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«Mitkommen!«sagte der Partisan, der Wallritz im Wald gefunden hatte.»Steh auf… komm…«
Mühsam erhob sich Wallritz. Ein paarmal glitt er auf dem verfaulten, glitschigen Kohl aus, kroch aus der Erdhöhle und blieb auf den Knien liegen. Um ihn herum standen einige finster blik-kende Russen, es war heller Tag, das Geisterdorf schien verlassen zu sein bis auf die paar Männer, die vor ihm standen. In der Ferne grollte Artilleriefeuer wie ein abziehendes Gewitter.
Wallritz richtete sich auf.»Macht… macht es schnell«, sagte er heiser. Dann schloß er die Augen und dachte an das, woran er in den vergangenen Stunden immer nur gedacht hatte. Mutter… Mutter… Mutter…
«Komm mit«, sagte der bärtige Mann wieder. Er stieß Wallritz in den Rücken und trieb ihn mit neuen Stößen vor sich her. Er stolperte mit leeren, aufgerissenen Augen über Erdhügel (unter denen die Höhlen lagen), durch knietiefen Neuschnee, an Blockhütten vorbei und in eine dieser Hütten hinein. Hitze aus einem Eisenofen schlug ihm wie eine Faust entgegen. Sie wollen mich foltern, dachte er. Sie wollen mich mit glühenden Eisen brennen, sie wollen mich schreien hören, schreien…
Einen Augenblick versuchte er eine schwache Gegenwehr. Er blieb stehen, stemmte die Füße gegen den Boden, aber ein neuer Stoß trieb ihn in den überhitzten Raum. Dort saß an einem Tisch Major Babkow und rauchte.
«Erschießt mich doch!«brüllte Wallritz.»Aber nicht das! Nicht das!«
Major Babkow sah den bärtigen Mann hinter Wallritz an.»Du hast ihm nichts gesagt, Juri Stepanowitsch?«
«Nein, Genosse Major. Ich dachte — «
«Schon gut. «Babkow winkte Wallritz, näher zu kommen. Er lächelte breit und nickte einem jüngeren Russen zu, der am Fenster stand, die Arme über der Brust verschränkt.»Das ist Leutnant Perwuchin. Er kann deitsch sähr gutt. Er wird erklären…«
«Sie hassen den Krieg, hat man mir gesagt?«Leutnant Perwuchin sprach fast akzentfrei. Er stieß sich von der Wand ab und trat an den Tisch heran. Sigbart riß die Augen auf. Die Angst lähmte ihm die Zunge.
«Sie sind desertiert, nicht wahr?«
«Ja.«
«Sie wollen nach Hause?«
«Sie werden nach Hause kommen.«
Wallritz war es, als zöge man ihn durch eisiges Wasser. Er schwankte und hielt sich an der Tischkante fest. Dann brach er in die Knie und schlug die Hände vor das Gesicht. Babkow, der winken wollte, wurde von Perwuchin daran gehindert. Der Leutnant kam um den Tisch herum und half eigenhändig, Wallritz aufzurichten.
«Erschießt mich doch«, weinte Wallritz.»Warum quält ihr mich denn?«
Perwuchin schob ihm einen Hocker unter und drückte ihn auf den Sitz. Er hielt Wallritz sogar eine Schachtel Zigaretten unter die Augen. Wallritz schüttelte den Kopf.
«Sie haben Angst, ich weiß. «Die Stimme Perwuchins hatte einen begütigenden Klang.»Man erzählt so viel Unwahres von uns bei Ihren Soldaten. Aber wir sind auch Soldaten wie Sie! Auch wenn wir die Uniform abgelegt haben, um besser kämpfen zu können. Wir werden Sie gut behandeln, Sie werden bald in ein Lager kommen mit warmen Häusern, Betten und guter Kleidung, und wenn es sich zeigt, daß Sie wirklich ein Gegner Hitlers und des Krieges sind, wird man Sie vielleicht sogar nach Moskau bringen, auf die Antifaschule, unter Obhut der deutschen Genossen Ulbricht und Weinert. Wissen Sie, daß Ulbricht und Weinert an der Stalingradfront sind und täglich zu Ihren Kameraden sprechen?«
«Nein«, stammelte Wallritz. Er begriff das alles nicht. Er hörte Worte, ohne sie zu verstehen. Er erkannte nur eins: Er sollte weiterleben. Er wurde nicht erschossen, nicht gefoltert, nicht stückweise zerrissen. Er durfte leben!
