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Mit einer Transportmaschine flog Dr. Körner am 20. November von Warschau nach Kiew, von Kiew nach Stalino, von Stalino nach Morosowskaja und von dort endlich nach Pitomnik. Er kam am 23. November an, an einem Tag, als es klar wurde, daß sich die Zangen der sowjetischen Divisionen um die 6. Armee geschlossen hatten und Stalingrad zu einer Insel im wogenden roten Meer geworden war. Es war an einem Tag, an dem Tausende von Fahrzeugen sich rücksichtslos nach Westen wälzten, an dem die Trosse, die Werkstattkompanien, die Feldbäckereien, die Intendanturen, die Straßenbautrupps, die Eisenbahnformationen und die eben zurückgekommenen Urlauber in wilder Panik flüchteten, eine Meute gejagter Hasen, die über die verschneite Steppe hetzten, durch den heulenden Schneesturm, niedergemäht von den schnelleren sowjetischen Panzern oder einfach überrollt und unter die Räder genommen von den deutschen Zugmaschinen, Raupenschleppern und Lastwagen, die in unübersehbaren Kolonnen nach Westen rasten… weg aus der Umklammerung, weg vor den T 34, weg vor den Russen… Es war der Tag, an dem vor der Don-brücke Tschir die Flüchtenden in dreißig Reihen nebeneinander warteten, Tausende von Fahrzeugen, eine Zusammenballung kopfloser, schreiender, das nackte Leben ohne Rücksicht auf den Nebenmann rettender Menschen… fünfhundert Meter breit… ein Riesenteppich der Verzweiflung.
Als Dr. Körner in Pitomnik landete, standen auf dem Flugplatz 41 Schwestern aus dem Armeelazarett Kalatsch und warteten darauf, von Pitomnik nach Kiew ausgeflogen zu werden. Ein Oberstabsarzt stand mitten unter ihnen und stürzte auf Dr. Körner zu, als dieser von der gelandeten Ju 52 über das windige Rollfeld rannte.
«Ist das die Maschine aus Kiew?«schrie der Oberstabsarzt.»Kommen Sie meine Schwestern abholen?«
«Nein«, rief Dr. Körner zurück.»Ich muß nach Stalingrad.«
«So eine Scheiße«, schrie der Oberstabsarzt. Es liegt ein Befehl vor, daß die Schwestern ausgeflogen werden. Aber keiner weiß was, keiner ist zuständig… Soll ich meine Schwestern vielleicht den Russen ausliefern?«
Er rannte zurück in eine der Flugbaracken. Die Schwestern standen an der Bretterwand, die Kragen hochgeschlagen, frierend, ängstlich, mit Koffern und Säcken neben sich.
Dr. Körner meldete sich bei einem Oberst der Luftwaffe, der als Platzkommandant versuchte, so etwas wie Ordnung in den kopflosen Haufen zu bekommen. Auf seinem Tisch in einer der Flugplatzbaracken trafen alle Meldungen über die Einflüge ein… zusammen mit einem dicken, schwitzenden und schimpfenden Stabsintendanten verteilte er die Ausflüge, wenn die Flugzeuge nicht schon mit fest umrissenen Befehlen, was sie mitnehmen sollten, gekommen waren. Als Körner eintrat, war gerade ein großer Streit ausgebrochen. Der Oberst hieb mit der Faust auf den Tisch und brüllte:»Ich habe siebzehntausend Verwundete hier, die 'rausmüssen…«Der dicke Stabsintendant schrie sofort zurück:»Und ich habe den Befehl, als erstes alle Spezialisten auszufliegen. Die Spezialisten braucht man draußen… Die Verwundeten können die nächsten Maschinen nehmen…«Dann sahen sie auf den eintretenden Arzt, und der Stabsintendant schoß auf ihn zu.
«Was wollen Sie denn hier?«
«Ich will nach Stalingrad…«
«Wohin?«Der Stabsintendant sah Körner an, als spräche der Geist von Hamlets Vater.
«Nach Stalingrad-Stadt. Ich wollte mich erkundigen, ob ein
Flugzeug nach Gumrak abgeht, oder wie ich sonst dorthin komme.«
«Das gibt es auch noch, tatsächlich. «Der Oberst wischte sich über die Augen.»Sie wollen* also nicht ’raus?«
«Nein. Ich bin ja soeben von Warschau zurückgekommen.«
«Da wußte man wohl noch nichts von dem Scheißdreck hier?«
«Doch — aber ich wollte…«
Dr. Körner sah, wie der Oberst ihn musterte, als sinne er darüber nach, ob es zu vertreten sei, einen Irrsinnigen in die nächste Maschine abzuschieben. Der Stabsintendant setzte sich schwerfällig auf einen Holzstuhl und schnaufte.
«Außerdem stehen draußen noch einundvierzig Schwestern, die weg sollen…«, begann der Oberst wieder.
«Erst die Spezialisten«, sagte der Intendant.»Ich habe meine genau umrissenen Vorschriften. Es ist bekannt, daß die kämpfende Truppe aufgeschmissen ist, wenn nicht in der Etappe…«
Der Oberst hob beide Arme.»Sie sehen, was hier los ist, Doktor«, sagte er fast hilflos.»Der Iwan rollt die Flanken auf wie Klopapier, das er von der Rolle wickelt, die Donbrückenköpfe sind im Eimer, Kalatsch brennt, die Rumänen kommen hier durch und fragen, wie weit es bis Bukarest ist, irgendwo wimmeln unsere Panzer ’rum, aber sie haben nicht genug Sprit und Granaten, und unser Hermann kratzt an Maschinen zusammen, was er kriegen kann, aber er rechriet nicht mit dem Bürokratismus unserer Wehrmachtsbeamten…«
«Ich verhalte mich durchaus korrekt«, schrie der Stabsintendant.
