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Petra Wolfach schloß die Außentür und rief in die weite Diele:»Hallo!«Das Klavierspiel wurde nicht unterbrochen, aber im Hintergrund, unter einer breiten Treppe in den oberen Stock, öffnete sich eine Tür, und ein Hausmädchen erschien.
«Ihr Herr Vater wartet schon«, sagte das Mädchen und kam näher, um die Mäntel abzunehmen. Da sah sie Walter Hertz. Sie riß die Augen weit auf, ein Zucken lief über ihr Gesicht, der Körper spannte sich in dem Willen, wegzulaufen, fort von diesem Anblick, der Entsetzen verbreitete.
«Was ist denn?«fragte Petra laut.»Nehmen Sie doch Herrn Hertz den Mantel ab!«
Das Mädchen tat es, mechanisch, mit spitzen Fingern, als sei es ein ekliger Gegenstand, den sie forttrug. Walter Hertz sah ihr nach, er stand da mit hängenden Armen und zuckendem Kehlkopf.
«Ich… ich gehe doch besser«, sagte er leise, als Petra vom Spiegel zurückkam, wo sie sich rasch das Haar gekämmt hatte.»Wir haben uns zuviel für einen Tag vorgenommen. Es dauert nur eine Sekunde, und das Gesicht ist weg. Aber es dauert Jahre, bis die anderen, die Gesunden, uns wieder ansehen können. Ich habe es dir gesagt, Petra. Es ist zu früh mit mir. Bitte, laß mich wieder gehen!«
«Du bleibst! Erna ist eine dumme Pute. Papa und Mama sind ganz anders. Du wirst es sehen.«
Sie gingen durch die Halle, durch ein Speisezimmer und einen Salon und sahen durch eine breite Glastür den großen Wohnraum mit den Fenstertüren zum Park. In einem offenen Kamin aus rotem Marmor brannten dicke Buchenscheite, zwei Stehlampen verbreiteten einen gedämpften Schein über die mit Gobelinstoff bezogenen, schweren Sessel und den weißen Flügel. Eine hochgewachsene, schlanke, schwarzhaarige Frau saß davor und spielte Chopin. Zarte, schmale Finger glitten über die Tasten.
«Mama war früher Pianistin, bevor sie Papa heiratete. Wir haben oft Hauskonzerte gegeben. «Petra legte die Hand auf die Klinke der Glastür. Walter Hertz stand im Dunkel des Salons, an einen alten, geschnitzten Schrank gedrückt.
«Bitte, laß mich gehen«, flehte er.
«Schämst du dich, daß du dein Gesicht geopfert hast?«
«Nein, aber die anderen schämen sich, daß so etwas herumläuft!«
Petra Wolfach drückte die Klinke herunter. Sie stieß die Tür auf und rief in einen perlenden Tonlauf hinein:
«Da sind wir! Und das ist Walter Hertz!«
Sie zog Hertz in den Raum. Der Feuerschein aus dem offenen Kamin flackerte und zuckte über seinen Kopf, über das schiefe Gesicht und das abgerutschte linke Augenlid, als läge dieser Kopf in einem Scheiterhaufen und schrumpfe in den Flammen zusammen.
Frau Wolfach blickte von den Tasten auf, ihr Blick traf auf Walter Hertz, und das Nocturne von Chopin erstarb in einem grellen Mißklang.
Walter Hertz senkte wieder den Kopf. Man brauchte nichts mehr zu sagen. Der Aufschrei des Klaviers sagte mehr als tausend Worte. Er zerriß die letzte winzige Hoffnung.
«Guten Abend«, sagte er leise und rang mit sich, nicht loszuschreien.»Ich wollte nicht mitkommen. Bitte verzeihen Sie. Aber Petra ließ nicht locker. Darf ich mich gleich wieder verabschieden?«
Hubert Wolfach, Fabrikant und als Chef eines Zulieferungsbetriebs der Rüstung unabkömmlich, erhob sich aus dem tiefen Sessel am Kamin. Er warf seiner Frau einen schnellen, fast befehlenden Blick zu und kam mit sichtlicher Jovialität auf Walter Hertz zu.
«Sie sind Gast meiner Tochter und damit auch unser Gast, Herr Hertz«, sagte er und drückte dem Gesichtslosen die Hand.»Bitte verzeihen Sie, wenn… wenn der erste Eindruck. Aber das werden Sie gewöhnt sein! Es ist ein schreckliches Schicksal, wirklich. Aber unsere Ärzte sind so tüchtig, glauben Sie mir. Es wird sich wieder alles normalisieren.«
Auch Frau Wolfach war nähergekommen. Sie reichte Walter Hertz ihre lange, schmale Hand hin, eine kühle, glatte Hand, die kaum, daß er sie spürte, auch schon wieder aus seinen Fingern glitt wie ein Schlangenleib.
«Trinken Sie ein Glas Wein mit uns?«fragte sie.
Wie sehr sie sich beherrscht, dachte Walter Hertz. Aber ihre Kälte ist noch grausamer als das natürliche Entsetzen, mit dem man mich sonst betrachtet.
«Ich möchte wirklich nicht stören«, sagte Hertz und blieb stehen.
«Nun kriegen Sie keine Komplexe, junger Krieger!«rief Hubert Wol-fach. Er drückte Hertz in einen der Sessel und schob mit dem Fuß ein verkohltes Buchenscheit tiefer in die Flammen des Kamins.»Trinken wir einen Rotwein, ja? Rotwein ist blutbildend und stärkend. Das können Sie gebrauchen, was?«
«Walter wird heute nacht hier schlafen. Er hat einen Urlaubsschein bis morgen 24 Uhr«, sagte Petra. Frau Wolfach schwieg. Wie gefroren saß sie am Kamin, unbeweglich, weiß.
«Ich. ich möchte das wirklich nicht«, stotterte Hertz.
«Erna kann das erste Fremdenzimmer fertig machen!«Hubert Wol-fach goß den Rotwein in die Gläser, hob seins in den zuckenden Schein der Flammen und ergötzte sich an der rubinroten Farbe seines Weines.»Aus Frankreich«, sagte er.»Ein echter Mouton Rothschild. Zwei Kisten hat man mir mitgebracht. Verbindungen, wissen Sie. Na, dann Prost, Herr Hertz!«
Es wurde wenig gesprochen. Hertz erzählte stockend von seiner Verwundung, von jenem Sommertag, dem 30. Juni 1944, an dem plötzlich vor ihm eine Rauchfahne aufstieg, die Erde aufriß und der Himmel versank. Eine unsichtbare Faust hatte ihn gegen die linke Seite des Kopfs geschlagen, er war in die Knie gebrochen und hatte eben noch gesehen, wie die Fontäne aus Erde und Feuer zusammensank und der blaue Sommerhimmel wiederkam. Als er später aufwachte, in einem rumpelnden Pferdewagen, der südlich Minsk nach Westen flüchtete, hatte er mit seinem Gesicht seine Jugend, seine Zukunft, sein Menschsein verloren. Er fand dies alles erst wieder unter den Händen Dr. Lisa Mainettis.
