37683.fb2 Das Herz der 6.Armee - читать онлайн бесплатно полную версию книги . Страница 2

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Kapitel 2

Sie nützten wieder den Übergang von der Nacht zum Tag, jene bleiernen Stunden, in denen selbst über der Stadt Stalingrad so etwas wie eine Erschöpfung lag. Nur vereinzelt huschten Leuchtkugeln über den noch dunklen Himmel, fast zählbar tuckerten die sowjetischen Maschinengewehre, und eine einsame Batterie schoß über die Wolga hinüber und erinnerte daran, daß der >Tennis-schläger< noch immer in russischer Hand war.

Dr. Körner hatte den Kopf nach hinten gelegt, auf die harte Kante des Sitzes. Er war müde. Im Offizierskasino von Pitomnik hatte man seine Hochzeit gefeiert. Sogar französischen Sekt hatte es gegeben und drei Büchsen getrüffelte Gänseleber. Als Körner die Köstlichkeiten aß und, trank, mußte er sowohl an Marianne in Köln als auch an seinen Lazarettkeller denken, an die vier vollen Trichter mit Leichen, an die Reihen der Sterbenden und an die Gulaschsuppe, die man verschlang, wenn die Essenträger durchgekommen waren. Er schämte sich fast, Gänseleber zu essen und zu hören, wie der Oberst sagte:»Meine Herren — es wird nicht nur ein militärischer Sieg sein, dem wir entgegengehen, sondern auch ein Sieg der vollendeten rassischen Reinheit! Sehen wir uns doch die Iwans an — sie unterscheiden sich vom Deutschen wie ein Spatz vom Adler…«

Nun döste Körner vor sich hin. Er hatte die Augen geschlossen und träumte sich nach Köln.

Was wird Marianne jetzt tun, dachte er und lächelte. Sie wird vor seinem Bild sitzen und daran denken, wie schön es wäre, die erste Nacht als Ehepaar nicht nur in Gedanken zu erleben. Vielleicht aber saß sie schon wieder im Keller, und über ihr donnerten die Geschwader der englischen Maschinen, rauschten die Bomben in die Häuser und flammten Stadtteile in den Himmel. Vielleicht hatte sie ängstlich die Hände gefaltet und drückte sich in Todesangst an die Kellerwände… sie, die Mutter und der kleine Bruder

Michael drei zitternde Menschen, auf die die Faust der Gnadenlosigkeit herabhieb, ohne daß sie begriffen, warum.

Dr. Körner zuckte hoch. Knösel kaute auf seinem Pfeifenstiel und schielte zur Seite.

«Haben Sie in Pitomnik Nachrichten gehört, Knösel?«fragte Dr. Körner.»Den neuen Wehrmachtsbericht?«

«Jawohl, Herr Assistenzarzt.«

«Was Neues?«

«Immer dasselbe, Heldenkampf in Stalingrad, an den anderen Fronten ebenso Scheiße.«

«Und in der Heimat?«

«Störangriffe, harmlos.«

«Gott sei Dank. «Dr. Körner legte den Kopf wieder zurück und schloß die Augen. Er hatte das Empfinden großer Sehnsucht nach Wärme, nach einem fraulichen Körper, nach Liebkosung und Geborgenheit. Leise seufzte er und ließ sich wegschaukeln in einen unruhigen, oft unterbrochenen Halbschlaf.

Auf der Rückfahrt hatten sie entdeckt, daß sie das kleine Paket des Oberleutnants vergessen hatten. In Pitomnik bei der Feldpost hatten sie es abgeben wollen. Jetzt lag es noch immer auf dem Hintersitz des Kübelwagens. An Frau Erna Budde, Hildesheim.

Jenseits des Platzes, im toten Winkel der russischen Artillerie, lagen andere Verbände. Dr. Körner erkundigte sich nach Oberleutnant Budde, man kannte ihn nicht.»Lieber Doktor«, sagte ein Hauptmann, der die Gefallenenliste seiner Kompanie vervollständigte,»seit gestern geht es hier zu wie in einer Bäckerei… frische Brötchen 'rein in den Ofen, kräftige Hitze, und dann 'raus aus dem Ofen. Nur scheint da ein Materialfehler zu sein. Was man 'rausholt, ist verbrannt und unbrauchbar…«

Dr. Körner verabschiedete sich. Der gallige Witz, der sich gerade in den unteren Führungsschichten breitmachte, war ein Humor der Hoffnungslosigkeit. Er sollte frivol und kaltschnäuzig klingen, doch in jedem Wort schwang die Angst mit. In Pitomn k hatte Körner einmal den Wehrmachtsbericht gehört. Er klang zuversichtlich, stolz, wie ein Fanfarenstoß. Der größere Teil der Stadt ist in deutscher Hand. Die Zeitungen aus dem Reich brachten seitenlange Artikel über den Sturm an die Wolga. Bilder mit Bergen sowjetischer Toten, Bilder vom Angriff deutscher Panzer in der Trümmerwüste von Stalingrad, Bilder aus dem Labyrinth von Eisenträgern und Beton der Fabrik >Roter Oktober< und darin siegessichere, lachende deutsche Landser. Ein Bild heldenhafter Fröhlichkeit.

Körner hatte dieses Bild Oberst von der Haagen gezeigt.»Man sollte so etwas nicht tun«, hatte er gesagt.»Allein um meinen Lazarettkeller herum sind vier große Trichter randvoll mit Leichen…«

Oberst von der Haagen hatte Körner daraufhin verwundert angesehen und geantwortet:»Aber lieber Doktor, als Arzt müssen Sie doch den Anblick von Toten gewöhnt sein…«

Dann hatte er sich umgedreht und Dr. Körner einfach stehen lassen.

Im Lazarettkeller hatte sich nichts geändert. Feldwebel Wallritz sortierte alle zwei Stunden immer noch die Leiber aus, drei Sanitäter verbanden die leichteren Fälle an der Treppe, und im OP-Keller stand Stabsarzt Dr. Portner am Küchentisch und amputierte, schnitt auf, entfernte Splitter, schiente, gab Spritzen und fluchte. Als Dr. Körner und Knösel in den Keller polterten — sie fielen fast hinein, weil wenige Meter von ihnen entfernt eine schwere sowjetische Granate eine ganze Hauswand umfegte —, warf er gerade eine amputierte Hand in den Blecheimer.

«Was machen Sie denn hier?«fragte er.

«Ich melde mich zurück, Herr Stabsarzt.«

«So etwas Dämliches müßte man einrahmen!«Dr. Portner säuberte den Armstumpf. Der Verwundete stöhnte und wimmerte in der Narkose.»Ich denke, Sie sind auf dem Weg nach Deutschland? Hinein in die Arme der jungen Frau Körner!«

«Davon war nie die Rede«, sagte Körner heiser.

«Ja, hat man Ihnen denn in Pitomnik nichts gesagt?«

«Nein! Was denn?«

Dr. Portner ließ den Stumpf auf eine Lage Zellstoff fallen. Es folgte die am Tage hundertmal wiederkehrende Handbewegung, ein Streichen des Handrückens über Gesicht und Stirn.

