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Kapitel 17

Major Braddock hatte bereits gepackt und wartete und wartete auf die Nachricht, wann, sein Schiff von Genua aus nach New York führe, als Professor Rusch und Dr. Mainetti wieder in Bernegg eintrafen.

«Willkommen«, rief Braddock und schielte dabei zu Lisa hinüber. Er sah das Glück aus ihren Augen sprühen und verbiß sich die Bemerkung, daß zwischen der Entlassung aus Darmstadt und der Rückkehr nach Bernegg einige Tage vergangen seien und diese Zwischenzeit trotz Maisgrieß und Brotaufstrich aus roten Rüben offenbar äußerst belebend gewirkt hätte.»Es ist schön, daß Sie zurück sind, Professor. Hat man Ihnen in Darmstadt noch nichts gesagt?«

«Gesagt? Nein.«

«Was denn gesagt?«fragte Dr. Mainetti.

«Das Interesse für Sie ist auf unserer Seite da, Professor. Mein Land ist bereit, Ihnen.«

«Ehe Sie weitersprechen, Major — «, Rusch setzte sich und nippte an dem Whisky, den ihm Braddock gleich bei seinem Eintritt eingegossen hatte.»Wie auch immer das Angebot lauten wird — ich bleibe in Deutschland.«

«Was wollen Sie in Deutschland, Professor?«Major Braddock nickte mehrmals wie eine Puppe mit einem Spiralhals, deren Kopf man angestoßen hat.»Eine Antwort, von unserer Miß Doktor inspiriert.«

«Ich bin selbst zu dem Entschluß gekommen.«

«Was wollen Sie in Deutschland, Professor?«Major Braddock setzte sich auf die Tischkante und ließ die Beine vor Lisas Nase hin und her pendeln. Früher hatte Dr. Mainetti dies als eine Mißachtung angesehen und hatte einmal sogar Braddocks Beine mit beiden Händen festgehalten. Der Major hatte gelacht, war vom Tisch gesprungen aber am nächsten Tag saß er wieder auf der Kante und ließ die Beine pendeln. Es gehörte eben zu Braddock wie sein Whisky.»In Old Germany geht alles drunter und drüber.«

«Eben das ist es, was mich hier hält.«

«Der stille Held im weißen Kittel. Ein Hollywood-Stoff. Der Krieg hat Deutschland um Jahrzehnte zurückgeworfen. Auch in der Medizin. Während ihr Deutschen vom Nordkap bis nach Tunis die Rolle der siegreichen Germanen spieltet, hat unsere Wissenschaft unser Jahrhundert überrundet. Wir haben das Penicillin entdeckt — um nur das Wichtigste zu nennen —, und auch in der Chirurgie haben wir neue Methoden entwickelt, die schneller und heilungssicherer sind auch in der Gesichtschirurgie.«

Professor Rusch sah auf seine langen, schmalen Hände.»Ich glaube Ihnen das alles, Major. Ich weiß, daß ich in die USA nicht als Lehrer, sondern als Lernender kommen müßte, und es wäre eine große Chance für mich. Aber da ist noch etwas. Sie sprachen eben von Old Germany. Es liegt am Boden, es ist ein Kranker, der im Koma liegt. Ob durch eigene Schuld oder nicht — ist das jetzt so wichtig? Fragen Sie als Arzt einen Kranken, ob er sein Leiden selbst verschuldet hat? Nein, Sie helfen. Sie wollen heilen. Dazu sind Sie auf der Welt. Und dieses kranke Deutschland braucht mich und Lisa Mainetti. Auch wenn wir und unsere Methoden veraltet sind, wie Sie eben sagten — irgend etwas ist doch noch an uns dran, womit wir die ärgste Not lindern können.«

Major Braddock starrte Rusch und Dr. Mainetti fast ungläubig und sogar mit einer Spur von Entsetzen an.»Er betrachtet dieses widerliche Deutschland als einen Kranken«, sagte er entgeistert.

«Als einen Gesichtsverletzten.«

«Professor, Sie sind verrückt.«

«Deutschland hat durch seinen zwölfjährigen Wahnsinn und seinen Krieg vollkommen sein Gesicht verloren. Niemand erkennt es wieder, jeder schaudert vor ihm, alle ekeln sich vor ihm, überall stößt es auf Abscheu. Wie meine Patienten dort oben auf dem Schloß. Nun, da der Kranke, der sinnlos Verstümmelte, vor uns liegt, sollen wir die Handschuhe ausziehen, die Masken abbinden und weggehen vom OP-Tisch? Sollen wir dieses verlorene Gesicht einfach vernarben lassen, damit es eine schreckliche Fratze bleibt? Nein, Major — gerade jetzt beginnt unsere Arbeit, eine Herkulesarbeit, gewiß, aber nun haben wir ein Ziel, ein deutliches Ziel: Oben im Schloß geht es um Nasen und Lippen, um Kiefer und weggerissene Weichteile. Im großen aber geht es jetzt darum, dafür zu sorgen, daß man eines Tages auch das Deutschland wiedererkennt, dem man ohne Ekel die Hand reichen kann.«

«Worte, wie für ein Lehrbuch über Nationalstolz. «Major Braddock winkte lässig ab, als Rusch wieder etwas erwidern wollte.»Sparen Sie sich alle heldischen Metaphern, Professor. Deutschland liegt auf dem Rücken wie eine halbtote Fliege. Man braucht jetzt nur den Fuß zu heben und krrr — ist diese Fliege endgültig zertreten. Niemand hindert uns daran, es zu tun. Jederzeit, wann es uns paßt. Und Deutschland wird immer diese auf dem Rücken liegende, halbtote Fliege bleiben. Dafür gibt es den Morgenthau-Plan, den wir noch immer in der Schublade schlummern haben. «Braddock lächelte zufrieden, als er das blasse Gesicht Lisas sah und die verhärtete Miene Professor Ruschs. Endlich sind sie sprachlos, dachte er.»Was wollen Sie denn noch in Deutschland?«hakte er wieder ein.

«Es mag dumm klingen«, sagte Rusch laut,»aber wenn ich schon in Ihren Augen nur eine Fliege bin, möchte ich auf keinen Fall zu einer Wanze werden.«

«Sehr gut. «James Braddock lachte und klopfte Rusch auf die Schulter.»Ehrlich gesagt — es hätte mich enttäuscht, wenn Sie in die Staaten gekommen wären — jetzt schon.«

«Sie sind ein Teufel, Braddock«, sagte Lisa ehrlich.