«Schrecklich, schrecklich«, sagte Hubert Wolfach und goß neuen Wein zu.»Jaja, die Kriege. Ich habe den Ersten Weltkrieg ja auch mitgemacht. Die Marneschlacht, Ypern, Cambrai, zwei Gasangriffe. Auch wir hatten viele Verluste. Wo gehobelt wird, fallen eben Späne. «Er klopfte Hertz mit väterlich-nationaler Güte auf die Schulter.»Aber keine Sorge, junger Krieger, nicht den Kopf hängen lassen! Unsere Ärzte kriegen das wieder hin. Und später wird man immer sagen: Das hat er für das Vaterland getan.«
Walter Hertz schwieg. Ihm war speiübel zumute. Er sah Petra an, und über den gähnenden Abgrund, der zwischen ihren beiden Wel-ten lag, schien für diesen einen Augenblick lang kein Steg mehr zu führen.
Wenig später führte ihn Petra auf sein Zimmer. Sie gab ihm einen Kuß auf die verbundene Stirn.»Schlaf gut, Walter«, sagte sie.
«Gewiß. Du auch, Petra.«
Er wartete, bis sie aus dem Zimmer war. Er schloß die Tür ab und trat an den Spiegel, der über dem Waschbecken hing. Lange sah er sich an, eine durch Binden und Leukoplaststreifen gemilderte Fratze.
«Nein«, sagte er und lehnte den Kopf an den Spiegel.»Nein, du kannst nicht mehr geliebt werden.«
Er löschte das Licht, zog die Vorhänge zurück, öffnete das Fenster und setzte sich in der Dunkelheit auf einen Stuhl. Unten lag Bernegg, dunkel, schemenhaft, Häuser wie Daumeneindrücke im Schnee. Auf den Höhen stand die dunkle Wand der Wälder. Weit weg, gegen Norden, jagten Blitze über den Nachthimmel. Flakfeuer, ein Luftangriff. Neue Tote, neue Trümmer, schreiende Menschen, neue Krüppel, neue Gesichtsverletzte.
Und später wird man immer sagen: Das hat er für das Vaterland getan, dachte Walter Hertz.
Ist das Vaterland das wert?
Ist es wie ein Vater zu uns?
Plötzlich dachte er daran, warum er hier in dem dunklen Zimmer einer feudalen Villa saß. Morgen früh würde eine Kommission durch das Lazarett gehen, die auch nur halbwegs Wiederhergestellten unter den Gesichtsverletzten würden herausgeholt werden. Zurück an die Front.
Das Vaterland!
Ein nimmersatter Moloch!
Der Dank!
Walter Hertz sah aus dem Fenster. Drei Meter unter ihm lag der tief verschneite Boden. Es würde nicht schwer sein, hinunterzuspringen und wegzugehen, irgendwohin, wo man nicht vom Vaterland sprach.
Im Wohnzimmer stellte Frau Wolfach die Gläser auf ein Tablett,
Hubert Wolfach schloß die Flasche Mouton Rothschild in einen Wandschrank und schob mit einem großen, schmiedeeisernen Haken die verglimmenden Buchenscheite weiter zurück. Trotzig, mit zusammengepreßten Lippen stand Petra am Kamin, die Hände zu Fäusten geballt.
«Wie stellst du dir das vor?«fragte Frau Wolfach.»Sicherlich, er mag ein netter Mann gewesen sein.«
Diese Feststellung in der Vergangenheit bedurfte keiner weiteren Erklärungen. Hubert Wolfach räusperte sich.
«Petra tut nur ihre Pflicht, meine Liebe. Verwundetenbetreuung ist etwas sehr Wichtiges. Sie hebt die Moral der Truppe. Man braucht da nicht gleich zu denken, daß.«
«Mutter erkennt es besser als du!«sagte Petra hart.»Ich habe Walter Hertz gern.«
Hubert Wolfach drehte sich abrupt um.»Was soll das heißen?«
«Was Mutter befürchtet: Ich liebe ihn.«
«Einen Menschen ohne Gesicht?«
«Ist er deshalb weniger wert als andere?«
«Aber es ist doch. Petra, wenn man ganz nüchtern denkt. «Hubert Wolfach sah hilfesuchend zu seiner Frau.»Du bist unser einziges Kind. und. und. Im übrigen ist es nur wieder eine von deinen Verrücktheiten!«
«Nein, Vater! Jetzt liebe ich ihn gerade! Alle lassen ihn allein. Er ist doch kein Aussätziger, er ist doch nicht schuld an seinem Aussehen, er hat doch sein Gesicht verloren, damit wir hier in unserer Villa leben dürfen, damit du weiter dein Geld am Krieg verdienen kannst, damit du deinen Mouton Rothschild trinken und Mutter ihren Chopin spielen kann. Für euch hat er sein Gesicht verloren. Und ihr jagt ihn jetzt weg wie einen räudigen Hund!«Sie schrie plötzlich, unbeherrscht, die Fäuste nach vorn werfend, als wolle sie nach ihren Eltern schlagen.»Er braucht uns, versteht ihr das denn nicht? Er braucht mich, um wieder zurückzufinden in das Leben, das ihm der Krieg gestohlen hat. Und ihr, ihr seid mitschuldig daran!«
«Petra!«Hubert Wolfach knöpfte seine Jacke zu.»Das sind ja geradezu kommunistische Reden! Ins Bett! Sofort! Wir sprechen noch darüber! Und auch mit diesem jungen Mann werde ich sprechen. Ganz nüchtern, von Mann zu Mann. Er wird genügend Verständnis aufbringen.«
«Das hat er für das Vaterland getan. Hast du das vorhin nicht selbst gesagt, Vater?«
«Gewiß…«
«Sind wir nicht sein Vaterland?«
Hubert Wolfach winkte ab und stellte die Regulierklappe des Kamins auf klein.
«Das sind so Redensarten, weißt du«, sagte er mit väterlicher Nachsicht.»Das tut so einem armen Menschen gut.«
Eine Stunde später stapfte Walter Hertz durch den Schnee den Hügel hinab. Er war aus dem Fenster gesprungen und über den Zaun des Parks geklettert. Nun keuchte er durch den knietiefen Schnee, vorbei an dem schlafenden Bernegg, den Wäldern entgegen, der großen, wunderbaren Einsamkeit.
Was er tun wollte, wußte er nicht, wo er die Nacht verbringen würde, daran hatte er nicht gedacht. Er spürte nur die Sehnsucht, hinauszulaufen in Dunkelheit, Schnee und Wald, wie ein Wolf, der die Nähe der Menschen flieht.
Der Besuch der Kommission war vorbei. Die Stationen waren durchgegangen, von den Bunkern hatte man nichts erwähnt, und Oberst Mayrat hatte auch nichts gefragt. Die beiden Stabsärzte, die Mayrat als Fachleute mitgebracht hatte, führten auf einer Liste die Namen von dreiundzwanzig Männern, die nach ihrer Ansicht fähig waren, im Ersatztruppendienst und im Nachschub eingesetzt zu werden.