Leutnant Perwuchin steckte sich eine neue Zigarette an.»Allerdings müssen Sie uns erst beweisen, daß Sie ein Gegner Ihres Regimes sind«, sagte er dabei.»Wir werden Sie genau beobachten und etwas von Ihnen verlangen.«
«Was… was soll ich tun?«stammelte Wallritz.
Leben, dachte er dabei. Leben. Ich werde Mutter wiedersehen.
«Wir wissen aus aufgefangenen Funksprüchen, daß morgen nacht von Morosowski ein großer Nachschubtransport zum 48. Panzerkorps nach Nishne Tschirskaja unterwegs ist und durch unser Gebiet rollt. «Perwuchin schnippte die Asche von seiner Zigarette.»Sie werden an der Weggabelung stehen und die Kolonne statt nach Tschirskaja zu uns in den Wald leiten…«
Wallritz nickte. Ich werde leben, dachte er. Ich werde leben.
«Sie bekommen dazu die Uniform eines Oberfeldwebels der Feldgendarmerie. «Perwuchin grinste freundlich.»Wir haben alle Uniformen, die wir brauchen. «Wallritz zog die Schultern hoch. Er begriff, was hinter diesen Worten stand.»Wenn dieses Unternehmen glückt, werden wir Sie weiterreichen zur Armee. Sie werden nach dem Krieg Ihre Heimat wiedersehen…«
«Ich werde alles tun… alles«, stotterte Wallritz. Perwuchin nickte. Juri Stepanowitsch, der Bärtige, drehte Wallritz an der Schulter herum und führte ihn aus dem Zimmer.
«Ein Glück hast du, Freundchen«, sagte er auf russisch.»Als wenn ich es geahnt hätte, als ich dich sah…«
Am Abend wurde Wallritz eingekleidet. Die Uniform war etwas zu weit, aber wer achtet schon darauf. Das Wichtigste war das blankgeputzte Brustschild der Feldgendarmerie, das Abzeichen, das selbst Generale respektierten, weil hinter ihm die Macht einer gnadenlosen Gerichtsbarkeit stand.
Um Mitternacht stand er neben einem Motorrad an der Straßengabelung und wartete auf die deutsche Nachschubkolonne. Hinter ihm, im Dickicht des Waldes, lagen in tiefer Staffelung 2000 Partisanen mit Maschinengewehren, Granatwerfern, Flammenwerfern und kleinen, wendigen Panzerkanonen. Sie säumten eine Straße, die im Nichts, im dichten Wald endete. Eine Riesenfalle, aus der es kein Entrinnen gab.
Sigbart Wallritz fror. Er stampfte durch den Schnee hin und her, lauschte in die Ferne nach Motorengeräusch und setzte sich dann wieder auf den Sattel seines Motorrades, um auf den Nachschubtransport zu warten.