«Wenn Sie >lieber Teufel< gesagt hätten, würde ich es akzeptiert haben. «Er sah aus dem Fenster und bemerkte Walter Hertz, der zwischen zwei riesigen MP-Soldaten stand und hinaufstarrte zum Schloß.»Wer ist denn das? Den muß ich doch kennen?«

«Walter Hertz, Major.«

«Ja, wer ist denn das? Das ist doch der Geliebte von diesem Kriegs-verbrechertöchterchen, wie hieß sie doch?«

Lisa Mainetti schob die Unterlippe etwas vor.»Die Tochter von dem Fabrikanten Hubert Wolfach.«

«Richtig. Der war getürmt. Wo ist er jetzt? In einem Lager?«

Lisa Mainetti schüttelte den Kopf.»Der Fabrikant Hubert Wolfach hatte neben seinem Rüstungsbetrieb ein Zweigwerk für Zinkeimer, Zinkwannen und Zinkkannen in Süddeutschland. Und Töpfe stellte er her. Major Braddock, was ist heute ein guter Topf in Deutschland wert! Und so transportierte man Hubert Wolfach in die Fabrik, gab ihm eine vorläufige Lizenz und sagte: >Nun dreh aber fleißig Töpfe!< Er tut es jetzt.«

«Und was hat dieser Hertz damit zu tun?«schrie Braddock.

«Alles. Denn kaum war Hubert Wolfach wieder Fabrikant, warf er Walter Hertz hinaus. Und zwar mit den Worten: >Ich werde es nie dulden, daß meine einzige Tochter einen Menschen ohne Gesicht heiratet.< Walter Hertz wartete die Stellungnahme seiner Braut gar nicht ab. Wie schon einmal, verschwand er in der Nacht und wan-derte nach Heidelberg, wo er sich auf dem Schwarzen Markt über Wasser hielt. Dort haben wir ihn zufällig aufgelesen.«

«Wo ist dieser Wolfach?«fragte Braddock leise.

«In einem Dorf südlich von Donaueschingen. «Lisa Mainetti winkte ab.»Es hat keinen Sinn, Braddock. Wolfach hat bereits wieder eine Schlüsselstellung. Ohne seine Eimer und Töpfe gibt es keine Normalisierung des deutschen Lebens. «Dr. Mainetti hob beide Arme.»Man sagt immer, es gäbe kein perpetuum mobile. Es gibt eines, lieber Major. Und es heißt: die deutsche Wesensart.«

Braddock sah wieder hinaus auf den Schulhof. Walter Hertz rauchte gierig eine Zigarette. Gleichzeitig aß er ein Sandwich, das ihm ein US-Soldat zugeschoben hatte.»Was soll nun mit dem da werden?«

«Wir nehmen ihn hinauf aufs Schloß. Als Hilfssanitäter.«

«Unmöglich. «Braddock wischte sich über die Stirn.»Schloß Bernegg ist noch immer kein freies Krankenhaus, sondern ein Gefangenenlager. Und ich kann keinen entlassenen Kriegsgefangenen als Freiwilligen wieder in ein Lager stecken. Das ist doch völliger Widersinn.«

«Er muß aber aufs Schloß. «Professor Rusch erhob sich.»Er muß nachoperiert werden.«»Im Heimatkrankenhaus.«

«Er hat keine Heimat mehr.«

«Sein Pech, Professor.«

«Warum sind Sie so, Major?«Lisa erhob sich gleichfalls.»Sobald Sie dienstlich werden, sind Sie ein Ekel.«

«Dazu bin ich verpflichtet. «Major Braddock zwinkerte mit den Augen.»Ich kann zum Beispiel sehr ekelhaft werden und diesen Burschen sofort wieder einsperren lassen, wenn er etwa einen meiner Soldaten tätlich angreift.«

Dr. Mainetti nickte.»Er ist sehr jähzornig, dieser Walter Hertz«, sagte sie.»Ich werde einmal nachsehen, ob er nichts angestellt hat.«

Sie lächelte Rusch und Braddock an und verließ schnell das Dienstzimmer des Majors. Braddock wartete, bis sie die Tür geschlossen hatte. Dann zündete er eine Zigarette an und blies den Rauch mit in den Nacken gelegtem Kopf hoch gegen die Zimmerdecke.

«Als Mann könnte ich Sie umbringen, Professor«, sagte er leise.»Ich habe mich in Lisa verliebt.«

«Ich weiß es. Lisa hat es mir gesagt.«

«Und Sie nehmen es so ruhig hin?«

«Weil ich Lisa selbst liebe, weiß ich, daß man es einem Mann nur übelnehmen könnte, wenn er sich in Lisa nicht verlieben würde. Es ist fast selbstverständlich, von ihr fasziniert zu sein. «Rusch blickte aus dem Fenster und hob den Arm.»Da — sehen Sie, Major Brad-dock. Ein Deutscher greift dort unten einen Ihrer Soldaten an!«

Auf dem Schulhof war ein kleiner Tumult entstanden. Walter Hertz hatte nach einer kurzen Absprache zwischen Dr. Mainetti und einem der MP-Soldaten die Fäuste geballt und war gegen die Brust des grinsenden Riesen gerannt. Nun trommelte er mit seinen Fäusten wie gegen einen Sandsack, bis der Soldat ihn wie ein störrisches Kind unter den Arm nahm und den wild Schreienden zurück zum Schul-eingang trug. Major Braddock rannte aus dem Zimmer. Es war erstaunlich, wie echt die dunkle Zornesröte in seinem Gesicht stand.

«Damned«, brüllte er.»Was fällt dem Kerl ein? Jim, Clark und Bob — hinauf mit ihm zum Schloß. Ich rufe Leutnant Potkins an. Alles an-dere wird sich finden.«

Walter Hertz hörte sofort mit dem Schreien und Trampeln auf. Dankbar sah er Lisa Mainetti und Professor Rusch an, dessen weißer Kopf hinter dem Rücken Braddocks auftauchte. Es war etwas so Rührendes, Kreatürliches in diesem Blick Walter Hertz', daß Lisa zu ihm trat und ihm die wirren blonden Haare aus dem entstellten Gesicht strich.

