

Am Sonntag fuhren sie alle mit dem ratternden und hüpfenden P4 in den Königsforst. Die Straßen waren noch verschneit, und der Wald sah mit seinen verharschten Schneehauben aus wie in einem Märchenbuch.

In einem Thermoskessel, den Petsch von einer amerikanischen Küche auf unerklärte Weise erhalten hatte, nahm man eine Suppe mit, die eine Spezialanfertigung Frau Hedwig Schwabes war. Es hatte vor einigen Tagen eine Sonderzuteilung von frisch geräucherten Bücklingen — auf zwei Abschnitte der Eierkarte — gegeben. Der fleischige Teil der Fische war bald aufgegessen, aber Frau Schwabe tat es weh, die goldglänzenden Bücklingshäute wegzuwerfen.»Kinder, dieses ungenutzte Fett«, sagte sie sinnend.»Damit muß man doch etwas machen können. «Und sie versuchte es: Sie kochte die Bücklingshäute aus, seihte sie durch ein grobes Tuch und erhielt eine wunderbare, fettglänzende Brühe, die nach Rauch schmeckte, als sei sie aus geräuchertem Speck entstanden. Dahinein kochte sie Graupen, mit viel getrocknetem Porree, den sie im Sommer zwischen den Trümmern des Hauses angepflanzt hatte. Es schmeckte köstlich.

«Unser Mütterchen ist ein Genie«, sagte Karlheinz Petsch ehrlich.»Aus nichts macht sie ein komplettes Essen. Wie oft merke ich jetzt, daß mir meine Mutter fehlt.«

Es klang ein wenig sentimental, und niemand achtete darauf, daß Ursula in stummem Zorn die Lippen zusammenpreßte und die Fäuste ballte.

Der Ausflug mit dem neuen Wagen endete mit einem kurzen Wortwechsel zwischen Uschi und Petsch. Erich Schwabe und seine Mutter waren schon in die Wohnung hinabgestiegen, Ursula blieb zurück, um das Gepäck mit Petsch aus dem Wagen zu holen. Sie faßte den Thermoskessel, aber von der anderen Seite hielt ihn Petsch fest.

«Willst du bei ihm bleiben, wenn das Kind da ist?«fragte er leise. Ursula riß ihm den Kessel aus den Fingern.

«Ja«, zischte sie.

«Er wird nie ein anderes Gesicht haben. Du kannst doch nicht ewig.«

«Ich liebe ihn.«

«Aber nur, wenn du die Augen zumachst. Wenn du ihn dabei ansehen mußt.«

«Wenn du mich nicht in Ruhe läßt, sage ich Erich alles!«»Darauf warte ich ja nur.«

«Du erbärmlicher Lump du!«Ursula drückte den Kessel an ihre Brust.»Du wirst mich nie, nie wieder kriegen — und wenn du Millionär wirst. Mich kannst du nicht kaufen!«

«Abwarten!«Karlheinz Petsch setzte sich hinter das Steuer.»Steter Tropfen höhlt den Stein. Oder abgewandelt: Steter Anblick tötet die Moral.«

Ursula duckte sich unter seinen Worten wie unter einem heftigen Schlag. Dann hob sie beide Arme und schleuderte Petsch den Ther-moskessel an den Kopf. Er duckte sich zu spät und die metallene Kante schlug gegen seine Stirn. Die Haut platzte, und Blut rann ihm über die Augen und in den stumm aufgerissenen Mund.

«Ich bring' dich um«, keuchte Ursula.»Bei Gott, ich bring' dich um.«

Mit heulendem Motor fuhr Petsch davon. Der matschige Schnee spritzte hinter den rasenden Hinterrädern hoch und übergoß Ursula mit Schmutz und schlammigem Wasser.

Langsam wischte sie es ab, nahm den Kessel aus dem schmutzigen Schnee und stieg in den Keller.

In zehn Tagen kommt das Kind, dachte sie, und es war wie ein stilles, ergreifendes Flehen. Wie schön wäre es, dieses Leben zu geben und selbst dabei zu sterben. Wie schön — und wie einfach wäre die Lösung aller Probleme.

