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Noch einmal erschienen Parlamentäre der Sowjets, um in letzter Minute das große Sterben abzubrechen. Dieses Mal standen sie auf einer Höhe südlich der Zariza im Südabschnitt des Kessels. Sie schwenkten eine große weiße Fahne und hatten einen Trompeter mitgebracht, der ein Signal blies. Es war 10 Uhr vormittags… man ließ die sowjetischen Parlamentäre nicht heran, weil — wie sich herausstellte — kein Offizier unter ihnen war. Nach dem alten Ehrenkodex des Soldaten muß eine Parlamentärgruppe immer unter Führung eines Offiziers sein, denn auf nichts wird mehr Wert
felegt als auf ein Offiziersehrenwort. Auch in Stalingrad. Auch ei Männern, die als lebende Leichname in den Schneelöchern und Granattrichtern hockten.
Um zwölf Uhr kamen die sowjetischen Parlamentäre wieder, an der Spitze ein Major der Gardedivision. Dieses Mal war es richtig. Der sinnlose und nie geklärte Befehl vom 9. Januar 1943, daß Parlamentäre durch Feuer abzuweisen seien, wurde nicht ausgeführt.
So erfuhr man, daß die Totenglocken bereitstanden, das Ende der 6. Armee einzuläuten. Am 26. Januar wollten die Sowjets mit allen verfügbaren Kräften die Südfront angreifen. Gleichzeitig würde in Stalingrad-Mitte und im Norden der Stadt die Feuerwalze alles in die Trümmer drücken. Noch einmal wurde wiederholt, was Generalleutnant Rokossowskij in seinem großen Ultimatum angeboten hatte: ehrenvolle Behandlung, Verpflegung für jeden, ärztliche Betreuung der Verwundeten und Kranken, Belas-sung der Degen für die Offiziere.
Man hörte sich den Major der Gardedivision an und schickte ihn zurück. Ohne Antwort. Das alte Mißtrauen gegenüber russischen Versprechungen bestimmte in dieser letzten Stunde das Handeln. Ein Mißtrauen, das die Armeeführung davon abhielt, sich eines Besseren belehren zu lassen. Und der Gehorsam des deutschen Soldaten, der ihn noch zur Pflicht zwingt, wenn die Sinnlosigkeit offensichtlich ist… ein menschliches Phänomen!
Das letzte Kapitulationsangebot war vertan.
In der Nacht zum 26. Januar trat rund um den zusammengeschrumpften Kessel, der nur noch die Stadt und einige Außenbezirke und Vororte umschloß, die Rote Armee zum letzten Schlag an.
135 000 deutsche Soldaten machten sich zum Sterben bereit.
Am Morgen des 26. Januar, umtost von dem ununterbrochenen Donner sowjetischer Artillerie, eingekreist von zwei Roten Armeen, in die Zange genommen von Hunderten von Panzern, lagen Knösel, Emil Rottmann und Dr. Körner in einem überdachten MGStand und beobachteten die Straße vor sich. Sie warteten auf eine Atempause der Geschütze. Fünfzig Meter vor ihnen war einmal ein deutscher Bataillonsgefechtsstand gewesen. Ein Panzergranatenvolltreffer hatte ihn aufgerissen, nun lagen in den Trümmern des Bunkers drei Offiziere und vier Landser, verwundet, zugedeckt von einer Granatglocke, unter der sie wie in einem luftleeren Raum lebten.
Das Artilleriefeuer wurde vorgelegt. Eine Feuerwand wanderte durch die Trümmer, ein flammender Tornado, der hinter sich Staub und Steine ließ, aus denen einmal Häuser bestanden hatten.
Knösel, der hinter dem MG hockte und aus seiner schmurgeln-den Pfeife rauchte, hob plötzlich den Kopf und drückte den Sicherungsflügel weg.
Durch die Ruinenreste sprang eine dunkle Gestalt, warf sich hin, robbte weiter, blieb wie tot liegen, rollte dann in Trichter, krabbelte wieder heraus und hetzte durch die Trümmer, schnell, gazellenhaft springend, ein dunkler, tanzender Punkt.
«Da kommt Besuch«, sagte Knösel und visierte die Gestalt an.»Direkt auf uns zu. Nur kann ick nich sehen, ob det eener von uns is…«
«Warten Sie ab«, sagte Dr. Körner.
Emil Rottmann starrte mit brennenden Augen zu der laufenden Gestalt. Für ihn war der Augenblick des Überlaufens versäumt. Vor drei, vier Tagen wäre es noch möglich gewesen, jetzt war es Selbstmord, in diese Flammenwand hineinzulaufen… Wahnsinn, wie diese Gestalt, die aus dem Flammenmeer herausstürzte und vor ihm herlief.
Rottmann legte sein Gewehr auf die Steinbrüstung des Unterstandes und zielte auf den hüpfenden Körper. In diesem Augenblick, bei einer Wendung des Kopfes, sah er das Flattern langer, schwarzer Haare. Dann war die Gestalt hinter einer Mauer verschwunden.
Auch Körner hatte es gesehen. Ein Schlag fuhr durch ihn, eine Betäubung, nicht länger als ein Wimpernzucken, lähmte ihn. Dann sprang er auf und wollte aus dem Unterstand laufen. Knösel hielt ihn am Mantel fest.
«Herr Assistenzarzt!«schrie er.»Det is doch Blödsinn!«
«Lassen Sie mich, Knösel!«Dr. Körner zerrte an seinem Mantel.»Sehen Sie denn nicht… das ist doch Olga Pannarewskaja… das ist Olga…«
«Und wenn… Die Iwans schießen nich mit Pappkorken…«
«Loslassen…!«Dr. Körner schlug auf Knösels Hände. Fast rangen sie miteinander, aber es gelang Knösel, Dr. Körner unter das Schutzdach des Unterstandes zurückzuziehen.
Sie kamen im richtigen Augenblick zurück. Emil Rottmann stand mit einer unheimlichen Ruhe an seiner Schießscharte. Er hatte den springenden Körper im Visier, er verfolgte mit dem Gewehrlauf die Bewegung und wartete auf den Moment, in dem er genau auf die Mitte abdrücken konnte. Sein Finger lag bereits gekrümmt am Druckpunkt des Abzugs.
«Nein!«brüllte Dr. Körner.»Rottmann! Nein! Nicht schießen!«
«Dieses verfluchte Aas…«, sagte Rottmann mit seiner gutturalen Stimme.
«Dieses verfluchte rote Aas…«
«Nicht schießen!«Körner sah, wie Olga Pannarewskaja über einen Mauerrest sprang und frei, ohne noch weiter nach Deckung zu suchen, über die Straße lief, genau auf ihren Unterstand zu… genau in das kleine, dunkle Loch hinein, aus dem Rottmann die tödliche Kugel abfeuern würde.
Knösel war um den Bruchteil einer Sekunde schneller. Während Dr. Körner starr, ohne Möglichkeit zu helfen als nur zu brüllen, an der Unterstandwand lehnte, waffenlos und mit schwankenden Knien, hatte Knösel in die Tasche gegriffen und eine russische Pistole herausgerissen. Kaljonin hatte sie ihm gegeben mit den Worten:»Wirf sie weg, Briederchen.«
Die beiden Schüsse bellten fast zur gleichen Zeit. Aber Knösels Schuß war ein Hauch eher… die Kugel traf Rottmann in den Rücken, er warf die Arme hoch und sackte in den Knien weg. Der Schuß aus seinem Gewehr pfiff an Olga Pannarewskaja vorbei… sie hörte es nicht, sie lief… lief vor der Feuerwand her, mit den Armen rudernd, als wolle sie winken: Schießt nicht! Schießt nicht!
Die Erstarrung löste sich von Dr. Körner. Während Knösel neben Rottmann kniete, sprang er aus der Deckung und breitete die Arme aus.
«Olga!«schrie er.»Olga!!«
Sie sah ihn und erkannte ihn. Über ihr Gesicht flog trotz der Anstrengung und der letzten Kraft, die sie in sich aufriß, ein Leuchten… sie schnellte vorwärts, breitete die Arme aus und fiel Dr. Körner an die Brust. Umschlungen fielen sie in den Unterstand zurück und rollten bis an die Schießscharten.
