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Aus Belgrad war eine kleine Studienkommission nach Zabari gekommen. Es waren drei Herren vom Staatlichen Geologischen Institut. Sie hatten die Aufgabe festzustellen, ob wirklich in dem großen Felsen über dem Dorf ein See eingeschlossen sei.
Hauptmann Vrana hatte neben dem Austritt des Wassers eine Gruppe Soldaten stationiert. In Zelten wohnten sie am Waldrand und bewachten Tag und Nacht die Umgebung des geheimnisvollen Baches. Niemand durfte sich dem Felsen nähern - in seiner rigorosen Art hatte Vrana befohlen, auf jeden zu schießen, der sich in der Umgebung der >Quelle< - wie er den Wasseraustritt nannte - bewegte. Nur Jossip machte eine Ausnahme ... er mußte seine Herde in den Bergen hüten und konnte ungehindert in seinem Gebiet umherstreichen.
»Jossip ist ein guter Trottel«, sagte Vrana zu seinen Unteroffizieren. »Er kann jederzeit passieren. Aber bei jedem anderen dreimal Halt rufen und dann sofort schießen. Befehl aus Belgrad!«
So sah Jossip aus der Nähe, wie die drei Geologen aus Belgrad Gesteinsproben entnahmen, wie sie den Berg vermaßen und in den Felsen herumkletterten, um irgendwo einen Eingang zu dem unterirdischen See zu finden.
Sie suchten vergebens, denn Jossip hatte die Felsspalte, die in den Berg führte, mit dicken Steinen geschlossen. Sie sah genau so zerklüftet aus wie alle anderen Felspartien, und keiner ahnte, daß hinter ihr sich ein gewaltiges Reich der Natur öffnete, das bisher nur eines Menschen Fuß betreten hatte. Ein Mensch, der sein Geheimnis verteidigte, um schreckliche Rache an den Menschen zu nehmen.
Daß Rosa - ohne es zu wissen - den See, seinen See, an Meer-holdt verraten hatte, erschütterte Jossip mehr als alles andere. Die Geologen konnte er irreführen, auch Meerholdt suchte vergebens einen Zugang. Rosa konnte er nicht betrügen. Sie war ein Kind der Berge, sie würde die Spalte finden und mit ihr das letzte, schreck-
liche Mittel seiner Rache an Meerholdt.
Jossip wußte, daß ihm nur wenig Zeit blieb, sein Dorfzu vernichten. Schon hatte man aus Belgrad Spezialbohrgeräte angefordert . große Lastwagen brachten stählerne Gerüste, die man am Fuße des Felsens aufbaute, Ölbohrtürmen gleich. Eine starke elektrische Leitung und ein dickes Rohr wurden vom Tal aus den Hang hinaufgelegt, ein Überlaufbecken aus Beton wurde gemauert, eine Baracke entstand am Waldrand.
Die Technik kam in sein Reich!
Jossip stand bei den Arbeitern, als sich die ersten Bohrer in das Gestein fraßen. Knirschend, durch fließendes Wasser gekühlt, drangen die armdicken Stahlstangen in das Innere des Berges vor.
Jossip lächelte. Sie bohrten an der falschen Stelle. Der See lag seitlicher, mehr zum Steilhang hin . hier trennte ihn nur eine dünne Wand. Wenn man den Steilhang aufsprengte, würde der See mit einem einzigen Schrei ins Tal auf Zabari stürzen ... hier, wo sie bohrten, fraß sich das Metall tief in den Felsen hinein, unter dem See hindurch. Hier war nur Stein, jahrmillionenalter Stein.
»Geh weg, du Affe!« schrie einer der Arbeiter. Er hockte auf dem Bohrturm, schwitzend und mit Fett beschmiert, und setzte mit drei anderen Arbeitern die Bohrverlängerungen an.
»Wieviel Meter?« fragte Meerholdt. Er hatte eine Zeichnung in der Hand, die nach den Vermessungen der Geologen angefertigt war.