Professor Rusch ließ die beiden Ärzte ohne Widerrede schreiben. Dr. Mainetti ließ es sich nicht entgehen, Oberst Mayrat den toten Leutnant Rudolf Fischer zu zeigen. Ehrlich erschüttert sah Mayrat auf diesen zerfetzten Kopf und wandte sich dann schnell ab.»Es be-ruhigt etwas, wenn man daran denkt, daß der Gegner auch solche Verluste hat!«sagte er dabei.
«Man sollte diese >Beruhigung< der wartenden Frau schreiben!«sagte Lisa giftig. Oberst Mayrat verließ stampfend das Zimmer. Seit dem Beginn der Auskämmung hatte sich die Stimmung sehr gewandelt. Die Gegnerschaft zwischen dem Lazarett und der Kommission v. Unruhs war deutlich geworden. Generalarzt Professor Gilgen versuchte mit weisen Worten zu vermitteln, doch er prallte gegen zwei Mauern, an denen seine Argumente zerschellten.
Im Gemeinschaftssaal hatten die Ordonnanzen eine Tafel aufgestellt und gedeckt. Es gab Gulasch mit Nudeln und dazu ein dünnes Bier, das aus der ehemals berühmten Schloßbrauerei stammte. Die gesamte Ärzteschaft des Lazaretts aus allen Blocks war anwesend, die Zahlmeister und der dicke Stabsintendant, der sich >Chef der Verwaltung< nannte. Drei Sanitäter unter Leitung des Famulus Baumann servierten.
«Meine Herren!«sagte Oberst Mayrat, und es war so etwas wie eine Tischrede, zu der er ansetzte.»Es freut mich, daß auch der heutige Tag in einem so guten, kameradschaftlichen Geist vergangen ist und daß wir unter Anlegungen weitestgehender Toleranz doch noch ein ganz schönes Grüppchen für die Entlastung unserer im Schicksalskampf um die Nation stehenden Front herausziehen konnten.«
Weiter kam er nicht. Professor Rusch klopfte mit der Gabel an sein Bierglas. In die Augen Lisa Mainettis kam ein besorgter Ausdruck. Sie trat Rusch unter dem Tisch auf den Fuß, aber er reagierte nicht darauf. Oberst Mayrat blickte verwundert und verärgert zu Rusch hinüber.
«Bitte?«fragte er mit maliziöser, hoher Stimme.
Rusch erhob sich. Sein zerfurchtes Gesicht war kantig. Lisa kannte diese Veränderung an ihm, es gab jetzt keine Kompromisse mehr.
«Ich möchte einen Irrtum klarstellen!«rief Professor Rusch mit lauter Stimme.»Herr Oberst Mayrat spricht von einem Grüppchen Verwundeter, die seine Kommission für wert erachtet, wieder dem Führer zu dienen!«Jeder spürte den dicken Spott aus seinen Worten. Professor Gilgen sah aufgeregt zu Dr. Mainetti hinüber. Hilflos hob sie leicht die Schultern.»Es stimmt. Es existiert seit einer Stunde eine solche Liste. Der Irrtum aber ist, daß wohl Namen aufgeschrieben worden sind — aber wer aus diesem Lazarett entlassen wird, bestimme ich!«
«Herr Oberstabsarzt!«rief Oberst Mayrat hochrot im Gesicht.
«Ich allein, Herr Oberst!«schrie Professor Rusch zurück.»Ich bin Arzt! Ich habe einen Eid auf die Menschlichkeit geschworen!«
«Einen Eid auf den Führer!«schrie Mayrat.
«Auch das!«Professor Rusch lächelte mokant.»Ich danke Ihnen, Herr Oberst, daß Sie zwischen Menschlichkeit und Führer einen so großen Unterschied herausstellen! Ich hatte das nicht bedacht!«
«Unerhört!«schrie Mayrat.
Professor Gilgen legte die Hand vor den Mund.»Er ist verrückt«, sagte er leise.»Er ist total verrückt.«
«Als Chefarzt dieses Lazaretts beurteile ich allein, welcher Verwundete zur Entlassung vorgeschlagen wird! Ich trage hier allein die Verantwortung, und auch ein General v. Unruh kann sie mir nicht abnehmen!«
«Er tut es!«brüllte Oberst Mayrat außer sich.»Meine Kommission hat das Recht.«
«Sie hat das Recht auszusuchen. Sie entbindet mich vielleicht vor dem Gesetz von meiner Verantwortung — aber nicht vor Gott, Herr Oberst.«
«Lassen Sie den alten Mann aus dem Spiel! Es geht um Sein oder Nichtsein des Volks!«
«Was für ein Sein ist das, das von dreiundzwanzig Menschen ohne Gesicht abhängt!«
Oberst Mayrat schwieg, als habe man ihn mit einem mächtigen Schlag betäubt. Er sah sich um. Überall blickte ihm Kälte entgegen, Gegnerschaft, Verachtung, Haß. Generalarzt Professor Gilgen wandte den Blick zur Seite, als Mayrat ihn musterte.
«Ach, so ist das«, sagte Mayrat leise.»So also ist die Stimmung in der Heimat. Ein neuer Dolchstoß.«
Professor Rusch legte die Hände um sein Bierglas. Auch wenn sie alle in diesem Saal so dachten wie er — er wußte, daß er einsam dastand und für ein Recht kämpfte, das seinen Kopf wert war.
«Ich werde Herrn General v. Unruh einen genauen schriftlichen Bericht über die 23 ausgewählten Verwundeten einreichen«, sagte er kalt.»Ich werde Schlußuntersuchungen vornehmen müssen und Gutachten für spätere Ansprüche. Melden Sie bitte General v. Unruh, daß diese Meldung schätzungsweise vier Wochen dauern wird. Wir werden die deutsche Gründlichkeit nicht verletzen.«
Oberst Mayrat setzte sich. Er aß nichts mehr und ließ auch das Bier stehen. Mit verkniffener Miene verabschiedete er sich nach dem Essen von den Ärzten, und er küßte auch Lisa Mainetti nicht mehr die Hand. Professor Gilgen blieb noch einen Augenblick bei Rusch stehen, bevor er in seinen Horch stieg.
«Sie waren unvorsichtig, Rusch«, sagte er leise.»Ihre Äußerungen in die Ohren der Gestapo. Seien Sie klug, so kurz vor dem Ende hat es keinen Sinn mehr. Wir brauchen auch noch einige Köpfe für nachher. Wer soll denn aufbauen? Ich werde mit Mayrat reden, daß er den Mund hält.«
Er gab Rusch die Hand und hielt sie fest. Mit väterlichem Lächeln beugte er sich vor.»Sie können Ihre Jungs wieder aus dem Bunker holen, Rusch. Und die wie Paschas im Bett liegenden internen Kranken können auch zurück zum Block A.«
«Sie… Sie wissen alles, Herr Generalarzt?«Rusch lächelte schwach. Professor Gilgen drückte noch einmal seine Hand. Die weißen Haare unter der Mütze flatterten im Wind.