«Olga…«, stammelte Dr. Körner.»Olga… du bist da. Du bist zurückgekommen…«
«Moi ljublimez…«(Mein Liebling), sagte sie.»Du leben… du leben «
Olga Pannarewskaja lehnte sich an den Erdwall. An den Gürtel ihrer Uniform hatte sie sechs lederne Taschen geschnallt.
Sechs Taschen mit Sanitätsmaterial.
Verbände, Morphium, Medikamente, Seide, Catgut.
«Du leben…«, sagte sie noch einmal, lehnte den Kopf an Körners Brust und begann vor Glück zu weinen.
Die Feuerwand wanderte langsam auf sie zu…
Knösel hatte mit einem Messer die Uniform Rottmanns am Rücken aufgeschlitzt und drückte ein ganzes Verbandpäckchen auf den kaum blutenden Einschuß. Dr. Körner beugte sich zu ihm vor; er preßte die Pannarewskaja noch immer an sich.
«Tödlich, Knösel?«fragte er besorgt.
«Nee, aba wat heeßt hier noch tödlich?«
«Woher haben Sie denn noch das Verbandpäckchen? So was kenne ich seit sechs Wochen nicht mehr…«
Knösel rieb sich die Nase und sah sehr verlegen aus.
«Det war meine stille, eiserne Reserve… wenn mir so’n Ding erwischt, hab’ ick mir jedacht, dann haste imma noch’n Päckchen und gehst nich jleich vor de Hunde…«
«Und jetzt?«
Knösel hob die Schultern. Rottmann röchelte und zuckte.»Nu ist doch alles wurscht, Herr Assistenzarzt. Mehr als Scheiße kanns nich vom Himmel regnen…«
Die Feuerwand wanderte weiter, seitlich an ihnen vorbei, zu den Bereitstellungen der deutschen Regimenter und den wenigen Befehlsständen. Auch auf dem Kino lag eine Minute lang das konzentrierte Feuer der sowjetischen Artillerie… der Rest der Ruine stürzte ein, verlor die letzte Form eines Hauses und wurde zu einem dampfenden, staubenden Stein- und Mörtelberg. Knösel preßte das Gesicht gegen den Kolben seines MGs.
«Die verschütten den ganzen Eingang«, stammelte er.»Und wat noch alles auf der Treppe liegt… lieber Jott, laß Abend wer den…«
Die Verwundeten vor ihnen, um derentwillen sie hinausgegangen waren, um sie hinüber in den Kinokeller zu holen, schwiegen. Die Feuerwalze hatte sie niedergepflügt. Wo einmal der Bunker war, gähnte jetzt ein Trichterfeld. Nicht einmal ein Fetzchen Uniform würde man dort noch finden.
Als die Einschläge der Artilleriesalven weitergewandert waren, richtete sich Olga Pannarewskaja auf und strich die langen schwarzen Haare zurück. Ihr schönes, eurasisches Gesicht war mit Lehmdreck und Eis überzogen.
«Gehen wir!«sagte sie.
«Gehen ist gut!«Knösel zeigte mit dem Daumen in die Ruinenwüste.»Da sitzen deine Genossen und warten nur darauf, dat ick die Birne hochhebe!«
«Keine Angst. «Die Pannarewskaja schnallte den Verschluß einer ihrer Taschen auf und zog eine Fahne heraus. Knösel drehte die Augen nach oben.
«Noch ’n Tuch! Det is der reinste Textilkrieg…«
Olga Pannarewskaja kroch aus dem Unterstand und stellte sich aufrecht. Im gleichen Augenblick hämmerte ein MG… es verstummte aber ebenso plötzlich, als die Pannarewskaja ihre Fahne entfaltete und schwenkte. Ein rotes Tuch mit einem leuchtenden, fast phosphoreszierenden Kreuz. Die Ärztin winkte zurück in den Unterstand.
«Mitkommen.«
«Det is mir ’ne zu kitzelige Sache. «Knösel blieb bei dem besinnungslosen Rottmann sitzen.»Ick trau dem Braten nich… der riecht…«
«Quatsch, Knösel!«Dr. Körner faßte Rottmann unter die Arme.»Nehmen Sie die Beine…«Als wenn sie mich verraten könnte, dachte er. Sie ist zurückgekommen, sie lebt, sie ist bei mir… und wenn es vielleicht nur Stunden sind, die uns bleiben… es stirbt sich in dieser Art von Glück leichter als in der hilflosen Verzweiflung.
Sie schleppten Rottmann aus dem Unterstand und standen neben Olga aufrecht in den Trümmern. Es war nicht allein die Kälte, die Knösel Schauer über den Rücken jagte… er sah sich scheu um und wußte, daß ihn in dieser Riesenwüste aus Stein und Beton jetzt viele Augen anstarrten, erstaunt, daß eine sowjetische Kapitänärztin für einige Minuten den Krieg einstellte, um drei Deutsche sicher wegzubringen. Für Knösel waren diese Minuten schrecklicher als alle überlebten Trommelfeuer. Das Undenkbare, aufrecht vor den Russen herzugehen, war für ihn wie ein Märchen. Es war eigentlich die Nummer 3 in Knösels Erlebnisalbum, das ihm nicht geglaubt werden würde, wenn er es erzählte… erst das küssende Liebespaar in den Trümmern, dann der Elefant und jetzt ein Spaziergang quer an den Mündungen sowjetischer MPs und Granatwerfer vorbei, ohne daß ein einziger Laut ihn störte. Die Pannarewskaja ging ihnen voraus, die rote Fahne mit dem grünen Kreuz hochhaltend, wie bei einem Umzug am 1. Mai oder am Oktobertag der Revolution.
So erreichten sie das ehemalige Kino. Eine zerborstene Hauswand schützte sie jetzt vor Feindeinsicht. Olga ließ die Fahne sinken. In den umgewühlten Trümmern arbeiteten verdreckte, schwankende, stumme Gestalten mit totenkopfähnlichen Gesichtern, schoben Steine weg, wälzten Betonstücke zur Seite, stemmten sich gegen armierte Decken und Eisenträger.
Der Kellereingang zum Feldlazarett III war verschüttet worden, wie Knösel es geahnt hatte. Von unten arbeiteten sie sich mit der gleichen stummen Verbissenheit vor wie die Oberlebenden oben in den Kinotrümmern. Daß sie die Feuerwalze überlebt hatten, verdankten sie den Toten. Als die Wand aus Flammen und Stahl auf sie zukam, krochen sie in die berühmten Grabtrichter Dr. Port-ners. Es waren mittlerweile zwölf Stück geworden, große Granatlöcher, in denen die steifgefrorenen Toten schichtweise übereinander lagen, wie gestapelte Bretter, mit offenen Mündern, bleckenden Zähnen, hochgereckten Armstümpfen, aufgeplatzten Bäuchen… alles im Eis konserviert, Blöcke mit bizarren, teuflischen Ornamenten. Noch im Tode waren sie nützlich… die Männer oben in den Kinoruinen wühlten sich zwischen die Toten, schoben die Eisbretter mit den Menschengesichtern über sich, krochen wie Küchenschaben in die Ritzen zwischen den Leibern, bauten sich Schutzdächer aus steinhartem, zerfetztem Gefrierfleisch. So überdauerten sie die Feuerwalze, die Splitter hieben singend in die Eisgestalten, sprangen ab, sirrten als Querschläger in die Steine. Dann war die Hölle vorbeigezogen, der Kellereingang verschüttet, und ohne Befehl, weil es selbstverständlich war, begannen die lebenden Leichname, den Keller wieder freizulegen.
Unten im Labyrinth der Kellerräume nahm man die Verschüttung kaum wahr. An das Beben der Erde, an Detonationen, an das Schwanken der Wände hatte man sich längst gewöhnt. Daß es in diesen Minuten etwas lauter krachte… wen kümmerte es noch? Hier lagen über 3500 Sterbende, Fiebernde, Wimmernde und Apathische, starrten gegen die Decke und dachten an nichts mehr als an das, was ihnen von einem hoffnungsreichen Leben geblieben war: Wie das Bein brennt… wie der Kopf hämmert… mein Leib, oh, mein Leib… Ich kriege keine Luft mehr, Luft, Luft… Ich verblute, Kinder, ich verblute… Mutter, Mutter…
Wie klein ist dagegen ein Krach an der Decke und eine Wolke von Staub, die kurz darauf durch die ersten vorderen Kellerräume quoll. Dr. Portner und Dr. Sukow erkannten die Lage. Ihre Gesichter waren eingefallen und blaß, sie hatten seit vier Tagen an jedem Abend nur eine Scheibe Brot gegessen, altes, hartes Brot, das sie sich in heißem Schneewasser aufweichten. Es quoll dadurch um das Doppelte auf, sah voluminös aus, und da die Augen mitaßen, stellte sich für eine Stunde das Gefühl der Sättigung ein. Aber dann war der Selbstbetrug vorüber, und die Körper fingen wieder an, sich selbst aufzuzehren.