»Sechzehn Meter.« Der Geologe zuckte mit den Schultern. »Noch immer Gestein. Ich rechne mit mindestens vierzig Meter Wanddicke.«
Jossip nahm seinen Lammfellmantel und ging den Bergpfad hinauf, vorbei an den Soldaten und Hauptmann Vrana, der in der Sonne lag und sich bräunen ließ.
»Was sucht ihr hier?« fragte er. Die Soldaten lachten.
»Einen dicken Stock, um dir den Arsch zu verhauen!«
Selbst Hauptmann Vrana lachte, als Jossip beleidigt weiterging.
Ich habe wenig Zeit, dachte Jossip bei jedem Schritt. Morgen bohren sie woanders . dann um den Berg herum . einmal werden sie an den Steilhang kommen und den See entdecken. Und Rosa wird ihnen helfen ... sie wird die Stelle finden, die in den Berg führt, sie wird sie wittern wie ein Wild, das sich die Höhlen sucht, um sich in ihnen vor der Kälte der Nacht zu verkriechen. Ich habe wirklich wenig Zeit.
An diesem Abend saß Jossip im Garten der Suhajas unter einem Strauch und wartete auf Rosa.
Er kaute an einem Stück Maisfladen und dachte an Elena Osik. Sie lebte seit einigen Tagen völlig allein in der verborgenen Hütte ... er hatte nie die Zeit gefunden, nach ihr zu sehen. Seitdem sie am Felsen bohrten, war es auch zu gefährlich geworden, denn wie leicht konnte ihn einer der Soldaten beobachten und den Weg zu dem versteckten Plateau finden.
Elena hatte genug zu essen. Auch Kleider hatte ihr Jossip besorgt, ihre eigenen Kleider. Er war in einer Nacht in die Baracke eingebrochen und hatte den Koffer geöffnet, der noch immer in der Ecke ihres Zimmers stand. Aus ihm nahm er alles mit, was nach seiner Ansicht für Elena wichtig war. Dann verschloß er den Koffer wieder und wartete tagelang darauf, daß man den Einbruch entdeckte. Aber niemand merkte es, keiner beachtete den Koffer mit den aufgebrochenen und nur notdürftig wieder zugedrückten Schlössern.
»Sie sind dumm, deine Freunde«, sagte er zu Elena, als er ihr die Sachen auf den Tisch warf. »Sie haben dich schon vergessen.«
Elena musterte die Sachen, die Jossip mitgebracht hatte. Zwei Kleider, Unterwäsche, Strümpfe, zwei Paar Schuhe, einen dünnen Sommermantel.
»Wo ist der Hüfthalter?« fragte sie.
»Was?« fragte Jossip erstaunt zurück.
»Womit soll ich meine Strümpfe festhalten?« sagte sie wütend. »Du bist doch ein Idiot!«
»Nimm zwei Nägel und nagele sie fest«, schrie Jossip. »Oder binde sie fest . wir haben Leinenband genug hier.«
Er aß aus einer aufgeschnittenen Büchse Corned-beef mit dem Messer das Fleisch und schnalzte mit der Zunge.
»Es schmeckt besser als Hammelbraten«, stellte er fest. »Aber das ändert nicht, daß ich dich töten werde.«
Elena zog sich um . als sie ihr Kleid wieder übergeworfen hatte, trat sie an den Tisch heran.
»Was soll das alles, Jossip?« sagte sie. »Wenn du mich töten wolltest, hättest du es längst getan. Statt dessen brichst du ein, holst meine Kleider, schleppst einen Sack Lebensmittel in die Berge und spielst hier nur mit dem Mund den wilden Mann. Was hast du vor?«
»Nichts«, antwortete Jossip langsam.