«Nun ist alles gut«, sagte sie leise und strich auch über das hängende Auge.»Solange wir da sind, wirst du ein vernünftiges Leben haben.«

«Ich — ich weiß nicht, wie ich Ihnen danken soll, Frau Doktor«, stammelte Walter Hertz.»Ich — ich lasse mich für Sie zerreißen, Frau Doktor.«

«Ich werde darauf zurückkommen, wenn's nötig sein sollte«, lachte Dr. Mainetti.»Und nun hau ab zum Schloß und sag Baumann und Dr. Stenton, daß wir in einer Stunde nachkommen!«

Man verlud Walter Hertz in einen Jeep und ratterte mit ihm über die verschneite Straße fort. Er winkte so lange zurück, bis der hüpfende, kleine Wagen im Nebel des von den Rädern aufgewirbelten Schnees unterging.

Die Baufirma Schwabe & Petsch entwickelte sich innerhalb kürzester Zeit zu einem lukrativen Geschäft. Für den kommenden Frühling hatte man genug Wiederaufbauten angenommen, um davon — wie Karlheinz Petsch errechnete — ein Jahr wie ein Konservenfabrikant zu leben. Jetzt im Winter bauten sie nur die Bauernhöfe am Rande Kölns aus, und das wurde zu einer langen Kette von Tauschgeschäften, die im Hühnerstall begann und beim Baustoffhersteller endete. Was dabei in den beiden Kellern der ehemaligen Horst-Wessel-Straße hängenblieb, war genug, um für das sehr bald erwartete Kind Ursulas eine vollständige Säuglingsausstattung und vieles andere zusammenzutauschen.

Im Februar sollte das große Ereignis stattfinden, Karlheinz Petsch hatte bereits ein Zimmer in einem Krankenhaus reservieren lassen, das beste, wie er versicherte, denn er hatte versprochen, für dieses Entgegenkommen unentgeltlich in einem bombengeschädigten Labor zwei Wände hochzuziehen. Erich Schwabe lieferte für diesen Raum die Scheiben.

«Wie eine Fürstin wird man sie behandeln«, sagte Petsch, als alles abgesprochen war, zu Frau Hedwig Schwabe.»Wir werden uns jeden Tag davon überzeugen, oder wir lassen die Mauer halbfertig stehen.«

Es wäre also alles in bester Harmonie verlaufen, wenn nicht der als Nasengerüst eingepflanzte Knorpel für Erich Schwabe zu einem dauernden Schmerzherd geworden wäre. Vor allem nachts saß er oft stöhnend im Bett und zerrte an den Bettlaken. Dann bohrte ein wahnsinniger, stechender Schmerz von der neuen Nase bis unter die Kopfhaut und schien die Schädeldecke zu sprengen. Ein paarmal war es Schwabe, als platzten ihm die Schläfen. Wimmernd lief er herum, beide Hände gegen die Schläfen gedrückt. Im Krankenhaus zuckten die französischen Ärzte nur die Schultern. Von außen war nichts zu sehen, keine Entzündung, keine Veränderung, keine Verwachsungen oder Deformierungen.»Es werden die Nerven sein«, hieß es wenig tröstend.»Mann, bei solch einer Verletzung bleiben die Nerven nicht ungeschoren. «Und man gab ihm einige starke Narkotikapräparate mit, die er bei einem neuen Schmerzanfall einnehmen sollte.

Aber es war nur eine zeitlich begrenzte Betäubung. In immer schnelleren Intervallen kamen die Schmerzanfälle wieder, jetzt auch am Tage, auf der Baustelle, ganz plötzlich, bei Verhandlungen mit den Zulieferern, die sich an Schwabes Anblick leidlich gewöhnt hatten. Es überfiel ihn wie ein Schüttelfrost. Er zuckte wie von einer Nadel gestochen auf und knirschte mit den Zähnen, wurde weiß im Gesicht, und seine Augen erstarrten wie von einer inneren Lähmung.

Karlheinz Petsch beobachtete still und interessiert die Veränderung Schwabes. Er sagte nichts. Er half, wo er konnte, er flößte Schwabe die Narkotika ein, wenn er vor Schmerzen selbst dazu nicht mehr in der Lage war, er machte die vielen Wege zu den Lieferanten Schwa-bes geduldig mit und setzte die Scheiben ein, die ihm Schwabe zu Hause zugeschnitten hatte. Nur einmal sagte er zu Ursula, als Schwabe in der Apotheke ein neues Rezept einlöste und Frau Schwabe seit drei Stunden wegen einer Sonderzuteilung Frischfisch anstand:»Wer hat recht gehabt, Mädchen? Es geht nicht mehr lange, es wird nie mehr gehen. Ein solches Gesicht bekommt kein Arzt mehr hin. Und wenn es wirklich so weitergeht — was wird dann? Der Erich wird Morphinist.«

«Es ist nicht seine Schuld. «Ursula sah Petsch fast flehend an.»Und du — du laß mich in Ruh'.«

Petsch nickte.»Ich kann warten, Mädchen.«

Anfang Februar, eine Woche vor der errechneten Geburt des Kindes ging es nicht mehr weiter. Erich Schwabe lief wimmernd durch die Kellerwohnung. Frau Schwabe saß entsetzt neben dem Ofen und weinte, Ursula versuchte, ihn zu beruhigen, aber er schrie sie an, aufgelöst in seiner Qual, zermartert von den Schmerzen, die sein Hirn durchbohrten und es aus den Schläfen zu reißen schienen.

«Du mußt nach Bernegg«, sagte Ursula immer wieder.»Du mußt an diese Frau Dr. Mainetti schreiben. Sie allein weiß, was das mit deiner Nase ist.«

«Nicht jetzt«, stöhnte Erich Schwabe. Er legte kalte Kompressen auf seine Nase, er schluckte Narkotika, bis er vor sich hindämmernd auf dem Bett saß und wie verblödet in den Keller stierte. Aber kaum ließ die Wirkung etwas nach, schrie er wieder auf und rannte stöhnend herum.