Wie viele Tote es in den vergangenen Wochen durch das >Herz der 6. Armee< gegeben hatte, wurde nicht mehr gezählt und berichtet. Man kannte den Grund, wenn die Männer in ihren Löchern einfach umkippten und starben, ja, man beneidete sie jetzt sogar um diesen schönen Tod, der ohne Schmerzen kam, ohne zerfetzte Leiber, ohne langes Dahinfiebern, ohne Eiter, ohne Wundbrand, ohne das Entsetzen des langsamen Verfaulens. Das Herz der 6. Armee wurde zum Wunschtod… und doch waren es nur stille, heimliche Gedanken, denn so kraftlos die Körper waren, so verhungert und erfroren, eingekreist von Feinden, die jede Stunde Meter um Meter der Stadt zurückeroberten, in diesen kaum noch menschlichen, vermummten, eisbehangenen Leibern flackerte noch immer ein Funken von Lebenswillen. Er zwang sie an die Gewehre, bis die letzte Patrone aus dem Lauf gefeuert war… dann drehten sie das Gewehr um, umklammerten den Lauf und hieben mit den Kolben auf die Schädel der Rotarmisten. Sie fragten nicht mehr: Warum? Sie kümmerten sich nicht mehr darum, daß alles so sinnlos war, jeder Schuß, jeder gerettete Tag, jede verschossene Stunde… sie konnten nicht mehr denken, sie waren Wesen aus Muskeln, Sehnen und einer nervlichen Befehlszentrale, und diese
Zentrale jagte durch sie den Befehl: Du willst leben! Leben! Weiterleben! Und nach dem alten, mit dem Verstand nicht begreifbaren Naturgesetz heißt Überleben soviel wie Kampf. Also kämpften sie, mit blinden Augen, mit leeren Hirnen, mit geschrumpften Mägen, kämpften um das nackte Leben, das Weiteratmen. Später würde man sagen, sie waren Helden… sie können sich dagegen nicht mehr wehren, und die Nachwelt lebt seit jeher vom geschichtlichen Betrug! Wenn es jemals eine verzweifelte Kreatur gegeben hat, dann waren es die 135 000 deutschen Männer, die vom 26. Januar 1043 ab in drei aufgespaltenen Kesseln den wahren Sinn der Worte erlebten: Es ist so schön, Soldat zu sein…
Dr. Portner war der erste, der wieder sprach, nachdem sich die Staubwolke verzogen hatte.»Verschüttet — «, sagte er leise. Dr. Sukow nickte.»So sparen wir Gräber…«»Sie sind von einem beneidenswerten, praktischen Sinn. «Dr. Portner lehnte sich an die Kellerwand.»Sind Sie schon mal erstickt?«
«Njet. Sie?«Sukow lächelte verzerrt.
«Fast. Im Ersten Weltkrieg. Vor Verdun. Im Chaume-Wald. Ich saß in einem Balkenunterstand, und eine 10,5-Granate hieb mitten drauf. Zwei Tage lag ich eingeklemmt unter der Erde, in einer sogenannten Luftblase. Dann fand man mich. Ich habe drei Monate nicht sprechen können und konnte in keinem dunklen Zimmer mehr schlafen. Wenn es Nacht wurde, saß ich unter zwei Lampen und mußte ins Licht starren. Ich konnte nichts Dunkles mehr sehen…«Dr. Portner schloß die Augen. Müde bin ich, dachte er. Müde, daß ich umfallen möchte und sterben. Wie schön kann sterben sein, ich hätte das nie gedacht.»Aber damals war ich allein…«Seine Stimme schwankte.»Heute habe ich 3500 Männer um mich…«
In den OP-Keller stürmte Oberst von der Haagen. Er sah wie ein Irrer aus, unter den zerwühlten weißen Haaren quollen die Augen aus den Höhlen.
«Wir sind verschüttet!«schrie er grell.»Doktor! Wir werden ersticken! Ersticken! Wir alle werden…«Er taumelte an die Wand, weil Dr. Sukow ihn mit einer Handbewegung von der Tür schleuderte und sie zutrat.
«Wollen Sie Panik?«rief er dabei. Von der Haagen ballte die Fäuste.
«Sie wagen es, als Russe mich anzureden?!«brüllte er.»Sie fassen mich an?! Noch sind Sie nicht der Sieger! Noch gehört Stalingrad uns! Herr Stabsarzt Portner… wenn wir hier alle ersticken, sind Sie allein der Verantwortliche! Sie haben für keine Notausgänge gesorgt, Sie haben uns alle in eine Mausefalle gesteckt…«
«Verstehen Sie jetzt, Kollege, warum der Deutsche in der Welt so >beliebt< ist?!«fragte Dr. Portner ruhig Dr. Sukow.»Begreifen Sie nun auch, was aus der Welt werden würde, wenn wir den Krieg gewännen?! Glauben Sie nicht, dieser Oberst da…«, und plötzlich brüllte er»…. dieser Scheißkerl da, dieses feige Schwein mit der Schnauze eines Bullen und dem Hirn eines Frosches, steht allein da! Davon gibt es genug bei uns…davon hat es genug gegeben und wird es auch wieder genug geben, denn das, was man echtes Preußentum nennt, stirbt nicht aus!«
«Es gibt auch andere…«, sagte Dr. Sukow tadelnd.
«Stimmt! Ich kenne ein paar. General Gebhardt etwa. Aber das waren immer die Außenseiter, die im Offizierskorps hinterrücks belächelt wurden als Schleimscheißer und Stiefelwichser. Die da«, er zeigte mit ausgestrecktem Arm und Zeigefinger auf den bebenden Oberst von der Haagen,»diese Hurrasoldaten, die entweder im Hinterland von der Eroberung Wladiwostoks träumen — nicht wahr, Herr Oberst? — oder als Kommandeure ihrer Divisionen in einem Wettrennen um Ritterkreuz, Eichenlaub, Eichenlaub mit Schwertern und so weiter stehen und nicht sehen, daß ihre Dekorationen mit Blut gefärbt sind, diese >Helden< werden immer bestimmend sein, gestern, heute, jetzt und morgen genauso wie übermorgen. Ob wir es noch erleben, Kollege Sukow… ich weiß es nicht, ich glaube es auch nicht. Mich dauert nur die kommende Generation, die diesen Herren genauso blind ausgeliefert wird, wie wir ihnen ausgeliefert worden sind! Ich könnte jetzt schon um die Jungen weinen, denen man später einmal mit vaterländischem Ergriffenheitstimbre in der Stimme von den Helden von Stalingrad erzählen wird, aber nicht von dem elenden Verrecken und lebendigen Verfaulen… Sie werden mit heißen Backen — wie wir von 70/71 oder die da draußen, die sich gerade im Eiter auflösen, von Langemarck, Verdun, Cambrais — von dem Kampf bis zur letzten Patrone hören, vom letzten Gotenkampf der Deutschen, vom leuchtenden Beispiel eines Mannestums, aber nicht von dem Verrat an 330 000 Männern, von der Lüge und dem Untergang. Das wird man ihnen alles verschweigen, denn das paßt nicht in das heroische Bild des Deutschen. Ein deutscher Soldat stirbt mit Hurra oder einem Blick auf das Führerbild… aber er krepiert nicht, er kriecht nicht die Wände entlang und leckt sie ab, weil seine Gedärme brennen, Gedärme, die ihm aus dem Bauch hängen, die er hinter sich herschleift, und keiner kann ihm helfen, weil es keine Verbände mehr gibt, keine Betäubungsmittel, nichts mehr. Wenn ich wüßte, daß wir hier sterben, um der kommenden Jugend zu zeigen: So ist es! um ihnen ein Schreckensbild zu sein, das ihnen immer wieder zuruft, Tag um Tag: Nie wieder… dann würde ich, verdammt noch mal, auch ein Held werden. Aber ich weiß, daß man die kommende Jugend genau wie uns damals auch belügen wird und daß man dem, der die Wahrheit hinausschreit, auf das Maul schlägt.«
Oberst von der Haagen verließ wortlos den OP-Keller. Dr. Portner sah ihm nach und faßte Dr. Sukow am Arm.