«An dieser Korrektheit werden wir eingehen. «Der Oberst winkte ab, als Dr. Körner etwas sagen wollte.»Fragen Sie nichts mehr, Doktor. Sie wollen nach Stalingrad zurück… das ist im Augenblick so traumhaft, daß Sie schon selbst sehen müssen, wie Sie weiterkommen. Schließen Sie sich einer Truppe an, die nach vorn geht… Was heißt hier überhaupt >Vorn<… Vorn ist jetzt überall, ringsum ist vorn… Hauen Sie ab, Doktor, und spielen Sie Ostlandfahrer… Ich kann Ihnen nicht helfen. «Der Oberst drehte sich zu dem Stabsintendanten um und hieb wieder mit der Faust auf den Tisch.»Himmel, Arsch und Wolkenbruch… mit der nächsten Maschine gehen die einundvierzig Schwestern nach Kiew… und wenn Sie Schwierigkeiten machen, schieße ich den Weg frei, verstanden?«
Der Stabsintendant schnellte mit bleichem Gesicht vom Stuhl.»Das werde ich melden«, sagte er heiser.»Man ward Sie zur Verantwortung ziehen, Herr Oberst, wenn wertvolle Kräfte für den Bestand des Reiches — «
«Am Arsch können Sie mich lecken«, sagte der Oberst. Er wandte sich ab und drängte beim Hinausgehen auch Dr. Körner aus dem Zimmer.
Draußen schneite es immer heftiger. Zehn Maschinen standen auf dem Rollfeld. Sie wurden mit Verwundeten beladen und mit Eisenkisten, deren Inhalt nur die Intendantur kannte. Der Oberstabsarzt stand vor einer der Maschinen und gestikulierte mit beiden Armen. Um ihn scharten sich die frierenden Schwestern aus Kalatsch.
«Diese Maschine, Herr Oberst«, schrie er, als er den Platzkommandanten kommen sah.»Ich werfe mich vor die Propeller, wenn meine Schwestern nicht mitkommen…«
Der Oberst winkte ab. Sein Gesicht war fahl. Über den großen Flugplatz von Pitomnik rannten Hunderte geduckter Menschen durch das Schneetreiben. Raupenschlepper klapperten dazwischen, Lastwagen, einzelne Panzer, Pferdegespanne, Protzen, Feldküchen, verpackte Feldbäckereien, Werkstattwagen… ein Ameisenheer, das nur einen Gedanken hatte: Nach Westen. Nach Westen.
Aber der Weg nach Westen war bereits verriegelt. Die Zange der russischen Panzerdivisionen hatte sich um die 6. Armee gekrallt. Um zweiundzwanzig Divisionen, um 364 000 deutsche Soldaten aller Waffengattungen, um Materialien im Wert von mehreren Milliarden Mark.
«Sehen Sie sich das an, Doktor«, sagte der Luftwaffenoberst.»Und Sie fragen mich: Wie komme ich nach Stalingrad? Dort drüben sind die Zelte der aufgelösten Lazarette von Kalatsch, Dmitrijewka und Kotlubon. Fragen Sie mal da nach…«
Er ließ Dr. Körner stehen und ging hinüber zu den 41 Schwestern, die ihn flehend und bettelnd umringten.
Zwei Stunden später fand Dr. Körner einen Kübelwagen. Er stand hinter einer der Baracken, der Schlüssel steckte im Zündschloß, und so sehr Dr. Körner rief und an die Türen klopfte, keiner wußte, wem der Wagen gehörte.
«Mein Gott«, sagte ein Hauptmann der Eisenbahnpioniere, der tatenlos herumsaß.»Solche Dinger stehen hier genug 'rum. Wo will man denn noch hin mit 'nem Wagen? Zum Flugplatz, das ist das Ziel. Wohin Sie auch fahren… überall stoßen Sie doch auf ’n Iwan… Aber wenn Sie den Kübel gebrauchen können, Doktor… schwirren Sie ab… es kräht keiner mehr danach…«
Dr. Körner setzte sich in den Wagen und fuhr los. Er kam an einem Tanklager vorbei, das von Feldgendarmerie bewacht wurde. Ein Zahlmeister saß neben dem Lager in einem alten russischen Bauernhaus und wurde von vier Offizieren angeschrien. Vor dem Spritlager standen in Doppelreihen Lastwagen und Panzer und warteten.
«Ich kann nicht«, schrie der Zahlmeister zu den Offizieren zurück.»Wie oft soll ich Ihnen noch erklären: Das hier ist ein Brennstofflager der Reichsbahntransportstaffel. Sie aber sind Panzer und Wehrmachtsfahrzeuge. Ich darf ihnen keinen Sprit geben. Ich habe meine strikten Vorschriften…«
«Mann, sehen Sie doch klar. Draußen steht der Russe vor der Tür, unsere Panzer haben nur noch für dreißig Kilometer Sprit, und Sie sitzen auf einem Berg von Benzin und Öl. Wo ist denn Ihre Staffel überhaupt?«
«Das weiß ich nicht. Ich warte auf Nachricht.«
«Die werden Sie aus Sibirien bekommen«, bellte ein junger Leutnant.