«Ich habe für Sie einen schönen Trick herausgefunden, Körner. Ich habe ihn sofort, als Sie weg waren, durch die Funkleitstelle an den Generalarzt durchgegeben, und man hat mir versichert, daß man Ihnen das anvertrauen wolle. Es kam alles paketweise, kurz nachdem Sie Ihre Brautfahrt nach Pitomnik angetreten hatten. Zunächst: Man denkt auch beim Generalarzt schon voraus. Man will in Stalingrad einige Lazarettschwerpunkte errichten. Krankenhäuser mit mehreren hundert Betten. Die Verwaltungsbeamten sind schon bestimmt, und sie haben — wie man mir sagte — in einer fleißigen Tag- und Nachtarbeit einen Aufbauplan ausgearbeitet. Wir Deutschen waren schon immer gründliche Planer…«

«Ja, ist man denn völlig verrückt geworden?«Dr. Körner zog seinen Mantel aus.»Wir verbluten in den Trümmern Stalingrads, und die planen, als sei…«

«Körner, seien Sie still! Für Sie hat es etwas Gutes!«Dr. Portner vernähte die großen Blutgefäße.»Ich habe Sie als Mitglied einer Kommission vorgeschlagen, die in den nächsten Tagen nach Warschau fliegt, um dort mit dem Heeres-Generalintendan-ten planmäßige Windeier zu legen. Es geht vor allem um die Einrichtung beweglicher, sogenannter >fliegender< OPs, und da will man einige Fachleute aus der vorderen Linie dabeihaben, weil diese die Erfordernisse der kämpfenden Truppe genau kennen. So im besten Amtsdeutsch.«

«Aber das ist doch Blödsinn! Medikamente braudien wir, Verbände, schmerzstillende Mittel, Morphium, Evipan, Schienen und, wenn es möglich ist, Betten — «

«Sehen Sie, genau das sagen Sie denen mal! Aber das Wichtigste ist, daß Sie nach Warschau kommen! In den tiefsten Frieden! Mensch, Körner… schalten Sie doch mal! Köln — Warschau, das ist gar kein Problem!«

Körners Augen wurden groß und glänzend.»Das ist phantastisch, Herr Stabsarzt.«

«Na, sehen Sie! Die Idiotie der einen ist die Wonne der anderen! Sie können jetzt sofort Ihr kleines Frauchen nach Warschau kommen lassen, und während die anderen um den runden Tisch sitzen und planen, liegen Sie Händchen in Händchen im warmen Ehebett. Ich schlage Ihnen das Hotel >Ostland< vor… früher hieß es anders, aber jetzt nennt man es germanisch-kernig >Ost-land<. Es wird sogar möglich sein, über einige Leitungen des Generalarztes ein Doppelzimmer zu bestellen.«

Dr. Körner stand an der Zinkwanne, die als Waschbecken diente, und seifte sich die Hände und Arme. Dann tauchte er sie in eine Lysollösung und war das, was man in einem Keller von Stalingrad steril nannte.

«Wenn das möglich wäre, Herr Stabsarzt…«, sagte er leise.

«Es läuft doch schon alles, mein Lieber! Darum wundere ich mich, daß Sie überhaupt zurückgekommen sind!«Wallritz begann den Armstumpf zu verbinden. Zwei Sanitäter trugen einen neuen Körper in den OP-Keller. Ein frisch Verwundeter. Ein Granatsplitter hatte ihm die linke Schulter aufgerissen und das Oberarm-Kugelgelenk zerfetzt. Dr. Portner kratzte sich den Kopf. Der Verwundete war bei vollem Bewußtsein und starrte den blutbeschmierten Arzt stumm und bittend an.»Eine große Scheiße, mein Sohn«, sagte Portner und beugte sich über die zerrissene Schulter.»Das weißt du doch?«

«Ja, Herr Stabsarzt. «Der Verwundete schluckte. Als sie ihn auf den geräumten Küchentisch hoben, biß er knirschend die Zähne zusammen.

«Muß der Arm weg…?«

«Wie soll ich das machen? Ich kann dich doch nicht halbieren'«

«Was… was dann, Herr Stabsarzt?«

«Ich suche dir die Splitterchen 'raus, mache eine schöne Schiene und aus! In einem vernünftigen Lazarett hätte man Chancen… aber hier biste in einer Knochenmühle, mein Junge.«

«Reicht… reicht denn der Schuß nicht für die Heimat…«Die Augen des Verwundeten füllten sich mit Tränen. Er wollte tapfer sein, aber von innen her drängte die Verzweiflung. Und sie war stärker.

«Heul nicht, mein Sohn. Natürlich reicht er. Aber sag mir mal, wie wir dich in eine ruhigere Gegend bringen sollen… Bis zum nächsten Sanka, der dich wegschaufelt, geht’s ein paar Kilometer durch die Hölle. Und das mit einer Trage…«

«Ich… ich kann laufen, Herr Stabsarzt. «Der Verwundete richtete sich mit klapperndem Unterkiefer auf.»Ich habe doch nichts an den Beinen… Wenn ich zur nächsten Sammelstelle laufen dürfte…«

Dr. Portner drückte ihn auf den Tisch zurück.»Mal sehen, mein Sohn. Zunächst bekommst du eins auf die Nase! Und wenn du wieder aufwachst, sieht die Welt anders aus. Äther, Wallritz!«

Während Feldwebel Wallritz den Verwundeten narkotisierte, lehnte sich Portner gegen die Tischkante. Dr. Körner stand in der Gummischürze ihm gegenüber.

«Ich vermute, daß man Sie in zwei Tagen spätestens wieder nach Pitomnik holt.«

Dr. Körner schluckte mehrmals. Der Gedanke, Marianne zu sehen, mit ihr in Warschau zu sein, ein paar Tage Glück — mein Gott, nur ein paar Stunden, sie würden genügen —, ließ sein Herz rasend hämmern.

«Es ist mir ein Rätsel, Herr Stabsarzt«, sagte er heiser,»wie Sie das arrangieren konnten…«

Dr. Portner schob die Unterlippe vor. Wallritz gab ihm eine große Pinzette. Körner bekam ein Skalpell; die Knochensplitter mußten erst freigelegt werden, ehe man sie aus der riesigen Wunde ziehen konnte.

«Auch in der Hölle sind Beziehungen alles, mein Lieber«, sagte Dr. Portner.»Unser Generalarzt, der alte Abendroth, war mein Doktorvater in Würzburg. Und später war ich bei ihm Erster Assistent! Beim Aufschneiden einer Zyste habe ich ihn von oben bis unten bespritzt… das hat er mir nie vergessen. >Aha, da ist ja der Portner, der seinen Chef wässert«, sagt er seitdem immer. Tja, und Professor Abendroth hat meinem Vorschlag zugestimmt, Sie für diese dusselige Kommission abzustellen… Das ist alles!«

Dr. Portner faßte mit der großen Pinzette in die Tiefe der zuckenden Wunde.»Die Sehnen sind auch hin! Wenn er überlebt, wird er rechtsseitig wie ein Holzpflock sein…«

Stumm operierten sie weiter. Neue Verwundete spie die Trümmerwüste aus… oben kroch eine staubüberzogene Gestalt durch die Ruinen und brüllte um Hilfe. Auf Handflächen und Knien kroch sie herum, und über ihr Gesicht floß das Blut aus einem klaffenden Schlitz, der von Schläfe zu Schläfe ging, über beide Augen hinweg. Mit einem Annschuß war der Mann zum Sanitätsbunker gelaufen. Kurz vor der Treppe explodierte seitlich von ihm eine Granate und riß ihm das Gesicht auf.

«Hilfe!«brüllte er.»Meine Augen! Meine Augen!«Zwei Sanitäter warteten, an die Kellerwand gedrückt, bis der Feuerüberfall vorbei war und südwärts wanderte. Dann stürzten sie hinauf und schleiften den Schreienden hinunter in den Bunker.

In den nächsten 48 Stunden ging alles sehr schnell. Die Funkstelle der Division, zu der der Hauptverbandsplatz Dr. Portners gehörte, nahm den Befehl auf, Assistenzarzt Dr. Körner sofort nach Pitomnik abzustellen. Weiter nichts..

«Für Sie bedeutet es Frieden und vielleicht sogar Überleben«, sagte Dr. Portner. Nach zwanzig Stunden am Operationstisch saßen sie in ihrem winzigen Schlafkeller und tranken Tee.»Wenn Sie zurückkommen, wird sich manches verändert haben.«

In diesen Stunden traf auch Knösel wieder ein. Plötzlich stand er im OP und meldete:»Obergefreiter Schmidtke als Versprengter zur Stelle…«

Die Situation war nicht ungewöhnlich. Als Knösel nach Erfüllung seines Auftrages zu seiner Truppe zurückkehren wollte, fand er keinen mehr vor. Wo der Kompaniegefechtsstand war, gähnte jetzt ein tiefes Loch, die Gräben und Steinbunker waren verlassen bis auf die Toten, die in bizarren Stellungen herumlagen. Schwarz, zusammengeschrumpft, verkohlt. Flammenwerfer.