«Wissen Sie, was er tun würde, wenn er so könnte, wie er jetzt wollte?«
«Njet — «
«Er würde mich erschießen lassen.«
«Bei uns auch…«, sagte Dr. Sukow ruhig. Dr. Portner starrte ihn groß an.
«Ich weiß…«
«Sähen Sie, und darum sind wir Brieder…«
«Und schießen doch aufeinander.«
«Ein Schwein versteht nie, warum es gemästet wird. Es frißt und grunzt und ist glücklich. Es wundert sich selbst nicht, wenn es nachher geschlachtet wird…«
Dr. Portner legte den Arm um die Schulter Dr. Sukows.
«Andreij Wassilijewitsch«, sagte er heiser vor innerer Bewegung,»wenn wir beide Stalingrad überleben, sollten wir ewige Freunde sein.«
«Wir sind es, moi drug (mein Freund). «Er wandte sich ab und putzte sich die Nase. Die Luft war trocken und staubig und legte sich auf die Schleimhäute. Nur darum putzte sich Chefchirurg Dr. Sukow, Major der Roten Armee, die Nase…
Die erste, die die Kellertreppe herabkam und sich durch das Geröll kämpfte, war Olga Pannarewskaja. Auf halber Höhe stand Dr. Sukow und half mit, große Trümmerstücke wegzurollen. Als er die Ärztin sah, streckte er ihr beide Hände entgegen und half ihr über eine Steinbarriere auf den unteren Treppenabschnitt.
«Willkommen, Genossin«, sagte er freudig.»Ist alles in Ordnung?«
«Alles, Genosse Major.«
Sukow sah auf die Taschen, die die Pannarewskaja um den Leib geschnallt hatte.
«Alles dabei?«
«Alles. Ich mußte erst zum Hauptdepot, darum dauerte es drei Tage länger.«
«Was gibt es sonst?«
«Vieles und nichts, Genosse Major. Unsere Verluste sind schwer, aber es ist bald zu Ende in Stalingrad. Sie werden morgen mit zweihundert Salvengeschützen und Raketen die deutschen Stellungen beschießen. Nur ein paar Tage noch…«
Dr. Portner kam ihnen entgegen. Er blieb wie vor den Kopf geschlagen stehen, als er die Pannarewskaja erkannte.
«Das ist doch nicht möglich…«, sagte er ungläubig.
«Ich habe alles bei mir. «Die sowjetische Ärztin schlug gegen die Ledertaschen an ihrem Gürtel.»Alles, was wir brauchen. Vor allem Morphium und eine Fahne, die uns schützt — «
«Morphium…«Portner wischte sich über die Augen.»Wo… wo waren Sie denn?«
«Im Sanitätsdepot. «Sie lachte ihn an, als sei dies das Selbstverständlichste gewesen. Portner wandte sich zu Dr. Sukow.
«Sie haben das gewußt…«
«Ja.«
«Darum Ihre Ruhe!«
«Ja.«
«Ich… ich danke Ihnen…«
Dr. Sukow drückte das Kinn an die Brust.»Warum? Wofür? Es werden auch viele verwundete sowjetische Genossen in den Keller kommen… für sie hat Genossin Pannarewskaja die Medikamente geholt.«
«Natürlich. «Dr. Portner schwieg. Er wußte, daß es eine Lüge war, ein Selbstbetrug, der Sukows sowjetisch-ideologisches Gewissen beruhigen sollte.
Zuerst wurde Emil Rottmann behandelt… er kam in den Nutzen der ersten Anästhesie nach vier Wochen, er bekam einen Wundpuderverband, nachdem Dr. Sukow ihm die Kugel aus dem
Rückenmuskel herausgeschnitten hatte. Er lag da wie ein 1.-Klasse-Patient, mit einer sauberen Kompresse, mit weißen Mullbinden, schmerzlos, ohne Gefahr, in ein paar Tagen sich im Wundbrand wälzen und tierisch brüllen zu müssen.
Voll Erstaunen erkannte die Pannarewskaja den Mladschij Sergeanten Kaljonin in der deutschen Uniform.
«Bitte, bitte schweigen Sie, Genossin Kapitän«, bettelte Iwan Iwanowitsch.»Der Krieg ist ja bald zu Ende. Ich weiß, es ist nicht ehrenvoll, was ich tue… aber es kam einfach über mich, und als ich anfing, darüber nachzudenken, war es schon zu spät. «Er schwindelte ein wenig, der gute Kaljonin, er gab sich als Opfer einer plötzlichen Idee, eines Affektes der Liebe und Sehnsucht. Daß er tagelang durch die Trümmer Stalingrads geirrt war und nach Vera gesucht hatte, verschwieg er.
«Und man hat dich noch nicht entdeckt?«
«Nein. «Kaljonin grinste verlegen.»Man hält mich hier für einen Oberschlesier.«
«Dann sitz nicht hier herum, sondern hilf!«Die Pannarewskaja winkte zu Vera, die auf ihrem Strohlager hockte.»Und du auch! Bring den Verwundeten Wasser…«
«Den Deutschen?«
«Sind es keine Menschen, he?«
«Doch, Genossin, aber Stalin sagte «
«Wo ist Stalin? Liegt er hier mit im Keller?!«Die Pannarewskaja war wütend. Kaljonin verdrückte sich, er kannte etwas davon, wenn Olga den Kopf in den Nacken warf.»Haben sie dich nicht verbunden, he? Haben sie dir kein Lager gegeben, die Deutschen? Lebst du denn nicht?!«
Mit gesenktem Kopf schlich auch Vera Kaijonina hinaus. Wenig später kniete sie neben den zerfetzten Leibern und legte feuchte Tücher auf die heißen, fiebernden Stirnen, benetzte die aufgesprungenen Lippen mit in Schneewasser getauchten Fingern oder hielt den Kopf eines Sterbenden, der mit großen Augen aus der Welt ging, nicht begreifend, daß eine Frau ihn umfangen hielt.
Oberst von der Haagen ergab sich seinem Schicksal. Nach den Tobsuchtsausbrüchen wurde er ganz still, saß an der feuchten, zitternden Kellerwand und starrte in das winzige, flackernde Hinden-burglicht. Er aß eine Wassersuppe und einen angeschimmelten Zwieback. Ein paarmal sprach ihn Dr. Portner an… es war, als spräche er zu einer Wachspuppe. Von der Haagen rührte sich nicht, sah an Dr. Portner vorbei, mit ausdruckslosen, trüben Augen. Nach der Auseinandersetzung im OP-Keller hatte es in ihm einen Riß gegeben. Es war, als erkenne er einen ganz neuen Menschen, als er in sich schaute, und dieser Mensch sagte: Stalingrad ist auch deine Schuld! Erkenne es endlich… Das war so ungeheuerlich, daß von der Haagen wie gelähmt war. Er sprach nicht mehr, er rührte sich nicht mehr… nur zur Verrichtung seiner Notdurft stieg er die Kellertreppe hinauf. Schritt um Schritt, wie eine in Gang gesetzte Maschine, kehrte zurück, hockte sich an die Wand und schwieg weiter in selbstverzehrender Dumpfheit.
An diesem Nachmittag wurden über den Trümmern der Stadt Stalingrad zwei Tonnen Verpflegung und Munition abgeworfen. Der Notflugplatz Stalingradski war schon am 23. Januar aufgegeben worden.. nun kreisten einsame Flugzeuge über der Stadt und warfen dort ihre Nachschubbomben ab, wo man winkte oder anhand der letzten Lagemeldung noch deutsche Bunker vermutet wurden.
Knösels Markierungstuch war wieder ein Magnet. Zweimal landeten deutsche Nachschubbomben auf dem Fabrikhof… einmal waren es Schinken in Büchsen und Hartbrot in Zellophanbeuteln… die andere Bombe enthielt Schweinskopfsülze, Erbsen und Bohnen, Kekse und gepreßten Tee.