«Wenn schon. Ich tue nur meine Pflicht… weiter nichts…«
Während die Panzeroffiziere noch verhandelten und drohten, das Spritlager einfach zu stürmen, bekam Dr. Körner — ohne den Zahlmeister fragen zu müssen — vier Reservekanister Benzin für seinen Kübelwagen.»Für ’n Arzt ist immer was da«, sagte ein Feldgendarmerie-Oberfeldwebel.»Wer weiß, vielleicht sind’s gerade Sie, der mich mal verarztet… Der Clown da drinnen glaubt immer noch, daß seine Buchführung das Wichtigste im Kriege ist…«
Hinter Pitomnik wurde es stiller. Die Steppe bis nach Stalingrad war eine endlose, mit Schneestaub überzogene Fläche. In der Weite verlor sich etwas die Auflösung der Front. Die Mitte des Kessels— er war 65 Kilometer lang und 38 Kilometer breit — hatte noch nichts von dem hektischen Treiben, das an den Außenstellen herrschte. Zwar begegnete Dr. Körner auch hier herumziehenden Formationen, Panzergrenadieren und Bataillonen, die so schnell wie möglich an die Brennpunkte der Einschließungsfront verlegt wurden und die Lücken ausfüllen sollten, durch die die sowjetischen Divisionen durchstießen und den Kessel aufzuspalten versuchten. Es war der Tag, an dem der deutsche Wehrmachtsbericht meldete:
«Im Räume südlich von Stalingrad und im großen Donbogen stehen die deutschen und rumänischen Verbände im Zusammenwirken mit starken Nahkampffliegerkräften weiterhin in schweren Abwehrkämpfen…«
Erst in Gumrak, dem zweiten großen Flugplatz für Stalingrad, wurde es wieder lebendig. Hier sammelte sich ein riesiges Lager von Verwundeten an, die von der Nordfront des Kessels kamen. Sie erzählten, daß eigentlich keiner mehr genau wußte, wie der Frontverlauf sei, denn wo gestern noch deutsche Werkstätten und Trosse in den Bauernhäusern hockten und darüber nachdachten, daß der russische Winter in einem solchen Nest mehr als Mist sei, standen plötzlich sowjetische T 34 und beschossen die verblüfften und entsetzten deutschen Kolonnen, die zu Reparaturen oder zur Ablösung in die Dörfer kamen.
In Gumrak aber war die Lage anders als in Pitomnik. Hier war bereits Frontgebiet Stadt Stalingrad<, zumindest herrschte hier nicht die Ansicht, daß es einzig und allein darauf ankäme, so schnell wie möglich nach Westen zu kommen. Man wußte, was es bedeutete, dem Russen gegenüberzustehen, man hatte es wochenlang in den Trümmern der toten Stadt erlebt und erlitten. Nur die Verwundeten lagen herum, und es wurden stündlich mehr, und fluchten und schrien und drängten sich rücksichtslos zu den Flugzeugen. Ein Stab von Ärzten und Sanitätern regelte das Verladen; vor allem die Schwerverletzten bekamen ihren Platz in den Ju 52 und wurden nach Westen geflogen.
Am 25. November kam Assistenzarzt Dr. Körner wieder in seine alte Stellung im Trümmerfeld von Stalingrad zurück. Drei Tage zuvor hatte der Kommandierende General des I. Armeekorps, General v. Seydlitz, die anderen Korpskommandeure General Jaenicke, General Heitz, General Strecker und General Hube zu einer Besprechung nach Gumrak gebeten und ihnen einen Ausbruchplan vorgelegt. Mit allen verfügbaren, auf engstem Raum zusammengezogenen Kräften sollte die 6. Armee nach Südwesten durchbrechen. Eine stählerne Faust sollte den sowjetischen Eisenring zerschlagen und Anschluß an die 4. Panzerarmee finden, die jenseits des Kessels, nahe genug, wartete, aber nicht genug Kräfte hatte, den Riegel allein aufzureißen. Am 24. November standen 130 Panzer bereit, den ersten Stoß zu führen; ihnen folgten Gruppen von Panzerspähwagen und Gefechtsfahrzeugen als Verstärkung. 17 000 Mann Kampftruppen standen bereit für die erste Welle, die den Riß erweitern sollte, ihnen folgten dann als zweite Welle 40 000 Soldaten.
Die Stellungen in den Kellern und Bunkern der Stadt wurden zum Verlassen vorbereitet. Die Stoßtrupps hockten zwischen den Trümmern und warteten. Bei allen Regimentern begann das große Vernichten. Alles überflüssige Gerät, alles sperrige Material, alles nicht notwendige Gepäck wurde zerstört. General v. Seydlitz gab ein Beispiel dessen, was er unter >Marscherleichterung< verstand: Er verbrannte alles, was er hatte… seine Wäsche, seinen zweiten Mantel, Uniformen… nur was er am Leibe trug, blieb übrig. Im Norden der Stadt zogen sich die Truppen aus den festen Bunkern und Kellern zurück, räumten die Trümmerfelder und legten sich in Bereitschaft zum Ausbruch… in Schneelöchern, vereisten Hügeln und Schluchten. Verwundert stieß der Russe mit starken Kräften nach, fand verlassene deutsche Bunker, vernichtete die Nachhuten und verstand nicht, was er sah.
Am 24. November, kurz vor dem Ausbruch, erhielt General Paulus den Befehl Hitlers, der den Ausbruch verbot. Die 6. Armee hatte sich einzuigeln, die Versorgung aus der Luft versprach Reichsmarschall Göring. Es war der unsinnigste Befehl, der je in einem Krieg gegeben wurde. Ein Befehl, der das Leben von rund 230 000 deutschen Soldaten kostete.
Stabsarzt Dr. Portner stand draußen zwischen den Trümmern am Lazarettkellereingang, als Körner mit einer Kolonne Essenträger durch die Laufgräben hetzte. Ein Teil der Wegstrecke lag unter russischer Einsicht, und es war ein beliebtes Spiel der Sowjets, zu den bekannten Zeiten ein Granatwerferfeuer über die Essenholer zu legen.
Dr. Portner warf seine Zigarette weg, als er Körner erkannte. Sein Gesicht bekam einen Ausdruck wirklicher Ratlosigkeit. Es drückte aus, daß das, was er jetzt sah, zu den Einmaligkeiten seines Lebens gehörte.
«Mensch, Körner«, sagte er fassungslos, als der Assistenzarzt keuchend vor ihm stand.»Was machen Sie denn hier? Ich denke…«
Dr. Körner lehnte sich an einen vereisten Mauerrest. Als er mit der Hand über sein Gesicht fuhr, spürte er, daß die Schweißtropfen bereits zu harten Kugeln gefroren waren.