«In einer Woche kommt das Kind«, sagte Schwabe in einer der jetzt ganz seltenen Pausen zwischen den Anfällen.»Ich will dabeisein. Unser erstes Kind, Uschi. Ich will es sehen und auf den Armen tragen.«

«Aber du hältst es so nicht aus, Erich. Du mußt.«

«Ich verspreche dir, daß ich sofort nach Bernegg fahre, wenn das Kind angekommen ist. Jahrelang habe ich mich auf diesen Tag gefreut: Mein Kind kommt auf die Welt. Das lasse ich mir von niemandem nehmen. Von niemandem, auch nicht von diesen verdammten Schmerzen.«

An einem Februartag war es ganz schlimm. Auch die Betäubungsmittel halfen nicht mehr. Erich Schwabe lag auf dem Bett und schlug in wahnsinnigem Schmerz mit den Absätzen der Schuhe gegen das Bettgestell. Und jeder Tritt war ein lautes Stöhnen und ein Stich im Gehirn.

Erst spät in der Nacht schlief er endlich ein. Ursula hielt ihm die Hände fest, bis er tief und regelmäßig atmete. Dann setzte sie sich an den Tisch und schrieb einen Brief an Dr. Mainetti. Sie versteckte ihn und brachte ihn am nächsten Morgen zur Post, noch bevor Erich Schwabe aus seinem Betäubungsschlaf erwacht war.

«.bitte, bitte helfen Sie uns.«, hatte Ursula an Lisa Mainetti geschrieben.

«.sagen Sie nicht, daß ich Ihnen geschrieben habe. Erfinden Sie irgend etwas, damit er nach Bernegg kommt. Aber so geht es nicht weiter. Oder Erich wird eines Tages wahnsinnig.«

Die Antwort war fast postwendend in Köln. Es war ein kurzes, amtliches Schreiben, das Erich Schwabe durchaus nicht erfreut las.

«Im Verfolg einer routinemäßigen amtlichen Untersuchung werden Sie gebeten, sich in den nächsten Tagen auf Lazarett Schloß Bernegg einzufinden.

Bei Nichtbefolgung dieser Aufforderung erlischt ein späterer Rentenanspruch.«

«Da mußt du hin«, sagte Frau Hedwig Schwabe.

«In fünf Tagen kann das Kind kommen.«

«Wenn deine Rente erlischt!«

«Ich werde hinschreiben. «Schwabe las die Unterschrift.»Professor Rusch hat selbst unterschrieben. Er ist wieder da. Ich werde.«

«Du wirst hinfahren, Erich«, sagte Ursula energisch.»Und zwar schon morgen. Dann bist du wieder zu Hause, wenn ich.«

«Ich warte«, sagte Erich Schwabe störrisch. Er wandte sich an Karlheinz Petsch, der still in einer Ecke saß und frischen Schinken in dünne Scheiben schnitt. Für zwei Pfund Schinken sollte er zehn Sack Zement erhalten.»Was meinst du, Karlheinz?«

Petsch hob die Schultern.»Meine Meinung in Familiendingen ist hier nicht gefragt. Aber von Kumpel zu Kumpel sage ich dir: Fahr hin, Mensch. Gerade jetzt, wo's so in deiner Birne brennt. Weißt du denn so genau, wann das Kind kommt? Wenn's nun noch 14 Tage dauert? Die Bälger kommen nicht nach 'm Fahrplan. Aber ich würd' es mir verdammt überlegen, ob ich den ganzen Kopf nun wegwerfe, wenn ich schon 'n Gesicht verloren habe, 'n Kind ohne Vater ist nämlich wirklich auch kein Idealfall.«

«So schlimm ist's nun auch wieder nicht.«

«Weißt du's? Biste 'n Arzt, Erich?«

«Es sind die Nerven, Karlheinz.«

«Auch gut. Und was macht 'n Kind, das 'nen verrückten Vater hat? Mensch, hau dich in Bernegg in die Klappe und laß dir alles durchsehen. Ich pass' schon auf, daß hier alles weitergeht. Und wenn's mit Uschi soweit ist, hole ich dich mit 'm Wagen ab. Ehrenwort.«

Am nächsten Tag fuhr Erich Schwabe nach Bernegg. Alle begleiteten ihn zum Zug. Sie winkten mit beiden Armen, als der Zug aus der Bahnhofshalle rauchte. Ursula lief neben dem Fenster her, so gut sie es noch konnte mit ihrem schweren Leib.

«Schreib mir sofort, Erich«, rief sie keuchend und blieb stehen, weil das Kind in ihr zuckte und trat und ihr fast das Herz abdrückte.»Und erzähl alles. Und hab keine Angst. Es wird alles gut gehen. Es wird alles — gut — gehen.«

Karlheinz Petsch stand neben ihr, als der Zug aus der Halle hinaus in den schneeigen Tag stampfte. Auch er winkte und legte plötzlich den Arm um Ursulas schmale Schulter.

«Laß das!«zischte sie wütend.

«Ich bin jetzt für dich verantwortlich, Mädchen.«

«Bis er zurückkommt, lass' ich dich nicht mehr in die Wohnung.«

«Das wird er dir übelnehmen. Er hat extra zu mir gesagt: >Sorg für Uschi wie ein Bruder.<«

Sie schüttelte seine Hand ab und trat zwei Schritte von ihm weg. Frau Hedwig beobachtete es und biß sich auf die Unterlippe. Aber sie sagte oder unternahm nichts. Was sollte sie auch tun? Es war ein verfahrener, im Schlamm steckengebliebener Karren, und sie fühlte sich viel zu schwach, um ihn wieder herauszuziehen.

In seinem Abteil setzte sich Erich Schwabe still in seine Ecke, nachdem der Bahnhof im Morgendunst verschwunden war. Er fühlte die Blicke seiner Mitreisenden auf sich liegen wie klebrige Finger, die schamlos und ohne jegliche Rücksichtnahme sein zerstörtes Gesicht abtasteten.

«In Rußland passiert?«fragte ein Mann ihm gegenüber.

Schwabe zuckte zusammen.

«Ja«, antwortete er leise.

«Ihre Frau? Die Blonde?«

«Ja.«

«Eine tapfere Frau, nicht wahr?«

«Warum?«

Er bekam keine Antwort. Er las sie in den Blicken der Mitreisenden. Blicke voller Grauen, verstecktem Ekel, Neugier und unterdrücktem Abscheu. Und Blicke voll triefendem Mitleid. Und plötzlich erkannte er die Ungeheuerlichkeit: Ursula war in diesen ihn anstarrenden Augen tapfer, weil sie ihn liebte — ihn, den Menschen ohne Gesicht.

«Wird — wird das wieder besser?«fragte eine junge Frau, die an der Tür saß.

«Nein«, sagte Schwabe laut und grob. Die Reisenden zuckten zusammen.