«Ich kenne doch meine ehemaligen Doktoranden. Und ich lasse sie auch nicht im Stich.«
Als die Wagen abfuhren, winkte ihnen Rusch mit beiden Armen nach. Er fühlte sich befreit und glücklich.
Er sah Professor Gilgen nicht wieder. Eine Fliegerbombe zerfetzte ihn wenige Tage vor Kriegsschluß bei einer anderen Besichtigung.
Im Lauf des Abends kamen sie alle wieder zurück. Der Berliner und
Wastl Feininger, zwei Tüten mit großen Laugenbrezeln in der Hand, Fritz Adam mit Dora Graff, der taube Kaspar Bloch. Und Walter Hertz.
Dr. Mainetti sah sie alle kommen. Wie von einem Geburtstag heimkehrende Kinder sind sie, dachte sie gerührt. Ihr Glück steht in ihren Augen. Vor allem Fritz Adam fiel ihr auf — er lachte wieder und hörte sich die ersten Berichte des Wastl Feininger an, die er schon auf der Treppe mit großer Lautstärke kundgab:»Dös war a Gaudi! G'soffen hab' i wia a Ochs! Und dös Weibsstück nimmt's Glas weg und sagt: >Sei stad, Wastl, sonst wirst mir nacha no impotent.««
Auch Walter Hertz meldete sich zurück und gab seinen Urlaubsschein auf der Schreibstube ab. Er sah etwas verwildert aus, an seinem Verband hingen Heufäden, und Strohhalme klebten an den Leukoplaststreifen. Der Schreibstubenunteroffizier zog die Augenbrauen hoch.
«Trägt das Schlafzimmer in der Fresse!«rief er.»Mensch! Such den Verband ab, ehe du zur Lisa gehst. Nicht, daß die noch 'n Büstenhalterhaken findet.«
«Idiot!«sagte Walter Hertz. Er warf den Urlaubsschein hin und verließ schnell die Schreibstube.
Auf seinem Zimmer legte er sich sofort ins Bett und schlief ein, kaum daß er die Augen geschlossen hatte.
Der Berliner kratzte sich den Kopf.»Junge, den hat's mitgenommen!«Er bürstete seinen Rock aus und hängte ihn in den Spind.»Bei dem miesen Fressen hier is man ja keen Simson mehr, sag' ick doch immer!«
Walter Hertz schlief. Eine Nacht in einer Waldscheune lag hinter ihm und ein sinnlos vertaner Tag. Er war durch die Hügelketten gerannt, durch tiefen Schnee, wie ein verirrter Fuchs, ziellos, im Kreise um Bernegg herum, allen Menschen ausweichend, frierend, einsam, verzweifelt und immer gegen den drängenden Gedanken ankämpfend: Mach Schluß! Hat es denn noch einen Sinn? Was kannst du denn noch erwarten? Es gibt doch keine Zukunft mehr für dich!
Er wußte nicht, daß schon am frühen Morgen Petra Wolfach an der Hauptwache des Lazaretts war und nach ihm fragte. Viermal war sie heraufgekommen und hatte ihn suchen lassen.»Der ist mit 'ner anderen Puppe los, Kleine!«sagte der Wachhabende in Unkenntnis der Zusammenhänge.»Such dir 'nen anderen aus! Wie wär's mit mir?«
Erst als es dunkel war, schlich Walter Hertz zum Lazarett zurück, zur gleichen Stunde, in der Petra hoch aufgerichtet vor ihren Eltern stand und sagte:»Ich werde Walter heiraten! Jetzt gerade!«
Erich Schwabe hatte keine Augen für seine zurückkommenden Kameraden. Mit der Post war ein Brief Ursulas gekommen. Ein langer Brief des Dankes für das Weihnachtsgeschenk und ein Schwur, auf ihn zu warten.
«Und wenn es zehn Jahre dauert«, schrieb Ursula in ihrer kindlichen Schrift,»ich bleibe Dir treu und warte auf Dich. Damit Du es nie vergißt, will ich es Dir immer wieder sagen: Ich bin Deine Frau und nichts wird uns trennen. Nur der Tod.«
Erich Schwabe las diese Sätze zum ungezählten Male. Er war mit diesem Brief sogar zu Lisa Mainetti gelaufen und hatte ihn ihr gezeigt.
«Uschi hat den Schock überwunden!«rief er glücklich.»Lesen Sie, Frau Doktor, was sie schreibt! Meine Mutter wird ihr alles erzählt haben, sonst würde sie die zehn Jahre nicht erwähnen. Ist das nicht wunderbar, daß ich eine solche Frau habe? Wann darf ich sie denn kommen lassen, Frau Doktor? Jetzt, jetzt will ich sie doch sehen!«
Dr. Mainetti überflog den Brief. Sie las ihn nicht Wort für Wort. Sie kannte diese Briefe. Es waren Worte, die man aus der Entfernung sprach. Die tägliche Nähe eines Menschen ohne Gesicht ist weniger pathetisch. Da wird man still, beißt die Zähne zusammen und streckt den Kopf vor wie einen Rammbock, um gegen Mitleid, Dummheit und Gleichgültigkeit anzurennen.
«Wir werden Ihre Frau so bald wie möglich rufen«, sagte Lisa Mainetti und gab den Brief zurück.»Aber erst wollen wir Ihre Nase machen. Das ist das wichtigste. Mit einer richtigen Nase sieht man immer gut aus.«
«Sie haben mir versprochen, gleich nach Neujahr damit anzufangen, Frau Doktor«, sagte Schwabe, fast flehend.
«Das werd' ich auch, Schwabe. Ihre Mutter hat mir ein Bild von Ihnen mitgebracht. Sie werden sehen, wie ähnlich wir Sie wieder hinbekommen.«
«Ähnlich?«sagte Schwabe leise und gedehnt.
«Wenn ich Gott wäre, Schwabe, würde ich Ihnen mit der Hand bloß über das Gesicht streichen und sagen: Sei Erich Schwabe. Und Sie sähen wieder aus wie früher. Aber ich bin nur ein Mensch wie Sie. Uns gibt Gott nur die Möglichkeit, Ähnlichkeit zu schaffen.«
Am Abend kehrte auch Dr. Urban ins Lazarett zurück. Er war mißgelaunt und schnauzte schon auf den Treppen die Verwundeten an, weil sie nicht zackig genug grüßten.
«Solange ihr noch einen Arm habt, gehört der zum Gruß nach oben!«brüllte er.»Zurück marsch marsch — noch mal 'rankommen und grüßen!«
Nach viermaligem Herumjagen wurde es ihm langweilig, und er verschwand in seinem Zimmer. Er zog sich um und visitierte dann seine Station. Die im Bunker Versteckten lagen wieder in ihren Betten und spritzten hoch, als Urban mit wehendem Mantel erschien.