«Ich bin froh, wieder hier zu sein«, sagte er heiser.
«Wieso?«Stabsarzt Dr. Portner duckte sich. Auch Körner warf sich gegen die Wand. Neben ihnen krachte eine Mine in die Trümmer und wirbelte einige Körperteile durch den Schnee. Portner winkte ab, als Körner entsetzt zu den Gliedmaßen starrte.
«Volltreffer in Grabtrichter fünf«, sagte er.»Was wollen Sie eigentlich hier? Sagen Sie bloß, Sie seien schon wieder freiwillig in die Scheiße zurückgekehrt…«
«Das bin ich…«
«Sie verrücktes Nilpferd«, schrie Portner.»Jeder von uns faltet nachts heimlich die Hände und betet, daß er überlebt, und Sie Vollidiot…«
«Ich habe niemanden mehr als Sie und… und…«Körner machte eine weite Handbewegung, die den Lazarettkeller, die deutschen Bunkerstellüngen und die Granattrichter mit den Leichen einschloß,»und sie alle«, fügte er leise hinzu. Er senkte den Kopf und wandte sich ab. Portner sah, wie sein Rücken zuckte. Er biß sich auf die Unterlippe und schwieg so lange, bis das Zucken aufhörte und Körner den Kopf etwas hob.
«Ihre Frau?«sagte Portner leise.
Körner nickte stumm.
«Wann?«
«Am Vorabend unserer Hochzeit…«
Portner antwortete nicht. Was soll man da sagen, dachte er. Große Worte sind Blödsinn. Hinweise, daß es Tausenden so ergeht, sind ebenso dumm. Fluchen ist sinnlos… es bleibt nur das Ertragen in der Stille. Er holte aus der Tasche sein silbernes Zigarettenetui, nahm zwei Zigaretten heraus, brannte sie an und schob eine davon Körner zwischen die Lippen. Dann klopfte er ihm auf die Schulter und wandte sich zum Eingang des Kellers.
«Komm, mein Junge… an die Arbeit«, sagte er hart.»Sie kommen gerade im richtigen Augenblick zurück. Alles ist schon eingepackt und transportbereit. Wir müssen noch ein paar schwere Fälle auf trimmen. In der Nacht geht es dann los… zurück in die Steppe, nach Gumrak… die reden da was von einem Durchbruch. Was ist eigentlich los außerhalb der Stadt?«
«Wir sind eingeschlossen«, sagte Dr. Körner. Er zog an der
Zigarette und stand mit geschlossenen Augen an der vereisten Mauer.
«Wer?«
«Die ganze 6. Armee…«
«Du meine Güte. Darum dieses Durcheinander in der Luft. In der Funkbude stehen sie kopf. Über zweitausend Funksprüche schwirren durch die Luft… wenn man die alle zusammenstellt, muß es ja toll aussehen an Don und Tschir…«Dr. Portner blieb stehen, als käme es ihm erst jetzt voll zum Bewußtsein, daß sie eine winzige Insel im russischen Meer waren.»Rundum zu?«fragte er.
«Ja. Wie in einer Mausefalle. Und das, was früher Etappe war, spielt vollkommen verrückt. Und in Warschau sitzen sie noch immer über den Plänen einer >Lazarettstadt Kalatsch<…«
«Und Sie lassen sich in diese Mausefalle fliegen…«
Dr. Körner blieb auf den Stufen zum Keller stehen und sah zu Dr. Portner zurück.»Glauben Sie nicht, daß ich ein Held bin«, sagte er leise. Seine Stimme schwankte.»Ich bin ein ganz erbärmlicher Feigling… Ich bin so feig, daß ich Angst hatte, allein weiterzuleben.«
«Mein Gott. Wenn Sie diesen Mist hier überleben, werden Sie sich später über so viel Dummheit an den Kopf fassen und es nicht begreifen.«
«Sicherlich. «Körner nickte. Unten im Kellerraum hörte er die laute Stimme des Gefreiten Knösel. Er erzählte zum vierundzwanzigsten Male die Geschichte von den küssenden Russen im Trümmerfeld, und wie immer erntete er Gelächter und den Beinamen >Du altes Lügenloch<.»Sicher wird man später anders denken… Man begreift dann nicht mehr, warum man einmal dieses oder jenes getan hat, weil man die Situation, in der es geschah, nicht mehr nachempfinden kann. Aber im Augenblick bin ich am Ende, Dr. Portner… und ich brauche Sie und die da unten, um wieder Mensch zu sein… auch wenn man mich später einen Idioten nennen wird.«
Sanitätsfeldwebel Wallritz und Knösel kamen aus dem Keller empor. Sie trugen eine Zeltplane zwischen sich; ein schlaffer Arm hing heraus und schleifte über die Kellerstufen.
«Der Lungenschuß, Herr Stabsarzt«, sagte Wallritz. Dann sah er Dr. Körner, und sein Gesicht wurde ebenso lang wie das Port-ners vor einer halben Stunde.»Guten Tag, Herr Assistenzarzt.«
Dr. Körner nickte. Die Zeltplane schwankte an ihnen vorbei. Er sah ein gelbes Gesicht und nach oben gedrehte, starre Augen. Aus den Mundwinkeln war Blut gelaufen und um den Hals verkrustet.
Marianne, dachte Dr. Körner. Ob man sie auch so hinausgetragen hat aus dem Keller… in einer Zeltplane…
Er wandte sich ab und rannte die Treppe hinunter in den Keller.
Wallritz und Knösel mußten eine halbe Stunde warten, ehe sie ihre Zeltplane in einen der Trichter auskippen konnten. Drei sowjetische Panzer waren vom >Tennisschläger< herübergekommen und belegten die deutschen Häuser mit Feuer. Ein Stoßtrupp war bereits unterwegs, um sie mit geballten Ladungen und Haftminen zu knacken. Erst als der vordere Panzer in einer schwarzen Rauchwolke explodierte, gelang es Wallritz und Knösel, ihre Zeltplane in einen Trichter auszuleeren.