Jetzt hatte er Zeit, über alles nachzudenken, und er dachte mit sich Zusammenkrampfendem Herzen: Gleich werden sie kommen. Wagen an Wagen. Mit Munition, mit Verpflegung, mit Lazarettbedarf, mit Feldpost, mit Wasche, Uniformen, warmen Mänteln, Handschuhen, Filzstiefeln. Wagen an Wagen, auf die einige tausend deutscher Soldaten draußen in der Steppe warten. Bei dreißig Grad Kälte, im Freien liegend, an die Panzer und Fahrzeuge gedrückt, verwundet, mit durchgebluteten Verbänden, hungernd und bis zum Umfallen erschöpft. Und hier stehe ich, an einer Weggabelung, und werde diese Wagen ableiten in die Vernichtung. Und sie alle werden sterben… die Fahrer und Begleiter, die Offiziere und Sonderführer, die Melder und Funker, die Ersatztruppen und die Neulinge an der Front. Und sie alle haben eine Mutter, einen Vater, eine Frau, eine Braut, Kinder… ein einziger Mann wird sie zu Witwen und Waisen machen… der ehemalige Freiwillige Sigbart Wallritz, der hier an der Kreuzung steht und sagen wird:»Die Straße ist gesperrt. Umleitung über diesen Weg…«
Ein Weg in das Namenlose, denn niemand wird von dieser Kolonne etwas sehen noch wiederfinden. Es wird eine Truppe sein, die einfach verschwand. Aufgesaugt vom unersättlichen Schwamm des Krieges.
Von weitem hörte er jetzt das Knattern von Motoren. Sigbart Wallritz sah sich um. Er schien allein, aber er wußte, daß 2000 Russen hinter ihm lagen, zehn Meter von ihm entfernt die erste Truppe, mit Major Babkow an der Spitze, zweihundert Scharfschützen, die den Riegel vor die Falle legen sollten.
Zwei Kradmelder und ein Kübelwagen krochen durch die Nacht heran. Wallritz trat in die Mitte der Gabelung und hob seine rote Kelle.»Halt! Feldgendarmerie. «Sein Arm zitterte dabei.»Zurück!«wollte er schreien.»Jungs, kehrt um! Zurück!«Aber er schwieg. Er hielt die Kelle hoch und wurde vom Schnee überschüttet, den die bremsenden Räder vor ihm aufwühlten.
«Was ist?«brüllte eine helle Stimme.»Was stehen Sie Flöte hier im Weg?«Aus dem Kübelwagen sprang ein Offizier. Es war ein Oberstleutnant. Der Schein einer Taschenlampe zuckte schnell über Wallritz, das blanke Schild vor der Brust gleißte auf.
«Natürlich!«schrie der Oberstleutnant.»Überall sind die Kettenhunde! Was gibt es denn?«
«Die Straße ist gesperrt. «Wallritz hatte Mühe, es zu sagen. Er sprach so leise, daß ihn der Offizier nicht verstand.
«Was ist los? Mann, reden Sie lauter! Ich will mir hier nicht den Arsch abfrieren!«
«Die… die Straße ist gesperrt«, sagte Wallritz lauter.»Partisanen! Sie haben eine Brücke gesprengt. Ich habe den Befehl, Sie über den Seitenweg umzuleiten…«
Hinter dem Offizier stauten sich die Wagen. Motorengeheul erfüllte die Nacht. Der Oberstleutnant sah die Straße hinunter.
«Es ist zum Kotzen!«schrie er.»Wie lang ist der Umweg?«
«Ungefähr zwei Stunden…«
«Na, das geht ja noch!«Er sah zurück und winkte. Die beiden Kradmelder schwenkten in den Waldweg ein; die ersten Verlorenen, dachte Wallritz und schloß einen Moment die Augen. Als er sie wieder aufriß, war der Offizier schon bei seinem Kübelwagen. Wallritz trat zurück… an ihm vorbei fuhren die Wagen,
fraugrüne ratternde Lastwagen aller Modelle, voll beladen mit le-enswichtigen Nachschub des 48. Panzerkorps.
Er zählte, was an ihm vorbeifuhr. Siebenundvierzig Wagen, zwanzig Kräder und als Nachhut zwei Schützenpanzer. Langsam ratterten sie in den Waldweg, vorsichtig, als ahnten sie etwas. Als der letzte Schützenpanzer von der Gabelung abfuhr, schnappte die Falle zu. Von den Seiten rannten ein paar dunkle Gestalten auf den Weg, in den Händen kreisrunde Gebilde. Sie legten sie in den Schnee, in die Reifenspuren, in die Kettenabdrücke. Vier Reihen hintereinander. Ein unüberwindlicher Todesgürtel aus Tellerminen.