«Da sind ja unsere Helden!«schrie er.»Deutsche Männer wollen das sein und verkriechen sich unter der Erde!«Er stellte sich in die Mitte des Zimmers und stemmte die Hände in die Seiten.»Aber so einfach ist das nicht, sich von dem Dienst an Führer und Vaterland zu drücken, meine Herrschaften. Einigen von euch wird noch das dämliche Grinsen vergehen! Und wenn ihr glaubt, Silvester könntet ihr euch vollsaufen, dann habt ihr in die eigenen Hosen geschissen! Meier. Rumbold. Senkblei. Schmitz III.«
«Hier — hier — hier — hier!«brüllten die Aufgerufenen und traten zwei Schritte vor ihr Bett. In ihren Augen stand Angst.
«Ihr werdet morgen drangenommen! Ihr wollt doch schnell wieder schön werden, was?«
Dr. Urban sah die bleichen Gesichter und lächelte breit. Dann stampfte er wieder hinaus, um sich bei Chefarzt Professor Rusch dienstlich zurückzumelden und seinen Operationsplan für morgen vorzulegen.
Es war der letzte Operationstag im alten Jahr. Über Silvester und Neujahr blieb nur ein Notdienst bereit für Frontzugänge und Komplikationen. Dr. Urban hatte die meisten Vorschläge, Lisa Mainet-ti meldete keine Operation, von den anderen Stationen kamen zwei Meldungen.
«Warum so viele?«fragte Rusch und las die Krankengeschichten durch.
«Damit sie Neujahr im Bett liegen müssen. Die Rache des helfenden Arztes«, sagte Dr. Mainetti. Dr. Urban zog die Augenbrauen hoch.
«Ich halte diese Operationen für notwendig. Die Wiederherstellung der Funktionen ist doch nicht abhängig von Feiertagen oder Jahreswechseln.«
«Gut!«Professor Rusch zeichnete die Vorschläge ab.»Ich werde alle Fälle selbst übernehmen. Sie und Dr. Mainetti assistieren, sowie die Herren Plugge und Vohrer.«
Dr. Urban nahm seine Krankengeschichten von Professor Rusch zurück, klemmte sie unter den Arm und verließ das Chefzimmer. Kopfschüttelnd setzte sich Rusch.
«Er ist so still und wenig kampflustig. Ist er krank?«
«Nein, in der Klemme. «Dr. Mainetti zündete sich eine Zigarette an. Es war selten, daß sie rauchte, aber manchmal hatte sie einen plötzlichen Heißhunger auf eine Zigarette.»Diese kleine Hure Irene Adam rief gegen Mittag an. Sie besteht darauf, daß sich ihr Mann von sich aus scheiden läßt. Anscheinend will sie Urban zwingen, sie zu heiraten. «Lisa sah einer bizarr verschlungenen Rauchfahne nach, die durch das Zimmer schwebte.»Wenn ich daran denke, könnte ich sogar Mitleid mit ihm haben. Das hat er denn beinahe doch nicht verdient.«
«Du scheinst auch mir die Ehe nicht zu gönnen«, sagte Rusch leise.
Dr. Mainetti zerdrückte die kaum angerauchte Zigarette.
«Manchmal bist du wie ein kleiner Junge, der nach seinem Teddybären schreit.«
«Er schreit, weil er etwas im Arm haben will.«
«Oder aus Trotz. «Lisa strich leicht über das graumelierte Haar Ruschs.»Wir haben doch andere Sorgen, Walter. Und viele werden noch dazukommen.«
Der Operationstag begann wie alle OP-Tage mit der Klage der Oberschwester, daß alles, was man brauchte, nicht genügend vorhanden sei. Zu wenig Binden, zu wenig Zellstoff, zu wenig Medikamente. In der Lazarettwäscherei wurden die gebrauchten Verbände so lange gewaschen, bis sie wie Spinnweben beim Aufwickeln zerrissen. Die Papierbinden, die als Ersatz geliefert wurden, riefen bei Professor Rusch Tobsuchtsanfälle hervor.»Soll ich meine Verwundeten mit Lokusrollen verbinden?«schrie er den unschuldigen Apotheker an, der die Papierbinden brachte.»Dann machen wir es doch gleich einfacher und legen die neuesten Nummern vom >Reich< auf die Gesichter. Vielleicht heilen Goebbels' Worte besser!«
Auch an diesem Tag wurde jeder einzelne Verband gezählt. Der Stabsintendant in der Lazarettverwaltung hatte zur strengsten Sparsamkeit gemahnt. Famulus Baumann brachte den Kasten mit den SEEPräparaten, dem Scopolamin, Eukodal und Ephedrin. Er mußte über jede entnommene Ampulle Buch führen.
An den Waschbecken standen Dr. Mainetti und Dr. Urban und bürsteten sich die Hände. Sie hatten die Kopfhauben schon auf und trugen über den nackten Füßen die weißen Gummischuhe. Stumm seiften sie Hände und Unterarme ein und schrubbten sie mit den Bürsten. Professor Rusch war noch nicht gekommen. Er führte ein Telefongespräch mit Oberst Mayrat. Die Dienststelle des Generals v. Unruh verzichtete auf einen Bericht aus Bernegg. Er war gegenstandslos geworden. Die Aktion >Heldenklau< betraf nicht die Gesichtsver-letztenlazarette. Es war ein Mißgriff gewesen, eine bedauerliche falsche Auslegung des Befehls. Rusch meinte die Hand seines Doktorvaters, des Generalarztes Professor Gilgen, dahinter zu sehen. Oberst
Mayrat entschuldigte sich förmlich und steif. Es war zu hören, wie schwer es ihm wurde.
Im OP I wurde der erste Patient vorgeführt. Es war der Obergefreite Rumbold, 32 Jahre alt, Vater von zwei Kindern, Bergmann aus Gelsenkirchen, verwundet in Rußland, August 1944. Kieferzertrümmerung mit großen Weichteilverlusten. Nach zwölf Operationen war er so weit hergestellt, daß es nur noch einiger kleinerer Knochentransplantationen bedurfte, um dann an die endgültige plastische Gestaltung des in den Grundlagen wiederhergestellten Gesichts zu gehen.
Dr. Mainetti sah von dem Waschbecken auf, als Rumbold in den OP trat. Er kam zögernd, ängstlich, fast schob ihn der Sanitäter in den Raum, wie ein Lamm, das den Schlachthof riecht und sich dagegen stemmt. Er starrte auf den Rücken Dr. Urbans und blieb zwei Schritte neben der Tür stehen. Sein Gesicht war wie eingesunken, spitz stach die Nase daraus hervor, kalter Schweiß tropfte von der Stirn und sammelte sich an den Augen, die tief in den Höhlen lagen, als habe man sie in den Kopf zurückgedrückt.
Dr. Lisa Mainetti ließ das Wasser über die gebürsteten Hände und Arme laufen und zog dann die Hände zurück.
«Wer ist denn das?«fragte sie. Dr. Urban drehte den Kopf zur Seite.