Pawel Nikolajewitsch Abranow, der Greis und Großvater Veras, hatte ein neues Erlebnis. Das Schlimme daran war, daß niemand ihm glaubte. Ja, man lachte ihn aus, klopfte ihm auf die Schulter und meinte mit einem Augenzwinkern:»Es geht nicht mehr so wie früher, was, Väterchen? Zwei Wodka, und schon beginnt das Märchen. «Und so sehr Abranow die Hände hob und beteuerte, er sei weder betrunken gewesen noch sei er so alt, daß er schon kindisch würde — man glaubte es ihm nicht und erzählte das Erlebnis des Alten wie eine fröhliche Geschichte.
Pawel Nikolajewitsch, das fröhliche Großväterchen, hatte einen Elefanten gesehen.
Man wird begreifen, daß ihm das niemand glaubte. Ein Elefant in Stalingrad. Mitten in der Stadt. In den Trümmern. Mit pendelndem Rüssel, wackelnden Ohren, blinkenden Stoßzähnen und um sich schlagendem Schwänzchen.
«Und ich sage euch«, schrie Abranow und hob beide Arme zum Himmel wie ein Feuerbeschwörer,»er stand da. Riesengroß, grau und ein wenig ratlos. Er hob den Rüssel und kratzte sich damit den Kopf…«
Die Männer um ihn, brave Sowjetsoldaten, verwundet und verbunden, lächelten breit und nachsichtig. Vera Kaijonina war es, die sich ihres Großvaters schämte. Aber auch sie war machtlos gegen den Alten, und als es sich herumgesprochen hatte, was Väterchen
Abranow gesehen haben wollte — und es ging bald von Erdhöhle zu Erdhöhle am Steilufer der Wolga —, kamen immer neue Rotarmisten und hörten zu, wie der Elefant sich ohne besondere Eile wieder in Bewegung gesetzt hatte und hinter den Ruinen eines Wohnblocks verschwunden war.
Die Angelegenheit reizte zum Nachdenken, als Iwan Iwanowitsch Kaljonin für einen Tag Urlaub bekam, zu seiner jungen Frau Vera eilte und — statt sich in ihre sehnsüchtigen Arme zu werfen — zunächst fragte:»Ist der Elefant bei euch gewesen? Wo ist er hin? Der Genosse Oberst will es wissen, er ist ein sehr großer Tierfreund…«
«Seht ihr«, brüllte Abranow,»seht ihr. Auch er hat ihn gesehen. Und ihr lachtet mich aus, ihr Hundesöhne. Ein Elefant, sage ich. Ein indischer Elefant. Er geht mitten durch die Stadt…«
In dem Befehlsbunker am Wolgasteilhang vergaß man einen Augenblick, daß Krieg war, daß an Wolga, Don und Tschir die Armeen nach zwei Seiten kämpften und sich ein Sieg abzeichnete, wie er in diesem Krieg noch nicht errungen worden war. Man vergaß sogar für wenige Minuten, daß im Nordteil der Stadt das Armeekorps des deutschen Generals von Seydlitz die guten Stellungen geräumt hatte und sich nun — wer soll das verstehen? — weiter westlich eingrub, Maulwürfen gleich. Von der Telefonzentrale des städtischen Verteidigungskomitees und dem Gebäude des Verteidigungskomitees der Partei ging die Frage an alle Kommandeure der sowjetischen Truppen: Wer hat den Elefanten gesehen?
Es stellte sich heraus, daß viele ihn gesehen hatten. Und auch die Herkunft war klar. Stalingrad hatte einen schönen Zoologischen Garten gehabt, nicht groß, aber gepflegt. Er konnte nur zu einem Teil geräumt werden, als die deutschen Armeen zur Wolga stießen. Ein paar Tiere blieben zurück, um deren Schicksal sich niemand mehr kümmern konnte, weil es galt, die großen Werke und den Zugang zur Wolga zu verteidigen. Unter diesen zurückgelassenen Tieren war auch der Elefant. Nachdem sein Gehege zerstört worden war, hatte er sich abgesetzt und war durch die Trümmerwüste gewandert. Irgendwo schlief er in den Ruinen und stampfte zwischen den Fronten umher.
Iwan Grodnidsche vom Parteikomitee raufte sich die Haare, als er die Meldungen las.
«Wovon lebt er denn?«rief er entsetzt.»Als er im Zoo war, verbrauchte er täglich eine kleine Wagenladung Heu und Brot. Er war ein teurer Kostgänger. Und jetzt läuft er allein und ohne Pflege durch die Trümmer und lebt dennoch. Man sollte sich die Haare ausraufen…«
Ganz schlimm war es unter der zurückgebliebenen Zivilbevölkerung und vor allem bei den Kindern, als die Existenz des Elefanten bekannt wurde. Alle wollten ihn sehen. Die Kinder bettelten und weinten, wenn man ihnen klarzumachen versuchte, daß es nicht sein könnte, weil draußen der Tod vom Himmel hagelte. Er wird frieren, sagte man. So ein armer Elefant. Er ist doch Hitze gewöhnt. Jetzt geht er durch Eis und Schnee, und eines Tages wird er vor Hunger und Schwäche umfallen und eingehen.