Aus dem Wald heraus fauchte eine einzelne Leuchtkugel, zog eine Parabelbahn und verlöschte wieder. Im gleichen Augenblick schrie der Wald auf. Aus Hunderten von Maschinengewehren und Granatwerfern jagte der Tod in die völlig verwirrte Kolonne. Es gab kein Ausbrechen mehr, kein Zurück, kein Vorwärts. Vier Munitionswagen explodierten, in einem grausamen Feuerwerk jagte die Leuchtspurmunition in den Himmel.
Sigbart Wallritz stand noch immer auf der Kreuzung, starr, mit weitaufgerissenen Augen. Er sah, wie eine Gruppe deutscher Soldaten auf die Gabelung zuhetzte, in wilder Angst um das nackte Leben rennend. Sie sprangen hinein in den ersten Minengürtel und wurden in einer riesigen Explosionswolke zerfetzt. Der Luftdruck warf Wallritz von der Straße an den Waldrand. Er raffte sich auf, kroch auf allen vieren weiter, die Straße entlang, die die Kolonne hergekommen war, die Straße, die in die Freiheit führte. Dann, nach einigen Metern rannte er, den Oberkörper nach vorn, mit schlenkernden Armen, als könne er sich damit durch die eisige Luft schneller vorwärtsrudern. Die Hölle hinter ihm krachte noch immer, er hörte das >Urrräaä< der angreifenden Russen und spürte das Grauen bis in die Knochen.
Und plötzlich blieb er stehen. Er wollte es nicht, aber er konnte die Füße nicht mehr bewegen. Ein Faustschlag hatte seinen Rücken getroffen und lähmte seine Beine. Noch einmal schlug eine Faust zu, zwischen die Schultern. Ein heißer Stich jagte ihm zum Herzen… er fiel auf das Gesicht in den Schnee, krallte die Finger in das Eis der Straße und schrie… schrie… Sein Körper zuckte wie unter elektrischen Schlägen, er biß in das Eis, und bevor das Gehirn versagte, fühlte und sah er noch, wie ein Blutschwall aus seinem Mund stürzte und sein Kopf in einer roten Lache schwamm. Dann starb er, auf der Straße, die zum Leben führte.
Aus dem Wald trat Leutnant Perwuchin und beugte sich über den Toten. Dann steckte er seine Pistole ein und zündete sich eine Zigarette an.
Auf dem Waldweg starben in dieser Stunde dreihundertzweiundneunzig deutsche Soldaten. Niemand kam mehr aus der Falle zurück.
In den Kellern unter dem Kino hatte sich das Feldlazarett III häuslich eingerichtet. Knösel hatte die Lage bereits gepeilt: Sie befanden sich vierhundertzwanzig Meter von seinem >Eisschrank< entfernt. Das hört sich viel an, aber für Knösel bedeutete es in unmittelbarer Nähe von Sattwerden zu leben.
Einige Kommandeure der umliegenden Truppen besuchten Stabsarzt Dr. Portner. Sie brachten Schnaps mit und die Bitte, den Sanitätern der Truppe Verbandmaterial und schmerzstillende Tabletten oder Spritzen zu geben. Dr. Portner mußte sie alle vertrösten.»Wenn in zwei Wochen nicht durch die Luftversorgung Ersatz abgeworfen wird, weiß ich selbst nicht mehr, womit ich die Verwundeten versorgen soll«, sagte er.»Geben Sie das per Funk an die Division durch. «Die Kommandeure verabschiedeten sich höflich und gingen.»Er ist ein genauso armes Schwein wie wir«, sagten sie draußen auf dem kreisrunden Platz, ehe sie sich trennten.»Ich möchte wissen, wie die Armee sich das denkt. So kann es doch nicht weitergehen.«
Aber es ging weiter. Obwohl im Norden die 8. italienische Armee vernichtend geschlagen wurde und panikartig zurückflüchtete und im Süden der Entlastungsversuch der Armeegruppen Hollith und Hoth im Feuer sowjetischer Panzer- und GardeArmeen steckenblieb und zurückgedrängt wurde, obwohl Tag für Tag und Nacht für Nacht ein Vorhang aus brüllender Glut über der Stadt Stalingrad hing und durch die deutsche Luftflotte statt der nötigen fünfhundert Tonnen Versorgung täglich nur hundert Tonnen in den Kessel gelangten und an manchen Tagen überhaupt nichts, brachte der Großdeutsche Rundfunk markige Worte Görings und Goebbels' und wurden vorweihnachtliche Konzerte gesendet, die in den Kellern und Bunkern von Stalingrad, in den Steppendörfern des Kessels und den Sterbehöhlen von Pitomnik und Gumrak mit sprachloser Verwunderung empfangen wurden.