«Nummer eins, Kollega! Knochentransplantation.«
Lisa trat vom Waschbecken weg. Rumbold sah sie wie ein Hund bettelnd an. Wie ein Totenschädel war sein Gesicht.
«Was ist denn mit dem Mann los?«fragte Dr. Mainetti noch mal.»Wieso wird er operiert?«Sie wandte sich zurück zu Dr. Urban und sagte leiser, damit es Rumbold nicht hörte:»Das geht doch schief, Urban. Der Mann hat ja eine Facies hippocratica.«
Dr. Urban wandte wieder den Kopf und sah Rumbold ärgerlich an.»Blödsinn!«sagte er laut.»Der hat nie anders ausgesehen. Außerdem hat er die Hosen voll. Das ist alles.«
«Wissen Sie denn überhaupt, was eine Facies hippocratica ist?«fragte Lisa scharf.
«Nein. «Dr. Urban spülte die Hände ab.»Interessiert mich auch nicht. Der Mann hat nie anders dreingeschaut. Kann nicht jeder eine Schönheit wie der Chef sein.«
Lisa überhörte die Anspielung. Sie nahm die Haube von den Haaren und warf sie auf einen Tisch.»Ich gehe zum Chef, Herr Urban!«sagte sie.»Ich will, daß die Operation abgesetzt wird!«
Dr. Urban hielt sie am Ärmel des OP-Mantel fest.
«Was für ein Unsinn!«sagte er leise.»Liebe Lisa, Sie können mich als Menschen mißachten und meinetwegen auch versuchen, mich fertigzumachen. Aber als Arzt lasse ich mir das nicht bieten! Hier ist die Grenze! Genügt es Ihnen, wenn ich versichere, daß der Patient nie anders ausgesehen hat? Nur weil Sie gefühlsmäßig schwarzsehen, wollen Sie einen Tagesplan über den Haufen werfen? Wollen Sie mich vor dem Chef als Idioten hinstellen? Ich warne Sie, Lisa!«
Dr. Mainetti sah noch einmal hinüber zu dem bleichen Rumbold. Der Famulus Baumann bereitete ihn zur Operation vor. Er wurde ausgezogen und nackt auf den OP-Tisch gelegt. Aus der Hüfte wollte man einen Knochenspan meißeln und ihn in den Kiefer transplantieren.
«Gut!«sagte Lisa widerwillig.»Ich kann mich irren! Glauben Sie mir, Urban, daß ich alles tun würde, diese Operation zu verhindern, wenn ich völlig sicher wäre. Ich würde mich einen Dreck darum kümmern, ob ich Sie als Arzt bloßstelle! Das wissen Sie!«
Dr. Urban räusperte sich. Baumann und Dr. Vohrer sahen zu ihnen hinüber.
«Ich werde Ihnen nicht die Gelegenheit geben, mich völlig in die Hand zu bekommen. «Dr. Urban ließ Dr. Mainettis Ärmel los.»Was soll schon geschehen?«sagte er.»Sie sind ein merkwürdiges Mädchen, Kollega.«
Die Operation begann. Professor Rusch kam hinzu, als Lisa schon die Hüfte geöffnet hatte. Er nickte allen zu und begann mit der Aus-meißelung des Spans.
Nichts geschah. Wie Hunderte von Malen vorher verlief die Operation planmäßig. Rusch arbeitete schnell und sicher wie immer, mit einer Gewandtheit, die an Artistik grenzte. Dr. Urban bemühte sich, das Tempo mitzuhalten und verlangsamte es dadurch. Die Fähigkeit, Griffe vorauszuahnen, die Dr. Mainetti auszeichnete, fehlte ihm völlig.
Der Knochenspan war eingepaßt, die Kiefernaht war beendet, Professor Rusch begutachtete noch einmal den Kiefer, legte die Nadel hin und trat vom Tisch zurück. Er wusch sich schnell und verließ wieder den OP. Dr. Urban trat zu Dr. Mainetti, die die Hüftwun-de versorgte.
«Na, Sie Unke«, sagte er gut gelaunt.»Was ist mit Ihrer Facies?«
Dr. Mainetti zeigte auf die offene Hüfte. Das Knochenmark blutete noch, aber das Blut war bläulich, viel stärker und deutlicher, als es bei venösem Blut im allgemeinen der Fall ist.
«Fällt Ihnen nichts auf?«fragte sie.
«Nein. Ist doch alles bestens gelaufen!«
«Sie werden es sehen! Den Chef trifft keine Schuld. Er war ahnungslos.«
«Was für Unsinn reden Sie bloß?«
Lisa Mainetti stillte die Blutung, winkte Baumann und verlangte eine Weckspritze. Dann vernähte sie die vier Schichten, klammerte die Epidermis, führte einen Schlauch ein und entfernte Mullbinden und Schlauch der Intubationsnarkose, die Assistenzarzt Dr. Vohrer ausgeführt hatte. Die beiden anderen Ärzte arbeiteten am zweiten Tisch und durchtrennten einen Rundstiellappen auf der linken Brustseite eines Verwundeten.
Dr. Mainetti fühlte Rumbold den Puls, nachdem sie die Weckspritze gegeben hatte. Der Pulsschlag war unregelmäßig, hüpfte und schlich in stetem Wechsel, das Gesicht des Operierten war spitz und eingefallen.
«Da haben Sie die Schweinerei, Urban!«sagte Lisa Mainetti grob.»Er wacht nicht aus der Narkose auf!«
«Vohrer wird ihm zu viel eingepfeffert haben!«
«Immer die anderen! Nie Sie!«Lisa legte das Stethoskop auf Rum-bolds Brust.»Hören Sie sich das an!«Während Urban die Herztöne abhorchte, winkte Lisa Baumann heran.
«Sympatol!«rief sie.»Und Kampfer! Verdammt noch mal!«
Wenn Lisa Mainetti fluchte, war dickste Luft. Professor Rusch hörte ihre laute Stimme draußen auf dem Gang und steckte den Kopf herein. Er sah die beiden noch immer um den Patienten bemüht und riß die Tür auf.
«Was ist denn los?«rief er. Lisa Mainetti injizierte bereits Sympatol und Kampfer. Dr. Urban fühlte den Puls. Er stand bleich und mit verkniffenem Gesicht neben dem ausgestreckten Körper. Als Rusch an den OP-Tisch trat, wagte er nicht, ihn anzusehen.»Was ist denn?«fragte Rusch noch einmal.
«Er wacht nicht auf!Und der Puls geht weg!«
«Himmel, Arsch und Wolkenbruch!«schrie Professor Rusch. Er stieß mit den Ellenbogen Dr. Urban zur Seite und beugte sich über Rum-bold. Dessen Körper bedeckte sich mit kaltem, klebrigem Schweiß. Ein weißer Fleck bildete sich auf der spitzen Nase, und dieser Fleck wuchs und wuchs und breitete sich über das ganze eingefallene Gesicht aus.
«Adrenalin!«rief Rusch.»Und eine lange Nadel!«
Es war zu spät. Bevor Baumann ihm die Spritze reichen und Rusch als verzweifeltes, letztes Mittel die lange Nadel zur kardialen Injektion in den Brustkorb stoßen konnte, hörte die Atmung auf.