Das große Verteilen begann. Knösel zählte ab… pro Mann zehn Erbsen, neun weiße Bohnen, drei Kekse, eine Scheibe Brot (und dieses nur für die Verwundeten, bei denen Hoffnung auf Rettung bestand), ein winziges Würfelchen Sülze, ein Hauch von gekochtem Schinken… und doch war es wie ein Feiertag, als aus jedem Keller drei Essenholer an Knösel vorbeizogen una die Verpflegung in Empfang nahmen.
«Verderbt euch nich de Wampe!«sagte Knösel, wenn er sich die Portionen quittieren ließ.»Zu üppiges Fressen bringt dumme Jedanken.«
Die beiden Verpflegungsbomben reichten für eine Tagesration. Für einen Tag Gefühl, etwas im Magen zu haben, für einen Tag den Geschmack von Sülze und gekochtem Schinken. Man hielt die winzigen Stückchen so lange im Mund, wie es ging, man lutschte die Sülze auf und zerkaute die in Schneewasser weichgekochten Erbsen und Bohnen wie köstliche Marzipankugeln.
Dann war der Vorrat ausgegeben, Knösel saß vor seinem leeren Verpflegungskeller und grübelte. Mitte Dezember, dachte er.
Junge, Mitte Dezember hatte er doch ein Pferd geschlachtet! Eine Hüfte hatte er damals mitgenommen. Die anderen Teile hatte er vergraben, gewissermaßen in einen Eisschrank gelegt… ein Eisloch mit Steinen darüber. Irgendwo da draußen lagen noch über hundert Pfund bestes Gefrierfleisch!
Knösel wurde von einer ungeheuren Lebendigkeit befallen. Er holte Kaljonin aus dem Keller und ging mit ihm nach oben ins Freie.
«Paß mal uff«, sagte er und versuchte, sich zu erinnern, wo er seinen Eisschrank angelegt hatte.»Ick habe noch ’n Gaul in der Hinterhand. Vastehste?«
«Njet!«sagte Kaljonin ratlos.
«Ein Pferd! Panje-Konij…«
«Ah!«Kaljonins Augen glänzten.»Wo?«
«Wenn ick det noch wüßte. «Knösel sah in die unendlich scheinende Trümmerwüste. Im Norden und im Süden standen hohe Rauchwolken gegen den graublauen Himmel. Es war ein Wunder, daß es in dieser toten Stadt noch etwas gab, was brennen konnte.»Da war ein Turm in der Nähe…«
«Turm?«
«An einem Haus. Ein viereckiger Turm. Auf dem stand was drauf… aber ick kann ja keen Russisch lesen…«
«Turm mit flachem Dach?«
«’n Dach war nicht mehr da!«
«Ich glaube, ich weiß…«Kaljonin wiegte den Kopf hin und her.»Wird schon von Roter Armee erobert sein.«
«Det wäre Mist, Iwan.«
«Gähen wir sähen — «
Nach einer halben Stunde Kriecherei erreichten sie die Stelle, die Kaljonin meinte. Ein Turm war nicht mehr zu sehen… die Gebirge der Steine und Betonreste glichen sich wie nebeneinandergestellte Massenartikel. Knösel setzte sich in ein Granatloch und sah sich um.
«Hier?«
«Ja.«
«Warte mal. «Er kratzte sich den Kopf und schob die Unterlippe vor.»Wo war der Turm?«
«Dort. Wo du hinsiehst.«
«Dann müßte det Loch dort sein. «Knösel zeigte auf einen Ruinenberg. Er war einmal ein Wohnblock gewesen mit verschiedenen Höfen. Die Höfe konnte man noch erkennen, die Häuser nicht mehr.
«Natürlich, det is et!«Knösel wurde unruhig.»Da… in dem Viereck… da war’n schöner flacher Trichter. Da ha’ ick det Pferd reinjelegt und mit Steinen zujedeckt. «Er schob den Helm wieder nach vorn in die Stirn und rieb die Hände aneinander.»Los, Iwan… wenn wir det finden, reicht’s bis zum Jüngsten Jericht…«
Kaljonin hielt Knösel fest, als dieser aus dem Trichter klettern wollte.
«Nix, nix…«, sagte er hastig.»Dort Rote Armee…«
«Wo?«
«Gegenüber in Haus.«
«Seh ick nich…«
«Ich aber! Ich gehen allein.«
«Iwan, bei dir piept’s!«
«Wo ist Loch mit Konij?«
«Da, im ersten Hof. An der Mauer… vielleicht fünf Meter nach innen. «Knösel hielt nun Kaljonin fest, als dieser den Trichter verlassen wollte.»Junge, mach keenen fiesen Ärjer… die knallen dich sonst ab…«
«Njet, ich doch Genosse!«
«Aba in deutscher Uniform, du Scheich!«
Kaljonin ließ sich zurückfallen. Der Schreck stand ihm im Gesicht. Die deutsche Uniform, er hatte sie ganz vergessen. Es würde nichts helfen, zu rufen und zu winken.»Nicht schießen, Brieder-chen. lch bin Iwan Iwanowitsch Kaljonin von der 2. Gardedivision. «Sie würden ihn gar nicht hören… sie würden nur seine Uniform sehen und schießen, bevor er rufen konnte.
«Is det ’ne Scheiße!«brüllte Knösel.»Een janzen Zentner Fleisch! Auge in Auge… und du kommst nich ’ran!«
«Warten. «Kaljonin lächelte seinen Freund an.»In einer Stunde wir habenn Fleisch.«
«Und wie?«
«Mit richtige Uniform.«
«Dann knallen dich unsere ab, Iwan!«
«Man muß immer rechnen mit Risiko…«
«Ick weeß nich. Ick hab’n komisches Jefühl im Magen«, sagte Knösel.»Vagessen wir det Fleisch. Komm, Iwan…«
Sie krochen zurück zum Kino und schwiegen über ihre Pläne.
In der Nacht waren sie wieder draußen, in einem Trichter zog sich Iwan Iwanowitsch um und kroch weiter in den Häuserblock hinein. Knösel wartete hinter einer herunterhängenden Betondecke, die Maschinenpistole im Anschlag. Er hörte Stimmen, russische Worte… er vernahm Kaljonins Organ, er lachte… dann war es still, aber nur für einen Augenblick. Dann hämmerte es aus einem versteckten Bunker über den Häuserblock. Ein deutscher Beobachtungsposten kämmte das Niemandsland vor sich ab. Er hatte eine Bewegung gesehen.
«Idiot!«sagte Knösel halblaut.»Wennste wüßtest, wat da jeholt wird.«
Es dauerte über zwei Stunden. Knösel wurde ungeduldig, Angst umklammerte sein Herz. Sie haben Iwan erwischt, dachte er. Hätte ich doch bloß die Fresse gehalten…
Er wollte schon zurück zum Kino, als er vor sich das Prasseln von Steinen hörte, Rumoren, Schleifen, Keuchen. Von dem deutschen Bunker aus ballerte wieder eine Salve über das Vorfeld.
«Aufhören!«brüllte Knösel.»Eigene Leute! Aufhören. Ihr Hornochsen! Eigene Leute…«
Der Posten verstand zwischen zwei Feuerstößen den Ausdruck Hornochse und stellte sofort das Feuer ein. Die Nacht war dunkel und voll Schneenebel. Man sah nichts… aber die Geräusche wurden weitergetragen, klar und überdeutlich wie durch einen Sprechtrichter. Knösel stützte sich auf den Rand seiner herunterhängenden Decke.
«Hier Sanitäter Feldlazarett III! Verstehst du?«
«Ja…«Eine Stimme, wie aus der Weite des Himmels.»Kann ich das riechen…«
Eine Leuchtkugel auf russischer Seite zischte auf. Knösel sah einen Schatten, der sich blitzschnell hinwarf. Er wartete, bis die Leuchtkugel wieder versunken war, dann sprang er vor und erreichte Kaljonin in der Haustür eines Hauses. Die Tür und ein bißchen Mauer herum waren das einzige, was von diesem Haus noch aufrecht stand. Kaljonin lehnte an der Mauer und keuchte. Er hatte keinen Atem mehr. Neben ihm lag ein großer Klumpen Fleisch, steinhart und schwer wie Blei. Die linke Hüfte des Pferdes.
«Ich nicht mehr kann tragen…«, stöhnte Kaljonin.