Man rüstete sich für Weihnachten. Für das Fest der Liebe und des Friedens, in einer Welt, die Tag für Tag das sinnlose Sterben Hunderter sah und für die der Begriff des Gottes der Liebe immer unverständlicher wurde.
Die Lebensmittelversorgung der eingeschlossenen Truppen brach in den Tagen vor Weihnachten zusammen. Die Brotration wurde auf hundert Gramm festgesetzt, aber auch dies stand nur auf dem Papier, denn es gab Tausende, die ihren letzten Brotkanten schon vor Tagen gegessen und von da ab von Brot nichts mehr gesehen hatten. Es kam die Zeit, in der man Puddingsuppen aus Fußpuder kochte und einen nach Leim schmeckenden Brei aus Sägespänen, Stroh und Steppengras.
In den Kellern unter dem Kino lagen jetzt weniger Verwundete und mehr Fleckfieberkranke, Verhungerte und Erschöpfte. Es war unmöglich, die wertvollen Plätze in den Kellern von ihnen freizuhalten. Sie kamen in Gruppen, überrannten die Sanitäter, drängten in die Tiefe, wo ihnen Wärme entgegenschlug. Ruhe, das Gefühl von Geborgenheit, Wasser, Essen, und sie warfen sich hin, blieben liegen, versperrten Gänge und Treppen mit ihren Leibern und starben lautlos oder unter wimmerndem Schreien.
Stabsarzt Dr. Portner wurde in diesen Tagen vor ein medizinisches Rätsel gestellt. Vor ihm starben Männer ohne den geringsten Anlaß. Tote wurden ihm gebracht, die im MG-Loch einfach umgesunken waren, die beim Graben umkippten, die im Bunker beim Kartenspiel vom Sitzbrett fielen oder beim Schreiben eines Briefes zusammensanken. Es war ein lautloser Tod, ein Sterben in Samtschuhen.
Von verschiedenen Truppenteilen wurden sie ihm in den Kinokeller gebracht; weil ihr Tod so merkwürdig war, warf man sie nicht einfach in ein Granatloch und schüttete es zu, sondern nahm die Mühsal auf sich, sie durch das Feuer der Kampflinie zum Lazarett zu tragen.
«Verstehen Sie das, Körner?«fragte Dr. Portner. Auf dem Operationstisch — einem mit Wachstuch überzogenen Küchentisch — lag die nackte Gestalt eines dieser Toten. Ein knochiger Körper, ein junges, aber im Schrecken der Schlacht vergreistes Gesicht. Auch dieser Mann war einfach umgefallen und gestorben. Er sah nicht verhungert aus, er zeigte keine Anzeichen von Vergiftung, er war — wie die Männer, die ihn brachten, berichteten — nicht so erschöpft gewesen, daß er an Herzschwäche sterben konnte. Er hatte sogar gelacht, hatte einen Witz gemacht, sich gegen den Grabenrand gelehnt und war plötzlich tot.