«Das Vieh muß her«, sagte Iwan Grodnidsche vom Parteikomitee.»Soll man das für möglich halten, Genossen? Da leben sie wie die Ratten in den Kellern und Erdhöhlen und heulen um einen Elefanten. Haben wir nicht andere Sorgen?«
Aber das sagte er nur, wenn die anderen bei ihm waren. Saß er allein an seinem Telefon in der Befehlszentrale, telefonierte er herum und fragte:»Sagt, Genossen, wo ist der Elefant? Meldet ihn mir sofort! Wir haben am Wolgaufer einen Ballen Heu bereitgelegt…«
Auch der Greis Abranow wurde wieder aktiv. Er gründete ein >Komitee zur Rettung des Elefanten<. Mit einer Liste ging er herum und sammelte Unterschriften, Brotreste, Rüben, Kohlköpfe und Stroh. Um seine Erdhöhle herum sah es aus wie auf einer verwahrlosten Kolchose. Es türmten sich Berge von Rüben und Kohl, Heu und Stroh, und es war gut, daß alles gefror, denn sicherlich wäre vieles verfault.
«Man muß sein Herz behalten«, sagte Abranow, als man ihn still belächelte. Vor allem die abgelösten Rotarmisten von der Stadtfront schüttelten den Kopf. Sie lebten seit Tagen von trockenem Brot und einem Hirsebrei, der muffig stank und nach Schimmel schmeckte. Hier aber türmten sich Kohl und Rüben, die man gut zu einer menschlichen Speise verarbeiten konnte, besser als den muffigen Kascha.»Auf das Herz kommt es an, Genossen. Wie können wir ein Vaterland befreien, wenn wir kein Herz mehr haben, he? Krieg ist Krieg, aber ein Elefant ist ein Elefant. Stellt euch vor, wie das sein wird: eine neue Stadt, ein neuer Zoo… und darin als Veteran des vaterländischen Krieges unser Elefant. Fast kann man sagen, es sei ein Symbol…«
Man ließ ihn reden und klaute ihm in der Nacht die Rüben, bis Abranow den Genossen Grodnidsche anflehte, eine Milizwache abzustellen.»Man bestiehlt den Elefanten«, jammerte er.»O Brüderchen… sie haben alle keine Seele mehr…«
Aber man sah den Elefanten nicht wieder. Irgendwo in der riesigen Trümmerwüste von Stalingrad mußte er umgekommen sein. Sicherlich hatten die Deutschen ihn erschossen. Doch Abranow sammelte weiter und löste sein >Komitee zur Rettung des Elefanten< nicht auf.
Wenige Stunden vor der Zurückverlegung des Verbandsplatzes zum Feldlazarett Gumrak wurden auch bei Dr. Portner alle sperrigen Güter und alles unnütze Gepäck vernichtet und verbrannt. Zu den entbehrlichen Gepäckstücken gehörte auch eine Kiste Schnaps, die Dr. Portner gehortet hatte, um im Notfalle mit diesem Alkohol zu desinfizieren. Nun konnte sie ausgegeben werden, und der Gefreite Schmidtke, genannt Knösel, riß sich zwei große Flaschen unter den Nagel. Um sicher zu sein, nicht gestört zu werden, meldete er sich zur MG-Wache und hockte sich in dem mit dicken Betonteilen befestigten Loch hinter das zugedeckte Maschinengewehr, setzte sich auf eine Munitionskiste und öffnete die erste Flasche, indem er den Hals an einer Mauerkante abschlug.
Gemütlich leerte er die halbe Flasche und kam in das angenehme Gefühl, das Leben trotz Kälte, Eis, Trümmer und immerwährender Todesnähe schön zu finden. Er steckte sich eine selbst-
fedrehte Zigarette an, schob den Stahlhelm in den Nacken, lok-erte den Schal um seine Ohren, denn ihm wurde ein wenig heiß, von innen heraus, und nahm noch einen Schluck aus der Flasche, vorsichtig, damit er sich nicht an dem abgeschlagenen, gezackten Flaschenhals die Lippen aufschnitt.
Ein dumpfes Poltern schreckte ihn auf. Steine rollten, es klang wie ein lautes Schnaufen, irgendwo fiel eine kleine Ruinenwand um. Knösel setzte die Flasche zur Seite in den Schnee und riß die Zeltplane von dem MG. Er zog den Gurt durch, spannte das Schloß und setzte sich hinter den Kolben.
«Ist das ein Mist«, sagte er zu sich.»Hoffentlich ist’s kein Panzer.«
Ungefähr zwanzig Meter vor ihm fiel wieder ein Trümmerstück um. Knösel legte den Zeigefinger an den Abzug des MGs, visierte die Hausruine an, in der es rumorte, und wartete. Dann sah er etwas, von dem er sich kein Bild machen konnte… aus den Steinen schlängelte sich etwas Graues, Schlangenartiges, bewegte sich schwankend hin und her, blieb in der Luft stehen und sah zu ihm herüber.
«Das ist was Neues«, sagte Knösel verblüfft.»Die Iwans haben bewegliche Fernrohre. «Er zielte auf die graue Schlange und jagte einen kurzen Feuerstoß aus dem MG. Ob er getroffen hatte, wußte er nicht. Aus den Trümmern antwortete ein Schnaufen und dann ein Schrei, der Knösel eiskalt in die Knochen fuhr. Es war ein trompetenhaftes Kreischen, weder menschlich noch maschinell. Es war etwas ganz Neues, und Knösel umklammerte den Kolben seines MGs, tastete zur Seite, wo die Handgranaten lagen und drei geballte Ladungen… die letzte Waffe gegen die Panzer.
Und dann geschah es, daß Knösel sich über die Augen wischte, sich entgeistert hinsetzte, mit beiden Händen das MG festhielt und starrte… starrte…
Vor ihm erhob sich aus den Trümmern ein grauer Koloß. Ein Berg aus Fleisch mit Säulenbeinen, mit wackelnden, großen Ohren und einem hocherhobenen Rüssel. Aus kleinen roten Augen starrte das Gebilde zu Knösel hinüber, schüttelte fast unwillig den Kopf und ging dann langsam quer durch die Trümmer, trat ein paar Mauerreste um, räumte mit dem Rüssel Steine aus dem Weg und stampfte durch eine große Hausruine davon.