Einen ganzen Tag war Knösel in der Trümmerwüste herumgeirrt. Gegen Abend saß er allein im Erdgeschoß eines Hauses und verhielt sich still, denn über ihm, im ersten Stockwerk, saßen die Sowjets und bestrichen mit drei MGs den Umkreis. Es war überhaupt alles verwirrt. Es gab kein Vorne und Hinten mehr; überall hockten Russen und Deutsche, in der Erde, in geborstenen Häusern, in Laufgräben, in Unterständen aus Stein oder verkohlten

Balken. Es gab keine Front mehr… Plötzlich tauchte hier oder da jemand aus den Trümmern auf, und dann knallte es von allen Seiten.

Knösel saß auf einem Sack voller Büchsen und grübelte. Sein Versprechen hatte er eingehalten… er hatte in Pitomnik organisiert. Fleischbüchsen, Kekse, Marmelade, Bonbons, Schokolade, Nudelpakete, Bouillonwürfel, Erbswürste und Apfelsinen. Darauf war er besonders stolz. An dem Tage, an dem Dr. Körner heiratete, lud man hundert Zentner Apfelsinen aus. Der Stabszahlmeister, der die Ware in Empfang nahm, beorderte sofort vier Feldgendarmen zum Lager, um die wertvolle Ladung zu schützen. Sie wurde verbucht und zunächst auf Lager genommen. Apfelsinen gehören nicht zur normalen Truppenverpflegung. Man mußte also noch genau durchdenken, wie und wo man die hundert Zentner Südfrüchte verteilte. Man mußte einen Verteilerschlüssel ausrechnen. Auch war nicht klar, ob man die Apfelsinen als Sonderverpflegung ausgeben sollte oder als Marketenderware. Es war schon ein Problem für die Wehrmachtsbeamten, und es war vorauszusehen, daß es nicht eher gelöst sein würde, bis die Apfelsinen verfault waren. Ein Vorwurf traf niemanden, denn bei einer straffen preußischen Ordnung ist es ja unmöglich, die Südfrüchte einfach an die kämpfende Truppe weiterzugeben. Niemand war bereit, die Verantwortung für diese Bevorzugung der Stalin-grad-Stadt-Kämpfer zu übernehmen, denn auch die Transportkompanien leisteten Unmenschliches, die Werkstätten, der Troß, die Stäbe, die Bäckereien, Küchen, Fleischereien und die Verwaltungsstellen. Jedem stand also eine Apfelsine zu… Der Stabszahlmeister stöhnte vor diesem Problem.

Für Knösel gab es diese Probleme nicht. Er entdeckte ein loses Brett in der Barackenwand, untersuchte es fachmännisch, denn Hans Schmidtke war in Friedenszeiten ein Schreiner, und als er das Brett zur Seite schob, sah er die Apfelsinenkisten vor sich, greifnah und verwirrend duftend.

So ähnlich erging es Knösel auch mit den anderen Dingen. Fast von selbst wurde er in Versuchung geführt. Am Ende des Erkundungsganges schleppte Knösel einen prallen Sack auf der Schulter und passierte damit die Kontrollen der Feldgendarmerie. Nur einer hielt ihn an.

«Was ist im Sack?«fragte er.

«Steine aus Stalingrad!«sagte Knösel.»Ein Juwelier in Berlin will se in Jold fassen und als Erinnerungsbroschen verkoofen…«

Der Feldgendarm war so verblüfft, daß er Knösel weiterziehen ließ. Nun saß er auf seinem Sack in einem Haus, über sich drei russische MGs, allein, seine Kameraden suchend und im Herzen ehrliche Wehmut wie ein ausgesetztes Kind. In der Nacht kroch er zurück zum Sanitätskeller. Von irgendeinem Haus her wurde er beschossen, es schlug mehrmals in den Sack ein, den er hinter sich herzog, Apfelsinensaft durchnäßte das Leinen.

Knösel stürzte sich kopfüber in ein Loch und zog den Sack nach.»Ick preß mir die Apfelsinen selber!«schrie er. Dann wartete er, bis sich die Umgebung etwas beruhigt hatte, kroch aus dem Loch und tappte weiter durch die Trümmer.

Nun war er wieder bei Dr. Körner, grinste ihn breit an und klopfte gegen den schmutzigen Sack.

«Melden Sie sich bei Feldwebel Wallritz«, sagte Dr. Portner.»Er wird Sie einteilen. Was haben Sie da eigentlich in dem Sack?«

«Fruchtsaft, Herr Stabsarzt.«

«Raus!«brüllte Portner. Und als Knösel zur Tür schoß, rief er:»Halt! Sind Sie nicht der Fahrer von der 3. Kompanie?«

«Jawoll, Herr Stabsarzt.«

«Ihre Kompanie ist im Eimer?«

«Jawoll.«

«Sie werden Herrn Assistenzarzt Dr. Körner wieder nach Pitomnik bringen.«

«Jawoll. «Knösels Gesicht glänzte.»Wenn ich noch zwei Mann und sechs Säcke mitnehmen könnte, Herr Stabsarzt.«

«Warum denn das?«

«Ick habe 'n Schlaraffenland entdeckt. Und eh det verdorrt — «

«Raus!«sagte Dr. Portner milde.»Fragen Sie Wallritz, ob wir Säcke haben…«

Beim Morgengrauen verabschiedete sich Dr. Körner von Dr. Portner. Sie standen am Kellereingang zwischen den Hausruinen. In der Stadt war es still. Dicker Nebel lag über den Trümmern und Gräben. Die Artillerie schoß nicht mehr, die Panzer und Kanonen standen irgendwo in Deckung und klebten vor Nässe. Dr. Portner hob den Kopf in das undurchsichtige Grau über sich.

«Es wird bald Winter werden…«Er gab Dr. Körner die Hand und hielt sie fest.»Machen Sie's gut, mein Junge.«

Dr. Körner nagte an der Unterlippe.»Ich mache mir Gewissensbisse«, sagte er leise.

«Quatsch!«

«Ich lasse Sie zurück, als wolle ich mich drücken.«

«Sie unverbesserlicher Idealist. Hauen Sie ab!«

«Sie werden die Arbeit nicht allein bewältigen können…«

«Wallritz ist gut eingearbeitet. Er wird mir assistieren. Und wenn dieser Knösel zurückkommt, habe ich um die äußere Organisation keine Sorge mehr. Manchmal bestaune ich diesen Kerl wie ein Weltwunder. Vielleicht muß man tatsächlich ein Halbidiot sein, um auch im Krieg angenehme Seiten zu entdecken. «Er ließ Körners Hand los und gab ihm einen Stoß vor die Brust.»Los! Ab durch die Mitte, Körner! Und steigen Sie im >Ostland< ab… sie haben damals, als ich dort wohnte, gerade neue Matratzen bekommen!«

Er blieb stehen, bis Körner und Knösel im Nebel verschwunden waren. Hinter ihnen tappten noch zwei Leichtverwundete, die zusammengerollte Bündel unter den Armen trugen. Zehn Säcke für Knösels Schlaraffenland.

Dr. Portner stand noch immer in den Trümmern, als schon lange die Schritte in dem breiigen Grau verklungen waren. Sein Sarkasmus war abgefallen, er hatte ein nacktes Gesicht, als habe es der Nebel ausgewaschen. Und dieses Gesicht war verfallen und alt, durchfurcht von dem Wissen, am Ende eines Lebens zu stehen, das einmal mit großen Plänen begonnen hatte.

Durch den Nebel schwankten einige geisterhafte Gestalten. Zwischen ihnen wippten Tragen und pendelten gefüllte Zeltplanen. Das Knirschen ihrer Stiefel auf den Trümmern war der einzige Laut. Ein Geisterzug in einer toten Stadt.

Dr. Portner steckte die Hände in die Tasche. Er würde wieder bis zum Abend operieren. Und ein neuer Granattrichter mußte ausgesucht werden… vier waren schon als Massengrab zugeschüttet worden. Er stieg die Treppe hinab in den Keller und winkte Wallritz zu, der in einer Ecke hockte und aus einem Kochgeschirr Gulasch löffelte. Die Feldküche des Bataillons, vier Keller weiter, hatte einen Kessel voll herübergeschickt.