«Wir müssen das dem Korps melden«, sagte Dr. Portner.»Vielleicht haben andere Kollegen die gleichen Beobachtungen gemacht.«
Dr. Körner gab die Meldung durch das Feldtelefon nach Pitomnik weiter. Von dort antwortete ihm ein Oberarzt. Professor Abendroth war ausgeflogen worden. Er rang im Hauptquartier der Heeresgruppe um Medikamente und Verbandmaterial und erfuhr dort zu seinem sprachlosen Erstaunen, daß davon mehr als genug im Kessel sei. Man legte ihm Listen vor, die genau Aufschluß gaben. Nach diesen Transportunterlagen hatte die 6. Armee eine reichliche Sanitätsausrüstung.
«Aber an der Front ist nichts! Absolut nichts!«schrie Professor Abendroth hochrot vor Erregung. Man hob die Schultern, sah ihn hilflos an und schwieg.
Der Oberarzt notierte sich die Meldung des Feldlazaretts III in Stalingrad.»Sehr interessant«, sagte er.»Bitte reichen Sie einen genauen schriftlichen Bericht ein. Mir liegen ähnliche Beobachtungen von verschiedenen Stellen vor. Ich werde es weiterleiten zum Oberbefehlshaber. Irgend etwas stimmt da nicht… da haben Sie recht. Ich danke Ihnen. Ende.«
Die Rückkehr Iwan Iwanowitsch Kaljonins zu seiner Truppe im >Tennisschläger< war eine helle Freude. Ein Melder erschien, schrie nach dem Major und berichtete, Kaljonin, der Tote, sei wieder da. Das hörte auch Vera Kaijonina, ließ eine Spritze fallen, stieß einen Jubelruf aus und stürzte auf den Rotarmisten zu.
«Wo ist er, Genosse, wo? Sag es doch! Brüderchen, wo ist er? Ist er gesund? Hat er etwas abbekommen..?«
«Ein bißchen blaß ist er, Genossin. Aber sonst ist er ganz da…«Der Soldat grinste. Kubowski nickte der Pannarewskaja zu.
«Bis nachher, Olgaschka…«
«Du kannst mitgehen«, sagte die Ärztin zu Vera Kaijonina.»Für eine Stunde…«
Sie rannten aus dem Keller, krochen ein Stück über ein Trümmerfeld, das von einer deutschen Pakbatterie eingesehen wurde, und kamen atemlos im Befehlsstand des Majors an. Kaljonin saß am Tisch, aß ein Brot mit Schmalz, trank heißen Tee und zwischendurch ein Gläschen Wodka.
«Wanja!«schrie Vera, als sie in den Bunker stürzte.»Mein Wanja!«Sie fielen sich in die Arme, herzten und küßten sich, und erst dann nahm Kaljonin stramme Haltung an und meldete sich bei seinem Kommandeur zurück.
«Mladschij Sergeant Kaljonin zurück. Auftrag erfüllt. Deutsche Batterie vernichtet. War einige Tage in einem Keller verschüttet.«
«Und wer hat dich 'rausgeholt?«fragte Kubowski.
«Ein deutscher Soldat.«
«Und wo ist der deutsche Soldat?«
Kaljonin sah seinen Major dumm an.»Weg! Zu seinen Leuten.«
«Hat man so etwas schon gehört!«Kubowski sah Kaljonin böse an.»Fängt einen deutschen Soldaten und nimmt ihn nicht mit!«
«Er hat mich vom Tod errettet, Genosse Major!«
«Dann hättest du dankbar sein und ihn mitbringen müssen! Jetzt wird er sterben!«
«Er wollte nicht. Und er weiß, daß er sterben muß…«
Major Kubowski schlug mit der Faust auf den Tisch, das Telefon tanzte klirrend.»Das ist es ja, das Schreckliche bei diesen Deutschen. Alle wollen sie Helden sein, und am Ende sind sie verratene Idioten! Daß sie es nicht begreifen! Warum kämpfen sie noch in Stalingrad? Warum retten sie sich nicht?«
Und da sagte Kaljonin etwas, was er in seinen weltanschaulichen Schulungen nicht gehört hatte.»Würden Sie sich retten, Genosse Major? Sie haben es nicht getan, als die Deutschen uns umzingelt hatten und wir allein standen, dreiundvierzig Mann, in einem Silo… Wissen Sie es noch, Genosse Major?«
Kubowski wußte es, und er verstand seinen Sergeanten. Soldaten haben wirklich ein merkwürdiges Gehirn, dachte er. Es hat auswechselbare Drähte. Sonst denkt es normal, aber sobald man eine Uniform anhat, gibt es andere Kontakte. Dann denkt und tut man etwas, woran man früher nie gedacht hat. Überall ist es so, bei uns und bei den Deutschen und sicherlich auch bei den Chinesen. Ein Soldat ist ein besonderer Mensch. Gott sei’s geklagt!