Bewegungslos sah Knösel dem grauen Klotz nach. Ein paarmal schluckte er, dann wischte er sich über die Augen und griff wieder zu der Flasche, nahm einen tiefen Schluck und sagte:»Das glaubt mir keiner. Die halten mich alle für besoffen…«
Genauso war es, als Knösel zurück zu dem Verbandskeller rannte. Dr. Portner sah ihn prüfend an, schnupperte vor seinem Gesicht und nickte.
«Total blau. Und das auf MG-Wache. Knösel… Sie landen eines Tages doch noch vor einem Erschießungspeloton…«
«Herr Stabsarzt… ich bin vollkommen nüchtern… Sehen Sie doch. «Knösel schloß die Augen, streckte die Arme aus und marschierte gerade aus… ohne Schwanken, ohne Schlangenlinie… wie auf einem gezogenen Strich. Dr. Körner nickte verblüfft.
«Nüchtern.«
«Aufs Saufen geeicht. «Dr. Portner riß Knösel an der Schulter herum.»Kerl, Sie wollen uns doch nicht einreden, daß ein Elefant durch Stalingrad marschiert.«
«Ich habe ihn gesehen, Herr Stabsarzt.«
«Im Delirium.«
«Und gehört.«
«Pfötchen gegeben hat er nicht, wie? Und was hat er gesagt? >Guten Tag, mein lieber Knösel, schmeckt das Schnäpschen?<«Dr. Portner schlug gegen die Kellerwand.»Man soll es nicht für möglich halten, welche Blüten ein Grabenkoller treiben kann…«
Dabei blieb es. Knösel erntete mit seiner Elefantengeschichte nicht nur Unglauben, sondern die Bemerkung:»Noch so ’nen Blödsinn, und wir ziehen dir das Fell ab, du Spinner. «Beleidigt schwieg er. Erst die küssenden Russen, dann ein Elefant… er sah ein, daß dies ein bißchen viel war, auch wenn er es wirklich erlebt hatte.
In der Nacht kamen sie in Gumrak an. Sie wurden eingegliedert in das Feldlazarett der 6. Armee, dem großen Sammelplatz von 22 Divisionen, dem Ort, der aus einem Wasserturm, einem Stationsgebäude, einigen lehmbeworfenen Bauernhütten, einem Flugfeldund Tausenden von Verwundeten bestand. Sie lagen in Zelten, Erdhöhlen, notdürftig zusammengehämmerten Baracken oder in russischen Güterwagen, die halb ausgebrannt und zurechtgeflickt waren… Ein Gewirr von Holz und Eisen auf den Abstellgleisen des Bahnhofs..
Es war eine eisige Kälte, als sie ankamen. Über die Steppe jagte ein Eiswind und trieb den Schnee vor sich her. Räumkommandos kämpften dagegen an… sie fegten die Rollfelder sauber, damit die Transportmaschinen landen konnten… die wackeren Ju 52, die schnellen He 111 und die neuen Ju 86. Wie in Pitomnik waren es über hundert Mann, die die Maschinen entluden und dafür sorgten, daß keine Eisbuckel auf der Rollbahn entstanden, über die die startenden Maschinen stolpern konnten. Am Rande des Flugplatzes standen die Zelte der Verwundeten, die ein Billett um den Hals hängen hatten, auf ihren Ausflug aus dem Kessel warteten und davon träumten, morgen oder übermorgen gerettet zu sein, dem Leben wiedergegeben, dem Leben, das keine 60 Flugminuten weit entfernt war. 60 Flugminuten… aber für 300 000 eingeschlossene Männer so weit wie ein Platz auf dem Mond.
Dr. Portner meldete seinen Haufen bei der Kommandantur des
Feldlazaretts der 6. Armee. Als er die Bauernkate betrat, sah er Generalarzt Professor Dr. Abendroth hinter einem Tisch sitzen und Funksprüche studieren. Ein Oberarzt steckte auf einer an der Wand hängenden Gebietskarte von Stalingrad den Frontverlauf ab, nicht wie ihn der Wehrmachtsbericht meldete, sondern wie ihn die aufgefangenen Funksprüche der einzelnen Truppenteile deutlich darstellten.
Dr. Portner legte die Hand an die vereiste Mütze, aber Professor Abendroth winkte ab.»Ich kenne Sie, Portner… brauchen sich nicht vorzustellen. Hatten Sie einen guten Rückweg?«
«Nicht wie auf dem Ku-Damm, Herr Generalsarzt. Fünf Tote. Irgendein Rindvieh von der Artillerie beschoß uns, obwohl wir die Rote-Kreuz-Flagge an den Wagen hatten. Allerdings waren es russische Beutefahrzeuge…«
Professor Abendroth nickte.»Heute schießt man einfach auf alles, was russisch aussieht, östlich von Kalatsch gab es ein völliges Durcheinander. Da marschierte die Panzerschule Kalatsch mit sowjetischen Beutepanzern los und stak plötzlich mitten zwischen echten Sowjets. Und die Flakbatterien wußten überhaupt nicht mehr, auf wen sie schießen sollten, denn sie waren informiert, daß die deutsche Panzerschule mit sowjetischen Panzern fuhr. Erst als die Batterien von den Russen niedergewalzt wurden, war klar, daß es diesmal echte Sowjets waren. Tja, lieber Portner… der Mist ist vollkommen.«
Dr. Portner sah seinen alten Lehrer und Doktorvater fast mitleidig an. Da hockte der Chef einer großen Universitätsklinik in Generalsuniform im Kessel von Stalingrad, am Rande eines einsamen Steppenflugplatzes, und versuchte, in das Durcheinander seines ebenfalls überrollten und zersprengten Sanitätswesens Ordnung und damit ausreichende Arbeitsbedingungen zu bringen. Soweit die Truppenärzte über Verbände und Medikamente verfügten, wurde in Erdhöhlen oder Bauernkaten, Zelten oder Kellern, Trümmerbunkern oder Eisenbahnwagen operiert und gerettet, was zu retten war. Auf den abenteuerlichsten Wegen tauchten diese Verwundeten dann in Pitomnik oder Gumrak auf, die Gehfähigen zu Fuß, die Schwerverletzten mit Nachschubwagen oder Schlitten oder auch nur auf einem Brett, das die Kameraden an Bindfäden hinter sich her über die vereiste Steppe zogen. Auf den beiden Flugplätzen wurde dann aussortiert… die einen bekamen ihr >Lebensbillett< um den Hals, die anderen lagen herum, in den Erdhöhlen oder den russischen Güterwagen… eine Armee des Elends, um die sich kaum einer kümmern konnte, weil immer neue Transporte,von der Nordfront und aus der Stadt kamen und die Zelte und Erdbunker füllten wie Sardinenbüchsen.