Der Obergefreite Rumbold aus Gelsenkirchen war tot.
Professor Rusch warf die Spritze auf die Erde. Sie zerschellte, und die Glassplitterchen spritzten durch den OP.
«Wie konnte das passieren?«schrie er Dr. Mainetti und Dr. Urban an.»Was ist hier versaut worden?«
Dr. Mainetti drückte dem Toten die Augen zu.»Nichts weiter als die Unkenntnis einer Facies hippocratica«, sagte sie ruhig.»Ich werde den Mann obduzieren und den Beweis erbringen, daß er an einem Wanden Fernthrombus starb. Irgendwo hatte er diesen nich-tinfizierten Thrombus sitzen, und der chirurgische Schock, vielleicht schon die Angst vorher hat ihn gelöst, was weiß ich?«
Professor Rusch wandte sich zu Dr. Urban. Der Oberarzt drehte den Stethoskopschlauch unruhig zwischen den Fingern.
«Haben Sie den Mann gestern, am Tage vor der Operation, vor den Röntgenschirm gestellt, wie es bei uns Vorschrift ist?«fragte Rusch.
Dr. Urbans Lippen waren weiß.
«Nein… acht Tage vorher.«
Er drehte sich wie eine aufgedrehte, steife Puppe um und ging aus dem Operationsraum. Professor Rusch fuhr zu Dr. Mainetti herum.
«Und warum hast du die Operation nicht verhindert?«schrie er. In seiner Erregung duzte er sie vor den anderen Ärzten und dem Personal, es war ihm gleichgültig, und er merkte es auch nicht.
«Ich hatte nur einen vagen Verdacht, eine Ahnung. Es war mir nicht möglich, eine klare Diagnose zu stellen. Vielleicht hätten auch Sie mich ausgelacht, wenn ich vor Beginn der Operation verlangt hätte, daß man sie absetzt!«
Lisa Mainetti winkte dem Famulus Baumann.»Lassen Sie den Toten wegschaffen, Baumann. Und dann den nächsten Patienten. Dr. Urban hat uns ein großes Programm zusammengestellt.«
Professor Rusch rannte aus dem OP. Auf dem Flur prallte er auf Dr. Urban, der dort auf ihn gewartet hatte.
«Herr Professor.«, begann Urban. Rusch hob abwehrend beide Hände.
«Sprechen Sie mich nicht an, Sie… Sie.«, schrie er.
«Werden Sie Meldung machen?«
«Erwarten Sie etwas anderes von mir?«
«Ist Ihnen noch nie ein Patient gestorben?«
«Nicht auf diese Art!«
«Ich. ich bitte Sie, Herr Professor, von einer Meldung abzusehen«, sagte Dr. Urban mit leiser, bebender Stimme. Er war völlig verstört.
«Sie Stümper!«schrie Rusch. Er kannte sich selbst nicht mehr. Er sah mit innerem Schauder, daß auch in ihm alle Hemmungen zerbrechen konnten.»Sie Schwächling! Sie Emporkömmling! Ich will Sie heute nicht mehr in meinem Lazarett sehen. Bis nach Neujahr nicht!«
Dr. Urban wandte sich ab und rannte den Flur hinunter bis zu seinem Zimmer. Es war, als flüchte er vor dem Toten, der eben von zwei Sanitätern aus dem OP gerollt wurde. Professor Rusch lehnte sich erschöpft an die Wand.
Quietschend rollte die fahrbare Trage an ihm vorbei, und die beiden Sanitäter, die sie schoben, machten das Kreuz hohl, strafften sich und hoben die Arme zum Deutschen Gruß.
Der Übergang von 1944 zu 1945 verlief still auf Schloß Bernegg. Menschen, die keine Gesichter mehr haben, werden nachdenklich, nicht fröhlich, wenn ein neues Jahr beginnt. Man hält Rückschau und denkt an die Zukunft, wünscht sich die Erfüllung heimlicher Gedanken und großer Sehnsüchte und trinkt sehr versonnen das Glas Wein, das aus der Spende eines Würzburger Weinhändlers pro Kopf des Lazaretts zugeteilt wurde.
Dr. Urban war wirklich weggefahren, wohin, wußte niemand. Er hatte sich bei Professor Rusch nicht abgemeldet. Nach seiner Ansicht war der Hinauswurf Abmeldung genug.
Fritz Adam feierte mit Dora Graff unten in Bernegg in einem Hotel das neue Jahr. Er hatte am Silvestertag einen Brief an seine Frau geschrieben und ihr mitgeteilt, daß er einsehe, ihre Jugend nicht durch seinen Anblick zerstören zu können. Er gebe sie frei und bitte sie, die Scheidung mit seinem Einverständnis einzureichen. Damit es schneller gehe, nehme er alle Schuld auf sich. Er habe sich in eine Krankenschwester verliebt und gestehe einen Ehebruch ein.
Er zeigte den Brief Dr. Mainetti, noch bevor sie ihm von dem Anruf Irene Adams berichtet hatte.
«Hatte ich nicht recht?«fragte sie.»Das Leben geht immer weiter. Wenn Fritz Adam allein stehengeblieben wäre, würde das alle irdischen Gesetze umgeworfen haben.«
«Sie sind eine wunderbare Frau, Frau Doktor!«sagte Fritz Adam. Man sah, wie er unter seiner verschrumpelten Haut rot wurde.
«Keine Komplimente. Die machen Sie Ihrer Dora Graff, Adam. Nur halte ich es für Blödsinn, Ihrer Frau von Ehebruch zu schreiben.«»Damit es schneller geht, nur darum.«
«Mann Gottes — wollen Sie zu allem auch noch die Alleinschuld auf sich nehmen?«
«Ja. Wenn es sein muß.«
«Es muß nicht. Ich werde auch das für Sie regeln.«
«Sie? Wie können Sie denn das?«
«Mein Lieber!«Lisa Mainetti gab Adam den Brief zurück.»Hat es sich noch nicht herumgesprochen, daß ich zu allem anderen auch noch zaubern kann?«
Die Amüsiergruppe der Stube B/14 zog wieder aus. Der Berliner, der Wastl Feininger und drei andere. Sie hatten bereits bei ihrer Aus-quartierung in Sachen >Heldenklau< in Würzburg Hotelzimmer bestellt und hatten bis zum Silvestertag in einem heroischen Kampf mit der Schreibstube um einen neuen Urlaubsschein gestanden.
«Nichts!«hatte der Schreibstubenfeldwebel gebellt.»Nichts leg' ich dem Chef vor! Nachher sind wir für die Alimente verantwortlich!«
«An Schmarrn bist!«schrie der Wastl.»Mei Vaterschaft trag' i al-loa!«
Es war wieder Lisa Mainetti, die die Urlaubsscheine unterschrieb. Sie durfte es nicht, aber für eine Kontrolle genügte es, wenn neben einem Stempel eine Unterschrift stand.