»Du hast eine Gemeinheit vor. Ich fühle es.«
»Dann frag' nicht.«
»Du willst Ralf unschädlich machen.«
»Ich will ihn vernichten!«
»Indem du mich hier versteckst?«
Er schüttelte den Kopf. »Das war falsch. Ich gebe es zu. Ich hatte einen anderen Plan ... aber er hat ihn mir zerstört. Er war stärker als ich! Du könntest jetzt frei sein, wenn du nicht wüßtest, wer ich bin! Ich habe jetzt eine stärkere Waffe gegen ihn. Eine Waffe, die mir Gott selbst gegeben hat!«
»Du spinnst, Jossip!« Elena setzte sich auf die Tischkante und zog Jossip die Büchse mit dem Fleisch fort. »Laß uns vernünftig sprechen, du Scheusal! Laß mich 'raus aus deiner dreckigen Hütte, und ich verspreche dir, niemandem zu sagen, daß du es warst! Ich werde sagen, es war ein Unbekannter, den ich nie gesehen habe!«
Jossip schüttelte den Kopf. Er wischte sich den fettigen Mund mit dem Ärmel seiner Jacke ab. »Das Wort einer Frau ist hohl wie ein alter Baum ... der erste Sturm wirft ihn um!« Er sah sie groß an. »Sie werden dich verhören, Tag und Nacht, und du wirst die Wahrheit sagen. Nein - du wirst frei sein, wenn ich Rache genommen habe. Dann wirst du das letzte, große Grauen erleben, ehe du zurück nach Zagreb gehst. Du wirst die Welt nicht wiedererkennen . du wirst um sie weinen.«
»Die Welt! Weißt du überhaupt, was die Welt ist, Jossip?«
Er nickte. »Meine Berge - sonst nichts. Was hinter und vor ihnen liegt, sind Länder, Meere und Völker, die mir so fremd sind wie die Sterne, so gleichgültig wie das Gesicht des Mondes! Sie gehen mich nichts an, und sie kümmern sich nicht um mich. Aber meine Berge, meine Weiden, meine Täler und Schluchten ... das ist eine Welt, die ich sehe, die ich kenne, die ich liebe, in der ich geboren bin und in der ich sterben werde! Und diese Welt werde ich vernichten.«
»Dann vernichtest du auch dich, Jossip!«
»Ich weiß. Aber es wird eine große Vernichtung werden. Eine herrliche Vernichtung. Es wird sich lohnen, mit ihr unterzugehen!« Seine Augen leuchteten auf... es war ein fast irres Feuer, das ihn er-griff.Er beugte sich über den Tisch vor und sah Elena ins Gesicht. Sein Mund war verzerrt. »Ich kann nicht leben ohne Rosa ... und Rosa wird mit vernichtet werden. Auch dein Ralf. die tausend Arbeiter . das ganze Dorf. das ganze Vieh . die Wälder, die Berge, die Tiere.« Er keuchte vor Erregung. »Ich werde nichts zurücklassen. Nichts!«
Elena erhob sich vom Tisch. »Du bist wirklich verrückt«, sagte sie stockend. Sein flackernder Blick erzeugte Angst in ihr.
Er schloß die Augen und lehnte sich zurück.
»Sie haben mich dazu gemacht.«, sagte er leise. »Sie wollten es nicht anders. Sie haben mir Rosa genommen.«
An dieses Gespräch dachte Jossip, als er im Garten der Suhajas saß und auf Rosa wartete. Als er sie kommen sah, erhob er sich und kam ihr entgegen. An den offenen Ställen für die Schafe trafen sie sich.
»Was willst du hier, Jossip?« fragte sie. Sie ging an ihm vorbei, aber er hielt sie am Ärmel fest.