In dem großen Eisenbahnwaggon-Lazarett auf dem Bahnhof Gumrak traf Dr. Körner auch Paul Webern, den katholischen Feldgeistlichen, der ihn in Pitomnik getraut hatte. Sie kamen auf einander zu, als seien sie alte Bekannte, und drückten sich die Hand.»Gott segne Sie«, sagte Pfarrer Webern.»Im ersten Augenblick hatte ich Sie nicht wiedererkannt. Die letzten Wochen haben uns um Jahre älter werden lassen. «Er stand vor einer Reihe Waggons, aus denen Stöhnen und lautes Sprechen hinaus in den eiskalten Tag drangen. Wie jeden Tag vor Beginn der Abenddämmerung, die schnell zur Nacht wurde, ging Pfarrer Webern noch einmal von Waggon zu Waggon, betete und tröstete, brachte Decken und Brot, die er tagsüber aus den einfliegenden Transportmaschinen organisierte. Er segnete die Gestorbenen und sprach mit den Sterbenden von der Schönheit der Ewigkeit in Gott.
Dr. Körner senkte den Blick. Die Erwähnung Gottes kam ihm in diesen Minuten irgendwie sinnlos vor. Er war als gläubiger Katholik erzogen worden, und er hatte in dieser stärkenden Welt des Glaubens gelebt, obgleich seine Umwelt und selbst sein eigenes Leben sich grundlegend änderten. Sein Onkel, der ihn aufzog, nachdem die Eltern bei einem Schiffsunglück ertrunken waren, war Parteigenosse und SA-Führer. Er brachte den ihm anvertrauten Hans Körner in die HJ und später in den NS-Studentenbund und bearbeitete ihn seit Jahren mit den verlockendsten Aussichten, die ein Arzt der Großdeutschen Wehrmacht habe. Die katholische Erziehung lief nebenher als zweites Gleis, wurde geduldet und nach außen hin verschwiegen. Sie war ein Vermächtnis von Professor Körner, dem Vater von Hans, der als Jurist die Größe christlichen Verzeihens erkennen und schätzen lernte.
Dies alles war durch ein Telegramm in Warschau zerbrochen wie eine morsche Mauer, hinter der sich bisher ein anderes Gebäude verborgen gehalten hatte… eine Welt voll Nihilismus und in Sarkasmus eingebettete Ratlosigkeit. Und jetzt sprach Pfarrer Webern von Gott, der ihn segnen sollte… es war wie Hohn und griff ihm doch an das Herz.»Es hat sich viel geändert«, sagte Dr. Körner leise. Er lehnte sich gegen einen der russischen Waggons und stellte den Kragen seines Mantels hoch. Pfarrer Webern schlug mit den Armen um seinen Körper; er fror, denn der dünne Mantel war alles, was er gegen die eisige Kälte und den Steppenwind trug. Seinen Lammfellmantel hatte er abgegeben… in ihn hatte man einen Verwundeten eingewickelt, der halbnackt aus einem Schlitten ausgeladen worden war. Er hatte die halbe Brust durch Minensplitter zerfetzt, auf dem Hauptverbandplatz mußte man ihm die Uniform vom Körper schneiden, hatte ihn operiert, so gut es ging, verbunden, in eine Decke gehüllt und auf den Schlitten gelegt zur Weiterfahrt nach Gumrak. Dort kam er halb erfroren an und war einer der glücklich Unglücklichen, die einen Fahrschein zum Flug in das Leben um den Hals gebunden bekamen.
«Sie sagen das so merkwürdig, Doktor?«Pfarrer Webern blies in seine vereisten Handschuhe.»Bitte, sagen Sie mir jetzt nicht, was ich schon tausendmal gehört habe und jeden Tag hundertmal immer wieder höre: Wo ist Gott? Warum läßt er Stalingrad zu? Warum verhindert er Kriege nicht? Das werde ich immer wieder gefragt, und immer wieder muß ich antworten: Daß es Kriege gibt und die Menschen sich hassen, ist ihre Abkehr von Gott. Wir sind geschaffen, einander zu lieben… daß wir uns totschlagen, ist das Erbe von Kain und Abel… Und daß wir denen gehorchen, die Mord predigen und nicht Frieden, ist ein Geheimnis der menschlichen Seele, das wir nie ergründen werden. «Pfarrer Webern sah Dr. Körner fragend an.»Verstehen Sie mich, Doktor?«
«Nicht mehr, Herr Pfarrer. «Körners Stimme war heiser und gepreßt. Er zeigte auf die Reihe der Güterwaggons, die überquollen von Verwundeten.»Was haben diese armen Kerle da getan? Hat man sie gefragt, ob sie nach Stalingrad wollten? Hat man sie überhaupt je gefragt?«
Pfarrer Webern schwieg. Mit beiden Händen umklammerte er das kleine Kreuz, das ihm vor der Brust hing und mit verharschtem Schnee überkrustet war.
«Gott segne Sie, Doktor«, sagte er leise. Aber der Wind riß ihm die Worte vom Mund und zerfetzte sie mit Heulen.