Sofort nach seiner Entlassung aus dem Nazilager Darmstadt wollte Professor Rusch zurück nach Bernegg.

«Ich muß Braddock noch einmal sehen, bevor er zurück in die Staaten fährt«, sagte er.»Und die Verwundeten brauchen mich auch. Wir haben schon zuviel Zeit verloren.«

Aber Lisa Mainetti schüttelte den Kopf.»Nein«, sagte sie.»Und ich sage dieses Nein als Frau. Du hast es nicht anders gewollt, Walter — nun zieh die Konsequenzen und füge dich! Nein, wir fahren nicht sofort nach Bernegg. Ich habe noch neun Tage Urlaub, und die verleben wir allein in aller Stille.«

«Das fängt gut an!«Rusch drückte Lisas Arm fester an sich.»Noch nicht verheiratet, und schon wird kommandiert!«

«Du kannst es dir immer noch überlegen.«

«Lieber Himmel. «Rusch legte den Arm um Lisas Schulter.»Ich füge mich. Wohin willst du mich verschleppen?«

«Dorthin, wo ich dich ganz allein habe und wo ich vor langen Jahren einmal — das letztemal — wirklich glücklich war, als junges Mädchen — in Heidelberg.«

«Auch ich habe in Heidelberg studiert.«

«Ich weiß es. Darum fahren wir.«

In einem der wenigen von den Amerikanern nicht beschlagnahmten Hotels fanden sie ein kleines Zimmer. Der Besitzer erinnerte sich noch an den Dozenten Dr. Rusch, der jeden Donnerstag mit einem Stammtisch im Hinterzimmer gesessen hatte.»Das waren Zeiten«, seufzte er.»Damals hatten wir als Speisekarte ein Buch mit sechs Seiten… heute steht da: >Maisgrießsuppe mit Einlage und Schmorbraten mit Maisknödel.< Aber fragen Sie mich nicht, was >Einlage< bedeutet.«

Es war alles unwichtig, was um sie herum geschah. Der Krieg war vorbei, das Untersuchungslager — nun gab es nur noch eins: sie ganz allein, ihre Liebe, die reif und schwer war wie alter, abgelagerter Wein, und ihre gemeinsamen glücklichen Gedanken, die nüchtern die Tatsachen durchdachten und die >unsere gemeinsame Zukunft< hießen.

«Soll ich wirklich nach Amerika gehen?«fragte Rusch immer wieder. Ja, er schreckte mehrmals hoch, mitten aus einer zärtlichen Geste Lisas, stützte sich auf, sah ihr tief in die weiten, glücklichen Augen und fragte unsicher:»Sollen wir wirklich nach Amerika?«

«Ich weiß es nicht, Walter. Ich weiß es wirklich nicht«, sagte sie jedesmal, aber er hörte aus ihrer Stimme heraus, daß sie an ein Nein dachte.

«Wir hätten keinerlei Sorgen mehr, Lisa. Man würde mir alle Möglichkeiten der Weiterentwicklung der Gesichtsplastik einräumen. Es gäbe keinen Hunger mehr, keine finanziellen Überlegungen, man würde uns ein Haus zuweisen, das wir abzahlen könnten, ich würde ein-mal amerikanischer Staatsbürger werden. Es wäre wie ein erfülltes Schlaraffenland — es wäre wirklich ein neues Leben.«

«Ich weiß. «Lisa legte den Kopf auf seine Brust und umschlang seine Schultern. So lag sie, eng an ihn gepreßt, und hörte auf den schnellen Schlag seines Herzens.»Ich weiß gar nichts mehr. Ich weiß nur, daß ich glücklich bin… glücklich… glücklich.«

«Wie ein kleines Mädchen.«

Sie nickte und rieb ihre Nase auf seiner Brust.»Ich fange dort wieder an, ich habe so viele Jahre nachzuholen.«

«Und diese Frau hat einmal die Landser angeschnauzt wie ein ostpreußischer Feldwebel.«