»Ich muß dir etwas zeigen, Rosa. Ich habe in den Bergen etwas entdeckt, etwas Wunderbares, Rosa. Ein Märchenreich . ein Palast der Feen und Kobolde.«
Rosa drehte sich um. »Du träumst, Jossip.«
»Nein, nein, Rosa! Gestern nacht suchte ich ein Schaf. Es war ausgebrochen und irrte in den Felsen umher. Ich folgte ihm, und plötzlich stand ich vor einer Höhle. Es war, als habe sich der Felsen geöffnet, als habe eine Zauberhand den Berg geteilt. Zitternd stand das Schaf davor. Ich band es an und ging ganz langsam in die Höhle, Schritt für Schritt, mit den Händen mich an den Wänden vorwärts tastend. Und plötzlich öffnete sich der Gang zu einer weiten Halle, und es glitzerte in ihr wie von unzähligen Diamanten. Dicke Säulen wuchsen vom Boden an die Decke, und von der Decke hingen breite Falten glitzernden Gesteins. Ich hatte eine Fackel mit und ließ den Schein kreisen . da war es, als stünde ich in dem unterirdischen Palast eines Geisterkönigs: Die Decke war aus Diamanten, die Wände aus Kristall, und der Boden schimmerte wie Gold im Licht meiner Fackel. Und von weit her . ganz leise, aber deutlich zu hören, rauschte es im Berg, als stürzte ein silbernes Wasser über viele, viele Treppen.«
Rosa hatte mit staunenden Augen zugehört. Ihre Brust hob und senkte sich schneller, eine innere Erregung hatte sie erfaßt.
»Ein unterirdisches Wasser?« fragte sie leise. »Es rauschte in dem Felsen?«
»Und die Halle war wie voll Gold.« Er faßte wieder ihren Arm. »Komm, Rosa . ich will sie dir zeigen.«
»Es war wirklich Wasser?«
»Ich glaube es! Ein unterirdischer Fluß.«
Rosa erfüllte die Entdeckung Jossips mit Glück. Sie glaubte, es sei der unterirdische See, den Meerholdt seit Wochen suchte, nach dem sie seit Tagen bohrten und dessen kleinen Abfluß sie am Fuße des Felsens entdeckt hatte.
»Gehen wir sofort, Jossip!« sagte sie eifrig.
Er nickte. »Am besten steigen wir durch den Wald . ich will nicht, daß die Arbeiter am Berg uns sehen. Es soll ein Geheimnis bleiben, das nur du und ich kennen.«
Sie gingen durch die hereinbrechende Nacht aus dem hinteren Garten heraus und stiegen den steilen Felspfad empor, der um den Wald herumführte und dann durch diesen hindurch bis zu dem Berg, der über Zabari stand. Während des Aufstiegs sprachen sie nichts. Jos-sip ging voran ... Rosa folgte ihm. Im Wald ließ Jossip sie vorge-hen. Während sie sich zwischen den Stämmen und Büschen hindurchwand, beobachtete er ihren Körper, ihre flinken Beine, die Schultern, den Hals und den Kopf mit den langen, schwarzen Haaren. Ein heißes Rieseln durchströmte seinen Körper . er atmete schwer und spürte, wie sein Kopf brannte und das Blut in seinen Schläfen klopfte.
In einer Lichtung hielt Jossip Rosa am Arm fest. Seine Augen brannten vor Leidenschaft.
»Ruh dich ein wenig aus«, sagte er heiser. »Du bist müde von dem schnellen Laufen.«
Sie schüttelte den Kopf. »Aber nein, Jossip!« Sie lachte leise. »Wie oft bin ich durch den Wald gelaufen.«
Er setzte sich auf den Boden und breitete seinen Mantel neben sich aus. »Komm - der Gang durch die große Höhle ist schwer. Ruhe dich aus.«
Gehorsam setzte sie sich an seine Seite und schlang die Arme um die angezogenen Knie. Sie schaute empor . durch die Wipfel der Bäume leuchteten die Sterne, der Mond stand am Rande des Felsens und beschien die Lichtung. Er machte Jossips Gesicht bleich und das Gras silbern.
»Wie ruhig es ist«, sagte sie.
»Sie arbeiten heute nicht im Tal.« Seine Stimme wurde dunkler. »Die Fremden werden uns alles nehmen . sogar die Stille!«
»Aber sie geben uns Reichtum -«
»Und nehmen uns das Glück!«
Jossip betrachtete Rosa von der Seite. Ihre Lippen waren ein wenig geöffnet, das schmale Gesicht war gerötet. Wie ein Schleier umgab ihr langes Haar ihre Schultern und die vollen Brüste. Ihre Hüften waren schmal, und die Beine, die unter dem Kleid hervorsahen, waren braun und glänzten im Mondschein.