«Kundschaft!«sagte Dr. Portner.»Und meine Portion Gulasch können Sie mitessen, Wallritz… ich habe heute keinen Hunger.«

Mit gesenktem Kopf ging er in den OP-Keller. Wenn Körner

Glück hat, kommt er nicht wieder, dachte er. Hier wird es bald zu Ende sein. Und er hatte das Empfinden eines Vaters, der seinen Sohn für immer verabschiedet hatte.

Major Kubowski war in einer unschönen Lage. Er saß mit zwanzig Männern in einem alten Wasserturm und kam sich vor wie ein Wolf in einem brennenden Wald. Um ihn herum lagen deutsche Pionier- und Panzergrenadierkompanien. Ganz plötzlich war er in diese Lage gekommen. Vor einem Tag noch war der Rest des Wasserturms ein gutes Befehlszentrum gewesen, in dem Jewgenij Alexandrowitsch Kubowski die Meldungen seiner Offiziere empfing, von Genossen des städtischen Verteidigungsrates besucht wurde und einmal sogar einen Genossen General begrüßen konnte, der mit einem Fernglas die deutschen Stellungen absuchte und zum Abschied sagte:»Genosse Jewgenij Alexandrowitsch — in wenigen Tagen sieht es anders aus! Großes bereitet sich vor! Ich weiß es vom Genossen Tschuikow. Im Donbogen wird es beginnen und gleichzeitig aus dem Brückenkopf von Beketowka heraus. Es kommt darauf an, daß Sie den >Tennisschläger< halten, und wenn Sie sich mit den Zähnen festbeißen!«

Über Nacht wurde es anders. Überall waren die Deutschen durchgebrochen, und der Wasserturm Kubowskis wurde eine Insel, gegen die graue Wellen brandeten. Über zweihundert Tote hatte diese Nacht gekostet, und es war keiner mehr neben Kubowski, der nicht verwundet war. Über ein Funkgerät meldete er die Lage und fragte, was er tun solle.

Die Antwort kam sofort.

Aushalten!

Major Kubowski hielt aus. Jede Stunde zählte er die Munition und rechnete. Nach zwei Tagen waren die Brotbeutel leer, aus den Wasserkanistern lief kein Tropfen mehr.

«Es scheint so, als seien wir am Ende«, sagte er zu Iwan Iwanowitsch Kaljonin, der neben einem MG hockte und auf einem Stück Holz kaute.

Das regte den Speichelfluß an und verhinderte ein Durstgefühl.

«Was sagt der Kommandeur?«fragte Kaljonin.

«Die Sowjetunion ist stolz auf euch!«

«Davon wird man nicht satt, Genosse Major.«

Kubowski überhörte es und starrte hinaus in die Trümmer. Man sollte durchbrechen, dachte er. In der Nacht. Es war immerhin eine Möglichkeit. Hier herumsitzen und das letzte Magazin zu verschießen und sich dann wie eine Ratte totschlagen zu lassen, war für Kubowski ein nicht akzeptabler Gedanke.

«Wir brechen durch!«Funkte er deshalb an die Befehlsstelle im >Tennisschläger<. Und der Genosse Oberst funkte sofort zurück:

«Genehmigt. Aber nach Westen!«

Dazu kam es nicht mehr. In der dritten Nacht, als die Handvoll Sowjetsoldaten, neben sich die letzten Munitionskästen, hinter den dicken Mauern des Wasserturmes lagen und auf die deutschen Pioniere warteten, als deutsche Pak Meter um Meter der Trümmer umpflügte und Kubowski sich ausrechnete, wann die Feuerwalze auch ihn erreichen würde, brachen aus zwei Straßen mehrere dunkle, donnernde Ungetüme hervor. Mit flammenden Rohren rollten sie über die Ruinen, durchstießen morsche Haus wände und wälzten sich geraden Weges auf die Häuser zu, in denen die Deutschen saßen und mit geballten Ladungen und einem Flammenwerfer versuchten, den stählernen Ungeheuern Einhalt zu gebieten.

«Panzer!«schrie Kaljonin und machte einen Luftsprung.»Genosse Major! Panzer! Sie machen uns Luft!«

«Benehmen Sie sich, Genosse Kaljonin«, sagte Major Kubowski würdevoll.»Sie tun ja so, als hätten Sie nicht an einen Sieg geglaubt…«

Dann lagen sie wieder im Feuer deutscher MGs, sprangen aus ihren schützenden Mauern und rannten den Panzern nach, die tun sich feuernd die deutschen Schützenlöcher niederwalzten.

Das Ganze dauerte eine knappe halbe Stunde. Dann stand der alte Wasserturm wieder ruhig zwischen Trichtern und Ruinen. Die alte Lage war wiederhergestellt. Major Kubowski ging aufrecht zu seinem Befehlsstand zurück.

In dem Raum, in dem das Funkgerät stand und in der Ecke ein Feldbett, auf dem Kubowski seit seiner Einschließung nicht mehr gelegen hatte, trug man die Verwundeten zusammen. Der Kartentisch war abgeräumt. Auf dem schmalen, selbstgezimmerten Tisch mit der Platte, die aus einer darübergelegten Tür bestand, an der noch das Namensschild >Ostrowo< geschraubt war, lag ein nackter Rotarmist und wimmerte. Ein schmaler Mann beugte sich über ihn und schnitt ihm Fleischfetzen aus der Brust.

«Sieg, Genosse!«grüßte Kubowski und setzte sich auf sein Feldbett.»Woher kommen Sie?«

Der zartgliedrige Mann drehte kurz den Kopf herum. Große schwarze Augen sahen Kubowski an, ein schmales weißes Gesicht mit Dreckspritzern, ein weicher Mund, und unter der Mütze kurz-geschnittene schwarze Haare, die sich vor der Stirn etwas lockten. Kubowski schnellte von seinem Feldbett hoch.

«Ja! Das ist… Sie sehen mich sprachlos, Genossin! Darf ich fragen, wer Sie sind?«

Major Kubowski trat an seinen Kartentisch heran. Jetzt sah er auch die Rundungen unter der Uniformbluse. Er blähte die Nasenflügel wie ein witternder Hund und roch den leichten Duft eines Rosenparfüms.

«Reden Sie nicht! Fassen Sie mit an, Major!«Die Stimme war hell, befehlsgewohnt und hart.»Drehen Sie den Genossen auf die Seite… die Kugel steckt noch in der Brust…«

Kubowski tat gehorsam, wie ihm geheißen. Er reichte sogar aus einer Ambulanztasche die gewünschten Instrumente an, aber er vergriff sich manchmal und reichte eine Schere, wenn die Frau eine Pinzette verlangte.

«Sie sind verwirrt, Genosse Major«, sagte sie.»Oder kennen Sie keine Pinzette?«Dabei sah sie ihn aus ihren kühlen schwarzen Augen an, und Jewgenij Alexandrowitsch gestand sich ein, daß ein deutscher Flammenwerfer ihn nicht so heiß ausglühte wie dieser Blick.