«Aber die Kunst der Ärzte. «Der Mann ihm gegenüber hob wie dozierend die Hand.»Ich habe da einmal irgendwo gelesen — aber vielleicht war's nur ein Roman und die Phantasie eines Schriftstellers.«

«Können Sie keine Maske tragen?«Eine Frau mit dicker Hornbrille sah Schwabe interessiert an.»Im Mittelalter hatte man so etwas. Wenn ein Gesicht von Lepra oder Pocken zerfressen war, trug man damals Masken aus weichem Leder. Bei unserer heutigen Wissenschaft wäre es doch möglich.«

Erich Schwabe erhob sich und ging hinaus auf den Gang. Dort lehnte er sich gegen die Scheibe und starrte hinaus in die vorbeifliegende, tief in den Schnee gebettete Landschaft des Westerwalds.

Hinter seinem Rücken hörte er immer lauter werdende, diskutierende Stimmen. Seine Mitreisenden stritten sich, ob die Ledermasken im Mittelalter auch hygienisch gewesen waren.

«Wenn man sie von innen puderte«, rief die gelehrte Dame mit der dicken Brille. Erich Schwabe tastete sich den Gang entlang und schloß sich in dem kleinen Zugklosett ein.

Dort saß er, stützte die Arme auf das schmutzige Waschbecken und starrte gegen die Milchglasscheibe.

Wie in Bernegg, dachte er. Milchglas, das nicht spiegelt. Und allein in einem Zimmer. - Ganz allein.

Wie schön das ist.

In dem kleinen Haus des wiedereingestellten Leiters des Lohnbüros der Möbelfabrik Berger, Christian Oster, war nach den anfänglichen Unsicherheiten der Friede eingekehrt. Aber es war ein trügerischer Friede, dieses Ansiedeln zweier menschlicher Seelen auf einem vulkanischen Boden, der so dünn war, daß man das Brodeln unter den Füßen zu hören meinte.

Christian Oster, der Mann mit dem neuen Gesicht, an dem nur noch die Augen und das Haar an den alten Christian Oster erinnerten, ging seiner Arbeit so fleißig und gewissenhaft wie früher nach. Die ihn von vorher kannten, vermieden es, von den >alten Zeiten< zu sprechen, und als immer neue Heimkehrer kamen und den alten Arbeitsplatz einnahmen, hatte es Herr Berger selbst übernommen, jedem von weitem Christian Oster zu zeigen und zu sagen:»Das ist er. Tut so, als habe er sich nur wenig verändert. Auch wenn Sie es nicht glauben wollen: Es stimmt. Er ist Oster.«

Soweit ging alles gut in der Möbelfabrik. Aber in dem kleinen Haus am Rande der Stadt schliefen die Probleme nur und wurden nicht so einfach gelöst wie auf der Arbeitsstelle. Hier war man unter Männern. In dem Haus aber saß eine Frau, und je näher der Zeiger der Uhr auf die Abendstunde rückte, um so fester zog sich um ihr Herz eine eiserne Klammer aus Angst und Verzweiflung. Wochenlang hatte sie sich Mühe gegeben, in dem neuen Gesicht Züge ihres Mannes zu entdecken. Es war unmöglich gewesen. Selbst seine Stimme hatte einen anderen Klang bekommen, eine näselnde Färbung der Worte. Man hatte ihm ja eine andere Nase geben müssen, einen neuen Unterkiefer, eine Zahnprothese, neue Lippen, und ein Teil der Zungenspitze war abgerissen worden. Wenn er sich unbeobachtet über die schartigen Lippen leckte, sah es aus wie das Züngeln einer Schlange. Es war für Susanne Oster gräßlich, dies zu sehen, und es war vor allem undenkbar, bei einem Kusse diese Zunge an ihren Lippen zu spüren. Allein der Gedanke entsetzte sie.

Das grauenvollste aber waren die Abende und Nächte. Sie saßen dann nebeneinander oder voreinander am Radio oder lasen, und nachts lagen sie wie hölzerne Pfosten nebeneinander, und keiner wagte es, den anderen zu berühren. Sie zogen sich sogar getrennt aus. Meistens lag Susanne schon im Bett, wenn Christian von seinem abendlichen Rundgang durch das Haus zurückkehrte und sich im Badezimmer auszog.

In einer Nacht geschah es dann. Susanne Oster wachte auf, weil ein Lichtschein sie blendete und schneidende Kälte durch ihren Körper rann. Sie schlug die Augen auf und sah das fremde Gesicht ihres Mannes dicht über sich. Das Licht der Nachttischlampe fiel auf ihren Körper. Christian Oster hatte die Steppdecke weggezogen und ihr das Nachthemd über die Brust hochgestreift. Nackt lag Susanne vor ihm, und die Kälte glitt über ihre Haut und ließ ihren Körper leicht vibrieren.

Oster kniete neben ihr. Auch er war nackt, und in seinen Augen lag eine solche Panik, ein solch schreiender Hunger, daß Susanne die Knie anzog und versuchte, das Nachthemd über ihren Leib zurückzustreifen.

Mit hartem Griff hielt Oster ihre Hand fest.

«Nein!«sagte er heiser.

«Christian — «, Susannes Augen weiteten sich voller Angst.»Was soll das? Ich bitte dich. - Bitte, bitte.«

«Über zwei Jahre habe ich gewartet und von diesem Augenblick geträumt. Fünfundvierzigmal bin ich operiert worden, um ein Gesicht zu bekommen. Es war alles umsonst.«

«Christian — du mußt mir Zeit lassen. Versteh mich doch. Es ist mir — es ist…«

«Ich bin ein fremder Mann, nicht wahr?«Christian Oster drückte ihre Hände zur Seite, dann ergriff er das Nachthemd und riß es ihr mit einem Ruck vom Körper.»Gut also — nimm diesen Fremden!«

«Ich kann nicht.«, stammelte sie.»Bitte, bitte.«

«Für wen willst du treu bleiben?«fragte Oster gepreßt. Er legte seine Hände auf ihre Brust und krallte die Finger in ihr kaltes, glattes Fleisch.»Für diesen Christian Oster? Der ist doch tot. Der kommt nie wieder. Nie wieder, hörst du? Der liegt in Rußland. Auf dem Rücken liegt er, und während ihn seine Kameraden in einer Zeltplane wegtragen, schreit er immer: Erschießt mich doch. Erschießt mich doch. Weg ist er, dieser Oster, einfach weg. Und nun ist ein anderer Mann da, und du liegst neben ihm, nackt, und auch er ist nackt. Und er will dich. Hörst du — er will dich. Ich will dich!«

«Christian«, schrie sie und stemmte die Fäuste gegen seine Brust. Sie trat um sich, wehrte sich verzweifelt.