«Mensch, Iwan!«Knösel umarmte Iwan Iwanowitsch.»Die ganze Hüfte. Det reicht! Det reicht! Det wird ’ne Fettlebe!«Plötzlich ließ er Kaljonin los und lehnte sich neben ihm an die Türwand.»Kumpel, weißt du, daß du uns allen das Leben gerettet hast…«
Kaljonin schwieg. Sein Atem pfiff.
«Noch zwei Tage, und wir wären umjefallen wie de Mücken am Mottenpulver! Junge…«Knösel schluckte und legte den Arm um Kaljonins Schulter.»Warum is Krieg? Warum müssen wir zwee Feinde sein? Wär det nich schön, wenn wir alle Freunde sein könnten?«
«Sähr schönn, Briederchen. «Kaljonin hob beide Arme in die Luft, er japste nach Atem. In seinem Brustkorb stach es wie mit tausend Nadeln.»Wir sind Freunde…«, sagte er röchelnd.
«Aba nebenan hauen se sich die Birne ein! Is det nich zum Kotzen? Nur weil wir eenen Hitler haben und ihr ’nen Stalin! Sind wir nich blöde, Iwan?«
«Ja. «Kaljonin nickte.»Aber kannst du machen Welt anders?«
Nach vier Stunden Abwesenheit kamen sie zurück in den Kinokeller, zwischen sich die vereiste Pferdelende. Man hatte sie schon gesucht. Dr. Portner brauchte Knösel als Ordonnanz. Besuch war gekommen. Hoher Besuch.
Im OP-Keller saß General Gebhardt. Verdreckt, mit zerrissener Uniform, hohlwangig, unrasiert, müde und seelisch zerbrochen. Ein General ohne Truppen.
Der Kessel Stalingrad-Mitte war die erste der drei deutschen Widerstandsgruppen, die sich unter der massiven Beschießung und durch die Straße nach Straße, Ruine um Ruine abwalzenden T 34 auflöste. Regimenter bestanden nur noch aus vierzig Mann. Divisionen waren nur noch Nummern oder armselige Haufen von zweihundert Verhungerten und Verletzten, die sich in den Kellern verbargen, überrollen ließen, hinauskrochen, wie Schmeißfliegen an den Panzern klebten und sie in die Luft sprengten. Es gab keine Front mehr, kein Hüben und Drüben… alles verschmolz miteinander, ein Haus gehörte im Keller den Deutschen, in der zweiten Etage den Sowjets, man hockte Kellerwand an Kellerwand, hörte sich sprechen, begegnete sich an der Treppe und schoß aufeinander oder schlug sich die Köpfe ein. Es war ein völlig sinnloses Sterben, aber man starb, weil es nichts anderes mehr gab.
General Gebhardt hatte am Nachmittag die letzten Meldungen bekommen. Zwei Meldegänger überbrachten die Nachrichten.
Seine Division bestand nicht mehr. Es gab nur noch die Offiziere seines Stabes und ein paar Männer, die sich vor den Flammenwerferpanzern und der Lawine der sowjetischen Infanterie gerettet hatten. Das kleine Funkgerät, die letzte Verbindung mit anderen Divisionen und dem Armee-Befehlsstand, war durch den Ausfall der Batterien unbrauchbar geworden. Man wußte nicht, wie es im Südkessel stand, was der Nordkessel machte… man sah nur die hohen Qualmwände in den Fabrikvierteln >Rote Barrikade< und >Dershinski< und ahnte, was sich dort abspielte. General Gebhardt versammelte in dieser Nacht seine letzten Offiziere um sich.
«Meine Herren«, sagte er mit merkwürdig spröder Stimme,»ich weiß nicht, ob ich dazu berechtigt bin, aber die Lage, in der wir uns befinden, zwingt mich zu logischen Folgerungen.«
Das klang ironisch, wie eine Selbstzüchtigung. Die Offiziere, die General Gebhardt im Halbkreis umstanden, sahen ihren Kommandeur aus eingesunkenen Augen an.
«Ich entbinde Sie hiermit von dem Eid, den Sie einmal für Führer und Volk geleistet haben. Ich gebe Ihnen völlige Handlungsfreiheit. Sie stehen nicht mehr unter meinem Befehl. Sie können durchbrechen. Sie können sich in russische Gefangenschaft begeben. Sie können sich erschießen. Es wird Ihnen überlassen. Man hat uns verraten, das wissen wir jetzt. Nun sollte sich jeder der nächste sein. Ich danke Ihnen, meine Herren, für Ihre bis zur Hölle gehaltene Treue und Kameradschaft. «General Gebhardt legte die Hand an seine Mütze.»Gott mit Ihnen, meine Kameraden!«
Die Offiziere grüßten zurück. Vor ihrem Keller ratterten die Ketten der sowjetischen Panzer. Ein paarmal krachte es. Das Wunder des Widerstands erneuerte sich wieder… die Toten erhoben sich und schossen noch einmal, ehe sie vollends starben.
«Und wohin gehen Herr General?«fragte sein Ia, ein Oberstleutnant.
«Nach vorn, meine Herren.«
«Wir bitten Herrn General, uns anschließen zu dürfen.«
«Nein!«Gebhardts Gesicht war kantig, wie versteint.»Mein letzter Befehl — ihn behalte ich mir vor — lautet, daß jeder der Herren sich unabhängig von irgendwelchen Gefühlen zu dem Weg entschließt, den er vor sich selbst immer verantworten kann.«
«Durchbruch!«rief ein junger Hauptmann.
General Gebhardt nickte.»Wenn Sie es wagen wollen… es hält Sie niemand mehr. Am wenigsten ein Führerbefehl.«
Der junge Hauptmann größte noch einmal und lief hinaus. Es schlossen sich ihm noch vier andere Offiziere an… zurück blieben der Ia und der Quartiermeister, ein Major. General Gebhardt sah sie fragend an.
«Und Sie?«
«Wir bleiben hier im Befehlsstand und warten, was kommt. Es bleibt uns als letzter Ausweg immer noch die Waffe. «Der Ia schluckte. Er dachte an seine Frau, an seine drei Kinder, an die alte, auf ihn wartende Mutter. Er war der einzige Sohn.»Wir bitten Herrn General, auch hier zu bleiben…«
«Nein!«Gebhardt setzte seine Mütze ab und griff nach seinem weißgestrichenen Stahlhelm. Er stülpte ihn über die kurzgeschnittenen, grauen Haare. Nur die roten Kragenspiegel mit dem goldenen Eichenlaub unterschieden ihn von seinen Landsern… sein Mantel war dreckig und zerrissen wie alle Mäntel, seine Hosen mit den roten Streifen waren längst zerfetzt, er hatte sie gegen einfache Hosen umgetauscht, Hosen eines Toten.
«Wir bitten Herrn General noch einmal, ihn begleiten zu dürfen…«, stotterte der Quartiermeister.
«Nein! Warum?!«
«Wir haben Angst um den Herrn General.«
«Angst!«Gebhardt senkte den Kopf.»Angst hätten wir uns leisten können vor einigen Wochen. Wovor sollen wir jetzt noch Angst haben? Vor dem Sterben? Meine Herren… vor Erlösungen hat man keine Angst. Man geht ihnen entgegen.«
Er drehte sich um und verließ mit weit ausgreifenden Schritten den Keller. Sie hallten noch in den anderen leeren Gewölben nach, bis sie sich verloren. Der Oberstleutnant und der Major setzten sich an den aus Brettern gezimmerten Tisch. Sie schraubten die Becher von ihren Feldflaschen und gossen sich aus einer Flasche ein, die der Ia aus einer Munitionskiste holte.
Der letzte Cognac. Der letzte Schluck.
«Leben Sie wohl, Herr Seiferth«, sagte der Oberstleutnant.
«Auf Wiedersehen, Herr Dormagen.«
Sie prosteten sich zu und tranken ihre Becher in einem Zug leer.
Dann saßen sie wieder stumm am Tisch, fast bewegungslos, und warteten.
Nach einer Stunde polterte es über die Treppe. Ein sowjetischer
Leutnant betrat den letzten Kommandoraum der Division. Ihm folgten zwölf Rotarmisten mit Maschinenpistolen.
Die beiden deutschen Offiziere erhoben sich von ihren Kisten und grüßten. Der junge Leutnant der Roten Armee grüßte verblüfft zurück.