«Ich bin sprachlos, Genossin!«sagte er und kratzte sich die Nase.»Eben noch war ich in der Hölle, und jetzt spricht ein Engel mit mir!«

«Sie haben noch reichlich unmoderne Ansichten, Major. Es wäre besser, wenn Sie den Körper unseres verwundeten Bruders ruhiger hielten, damit ich das Projektil fassen kann. Sowie Sie den Körper schütteln, rutscht mir die Pinzette immer ab.«

Es stellte sich nach dem Verbinden heraus, daß es sich um den Oberleutnant und Arzt Olga Pannarewskaja handelte, Feldarzt im Bezirk >Tennisschläger<. Sie war mit den Panzern nach vorn gekommen, um die Verwundeten im Wasserturm an Ort und Stelle zu versorgen. Die Geschichte Olga Pannarewskajas ist eine lange Geschichte. Sie beginnt in Stalino, wo sie geboren wurde, geht über Moskau und Tiflis, wo sie studierte, und endet in Stalingrad, wo sie den Werkarzt Pannarewski heiratete, einen beliebten Mann, der gleich am vierten Tag des großen vaterländischen Krieges fiel. Olga Pannarewskaja hatte als Ärztin weiterhin die Arbeiter von >Rote Barrikade< betreut, und sie war, wie viele Frauen in Stalingrad, geblieben, als die Deutschen die Wolga erreichten und die Stadt von allen Seiten aufrollten. Sie hatte nur die Kleidung gewechselt, den weißen Kittel ausgezogen und die Uniform übergeworfen. Dann hatte es Krach gegeben, der Oberarzt hatte angeordnet, daß Genossin Olga nur in den Unterständen am Steilufer arbeiten dürfe. Aber als siebenundzwanzig Ärzte in den Trümmern verbluteten und die sowjetischen Soldaten nach Feldscheren riefen, war sie hineingerannt in die Stadt und arbeitete seitdem im >Tennisschläger< in dem Keller eines ehemaligen Magazins. Es war ein sicherer Keller, mit drei Betondecken übereinander. Hier operierte auch Majorarzt Andreij Was-süijewitsch Sukow, ein bekannter Chirurg aus dem Krankenhaus von Rostow. Das Funkgerät summte. Kubowski stülpte den Kopfhörer über. Der Kommandeur war am anderen Ende und fragte an, ob die Pannarewskaja angekommen sei.

«Sie ist es, Genosse Oberst!«gab Kubowski Antwort.

«Zurückschicken! Sofort!«kam der Befehl.

Kubowski legte den Kopfhörer zurück.»Es ist schrecklich mit den höhergestellten Genossen«, seufzte er.»Sie gönnen einem nicht einmal mehr den harmlosen Anblick von Schönheit. Ich werde Ihnen einen starken Mann mitgeben, Genossin Leutnant. Da er jung verheiratet ist, scheint er mir ungefährlich…«Er ließ nach Kaljonin rufen und trat von einem Bein auf das andere.»Werden wir uns wiedersehen, Genossin?«

«Wenn man Sie verwundet, bestimmt.«

«Es wäre ein Grund, sich anschießen zu lassen. Aber ein gesunder Mann ist ein besserer Plauderer.«

Olga Pannarewskaja sah Major Kubowski mit einem warmen Lächeln an. Oh, dachte Kubowski. Das ist ein Blick. Das Herzchen beginnt zu brennen, und was da in den Adern summt, ist kein Blut mehr. Ein Feuerstrom ist’s, bei allen abgeschafften Heiligen!

«Wie kann ein Held bloß so ein Dummkopf sein?«sagte das schwarze Teufelchen, und Kubowski erlebte das Gefühl, als Fiebernder in einen Kübel eiskalten Wassers gesteckt zu werden.»Sie haben die Stellung verteidigt, daß selbst Genosse Tschuikow sich Ihren Namen aufgeschrieben hat… und dabei haben Sie einen so schrecklich hohlen Kopf…«

«Sie haben mein Hirn weggebrannt, Genossin!«rief Kubowski geistesgegenwärtig.»Ich muß Sie wiedersehen.«

«Morgen! An der großen Uhr auf dem Roten Platz. Um 16 Uhr. Ich werde ein Persianerkostüm tragen…«

Iwan Iwanowitsch Kaljonin kam, um die Genossin Oberleutnant zu begleiten. Kubowski verzichtete daher auf eine Antwort. Er sah ihnen aber lange nach, wie sie über die Trümmer kletterten, an den deutschen Leichen vorbeigingen und sich gleichzeitig hinwarfen, als eine Granate heranheulte und unweit von ihnen in die Ruinen schlug.

Auch die Panzer kamen zurück. Aber es waren nur noch zwei. Die anderen lagen vor einem deutschen Riegel und brannten aus.

Es war unmöglich für Major Kubowski, den Anblick Olga Pan-narewskajas zu vergessen. Ihre Augen, ihre Nase, ihre Rippen, die Rundungen unter der Feldbluse, der zarte knabenhafte und doch frauliche Schwung der Hüften. Mit halbem Ohr nahm er die Meldungen eines Leutnants entgegen, daß die alten Stellungen wieder besetzt seien und die Panzer neben Munition auch drei Granatwerfer und Verpflegung gebracht hätten. Er nickte nur und legte sich auf sein Feldbett.

Es muß daran liegen, daß ich aus Tiflis komme, dachte er. Wir haben heißes Blut, und wehe, wenn es kocht!

Ein Schreien vor dem Wasserturm jagte ihn auf. Durch die Tür stürzte ein Soldat.»Sie kommen wieder… mit Flammenwerfern…«

Major Kubowski setzte seinen Stahlhelm auf. Leb wohl, Ol-gaschka, dachte er. Ein verbrannter Mensch ist kein schöner Anblick…

Der Abflug der Planungskommission verzögerte sich um einige Tage. Es waren noch Dinge zu regeln, die im Augenblick vordringlicher waren. Der Befehl Hitlers, daß er Meldung haben wollte, wann die kämpfende Truppe im Besitz der Winterausrüstung sei, verursachte bei den Intendanturen ein großes Kesseltreiben mit der Zeit. Die Daten waren genau angegeben worden: Bis zum 10. Oktober mußte das letzte Stück in der Hand der Truppe sein, bis zum 15. Oktober hatten die Divisionskommandeure darüber eine Vollzugsmeldung zu unterschreiben. Dreitausend Intendanten, Zahlmeister, Verwaltungsinspektoren und Beamte kamen in Schwung. Es hieß den Transportraum sicherzustellen, die Züge auf den eingleisigen Strecken richtig zu dirigieren, die Lastwagenkolonnen bereitzuhalten, und es hieß, für alle Vorgänge Aktenstücke anzulegen, Wasser und Kohle für die Züge zu besorgen, Sprit und Ersatzteile für die Lastwagen bereitzustellen, Magazine zu bauen, Wachmannschaften abzustellen, Schreibstuben aufzufüllen, denn eine Riesenmenge Material zieht notgedrungen einen Berg von Papier und Listen nach sich.

750 Tonnen Nachschub pro Tag, das war die Quote der 6. Armee. Munition, Verpflegung, Waffen, Ersatzteile. Und nun kamen noch die Wintersachen hinzu, ein Gebirge von Klamotten, die man sichten, stapeln, sortieren, notieren und schließlich gerecht verteilen mußte. Hunderte von Waggons rollten in Richtung Wolga, hielten in Tschir, wurden dort auf Lastwagen umgeladen, weil die Russen die Brücke über den Don gesprengt hatten, rollten nach Kalatsch, wurden wieder umgeladen in Waggons und schaukelten auf den Bahnstrecken nach Karpowka und Woroponowo, wo sie eigentlich — im Bereich der Armee — an die Truppen verteilt werden sollten. Doch dazu kam es nicht. Es stellten sich unüberwindbare Hindernisse in den Weg. Zunächst, was die Intendantur maßlos störte, war da der ständige Bedarfswechsel durch Ausfälle. Nie stimmten die Zahlen der Bedarfsmeldungen, die von den Kompanien im Dreckloch in Stalingrad über das Bataillon, das Regiment und die Division zum Korps liefen und von dort gesammelt an die Armee gingen. Bis die Meldungen beim Generalintendanten waren, kamen Nachmeldungen, die wiederum Rückfragen notwendig machten. Es wurden wieder neue Akten angelegt, denn jeder Vorgang muß nach preußischer Ordnung aktenkundig und in mehreren Durchschlägen stets griffbereit sein. Man war also gezwungen, trotz der erfolgten Meldung an das Führerhauptquartier, daß die Winterbekleidung an Ort und Stelle sei, was ja der Wahrheit entsprach, die Ausgabe immer wieder zu verschieben, bis ein klarer Überblick geschaffen war. Die dreitausend Intendanten, Stabszahlmeister und Oberzahlmeister begriffen es einfach nicht, wieso sich immer wieder, und zwar grundlegend, die Bestandsmeldungen in Stalingrad änderten, wo die Stadt doch fest und sicher in deutscher Hand war und nur an wenigen, winzigen Punkten >Stoßtrupp-Tätigkeit<, wie es der Wehrmachtsbericht nannte, herrschte. Hinter dieses Geheimnis zu kommen verursachte Geduld und Zeit.