Die Tage in dem nassen Grab hatten Kaljonin doch mehr zugesetzt, als er wahrhaben wollte. Kubowski erkannte es an dem Flattern seiner Hände und dem Zucken um die Augen. Die Nerven, dachte er. Man kann’s verstehen! Lebendig begraben sein, das zerreißt die Seele.
«Lassen Sie sich untersuchen, Iwan Iwanowitsch«, sagte Kubowski zu Kaljonin.»Vera wird Sie zum Lazarett fuhren. Ich werde mich morgen nach Ihnen erkundigen.«
Ein Grund, wieder zu Olgaschka zu kommen, dachte er zufrieden. Es ist doch merkwürdig mit der menschlichen Seele. Da liegen wir in den Trümmern und haben den Tod über uns, wir krallen uns in der Erde fest, wir bluten und sterben… aber dann ist da eine stille Minute, ein Atemzug Ruhe, und was tun wir? Wir lieben! Wir lieben inmitten von Leichen. Und wir sind glücklich trotz der Schrecken.
Im Lazarett, das sie mit Mühe erreichten, weil Kaljonin plötzlich zusammenfiel, in den Trümmern liegenblieb, mit offenem Mund japsend in den Himmel starrte und stöhnte:»Ich bin wie gelähmt, Täubchen. Ich kann nicht mehr laufen… ich bin gelähmt…«, aber dann doch weiterkroch, weil ihn Vera mit übermenschlicher Kraft hinter sich herzog, legte ihn die Pannarewskaja gleich auf eine Strohmatratze, über der sogar eine Decke lag und am Kopfende ein weiches Kissen. Auch ein Spiegel hing an der Wand, ein Waschbecken aus Marmor in einem eisernen Ständer… es war direkt ein freundliches Zimmer, in das sie Kaljonin führte. Vera Kaijonina blieb an der Tür stehen.
«Das ist doch Ihr Zimmer, Genossin Oberleutnant«, sagte sie unsicher.
«Natürlich. «Die Pannarewskaja lächelte sacht.»Der Major hat mir erzählt von eurer Hochzeit. Soviel ich weiß, hattet ihr nie Zeit füreinander…«
Kaljonin wurde rot wie ein kleiner Junge. Auch Vera senkte den Kopf. Sie antworteten nicht, und es war auch nicht nötig, denn die Pannarewskaja hatte das Zimmer verlassen und die Tür verschlossen. Iwan Iwanowitsch atmete tief auf.
«Welch eine Frau«, sagte er leise und schüchtern.»Schließt uns einfach ein… Und ein richtiges Bett ist da. «Er legte sich auf die Matratze, dehnte sich, schloß die Augen und breitete die Arme aus. Ober ihm wummten die Einschläge der deutschen Granaten, Wände und Boden zitterten, aber das störte ihn nicht. Er kam in eine glückliche Stimmung und fühlte sich plötzlich stark und gesund.»Komm, Veraschka«, sagte er leise und zärtlich.»Komm zu mir… es ist eine breite, weiche Matratze…«
Später lagen sie Brust an Brust und sahen sich in die glänzenden Augen und die verschwitzten, geröteten Gesichter.