Eine Königin, dachte Jossip. Meine Königin. Nur mein, mein . mein.
Er spreizte die Finger und drückte sie an seine Seite. Dann schnellte er plötzlich vor, warf sich auf Rosa, schleuderte sie nach hinten auf den Boden und lag auf ihr, ein wildes, keuchendes Tier. Ihr Schrei gellte durch die Stille des Waldes ... da preßte er seine Lippen auf ihren offenen Mund, spürte, daß sie ihn biß und daß sein Blut über seinen Hals lief. Das machte ihn irrsinnig, blind und taub . er drückte den sich aufbäumenden Körper wieder auf den Boden und preßte sie mit seinem Gewicht in das Gras.
Ralf Meerholdt hatte einen kleinen Umweg gemacht, als er als letzter die Bohrstelle am Felsen verließ. Die Arbeiter standen schon bei Bonellis Kantine an und holten sich ihr Abendessen, die Geologen und Techniker saßen in der großen >Chefbaracke<, nur die Soldaten unter Führung eines Unteroffiziers waren zur Wache aufgezogen und pendelten an dem Felsen hin und her.
Den Umweg hatte Meerholdt nur aus einer Laune heraus gemacht. Er wollte den großen Komplex des Baues noch einmal von oben ansehen, vom Hang des Berges aus. Ein gewisser Stolz trieb ihn dazu, ab und zu allein auf einer Höhe zu stehen und sein Werk zu überblicken, die wachsende Staumauer, die Brücken, das Turbinenhaus, die neue Straße nach Zabari, diese ganze Umwandlung eines Landstrichs nach seinen Plänen und seinem Willen.
Er war oberhalb der Schneise in den Wald gestiegen und war dabei, nach dem abgeholzten Hang hinabzugehen, als er zwei Menschen durch den Wald den Berg hinaufsteigen sah. Sie umgingen seitlich die Wachen Hauptmann Vranas und kletterten den Hang in einem Bogen hinan. Es waren ein Mann und eine Frau. Meerholdt blieb stehen und stellte sich hinter einen Baum. Um diese Stunde durfte sich niemand in den Wald wagen. In ganz Zabari wußte man, daß die Wachen sofort schossen, wenn sie eine Bewegung in der Nähe des Felsens sahen. Um so unverständlicher war der Aufstieg der beiden Personen. Waren es Fremde, die nichts von den Ereignissen wußten? Fremde in Zabari? Das gab es nicht - hier wurde jeder gesehen, der über die Straße in das Dorf kam.
Meerholdt drückte sich an den Stamm und sah den beiden entgegen. Das Mondlicht brach jetzt durch den Wald, es versilberte das Gras und tauchte die beiden Gestalten in eine fahle Helle.
Lange Haare ... das war das erste, was Meerholdt sah. Er wischte sich über die Augen, als könne es eine Vision sein, eine überhitzte Phantasie. Aber das Bild blieb: Rosa stieg in der Nacht den Bergwald hinauf, an der Seite eines Mannes!
Das Herz Meerholdts schlug wild. Er spürte plötzlich eine Übelkeit und ein Würgen im Hals. Dann sah er den Mann - sein Gesicht lag im Mondschein. Jossip! Der Schäfer Jossip. Was wollte Jos-sip mit Rosa in den Felsen?
Daß es Jossip war und kein anderer, beruhigte Meerholdt ein wenig. Vielleicht suchten sie ein Schaf, das Rosa entlaufen war? Es gab keinen anderen in Zabari, der besser die Tücken der Schluchten kannte als Jossip.