«Das kann ich auch jetzt noch. «Sie richtete sich auf, kniete neben Rusch und drückte das Kinn an den Hals.»Rusch, Sie ewiger Denker, können Sie nicht endlich mit diesem Blödsinn aufhören?«Ihre Stimme war hart und laut wie im Lazarett.»Sie sollen nicht denken, Mann — Sie sollen lieben! Verdammt noch mal, daß man Ihnen alles zweimal sagen muß!«

Rusch lachte und zog sie zu sich hinab.»Liebe Dr. Mainetti«, flüsterte er in ihr Ohr.»Ihre therapeutischen Fähigkeiten sprengen alle Lehrbücher.«

Aber später richtete sich Rusch unvermittelt wieder auf und saß wie erschrocken im Bett. Lisa schlief, selig lächelnd die Fäuste geballt wie ein träumendes Kind.

«Amerika«, sagte Rusch leise.»Mein Gott, sollen wir wirklich nach Amerika?«

Am Abend gingen sie wieder durch Heidelberg. Die amerikanischen Uniformen herrschten vor, nur ab und zu sah man einen deutschen Zivilisten, blaß, eingefallen, vom Krieg gezeichnet, verschüchtert, ohne Hoffnung in den Augen.

Vom Bahnhofsviertel herüber hörten sie Lärm und das Schreien eines Menschen. Dort war ein Auflauf. Zwei Polizeiuniformen tauchten in der wogenden Menge auf, zwischen ihnen ein Mann, der um sich schlug, der gegen die Beine der Beamten trat und dessen Stimme über den stillen abendlichen Platz gellte.

«Ihr Bande!«brüllte der Mann.»Noch kein Jahr vorbei, und schon kommen die Götter in Uniform wieder. Ihr kriegt euer Gehalt, ihr habt zu fressen, aber wer sorgt für mich? Loslassen, sag' ich, loslassen. Ihr Hunde. Helft mir doch, Leute! Verdammt — überall nur Feiglinge. Feiglinge! Das Gesicht haben sie mir weggeschossen — und nun soll ich dafür verhungern!«

Dr. Mainetti krallte die Finger in Ruschs Arm.»Hast du das gehört, Walter?«

Professor Rusch nickte heftig.»Komm«, sagte er.»Das sehe ich mir an.«

Sie rannten über den Bahnhofsplatz, auf die dunkle Menschentraube zu und kamen an, als die Polizisten den tobenden Mann im Polizeigriff auf die Knie zwangen.

Er hatte einen alten, blauweiß gestreiften Anzug an, sein blondes, langes, ungeschnittenes Haar hing wirr und verschwitzt über ein schiefes, von Narben und Kerben zerklüftetes Gesicht, in dem ein hängendes Auge tränte, während das zweite vor verzweifelter Wut sprühte.

«Hunde«, kreischte der Mann.»Ihr feigen Schweine!«

«Hertz!«schrie Lisa Mainetti auf, als sie das zerstörte Gesicht sah.»Walter Hertz!«

Der Mann riß an den Fingern der Polizisten, sein Kopf schnellte hoch. Mit weiten Augen starrte er auf Lisa und auf Professor Rusch, die in den Kreis getreten waren.

«Frau — Frau Doktor«, stammelte Walter Hertz.»Herr Professor. «Dann verließ ihn alle Kraft, alle Auflehnung, alle Wut. Schlaff hing er in den Händen der Polizisten und ließ sich willenlos aufrichten.

«Sie kennen den Mann?«fragte einer der Polizeibeamten.»Wer sind Sie?«Es war wie ein Anpfiff.Professor Rusch sah sich langsam um.

«Merkwürdig«, sagte er so laut, daß es alle hörten.»Ich habe immer geglaubt, der deutsche Kommiß sei am 9. Mai 1945 endgültig gestorben. War wohl ein Irrtum.«

«Das bringt die Uniform so mit sich«, sagte Lisa ebenso laut.»Ein buntes Tuch über einer deutschen Brust, und ein Halbgott ist ge-boren!«

Der dunkle, sie umringende Menschenkreis lachte. Die beiden Polizisten sahen Rusch und Dr. Mainetti mit verkniffenen, wütenden Gesichtern an.