«Bald ist Weihnachten, Veraschka«, sagte Iwan Iwanowitsch mit glückschwerer Stimme.
«Ich wünsche mir einen Sohn«, sagte sie leise und küßte ihn.»Einen Sohn, der einmal so wird wie du.«
«Oder ein Mädchen, so schön wie du, Veraschka…«
«Und Frieden, Wanja.«»Frieden…«
Sie sahen zur Decke. Staub rieselte auf sie herunter. Es donnerte und bebte. Die Tür wurde aufgestoßen. Olga Pannarewskaja stand im Zimmer. Sie sah blutverschmiert aus, an ihrer langen Gummischürze hingen Knochenstückchen und Gehirn. Vera fuhr von dem Bett hoch und strich ihren Rock herunter.
«Es tut mir leid«, sagte die Arztin.»Sie können liegenbleiben, Iwan Iwanowitsch. Aber Vera brauche ich. Die Keller sind voll mit Verwundeten, und sie müssen verbunden werden, ehe wir sie in der Nacht zur Wolga bringen lassen.«
Zwischen stöhnenden Körpern arbeiteten Sukow und drei andere Ärzte. Und auch Major Kubowski war wieder da. Mit einem Schulterschuß. Es war nur eine Fleischwunde, die Sukow kritisch betrachtete und von der er sich zu der unkameradschaftlichen Bemerkung hinreißen ließ:»Der kam Ihnen wohl sehr willkommen, Genosse Major? Er sitzt so goldrichtig dort, wo er absolut keinen Schaden anrichten kann…«
«Glauben Sie, ich lenke die Kugeln mit Magneten?«fauchte Kubowski. Sukow sah den Major verblüfft an.
«Das ist eine Idee! Sie sollten sie dem Obersten Sowjet zur Patentierung vorschlagen!«
«Ein blöder Mensch!«stöhnte Kubowski, als die Pannarewskaja an ihm vorbeikam.»Und so etwas ist Arzt! Man könnte an der Wissenschaft zweifeln, wenn es dich nicht gäbe.«
Um die Zeit etwa, als Knösel neunhundert Meter weiter westlich in einer Kellerecke hockte und einen Weihnachtsbaum aus brand-
Geschwärzten Dachlatten zimmerte, ihn mit getrocknetem Gras ehängte und >Schneebällen< aus alten Bindenresten, die er zu Kugeln rollte und verleimte, um die Zeit, als Dr. Körner und Pfarrer Webern zu den Sterbenden gingen, zu den Fiebernden, zu den Verfaulenden, um ihnen das Sterben zu erleichtern, hockte Kaljonin wieder in einem Grabenstück, geschützt durch einen dicken Wolfspelz, und starrte hinüber zu den deutschen Bunkern und hinauf in den grauen Himmel.
Hier, allein auf Posten, durfte er sich erinnern, wie es in seiner Kindheit gewesen war… an Weihnachten. Über die Wolga heulte von der Steppe aus Kasachstan her der Eiswind, aber im Ikonenwinkel brannten die Kerzen, und die Mutter sang mit zittriger Stimme die alten Weihnachtslieder. Im Ofen, in der Backröhre, garte ein Kuchen, ein herrlicher Kuchen aus weißem Mehl und gerösteten Sonnenblumenkernen. Papuschka als Herr des Hauses schnitt ihn an und nahm das erste Stück; es roch so feierlich aus dem dampfenden Laib. Es war Weihnachten…
Kaljonin stützte den Kopf in die Hände. Seitlich von ihm schepperte ein Panzer durch die Straßen. Ein kleiner Trupp Rotarmisten marschierte hinterdrein. Ablösungen, aus Sibirien herangeführt und über das Eis der Wolga gesetzt. Von allen Seiten kamen jetzt Truppen heran, um die Deutschen endlich zu zerdrücken.
Weihnachten! Friede auf Erden…
Iwan Iwanowitsch Kaljonin seufzte laut. Man hörte es ja nicht…