«Ich bin nicht mehr Christian«, brüllte Oster.»Ich bin irgendein Mann, irgendeiner. Ein Mann — ein Mann. «Er preßte seinen Kopf auf den ihren und warf sich auf ihren kalten Leib, der sich unter ihm aufbäumte und sich wegzurollen versuchte.»Ich betrüge mich mit mir selbst«, stöhnte er heiser.»Ich vergewaltige meine eigene Frau. Nur weil ich ein anderes Gesicht habe. Ein anderes Gesicht. Kann ich dafür — kann ich denn dafür? Du — du.«

Er küßte sie. Die Zunge, dachte sie, da ist diese Schlangenzunge. Sie preßte die Zähne zusammen, aber er drängte sie auseinander und vergrub sich in ihrem Mund. Ekel schüttelte sie, Brechreiz würgte in ihrer Kehle. Sie schrie und stöhnte und kratzte ihm den ganzen Rücken auf, bis sie das Blut klebrig an ihren Fingern spürte und die Fetzen seiner Haut unter ihren Nägeln.

«Ich kann nicht — ich kann nicht.«, schrie sie heiser und stieß mit den Knien nach ihm. Da drückte er die Finger gegen ihren Hals, schlug auf sie ein, in blinder, verzweifelter Wut. Er rang mit ihr, keuchend und brutal, bis ihre Körper schweißüberzogen in- und übereinanderglitten.

«Zwei Jahre — «, röchelte er.»Zwei Jahre. Und wenn ich dich dabei umbringe.«

Später lag Susanne Oster vor ihm, blaß, mit geschlossenen Augen, blutverschmiert und wie ein knochenloser Körper in einer seltsam verkrümmten Stellung. Christian Oster saß neben ihr und streichelte weinend ihren mißhandelten Leib.

«Verzeih' mir«, sagte er schluchzend.»Aber ich konnte nicht mehr. Verstehst du das denn nicht, Susi? Ich konnte einfach nicht mehr. Freiwillig wärst du nie zu mir gekommen.«

Sie antwortete nicht. Wie tot lag sie vor ihm. Da sprang er auf, holte warmes Wasser und wusch den Körper wie ein Leichenwäscher. Sie ließ es geschehen, mit geschlossenen Augen, um den Mund ein Ausdruck tiefster Verachtung.

Am Morgen sprach sie ebenfalls nicht darüber. Stumm machte sie wie jeden Morgen seinen Kaffee, packte ihm Frühstücksbrote ein und duldete seinen scheuen Abschiedskuß. Und dann saß sie allein in dem kleinen Haus am Stadtrand, starrte in den Spiegel und sah sich an. Ein bleiches, schmal gewordenes Gesicht, mit Augen, die in tiefen Schatten lagen. Ein rundlicher Körper, auf dem die Striemen der Nacht lagen wie rote, vollgefressene Würmer.

Am Abend kam Christian Oster später als sonst zurück.

Er war betrunken.

Mit hartem Griff faßte er Susanne, zerrte sie wieder ins Schlafzimmer und vergewaltigte sie von neuem. Sie biß ihm wie eine Wildkatze in das neue Gesicht, sie riß ihm mit den Zähnen die mühsam gestalteten neuen Lippen auf — es kümmerte ihn nicht. Er zwang sie unter seinen Willen und nahm sie mit einem Schrei, der sich anhörte wie ein Triumphgeheul.

Und so war es jetzt jede Nacht. Er war betrunken und tat ihr Gewalt an. Und von Tag zu Tag verfiel er mehr, und sein Blick wurde glasig, starr und fast irr.

Aber dann weinte er wie ein Kind.

«Verzeih mir, verzeih«, stammelte er dann.

Aber sie sprach kein Wort, sie legte die Hände auf ihren Leib und drehte den Kopf zur Seite. Sie haßte ihn, und er spürte es und suchte Vergessen in neuer Wildheit.

Major James Braddock war zurück in die USA gefahren. Es hatte einen whisky-fröhlichen Abschied gegeben, und Lisa Mainetti hatte traurig an der Straße gestanden, als Braddocks Jeep noch einmal eine Runde um den Schulhof fuhr und dann hinausknatterte auf die Chaussee nach Würzburg.

«Ich komme wieder, Darling«, hatte Braddock gerufen. Auch ihm versagte die Stimme am Schluß. Verdammt, dachte er. Da ist man in dieses Land gekommen, um das Unrecht auszutreiben. Man hatte sich gesagt: >Diesen Deutschen werden wir es zeigen. Eher geben wir einem Nigger die Hand als einem dieser Pseudogermanen.< Und nun? Man hatte sich in dieses Land verliebt, und der Abschied war schwerer als jener Abschied vor zwei Jahren im Hafen von New Orleans. Ein Stück Herz blieb zurück und — verflucht — es war das beste Stück, das man anzubieten hatte.

Seine letzte Tat als Kommandant war gewesen, Schloß und Lazarett Bernegg als aufgelöstes Kriegsgefangenenlager zu erklären und die Überführung in die Zivilverwaltung vorzubereiten. Der bayerische Staat übernahm die Zuständigkeit. Man merkte es sofort daran, daß jetzt jeden Tag lange Fragebogen eintrafen, ein neuer Verwaltungsdirektor die Leitung übernahm und umständlich Kostenberechnungen angestellt wurden, ob es sich lohnte, diese Spezialklinik aufrechtzuerhalten, oder ob es besser sei, die Gesichtsverletzten durch die heimatlichen Kliniken behandeln zu lassen.

«Ich habe Medizin studiert, nicht um Buchhalter zu werden, sondern um zu helfen«, sagte Professor Rusch nach zwei Tagen zu dem neuen Verwaltungsdirektor, als der wieder um Unterlagen bat.»Wenn man Geld genug hatte, sechs Jahre Krieg zu führen, sollte man auch

Geld genug haben, die Opfer dieses Irrsinns anständig zu versorgen.«

«Sie vergessen, daß wir den Krieg verloren haben«, sagte der Verwaltungsmann indigniert.