Und so lagen in den Magazinen und Lagern von Peskowatka,

Millerowo, Tormosin, Tschir, Tatsinskaja, Tscherkowo und Ka-myschewskaja, fein säuberlich gestapelt und gezählt und listenmäßig erfaßt: 40 000 Pelzmäntel, Pelzmützen und Pelzstiefel. Zur Konservierung dieses haarigen Bestandes lagerten gleichzeitig 25 Zentner Mottenpulver. Ferner wurden aufgeschichtet: 200 000 Hemden, 100 000 Paar Filzstiefel, 40 000 Mützen, 83 000 Unterhosen, 53 000 Uniformröcke, 61 000 Uniformhosen, l2l 000 Tuchmäntel und eine Riesenmenge Strümpfe, Pulswärmer, Handschuhe, Kopfschützer, Ohrenschützer, Schals und Halstücher. Hier lagen Kamelhaarpantoffeln, Kaffeewärmer, Fußballtrikots, Damenmuffs, Ringelsöckchen, hellgelbe Angorapullover, Schlittschuhstiefel und großväterliche Schlafröcke.

Ein Gebirge von Kleidung türmte sich rund um Stalingrad auf… aber die kämpfende Truppe sah davon nichts! Es war ja ihre Schuld, daß sie so merkwürdige, sich immer ändernde Meldungen abgab, die die Listen der Zahlmeister immer wieder durcheinander brachten und daher eine Ausgabe verhinderten.

In diese Welle von Nervosität und Sich-im-Kreise-Drehen kam Dr. Körner hinein. Generalarzt Professor Dr. Abendroth begrüßte ihn kurz und nahm die Grüße Dr. Portners entgegen. Aber es schien, als ob er die Worte gar nicht wahrnehme. Auch in seiner Verwaltung schossen die Beamten Kobolz. Hier war es vor allem das Transportsystem, das Sorge bereitete. Es war zu wenig Laderaum vorhanden, um alle Verwundeten aus Stalingrad und den umliegenden Lazaretten wegzubringen. Andererseits fuhren täglich lange Leerzüge nach Westen, aber sie zu benutzen war unmöglich, weil sie als Nachschubtransportraum deklariert waren und die verantwortlichen Intendanten peinlich darüber wachten, daß mit diesen Waggons nur Versorgungsgüter, aber keine Verwundeten transportiert wurden.

Sie hatten auch eine gut deutsche Erklärung dafür: Für den Verwundetentransport gab es die Sankas und die Lazarettzüge. Wenn erst einmal die Unordnung einriß, daß artfremde Dinge in genau bestimmten Waggons transportiert wurden, ergäbe sich ein Chaos. So rang also Generalarzt Professor Abendroth um Waggons und Autos und schlug sich mit dem Generalintendanten herum.

Um Dr. Körner kümmerte sich niemand. Er stand in Pitomnik, sah den landenden Flugzeugen zu und wunderte sich über die Masse Material, die ausgeladen wurde. Es war ihm rätselhaft, wohin alles kam, denn vorn in der Stellung am >Tennisschläger< wurden die Bunker überrollt, weil die Soldaten keine schweren Waffen hatten und die Patronen zählten, bevor sie sie verschossen.

Endlich, am 15. November, stand die Sondermaschine auf dem Flugplatz bereit. Man begrüßte sich im Gebäude der Flugleitung, stieg in die Ju und ließ sich emportragen in einen düsteren grauen Himmel. Ein Stabsintendant drückte das Gesicht an die Scheibe.

«Sieht nach Schnee aus«, sagte er.»Die Jungs in Stalingrad sollten ’was voran machen! Mit etwas mehr Schwung hätten sie längst die paar Russennester ausräuchern können. Ich verstehe einfach nicht, daß es nicht vorangeht. Unsereiner hat doch auch alles planmäßig in Ordnung…«

Dr. Körner schwieg. Er war innerlich zu aufgewühlt, um aktionsfähig zu sein. Was hätte es auch für einen Sinn gehabt, aufzustehen und zu sagen:»Herr Stabsintendant — Sie sind ein dreckiges Schwein!«? Man würde ihn zusammenbrüllen und einen Tatbericht einreichen.

Körner sah sich um. Er war der Jüngste und Rangniedrigste im ganzen Kreis. Er merkte es auch daran, daß man ihn nicht ansprach oder in die Unterhaltung zog. Man beachtete ihn kaum. Er flog mit, das war auch alles. Die gut genährten, rundlichen Gesichter der Zahlmeister und Spezialisten, darunter ein Architekt, der Pläne für eine Lazarettstadt Stalingrad mit sich führte, und ein Verwaltungsbeamter, der in zwei Eisenkisten wichtige Bestandsmeldungen herumschleppte, glänzten schweißig. Es war warm in der Maschine, drückend schwül und stickig. Man knöpfte die Uniformkragen auf und ließ eine Flasche Cognac kreisen. Bis zu Körner kam sie nicht. Er saß in der letzten Reihe, und bevor sie in diese Ecke kam, wanderte sie schon wieder zurück.

Er sah auf seine Uhr. Am >Tennisschläger< stellte Dr. Portner jetzt die Verwundeten zusammen, die man nach rückwärts zu bringen versuchte. So nahe es möglich war, fuhren die Sankas heran. Aber bis zu ihnen ging es einige hundert Meter durch Trümmer und Hölle. Mit den Tragen rannten dann die Sanitäter um ihr Leben.

Einer der Zahlmeister drehte sich zu Dr. Körner herum. Schließlich mußte man ihn ja auch einmal ansprechen.

«So still, Doktor? Woran denken Sie?«

«An meine Toten«, sagte Dr. Körner.

Der Zahlmeister zuckte zusammen und drehte sich schnell wieder weg. Ein unangenehmer Mensch, dachte er dabei. Fliegt in den tiefsten Heimatfrieden und denkt an die Toten. Der Krieg verroht doch die Gefühle…

Major Jewgenij Alexandrowitsch Kubowski verbrannte nicht im Gegenstoß der deutschen Flammenwerfer. Es wäre auch zu schade gewesen, denn einerseits war er ein schöner Mann, und zum anderen harte das Schicksal noch etwas anderes mit ihm vor, als ihn in einem Strahl heißen Öles verschmoren zu lassen. Es war eigentlich wie immer seit dem Tag, an dem die Deutschen über den Don und an die Wolga kamen: Das Bataillon Kubowskis wurde dezimiert, aber er selbst kam heil davon und wunderte sich selbst über dieses unverschämte Glück.

Nur ging es diesmal nicht ganz so glimpflich ab. Kubowski wurde verwundet. Nicht schwer… ein deutscher Gewehrgranatsplitter ritzte ihm die Kopfhaut auf und nahm ein Stückchen Fell mit. Es blutete, als wolle der ganze Körperinhalt ausfließen, und es schmerzte, als hackten tausend kleine Teufelchen auf dem Gehirn herum. Mladschij Sergeant Kaljonin wickelte vier dicke Verbandspäckchen um den Kopf seines Majors, bis die Blutung endlich zum Stillstand kam.

«Es hat alles sein Gutes, Genosse Major«, sagte Kaljonin mit einem vertrauten Augenzwinkern.»Sie werden in das Feldlazarett >Tennisschläger< kommen. Zu Oberleutnant Pannarewskaja.«

Major Kubowski seufzte. Die deutsche Artillerie hämmerte wieder in die Trümmer. Es war sinnlos, was sie tat, denn statt zu vernichten, schichtete sie nur noch mehr Steine aufeinander, unter denen sich die Rotarmisten einnisteten wie Küchenschaben. Kam dann der Alarm, daß die Deutschen angriffen, krochen sie aus den Kellern hervor und schossen um sich. Genauso war es drüben auf der deutschen Seite. Eigentlich hätte man vernünftig sein müssen und sich sagen können: Brüderchen, laßt uns aufhören. Immer neue Tote gibt’s, und was kommt dabei heraus? Nichts!

In der Nacht wurde Kubowski abgelöst. Mit dem Rest seines Bataillons schlug er sich bis zur Mitte des >Tennisschlägers< durch, und es war ein wirkliches Durchschlagen, denn überall tauchten in den Trümmern deutsche Stoßtrupps auf und schossen auf die zurückspringenden und kriechenden Rotarmisten.