«Ihre Kennkarte«, rief einer von ihnen.

«In der deutschen Sprache gibt es das Wort >bitte<. Auch wenn es für eine Beamtenzunge schwer auszusprechen ist«, sagte Lisa.

«Sie kommen mit?«

«Genau das war unser Wunsch. «Professor Rusch trat auf Walter Hertz zu und hob seinen Kopf hoch, indem er die Hand unter das Kinn legte.»Mein Junge, keine Angst«, sagte er gütig.»Das kriegen wir alles hin, genau wie wir dein Gesicht hingekriegt haben.«

Walter Hertz nickte. Dann sah er die Polizisten an, und es war fast Triumph in seinem Blick.»Das ist Professor Rusch, ihr Idioten!«sagte er.»Mein Chefarzt.«

Auf der Polizeiwache wurde alles schnell geklärt. Walter Hertz war aufgegriffen worden, als er eine Stange Camel-Zigaretten verkaufen wollte.

«Wir wollten nur die Stange beschlagnahmen«, sagte der Polizist.»Das kennen wir ja, ist nichts Neues. Aber der Kerl schlug gleich um sich und brüllte. Da mußten wir eben notgedrungen.«

Später standen sie auf der Straße, und Walter Hertz weinte in die vor das Gesicht geschlagenen Hände.

«Wo wohnst du?«fragte Rusch.

«In einem verlassenen Keller.«

«Aber — «, Dr. Mainetti schwieg, als Rusch ihr abwinkte.

«Das, was geschehen ist, erzählst du uns alles später. Hier hast du Geld. Damit fährst du nach Bernegg und sagst zu Major Braddock, ich schickte dich, und er möchte dich wieder hinauf aufs Schloß bringen. Du bleibst von jetzt an bei uns, hast du verstanden?«

Walter Hertz schüttelte den Kopf.»Ich will nicht mehr, Herr Professor«, stammelte er.»Ich kann einfach nicht mehr — das war das letzte, heute. Ich mach' Schluß!«

«Unsinn! Wir unterhalten uns über alles in Ruhe in Bernegg.«»Ich will nicht mehr!«schrie Hertz.»Ein Mensch ohne Gesicht ist kein Mensch mehr!«

«Ach so«, sagte Lisa Mainetti leise.»So ist das. «Sie legte den Arm um Hertz' zitternde Schulter und vermied es dabei, Rusch anzusehen.»Morgen früh fahren wir alle drei zurück nach Bernegg, was? Es wäre gelacht, wenn ein Walter Hertz an der Umwelt zugrunde ginge!«

«Es geht nicht mehr«, stöhnte Hertz. Dr. Mainetti ließ ihn los.

«Noch einmal eine solche Antwort, und es donnert!«brüllte sie. Hertz zuckte zusammen und hob das tränenüberströmte Gesicht.»Morgen fahren wir nach Bernegg — oder wollen Sie mir einen Korb geben, Sie Flasche?«

«Ne — nein, Frau Doktor. «Walter Hertz legte die Arme an.»Ich komme. Auf Ehrenwort.«

Und er lächelte sogar, ganz schwach. Aber es war ein sichtbarer Hauch der Geborgenheit.

In der Nacht zuckte Rusch wieder hoch. Er sah, daß auch Lisa nicht schlief und mit offenen Augen neben ihm lag.

«Lisa«, sagte er leise. Seine Stimme war merkwürdig heiser.

«Ja, Walter. Was, Liebster?«

«Jetzt weiß ich es. Amerika.«

«Und.?«

«Ich werde nicht fahren. Man braucht mich hier nötiger.«

«Ich wußte es, Walter. «Lisa Mainetti ergriff seine schlaffe Hand und küßte sie.»Es wäre auch gar nicht anders möglich gewesen. Denn ich wäre nie mitgefahren.«

Am Morgen fuhren sie ganz früh mit dem ersten Zug zu dritt nach Bernegg.