Major Braddock hatte die Schlacht der Fragebogen noch in ihren Anfängen miterlebt. Er lächelte breit und musterte den papier-übersäten Schreibtisch Ruschs.

«Es ist wahrscheinlich die größte Strafe für die Deutschen, wenn sie den Deutschen überlassen werden«, sagte er grinsend.»Stellen Sie sich vor, wir zögen plötzlich ab und überließen Sie Ihrem Schicksal.«

«Das wäre teuflisch«, antwortete Lisa Mainetti. James Braddock wußte nicht, ob es ehrlich oder wieder ironisch gemeint war. Er beschloß, das erstere zu glauben.

Nach der Umwandlung des Lazaretts Schloß Bernegg in eine Lan-des-Spezialklinik war die Tätigkeit Dr. Mainettis eigentlich beendet. Sie konnte gehen, wohin sie wollte, ihre Dienstverpflichtung war erloschen. Es war eine Kriegsmaßnahme gewesen. Da auch Dr. Sten-ton versetzt wurde, waren nur noch Professor Rusch und Dr. Voh-rer als Ärzte auf Schloß Bernegg. Auch Dr. Vohrer hätte hingehen können, wohin er wollte; als Militärarzt war er entlassen. Er war in Bernegg geblieben und hatte um seine Anstellung nachgesucht.»Was soll ich jetzt in Hagen?«hatte er Rusch gefragt.»Sicherlich, Ärzte braucht man überall. Aber ich glaube, hier bei Ihnen habe ich den besten Platz. Darf ich bleiben, Herr Professor?«

Es war noch gar nichts entschieden, als Lisa Mainetti den >Ge-stellungsbrief< mit Ruschs Unterschrift an Erich Schwabe schickte und ihn nach Bernegg holte. Nur ein neuer Arzt war aus München gekommen, gewissermaßen als eine Art >amtliches Auge<. Er berichtete an das Arbeitsministerium über Wesen und Arbeit der Bernegger Klinik. Mit Dr. Mainetti war er gleich am ersten Tag zusammengestoßen.

«Hier gab es einmal einen Arzt, der war braun«, sagte sie.»Ich hoffe, daß Sie nicht hier sind, um eine andere aktuelle Farbe zu verkörpern.«

Dr. Peter Sulzbarth verschluckte schicklich alle Bemerkungen und berichtete wahrheitsgetreu nach München:»Die Klinik ist dringend erforderlich. Sie ist bestens eingerichtet und mit 123 Gesichtsverletzten aller Grade belegt. Die Leitung ist bei Professor Rusch in den besten Händen. Neben ihm und Dr. Vohrer ist auch noch eine Frau Dr. Lisa Mainetti im Haus, eine qualifizierte Chirurgin, aber eine etwas schwierige Dame.«

Zunächst übernahm man provisorisch die alte Besetzung. Sogar der Famulus Baumann wurde als 1. Krankenpfleger mit Gehalt übernommen.»Noch ein Jahr, Herr Professor«, hatte er gebeten,»dann bin ich so weit, daß ich wieder studieren kann. Wenn ich so lange bleiben darf.«

So war das Wiedersehen mit Erich Schwabe nicht anders als eine Rückkehr von einem längeren Urlaub.

«Gott verhüte, daß nun auch der Wastl und der Berliner zurückkommen«, rief Baumann, als er Schwabe umarmte.»Wir haben nicht mehr die Kraft, euch alle noch einmal zu ertragen.«

Dr. Mainetti und Professor Rusch untersuchten Schwabe sofort. Sie gerieten in einen neuen Schmerzanfall hinein, der um so heftiger war, als Schwabe keinerlei Narkotika bei sich hatte. Stöhnend und mit den Zähnen knirschend, saß er im OP und umkrallte den Arm Lisa Mainettis.

«Mein Kopf«, wimmerte er.»Himmel — mein Kopf..«

Rusch injizierte ihm Eukodal und machte von seinem Schädel Röntgenaufnahmen in allen möglichen Ebenen. Schon Minuten später hielt er die noch feuchten, tropfenden Aufnahmen gegen das Licht der OP-Lampe. Es zeigte sich, daß sich zwischen dem Wundgrund und dem eingepflanzten Knochensplitter eine Verdickung gebildet hatte. Sie drückte auf einen Nerv und erzeugte den wahnsinnigen Schmerz. Rusch sah Dr. Mainetti kurz an. Lisa nickte.

«Was ist es?«fragte Schwabe leise.

«Mist ist es«, sagte Lisa laut.

«Die Nase«, Schwabe atmete tief durch.»Muß sie wieder weg.?«

«Ja.«

«Mein Gott. Geht es jetzt wieder von vorn los?«

«Es scheint so. Haben Sie keine Sehstörungen bemerkt?«

«Ab und zu ein Flimmern. Doch, doch. Und einmal habe ich alles doppelt gesehen. «Schwabe erinnerte sich an den ersten Fehlschlag mit seiner Nase. Auch damals waren diese Sehstörungen aufgetreten, und man hatte ihm gesagt, daß er nahe an einer Erblindung vorbeigekommen war.»Mein Gott, Frau Doktor«, stammelte er.»Ist es das wieder? Wie damals? Werde ich blind?«

«Nur keine Panik, Schwabe. «Professor Rusch legte die Röntgenbilder zur Seite.»Sie werden diese Nacht ruhig durchschlafen, und morgen gehen wir wieder an dieses Biest von Nase heran.«

«Und — wie lange dauert es?«

«Bis Sie wieder nach Köln zurück können? Etwa vier Wochen.«

«Unmöglich. «Schwabe rutschte vom Schrägen und legte wie zum Schutz seine rechte Hand über die Nase.»Das geht nicht.«

«Wieso denn nicht?«

«Meine Frau bekommt doch in den nächsten Tagen das Kind.«

«Ihre Frau — aber doch nicht Sie. Die bringt es auch allein auf die Welt.«

«Aber ich will dabeisein. Es ist — wie man so sagt — das größte Ereignis in meinem Leben.«

«Das größte Ereignis war, als man Ihnen das Gesicht wegrasierte«, sagte Professor Rusch grob.»Alles andere ist dagegen unwichtig. Diese Operation muß sofort gemacht werden.«

«Aber wenn sie noch einige Tage Zeit hat — nur ein paar Tage noch, Herr Professor.«

«Ich kann diese Verantwortung nicht übernehmen. Ach was, Schwabe, ich lasse Sie einfach nicht weg aus Bernegg.«

Schwabe senkte den Kopf. Er wußte, daß Rusch es gut meinte, er wußte, daß er recht hatte, er spürte, daß in seinem Kopf etwas war, das gefährlicher war als alles, was er bisher durchgestanden hatte. Aber er sah nicht ein, daß es nicht ein paar Tage Zeit haben sollte.