Im Keller eines staatlichen Magazins war endlich Ruhe. Kubowski überzeugte sich, daß seine Leute Platz hatten und sich auf Decken und Matratzen hinlegen konnten.

«Schlaft, und sauft nicht!«sagte er mahnend wie ein Vater und hob den Zeigefinger.»Ihr wißt, in vierundzwanzig Stunden ist das Paradies vorbei!«

Dann machte er sich auf den Weg und suchte den Lazarettkeller. Viermal lag er schwer atmend in einem Trichter, weil die deutsche Artillerie das Gelände abkämmte, und als er endlich den Eingang erreicht hatte, warf ihn der Luftdruck einer explodierenden Granate die Stufen hinunter auf ein Knäuel Verwundete, die nicht ausweichen konnten, weil es zu eng war. So fiel er weich, sehr zum Unwillen der von oben Gefallenen. Es gab sogar einen unbekannten Genossen unter ihnen, der den Major Kubowski in dem allgemeinen Durcheinander und Geschrei kräftig ins Gesäß trat.

Durch drei Räume voll stinkender Körper und wimmernder Fleischhäufchen führte ihn ein Sanitäter in den OP-Raum, aus dem ihm Stöhnen und Wimmern entgegenschallten.

Kubowski zögerte kurz, ehe er eintrat. Unter einem starken Scheinwerfer, den ein Benzindynamo speiste, stand eine breite Gestalt mit nacktem Oberkörper, über den eine Schürze gebunden war. Es war unerträglich heiß im Zimmer, einmal von dem starken Scheinwerfer und zum zweiten von der dicken, verbrauchten Luft, die Kubowski entgegenschlug wie ein Hammer. Er riß, nach Luft schnappend, den Mund auf und blieb in der Tür stehen.

«Es zieht!«schrie der breite Mann und straffte den nackten, muskelbepackten Oberkörper. Vor ihm lag ein nackter Verwundeter, und was Kubowski sah, war nicht danach, ihm wohler werden zu lassen.

«Die Leichtverwundeten in Keller V, verdammt noch mal! Wo ist Piotr, der faule Hund?!«

«Guten Morgen, Genosse Majorarzt!«sagte Major Kubowski und griff an seinen dicken Kopfverband.»Ich dachte, die Genossin Pannarewskaja hier zu treffen.«

«Nein!«Der Arzt drehte sich um.»Da Sie gehen können, Genosse Major, ist hier der falsche Platz für Sie. Bei mir müssen Sie sich anstellen zum Massengrab. «Er wandte sich wieder dem Verwundeten zu und schien Kubowski vergessen zu haben. Nun kam auch Piotr, der Sanitäter, herein und trug einen Armvoll Binden zu einem Instrumententisch. Kubowski nickte dem halbnackten Mann zu.

«Wer ist das?«

«Andreij Wassilijewitsch Sukow, unser Chirurg. Gehen Sie bitte in den nächsten Verbandsraum…«

Hier, in einem größeren, unterteilten Keller, fand Kubowski endlich die Pannarewskaja. Sie verband die Gehfähigen, gab Injektionen, verteilte Pillen und Pulver und schimpfte wie ein alter Donkosak, wenn jemand sich muckste oder» Au!«schrie.

Ihr Blick wurde starr und ungläubig, als sie Major Kubowski eintreten sah, ja, sie ließ sogar eine Mullrolle sinken und schüttelte den Kopf. Kubowski schluckte. Er war noch nicht gefühllos genug, um nicht inmitten des grausamen Leides die Schönheit zu bemerken.

«Sie…?«sagte die Pannarewskaja gedehnt und verband weiter.

«Sie haben mir ein Rendezvous versprochen, Genossin Oberleutnant«, erwiderte Kubowski keck.

«Und da haben Sie Ihren Kopf hingehalten, um es zu ermöglichen?«

Olga Pannarewskaja winkte ab, als ein neuer Verwundeter zu ihr treten wollte.»Erst den Genossen Major, mein Junge. Sieh einmal, wie er leidet. Die Augen verdreht er schon.«

«Ich bin fast ausgeblutet, Olga. «Kubowski trat zu ihr. Jetzt, wo er ganz nahe vor ihr stand, wo er wieder die Rundungen unter der Feldbluse bemerkte, das Flimmern in ihren Augen aufnahm und ihre schwarzen Haare vor ihm zitterten, fühlte er sich wirklich elend und schwach.

«Setzen!«kommandierte die Pannarewskaja.

«Bitte…«

«Setzen! Sie sind zu groß, um Sie stehend zu untersuchen. Oder soll ich auf den Tisch steigen?«

Gehorsam hockte sich Kubowski auf einen alten Holzstuhl. Olga Pannarewskaja trat zu ihm und wickelte den Verband ab. Major Kubowski nagte an der Unterlippe. Über ihm, etwas höher als seine Augen, wölbten sich die Brüste gegen seine Stirn. Er starrte sie an, und trotz der blutverschmierten Feldbluse machte er sich ein eigenes, plastisches Bild der Anatomie.

«Verflucht!«schrie er plötzlich und zuckte hoch, aber die Hand der Pannarewskaja drückte ihn auf den Stuhl zurück. Sie hatte die letzte Lage von der Wunde gerissen und faßte mit einer Pinzette ein Stück der aufgerissenen Kopfschwarte.»Oh, Genossin — muß das sein?«knirschte Kubowski und wunderte sich über seine Beherrschung.

«Das bißchen Gehirn ist unverletzt«, sagte die Pannarewskaja.»Es wäre auch eine Kunst, solch ein winziges Ziel zu treffen. Ein paar Stiche und etwas Jod, und das Vaterland kann wieder mit Ihnen rechnen, Major…«

Heldenhaft ließ Kubowski die Behandlung über sich ergehen. Er knirschte zwar wie ein Steinbeißer, aber er hielt still. Man gab ihm auch keine örtliche Betäubung, weil, wie die Pannarewskaja sagte, die knappen Narkosemittel für die Schwerverwundeten aufbewahrt werden mußten.

«Ein braver Mann!«sagte sie, als sie nach dem Einpinseln mit Jod einen neuen Verband um Kubowskis Kopf wickelte.»Nur müssen Sie den Helm jetzt drei Nummern größer nehmen!«

Rund um den >Tennisschläger< war wieder die Hölle aufgebrochen. Die Deutschen gaben keine Ruhe. Ihre Artillerie pflügte wieder in den Hausruinen, und noch während Kubowskis Kopf verbunden wurde, trug man neue Schwerverwundete in den großen Keller zu Majorarzt Dr. Sukow. Dann war die Feuerwalze auch bei ihnen. Der Keller bebte, die Wände dröhnten wie Paukenfelle, der Boden schien sich zu heben, Kalk rieselte herab. Kubowski schaute an die rissige Decke.

«Sie hält«, sagte die Pannarewskaja ruhig.»Wir sind zwei Etagen unter der Erde.«

Es war, als wolle man ihre Worte auf die Probe stellen. Ein mächtiger Schlag, ein helles Krachen ließ alle zusammenzucken. Das Aggregat erlosch sofort. Tiefe Dunkelheit hüllte den Keller ein.

Major Kubowski sprang in dieser Finsternis auf. Mit beiden Händen griff er nach vorn, erfaßte ein Stück Stoff und in dem Stoff lebendes, warmes Fleisch. Wie ein Raubtier, das sich festgekrallt hat, zog er es heran, spürte einen Atem vor sich und die geheimnisvolle Ausstrahlung eines Mundes.

«Verzeihen Sie, Genossin!«sagte er noch, denn er war ein gut erzogener, höflicher Mensch. Dann küßte er die Pannarewskaja, und es war ein langer Kuß, denn es war ja stockdunkel um sie herum. Endlich ließ er sie los, bekam einen heftigen Stoß und sank auf den Stuhl zurück.

«Ein verrückter Hund!«sagte die Pannarewskaja leise, aber ihre Stimme war in der Finsternis weich und samtig.