«Dawai!«sagte er dann und zeigte mit dem Daumen zum Ausgang. Mit gesenkten Köpfen gingen die deutschen Offiziere durch das Spalier der Rotarmisten ins Freie. Für sie war die Hölle zu Ende.
General Gebhardt rannte unterdessen durch die Nacht zum Abschnitt >Tennisschläger<. Wo er auftauchte, verbreitete er sprachloses Erstaunen. Ein paarmal wollte man ihn festhalten… da wurde er wieder General und fauchte die Offiziere an, die ihn beschworen, in den Bunkern zu bleiben. So fragte er sich durch bis zum Feldlazarett III, zu den Kellern unter dem Kino.
Dr. Körner war der erste, der den General sah. Er kniete auf der Treppe und verband einen Kopfschuß. Die Keller waren überfüllt, die neue Welle der Verwundeten, die aus den Trümmern herangespült wurde, mußte auf der Treppe oder rund um das Kino in den Trichtern versorgt werden. Bald waren es 5000, die herumlagen, ein Berg von zerrissenem Fleisch, aus dem es stöhnte wie aus einem ruhenden Vulkan.
«Herr… Herr General…«, stotterte Dr. Körner und wollte Haltung annehmen. Gebhardt winkte ab.
«Lassen Sie den Quatsch, Doktor! Lebt Ihr Chef noch?«
«Jawohl, Herr General.«
«Was soll diese merkwürdige rote Fahne mit dem grünen Kreuz auf der Kinoruine?«
«Das ist eine sowjetische Lazarettfahne, Herr General.«
«Aber — «General Gebhardt sah sich um. Die Treppe herauf kam Olga Pannarewskaja mit frischen, gewaschenen Verbänden und einer Tasche voll Morphiumampullen.»Was soll denn das? Eine Frau? Eine Russin? Sind Sie denn schon überrollt?«General Gebhardt grüßte, als die Pannarewskaja vor ihm stand.
Dr. Körner nannte ihren Namen. Gebhardt blickte hilflos im Kreis. Deutsche und sowjetische Verwundete lagen einträchtig in den Trümmern, zwei sowjetische Krankenträger halfen ihnen Und auf der Ruine wehte die rote Fahne.
«Was soll das alles?«
Dr. Körner atmete tief auf.»Ich habe die Ehre, Herrn General meine Braut vorstellen zu können…«
Die Pannarewskaja lächelte still.»Ja…«, bestätigte sie leise.»Ja, so ist es…«
«Aber das ist doch Wahnsinn, Körner!«Gebhardt wandte sich an die Ärztin.»Er wird doch morgen oder übermorgen gefangengenommen! Und Sie wird man verurteilen zu Zwangsarbeit, weil Sie einen Deutschen lieben!«
«Ich weiß, Genosse General.«
«Und trotzdem?«
«Trotzdem. Wir werden uns einmal wiedersehen…«
«Gott erhalte Ihnen diesen Optimismus.«
«Es ist Liebe, Genosse General…«
Gebhardt hob hilflos die Schultern und stieg hinab in die Gewölbe. Als nächsten sah er Dr. Sukow.. aber da wunderte er sich schon nicht mehr. Er hatte das Einmalige und doch so Selbstverständliche begriffen: Hier gab es keinen Krieg mehr. Hier war eine Insel der Schmerzen und des Sterbens… und Schmerzen und Sterben kennen keine Nationalitäten mehr, keine verschiedenen Uniformen, keine Ideologien… sie machen alle gleich… zu um Hilfe bettelnden Menschen.
Dr. Portner ruhte sich auf seinem Strohsack aus, als General Gebhardt eintrat.
«Bleiben Sie sitzen, Doktor — «, rief er, als der Stabsarzt aufspringen wollte.»Ich haue mich neben Sie. Was Sie da in Rot und Gold sehen, sind nur dumme Tapisserien — ich bin nur der Friedrich Gebhardt, sonst nichts. Ich bin der Letzte meiner Division…«
«Herr General…«Portner schüttete aus einem summenden Blechkessel heißen Tee in den Deckel eines Kochgeschirrs. Gebhardt nahm ihn am Griff und schlürfte gierig den glühenden Tee. Er trank in kleinen, schnellen Schlucken, die er durch das Anblasen des Tees unterbrach. Portner beobachtete ihn von der Seite. Ein schöner, schmaler Gelehrtenkopf, dem selbst die Bartstoppeln nichts von der inneren Würde nahmen.
«Das tat gut«, sagte General Gebhardt und reichte den Kochgeschirrdeckel zurück.»Ich bin gekommen, um mich von Ihnen zu verabschieden, Doktor.«
«Von mir?«
«Ja. Ich habe Sie damals sehr schätzengelernt, wissen Sie, bei diesem dummen Prozeß Körner. Sie haben damals mit einem Löwenmut das gesagt, was ich schon immer dachte. Das hat mir imponiert! Sie haben geredet, ich habe nur gedacht! Hätten mehr Leute geredet und nicht nur still gedacht, wäre vielleicht vieles anders geworden, und einige hunderttausend Männer lebten heute noch. Und deshalb mußte ich zu Ihnen kommen, ehe ich für mein Versagen die Konsequenzen ziehe.«
Dr. Portner setzte den Kochgeschirrdeckel langsam auf die Erde.»Sie haben nicht versagt, Herr General.«
«Doch! Portner, reden Sie mir keinen Unsinn ein! Von einer ganzen Division lebe ich noch! Ich, ihr Kommandeur! Das ist doch widersinnig!«
«Es wäre widersinnig, sich für ein Nichts wie die sogenannte Soldatenehre zu opfern! Kommen wir dem Sieg näher, wenn Sie jetzt hinausgehen und sich totschießen lassen?«
«Nein! Aber ich habe wider besseres Wissen meine Leute in den Tod geführt. Eine ganze Division! Glauben Sie, daß ich jemals in Ruhe wieder schlafen kann.«
«Ich glaube nicht, daß die Herren im Führerhauptquartier auch solche zarten Seelen haben. Sie schlafen ruhig weiter… und wenn ganze Armeen untergepflügt werden. Man schläft ruhig mit der Gewissensbremse, daß solche unliebsamen Begleiterscheinungen zum Risiko eines Soldaten gehören. Ein Fensterputzer kann von der Fassade stürzen, ein Tischler sich den Daumen absägen, ein Elektriker einen Schlag bekommen, ein Schornsteinfeger vom Dach fallen… und ein Soldat kann eben nun mal sterben. Das gehört zum Beruf.«
«Ich kenne Ihren Sarkasmus, Doktor. «General Gebhardt sah auf seine Armbanduhr.»3.43 Uhr morgens, 29. Januar 1943. Ich habe Sie noch einmal gesehen und gesprochen… merkwürdig, welch ausgefallene Wünsche man am Ende eines Lebens hat.«
Dr. Portner sprang auf.»Was wollen Herr General tun?«rief er laut.
«Mit der blanken Waffe fallen, mein Lieber.«
«Das lasse ich nicht zu!«
«Ihr Reich ist der Häcksel, der aus der Kriegsmaschine geschleudert wird… kümmern Sie sich darum und nicht um einen alten, müden Mann, der sich nach Ruhe sehnt…«
«Herr General! Nebenan sitzt Oberst von der Haagen und…«
Gebhardts Kopf flog herum.»Was? Der ist hier? Dann lebt ja doch noch einer meiner Division! Von der Haagen nehme ich natürlich mit…«
«Herr General…«, stammelte Dr. Portner.
«Gerade von der Haagen ist dazu ausersehen, das Beispiel zu geben, das er immer gepredigt hat. Wo ist er?«
«Nebenan…«Dr. Portner schluckte. Zum erstenmal empfand er Mitleid mit dem Oberst, der ahnungslos neben dem >Held der Nation< Sabotkin schlief.»Aber er ist verwundet…«
«Das macht nichts!«General Gebhardt straffte sich.»Wie sagte von der Haagen immer: Eine deutsche Eiche fällt stolz um.. Gehen wir…«
«Herr General — «
Dr. Portner rannte Gebhardt nach.
«Wo ist Knösel?!«schrie der Stabsarzt.»Knösel, sofort zu mir! Himmel, Arsch… Knösel!!«
Er war bereit, General Gebhardt mit Gewalt zurückzuhalten. Er und Knösel und Dr. Körner… sie würden es schaffen.