«Das war früher«, sagte Schwabe gepreßt.»Früher, Herr Professor, konnten Sie befehlen. Heute sind wir Privatpersonen.«

«Ein Idiot sind Sie«, rief Dr. Mainetti laut.»Sie bleiben hier — und damit basta. Und wenn es gar nicht anders geht, holen wir Ihre Frau nach Bernegg und lassen sie hier entbinden. Wir können nicht nur neue Nasen und Kiefer machen.«

«Wenn — wenn das möglich wäre«, sagte Erich Schwabe voll Hoffnung.»Frau Doktor — wenn Uschi nach hier kommen kann.«

«Natürlich geht das.«

«Kann ich ihr sofort schreiben? Oder sogar telegrafieren?«

«Von mir aus. «Dr. Mainetti blinzelte Rusch zu, als sie dessen erstaunt fragenden Blick sah.»Erst einmal legen Sie sich auf das berühmte Zimmer B/14.«

Erich Schwabe entschloß sich, sein Telegramm an Uschi bis zum nächsten Tag aufzuschieben. Famulus Baumann setzte ihn für die Nacht unter Eukodal, und so schlief er ruhig bis gegen 8 Uhr morgens.

Professor Rusch hatte noch lange mit Lisa über die bevorstehende Operation gesprochen. Er hatte mit einem Histologen in Würzburg telefoniert und gebeten, zu der Operation herüberzukommen. Mit bleichem Gesicht hatte Lisa das Gespräch gehört und immer wieder die Röntgenbilder angesehen.

«Du glaubst doch nicht, daß es.«, sagte sie dumpf und ließ das Wort unausgesprochen. Rusch hob die Schultern.

«Wir müssen mit allem rechnen, Lisa. Es ist ja bekannt, daß durch traumatische Schäden Tumore entstehen können.«

«Und — und wenn es — das ist?«

Rusch hob wieder die Schultern, diesmal stumm und ohne Lisa anzusehen. Es bedurfte keiner Antwort, Lisa kannte sie selbst gut genug.

«Willst — willst du es ihm sagen, wenn es wahr ist?«

«Ja.«

«Er wird sich wieder das Leben nehmen wollen.«

«Diesmal nicht. Er hat ein Kind. Und er wird die Zeit, die ihm noch bleibt, nur für dieses Kind leben.«»Er wird wahnsinnig werden.«

Rusch senkte den Kopf. Seine Stimme war klein und fast kläglich.

«Das wird er so oder so — wenn es wahr sein sollte.«

Die Operation wurde um zwei Tage verschoben. Der Histologe aus Würzburg hatte sich den Fuß verstaucht und lag mit Alkoholkompressen im Bett. Aber er versprach, sich so schnell wie möglich nach Bernegg fahren zu lassen.

Erich Schwabe hatte einen Brief an Ursula geschrieben. Das erschien ihm besser als ein kurzes Telegramm. Er ließ ihn durch Eilboten wegschicken und wartete nun auf Uschis Anruf. Statt dessen kam einen Tag später ein Brief aus Köln. Nicht von Ursula, nicht von Karlheinz Petsch oder Frau Hedwig Schwabe. Es war ein unscheinbares, neutrales Kuvert, ein billiges Kuvert aus der Kriegszeit. Ein Brief ohne Absender.

Verwundert riß Schwabe den Umschlag auf und entnahm ihm einen Zettel aus braungrauem Wehrmachtspapier. Mit einer alten, verschmutzten und typenverschlissenen Schreibmaschine waren ein paar Sätze geschrieben.

«Sie Narr, glauben Sie, Ihre Frau liebt Sie? Betrogen werden Sie. Sie können nichts dafür, daß Sie kein Gesicht mehr haben, deshalb tun Sie uns leid. Glauben Sie wirklich, dieser Petsch tut alles nur aus purer Kameradschaft? Fragen Sie doch mal Ihre Frau. Einige Nachbarn.«

Erich Schwabe las den Brief ein paarmal, ohne zu atmen. Dann seufzte er und legte sich zurück auf sein Bett im Zimmer 14.

Wie gemein, dachte er. Wie kann man Uschi so verdächtigen.

Aber dann dachte er weiter.

Wer hatte ihn gedrängt, wieder nach Bernegg zu fahren?

Wie kam es, daß gerade in diesen Tagen dieser Brief von Professor Rusch kam? Ein Brief — wie bestellt.

Wie war es bei dem ersten Ausflug mit dem neuen Wagen.»Wir fahren, wohin Uschi will«, hatte Petsch gerufen. Immer hatte er Schokolade mitgebracht. Und als er, Schwabe, damals unverhofft zurückkehrte — wer saß im Keller? Wer trank Cognac? Wer hatte begonnen, eine Wohnung aufzubauen? Wer trat sofort seinen schönen, großen, ausgebauten Keller ab?

Erich Schwabe las den Brief noch einmal.»Fragen Sie doch mal Ihre Frau.«

«Das ist nicht wahr«, sagte Schwabe laut.»Das ist eine Gemeinheit. Das ist nicht wahr!«

Nach dem Mittagessen ging Schwabe hinunter nach Bernegg.»Ich hole mir Briefpapier«, sagte er zu Baumann, den er auf dem Flur traf. Und er scherzte sogar:»Abmelden braucht man sich ja jetzt nicht mehr, was?«

Am Abend war er noch immer nicht zurück. Als Baumann es bei Dr. Mainetti meldete, saß Erich Schwabe bereits im Zug und fuhr durch das verschneite Hessen.

Fragen Sie doch mal Ihre Frau, bohrte es in ihm. Sie können nichts dafür, daß Sie kein Gesicht mehr haben.

Nun wollte er sie fragen.

Was ist mit Karlheinz Petsch?

Von wem — von wem ist das Kind?

Erich Schwabe stöhnte und legte sein zerstörtes Gesicht in beide Hände.

Er war allein. Er saß wieder auf dem Zugklosett, vor der klappernden Milchglasscheibe.