Sie hat sich küssen lassen, dachte Major Kubowski glücklich. Jewgenij Alexandrowitsch, das ist der schönste Tag deines Lebens. Trotz Krieg, Naht und Jod.

Das Hotel >Ostland< in Warschau war genauso, wie es Dr. Portner beschrieben hatte. Neu aufgebaut, mit modernen Zimmern und guten Betten. Es gab einen Portier, eine Rezeption, Zimmermädchen, Kellner in weißen Jacketts, einen Oberkellner im Frack, Köche und einen Grillraum, eine Bar und viel gesellschaftliches Leben, als wäre sonnigster Frieden und kein Krieg, der täglich Tausende von Opfern kostete. Sogar ein Doppelzimmer bekam Dr. Körner, obgleich er sich wegen der unsicheren Abfahrt aus Stalingrad nicht hatte anmelden können. Daß er aus Stalingrad kam, genügte, um ein Zimmer frei zu machen. Alle sprachen in diesen Tagen von der Stadt an der Wolga und dem größten Sieg der deutschen Geschichte, dem man entgegenging. Man war stolz, und man zeigte es auch.

Nach Köln schickte Dr. Körner sofort ein Blitztelegramm: Komme sofort mit nächstem Zug nach Warschau stop Erwarte dich am Bahnhof stop Telegrafiere genaue Ankunftszeit zurück Hans. Dann wusch er sich. Zum erstenmal seit Monaten lag er wieder in einer Badewanne und seifte sich im heißen Wasser ab. Dabei überkam ihn die Müdigkeit, seine seit Monaten angespannten Nerven lösten sich, und er schlief in der Wanne ein. Als das Wasser kalt wurde, wachte er wieder auf und wußte im ersten Augenblick nicht, wo er sich befand. Dann trocknete er sich ab und ging ans Fenster.

Über Warschau lag tiefe Nacht. Es regnete. Er zog sich schnell an und fuhr mit dem Fahrstuhl hinunter in die Hotelhalle. Im großen Saal war ein bunter Abend. Durch die Türen hörte man Gesang und lautes Lachen. Der Chefportier kam Dr. Körner entgegen.

«Etwas speisen, der Herr Leutnant?«fragte der Portier. Dann sah er den Äskulapstab auf den Schulterstücken und rang die Hände.»O Verzeihung, das habe ich zu spät gesehen. Der Herr sind Mediziner? Da kenne ich mich nicht aus in den Diensträngen. «Er sprach ein hartes Deutsch und neigte beim Sprechen den Kopf zur Seite wie ein nachdenklicher Fiakerkutscher.»Es gibt etwas Besonderes heute, Herr Mediziner. Steht nicht auf der Karte. Gefüllte Täubchen. Ist nur für die besonderen Gäste…«»Danke. Nachher. «Dr. Körner sah wieder auf seine Uhr.»Das Telegramm nach Köln ist doch weggegangen?«

«Aber ja, Herr Mediziner.«

«Wie lange läuft es schätzungsweise?«

«Schätzungsweise — es war ein Blitz, nicht wahr — nun, nicht mehr als zwei Stunden.«

«Und zurück nach Warschau?«

«Wenn auch Blitz… vielleicht vier Stunden. Es kommt auf das Postamt an.«

«Haben Sie einen Fahrplan hier?«

«Alles! Aber der Herr Mediziner mögen bedenken, daß die Züge nicht mehr nach Fahrplan fahren. In der Heimat des Herrn bombardieren die englischen Flieger — «

«Einen ungefähren Anhalt hat man aber.«

Lange blätterte Dr. Körner in dem dicken Fahrplan, der Zahlen und Zeiten nannte und den Beweis deutscher Gründlichkeit erbrachte. Nach dem Fahrplan konnte Marianne morgen gegen Abend in Warschau eintreffen, wenn sie heute mittag nach dem Telegramm gleich abgefahren war. Sonst übermorgen früh gegen sechs Uhr… das war die äußerste Möglichkeit.

«Einmal hat ein Zug zwei Tage gebraucht«, sagte der Portier, als Körner das Kursbuch zurückgab.»Es ist ganz individuell… wie es die Engländer wollen…«

Das klang wie eine versteckte Frechheit. Dr. Körner überhörte sie. Seine Gedanken waren bei Marianne.

«Wo kann ich essen?«

«Im kleinen Speisesaal, Herr Mediziner.«

Das Essen war gut. Reichlich und schmackhaft. Nur handelte es sich nicht um Tauben. Mit viel Gewürzen, vor allem Majoran in der Füllung, hatte man versucht, einen etwas herben Geschmack zu überdecken. Zudem mußten es polnische Riesentauben sein, noch nie hatte Dr. Körner solche großen und prallen Taubenkörper gesehen. Als er zu Ende gegessen hatte, wußte er, was es war. Aber ein Ekel kam ihm nicht hoch… es hatte wirklich vorzüglich geschmeckt. Der Kellner räumte ab.

«Sie haben einen guten Geschmack, Ihre Krähen«, sagte Körner, als er aufstand. Der Kellner grinste breit.

«Ist sich Fleisch, odderr niecht?«sagte er.

Eine Stunde später schlief Körner. Aber es war ein unruhiger Schlaf. Immer wieder wälzte er sich herum. Die von Portner gelobte Matratze war zu weich. Wer monatelang auf einer Holzpritsche geschlafen hat, dem ist eine gute Matratze voller Tücken wie ein mooriger Boden. Der Körper wehrte sich dagegen. Es war schon früher Morgen, als Körner richtig einschlief.

Abends stand er auf dem Bahnsteig und wartete das Einlaufen des Zuges ab. Er hatte einen großen Blumenstrauß gekauft. Große rote Astern, von einer leuchtenden Farbe, wie er sie noch nie gesehen hatte. Und ein Geschenk hatte er gekauft. Der Chefportier hatte ihm eine vertrauliche Adresse gegeben, er schien eine Schwäche für Mediziner zu haben. Es war ein Haus in der Altstadt, und der Bewohner war ein Jude, wie sich schnell herausstellte. Er lebte verborgen außerhalb des Gettos und war ein Goldschmied. Das Erscheinen einer deutschen Uniform war so alarmierend, daß Dr. Körner spürte, wie sich im Hause Unruhe verbreitete, die einer geisterhaften Stille wich. Als er im Treppenhaus schnell nach oben blickte, sah er zwei Köpfe zurückzucken. Es waren zwei Männerköpfe mit fanatischen Augen.

«Oh, Sie kommen von Sascha«, sagte der Goldschmied. Körner sah, wie er aufatmete.»Dann sind Sie ein guter Mensch. Sie wollen etwas kaufen?«

«Für meine Frau… ein Hochzeitsgeschenk…«

Für dreihundert Mark erstand er ein Medaillon an einer goldenen Kette. Ein Lapislazuli, geschnitten wie eine Halbkugel, umrahmt von einem Filigrangerank aus rotem Gold.

Dieses Geschenk trug er nun in der Tasche, als er auf dem Bahnsteig an dem eingelaufenen Zug entlangrannte und Marianne an einem der Fenster suchte. Als er sie nicht sah, rannte er zurück zur Sperre und stellte sich neben die vier Feldgendarmen, die die Fahrkarten und Marschbefehle kontrollierten.

Marianne, sagte er im Inneren, Marianne. Marianne. Immer nur und immer wieder Marianne…

In dem Gewühl von Uniformen aller Waffengattungen, Kopftüchern, Hüten und Mützen, in dem Gedränge der Leiber und dem Berg von Koffern, Kisten und Kartons suchte er einen schwarzen Lockenkopf, einen winkenden Arm, einen roten, jauchzenden Mund und glückliche, strahlende Augen.

Einmal meinte er, sie gesehen zu haben. Er stürzte sich in das Gewühl, zwängte sich durch und warf beide Arme empor.

«Marianne!«schrie er durch den Lärm von Stimmen, Rufen,

Singen und ablassendem, pfeifendem Qualm.»Marianne! Hier! Hier bin ich!«

Er durchbrach eine schimpfende Mauer von Uniformen und rannte auf den schwarzen Lockenkopf zu.

«Marianne…«