Dann zog die große Stille über Schloß Bernegg. In den Zimmern saß man um die Radios und hörte die Neujahrsbotschaft von Goebbels und ein schönes Konzert, man trank dünnes Bier und hob sich das Glas Wein für den Zwölfuhrtrunk auf. Man las oder schrieb, spielte Schach oder Skat, und es war eigentlich genauso wie jeden Abend, nur ein wenig stiller, wehmütiger, nachdenklicher.
Ein neues Jahr. Das letzte des Kriegs?
Und was kam dann?
Was wird aus uns, den Menschen ohne Gesicht?
Vielleicht gab es im neuen Jahr gar kein Deutschland mehr. Aber irgendwie mußte es doch weitergehen. Man konnte doch 60 Millionen nicht einfach auslöschen.
Professor Rusch und Lisa Mainetti saßen zusammen im Chefzimmer und tranken still eine Flasche Wein. Sie hatten das Licht gelöscht und saßen sich im Dunkeln gegenüber, Schatten in den Polstersesseln, die Rusch aus seiner Wohnung hatte kommen lassen.
«Wann heiraten wir, Lisa?«fragte er unvermittelt in die Stille hinein.
«Welche Frage! Erst schreist du mich vor allen Ärzten und den Sanis an.«
«Ist meine Frage nicht eine einzige große Entschuldigung?«
«Laß erst Frieden sein, Walter. Wir wissen alle nicht, was uns noch bevorsteht. Vielleicht wird jeder glücklich sein, der dann allein steht, weil er nur sein Leid tragen muß und nicht auch noch das eines anderen.«
«Du bist die merkwürdigste Frau, die ich je gekannt habe«, sagte Rusch. Er stand auf, beugte sich über Lisa und küßte sie. Sie legte den Arm um seinen Nacken und drückte seinen Kopf an sich.
So blieben sie beieinander, bis die Tischuhr zwölf schlug. Sie hoben die Gläser, stießen an und tranken das Glas leer.
«Gott steh' uns bei!«sagte Lisa leise.
Und plötzlich weinte sie.
Überall klangen die Gläser zusammen, in den Zimmern, in der Wachstube, bei den Bereitschaftsärzten. Unten in Bernegg in einem Hotelzimmer, aus dessen Fenster Dora Graff und Fritz Adam in die Silvesternacht blickten.
In Köln, in dem muffigen Keller des Hauses Horst-Wessel-Straße
4, wo Frau Hedwig Schwabe drei Pfannen voll Reibekuchen buk und Ursula den aus einer Sonderzuteilung von schlechtem Rum gemachten Grog mit einem säuerlichen, roten Heißgetränk verlängerte.
In Würzburg, in einem geschlossenen Bordell, wo Wastl Feininger um 12 Uhr einen Watschentanz vorführte. Und in der Villa Wolfach auf dem Hügel von Bernegg, vor einem flammenden Kamin, ohne Walter Hertz, den einzuladen der Fabrikant Hubert Wolfach seiner Tochter verboten hatte.
Von Bernegg herauf läutete die letzte Glocke, die der totale Krieg übriggelassen hatte. Die kleinen Dorfkirchen im Umkreis fielen mit dünnen, hellen Stimmen ein. Das Glöckchen der Schloßkapelle von Schloß Bernegg bimmelte dazwischen, im Chorraum der Kapelle zog ein Mann an dem alten, morschen Seil, auf und ab, einatmend, ausatmend im Rhythmus des Ziehens.
Er hatte nur noch ein halbes Gesicht. Die rechte Seite war weggerissen worden. Breite Hautlappen bedeckten die schreckliche Wunde.
Der Glöckner von Schloß Bernegg wünschte ein gutes neues Jahr.
Fünf Tage nach Jahresanfang traf Frau Irma Fischer in Bernegg ein. Lisa Mainetti hatte ihr ein Telegramm geschickt.»Ihr Mann schwer verletzt. Bitte kommen. «Sie war sofort in den nächsten Zug nach Würzburg gestiegen, hatte hinter München einen schweren Luftangriff auf die Bahnlinie überstanden und war nun zwei Tage unterwegs, von Zug zu Zug umsteigend, Umwege fahrend, weil die Gleise zerstört waren, auf freier Strecke wartend, weil neue Alarme das Weiterfahren unmöglich machten. In Würzburg endlich hatte sie Glück. Ein Wehrmachtswagen nahm sie mit nach Bernegg, nachdem sie vier Stunden in eisiger Kälte an der Straße gestanden und den wenigen Fahrzeugen gewinkt hatte. Die meisten fuhren in eine andere Richtung.
Lisa Mainetti wurde von der Hauptwache angerufen, als Frau Fischer dort eintraf. Mit großen, fragenden Augen saß sie auf dem harten Stuhl vor dem alten Tisch und wartete geduldig, was mit ihr geschehen würde.
Nur einmal fragte sie den Wachhabenden, und es klang schüchtern und verzagt:
«Kennen Sie einen Leutnant Rudolf Fischer?«
Der Unteroffizier schüttelte den Kopf.»Nee. Ihr Mann?«
«Ja. Er soll schwer verwundet sein.«
«Davon haben wir hier in Block B über 150. Die kann man nicht
alle kennen.«
«Nein, gewiß nicht, nein«, sagte die junge Frau und wartete weiter.
Im Block B hatte Lisa Mainetti den Befehl durchgegeben: Alle Mann in die Zimmer! Die Stubenältesten hatten dafür zu sorgen, daß niemand die Zimmer verließ. Erst als die Flure wie ausgestorben waren, ging Lisa hinunter zur Wache und holte Frau Fischer in das Schloß. Sie ging mit ihr zu ihrem Zimmer, ohne daß sie jemanden sahen bis auf den Famulus Baumann, der eine MO-Spritze zu einem Frischoperierten brachte.
«Wie geht es meinem Mann, Frau Doktor?«fragte die junge Frau.»Ist er wirklich schwer verletzt? Hat… hat er ein Bein verloren? Oder einen Arm?«
«Sie müssen ganz tapfer sein, Frau Fischer«, sagte Lisa und drückte die junge Frau auf einen Stuhl.»Sie sind nicht allein, Sie tragen jetzt das Leid von Tausenden von Frauen und Müttern mit. Ich weiß, das sind alles dumme, leere Worte, abgedroschen und unpersönlich. Aber es gibt keine Worte, die man hier noch sagen könnte.«
Die junge Frau bekam große, runde, starre Augen. Sie legte die Hände auf ihren Leib und atmete ein paarmal schnell und laut.
«Rudolf. Rudi… ist er tot?«
«Ja.«
«Kann ich ihn sehen?«Es war ein Hauch.
«Er ist schon begraben. Ich werde Ihnen alles erzählen.«
«Kann. kann ich sein Grab sehen?«
«Wir gehen zusammen hin. «Lisa legte den Arm um die andere.»Er hat nicht zu leiden brauchen«, log sie, und so schrecklich es war, sie spürte, daß es wie ein Trost war.