General Gebhardt ging unbeirrt weiter. Er stieg über Verwundete, Sterbende und Tote und winkte Oberst von der Haagen zu, der in diesem Augenblick aus seinem Keller kam.
«Da sind Sie ja!«rief Gebhardt.»Ich brauche Sie, von der Haagen…«
«Herr General…«, stotterte der Oberst. Er nahm die Hacken zusammen und grüßte.»Welche Freude. «Plötzlich leuchteten seine Augen auf.»Herr General haben mit der Division den Abschnitt bereinigt? Es geht wieder vorwärts?«
«Und wie, von der Haagen!«Der General hob die rechte Hand.»Mit dem Führer Sieg Heil!«
«Sieg Heil!«Von der Haagen hob den weißhaarigen Kopf. Sein eingefallenes Gesicht belebte sich. Dr. Portner biß sich auf die Lippen. Das Mitleid mit diesem Mann, der sich an ein Wort, an einen Begriff klammerte wie ein Ertrinkender an ein treibendes Brett, stieg heiß in ihm auf. Plötzlich erkannte er, wie klein und armselig dieser Mensch war, wie unendlich zerrissen und hilflos. Der Oberst rückte an dem Rock seiner Uniform.»Darf ich als erster Herrn General beglückwünschen, daß…«
«Draußen, von der Haagen, draußen. Gehen wir hinaus. Ich liebe frische Luft…«
«Ich auch, Herr General.«
«Ich weiß… sie wird Ihnen guttun. Kommen Sie.«
«Knösel!«brüllte Dr. Portner und sprang über die liegenden Körper General Gebhardt nach.»Zum Teufel noch mal — wo ist Knösel?!«
Es war der Augenblick, in dem Kaljonin und Knösel ihre gefrorene Pferdelende heranschleiften und ächzend oben an der Treppe eine Verschnaufpause einlegten.
Der kleine Trupp aus vier Offizieren und zwanzig Mann, der nach dem Weggang General Gebhardts sich durchschlagen wollte, gelangte wirklich in der Nacht hinter die feindliche Umklammerung. Sie sickerten durch und marschierten seitlich der Straße von Gumrak nach Westen. Die Stimmung war fast überschwenglich. Das Trümmerfeld der Stadt lag hinter ihnen, sie sahen den Feuerschein der pausenlosen Artilleriebeschießung des Nord- und Südkessels und die Feuerwand im Kessel >Mitte<. Das alles lag nun weit hinter ihnen… sie marschierten in die Stille hinein, in die verschneite Steppe, marschierten eng aufgeschlossen, ein kleiner geballter Haufen, mitten durch die sowjetischen Reserven.
Wir schaffen es, dachten sie alle. Wir schaffen es! In vierzehn Tagen haben wir Anschluß an die eigenen Truppen, dann sind wir am Donez.
Man hat sie erst bei Aufräumungsarbeiten am 10. Februar wiedergesehen. Russischen Bautrupps, die die Eisenbahnlinie wieder ausbesserten, fiel ein kleiner Schneehügel mitten in der Steppe auf. Wo kein Baum, kein Strauch, keine Erhebung ist, hat ein Hügel nichts zu suchen.
Man grub ihn auf und fand unter dem vereisten Schnee vierundzwanzig deutsche Soldaten. Sie saßen nebeneinander, in einem engen Kreis, Leib an Leib, mitten in ihnen, als Kern, vier Offiziere. Sie hatten versucht, sich bei einem Schneesturm mit 45 Grad Kälte
Gegenseitig zu wärmen, hatten eine Burg aus ihren Körpern ge-ildet und gehofft, den heulenden Steppensturm zu überleben. So waren sie gestorben, erstarrt zu einem Denkmal. Ihre Gesichter in dem blanken Eis schienen zu leben, ihre Augen starrten die Russen, die sie ausgruben, fragend an.
Man hackte die Körper voneinander, lud sie auf einen Lastwagen und fuhr sie zu den Massengräbern, warf sie zu den anderen deutschen Leichen und deckte die Gräber mit großen Planierraupen zu. Im Frühjahr wuchs wieder Gras darüber. Rußlands
Erde war groß genug… in ihr konnte eine Armee verschwinden, ohne daß man es merkte.
Sie krochen durch die Trümmer und Ruinen, von Trichter zu Trichter, tiefer in die Stadt hinein, dem Roten Platz entgegen, an dessen einer Seite, im Keller des Kaufhauses >Univermag<, das Armee-Oberkommando den totalen Zusammenbruch in stumpfer Hilflosigkeit erwartete. Oberst von der Haagen kroch seinem General tapfer nach, Seite an Seite lagen sie am Rand einer breiten Straße. Vor ihnen ratterte ein dunkler Koloß über den Asphalt. Ein russischer Panzer, der die ausgestorbenen Ruinen kontrollierte.
General Gebhardt schien der Panzer wenig zu kümmern. Er machte Anstalten, auf die Straße hinauszutreten. Von der Haagen wagte es, ihn am Ärmel festzuhalten. Er keuchte von dem schnellen Vorwärtslauf.
«Herr General… wo ist denn die Division?«fragte er. Gebhardt erhob sich. Noch schützte ihn ein Mauervorsprung.
«Wir sind ja mitten drin, von der Haagen — «
«Wir sind… Wieso?«Der Oberst sah sich um.»Ich habe noch keinen unserer Leute gesehen..«
«Sie rechnen mit zuviel Beteiligung, Herr Oberst. «General Gebhardt schob die Maschinenpistole vor die Brust und entsicherte sie. Der Panzer rollte langsam über die leere Straße.»Die Division sind wir — «
«Wir?«
«Ja, wir zwei! Meine Division — «
In Oberst von der Haagen explodierte das Herz. Er begriff, was in wenigen Sekunden geschehen würde, er begriff die Ausweglosigkeit, er sah seinen Tod auf sich zurollen. Ein Koloß aus Stahl, 34 Tonnen schwer, mit einem langen Geschützrohr.
«Herr General!«schrie er.»Das dürfen Sie nicht tun! Herr General… ich habe eine Frau und zwei Kinder «
«Ich habe drei, von der Haagen. Ich hatte drei. Mein ältester Sohn fiel bei Minsk. «Er ruckte an dem Sturmriemen seines Stahlhelms.»Laden Sie Ihre MP durch, von der Haagen. Ein deutscher Offizier stirbt nicht kampflos…«
«Herr General…«Von der Haagen lehnte an der Hauswand. Tränen rannen ihm über das eingefallene Gesicht und froren sofort zu kleinen, hellen Kugeln.»Ich flehe Sie an…«
«Lassen Sie uns jetzt nicht über Schuld und Sühne diskutieren, von der Haagen. «General Gebhardt machte einen Schritt auf die Straße. Noch sah ihn der Panzer nicht.»Kommen Sie… oder bringen Sie es fertig, mich allein gehen zu lassen? Oberst… was haben Sie als Kadett schon gelernt?«
«Ich… ich…«Von der Haagen entsicherte seine Maschinenpistole.»Lassen Sie mich meine Fehler anders sühnen!«brüllte er heiser.
«Nein! Kommen Sie!«Gebhardt winkte.»Die Schuldigen vergessen zu leicht, wenn sie in Sicherheit sind. Zielen Sie auf den rechten Sehschlitz — ich nehme die Turmluke…«
Durch die Trümmer hetzte eine dritte Gestalt auf sie zu. Eine Leuchtkugel erhellte plötzlich die Straße, den Panzer, den deutschen General, der seine MP gegen den stählernen Koloß hob, den deutschen Oberst, der aus der Deckung einer Mauer schwankte wie ein Betrunkener.
«Zurück!«schrie Dr. Portner und rannte wie besessen.»Zurück…«
Ihm folgten Knösel, Dr. Körner und zwei Sanitäter. Als der Lichtschirm der Leuchtkugel sie ergriff, warfen sie sich in die Ruinen, auf Steinhaufen, in Kellerlöcher.
General Gebhardt hob seine Waffe. Hoch aufgerichtet stand er mitten auf der leeren Straße. Der Panzer rollte auf ihn zu.
Dr. Portner drückte den Kopf auf den rechten Unterarm und schloß die Augen. Er konnte nicht mehr hinsehen.