Auf der Lichtung blieb Jossip stehen ... zwanzig Meter von Meer-holdts Versteck entfernt. Er setzte sich und breitete seinen Mantel auf dem Boden aus. Er sprach mit Rosa. Meerholdt hörte den Klang seiner dunklen Stimme, aber er konnte die Worte nicht verstehen. Er sah, wie sich auch Rosa setzte und die Arme um die Knie schlang. Ihre langen Haare berührten jetzt fast die Erde. Ein Bild fiel ihm ein, das er als Kind in seinem Märchenbuch immer betrachtet hatte, weil es so voll Schönheit und Sanftheit war . die Genoveva im Wald. Sie besaß lange, bis auf den Boden reichende blonde Haare . das hatte ihn damals als Kind begeistert, es war für ihn der Inbegriff des Schönen geworden. Und jetzt, dreißig Jahre später, saß dieses Wunderbild vor ihm, nun waren die Haare schwarz, und der Wald war dunkel und in seiner Schweigsamkeit feindlich.
Ein Schrei riß Meerholdt aus seinen Erinnerungen. Er sah, wie sich Jossip über Rosa warf, wie er sie auf den Boden preßte und küßte. Er sah sie ringen. Jossips Hand riß das Kleid Rosas über der Brust auf, wie ein Tier warf er sich immer wieder auf sie.
In Meerholdt brach ein Vulkan auf. Er stürzte über die Lichtung, er flog fast auf die Ringenden zu . als er über eine hervorstehende Wurzel stolperte, schnellte er sich im Fallen noch vor und prallte auf Jossip, der sich herumdrehte. Er umklammerte mit vorzuk-kenden Händen seinen Hals, das Gewicht seines Körpers warf sie ins Gras, seitlich von Rosa, die sich mit einem lauten Schrei zur Seite wälzte.
»Du Hund!« keuchte Meerholdt. »Du verfluchter, hinterlistiger Hund!«
Er hob seine Faust und schlug in das braune Gesicht . einmal . zweimal ... dann trat ihn Jossip in den Bauch und warf ihn ab.
Fast gleichzeitig standen sie wieder ... nach vorn geduckt und bereit zum Sprung. Aus Jossips Nase und Mund lief Blut . er leckte es mit der Zunge ab, und der Geschmack seines Blutes macht ihn irr.
Meerholdt spreizte die Finger. »Du hast also Elena getötet?!« sagte er heiser. »Du hast den Stein auf mich geworfen!«
»Ja!« Jossip zitterte vor Wut. »Und ich werde dich jetzt töten! Wir sind allein ... und wenn du um Hilfe schreist - die Soldaten kommen zu spät!«
Er griff in den Rock und hatte plötzlich ein langes Schurmesser in der Hand, haarscharf und leicht gebogen. Mit ihm schnitt er die Wolle seiner Schafe ab und schabte die abgezogenen Felle sauber, ehe sie gegerbt wurden.
Rosa schrie auf und warf sich zwischen Meerholdt und Jossip, aber ein Fußtritt Jossips schleuderte sie zur Seite auf den Boden. Wimmernd blieb sie liegen und bedeckte die Augen mit den Händen.
»Du ekelhaftes Schwein!« sagte Meerholdt keuchend. Er wußte, daß Jossip ihm das Messer in den Rücken stoßen würde, sekundenschnell, wenn er sich bückte, um Rosa zu helfen.
Er sah Jossip in die Augen. Ein alter Satz seines Judolehrers kam ihm in dieser Stunde höchster Gefahr in den Sinn: Sieh dem Gegner in die Augen. An ihnen kannst du ablesen, was er vor hat und wo er dich angreifen will.
Jossips Augen waren starr, fast leblos. Das Auge eines Bären, gleichbleibend, ausdruckslos. Und plötzlich schnellte Jossip vor, das Messer hoch erhoben, und warf sich auf Meerholdt. Im Niederschleu-dern hielt dieser den Arm mit dem Messer fest, mit der rechten Hand schlug er Jossip flach gegen den Hals, während er mit der linken den Arm mit dem Messer zur Seite riß und mit dem Knie den herumwirbelnden Körper zur Erde warf.
Das Messer flog Jossip aus der Hand, er stöhnte auf und sprang wieder auf die Beine. Meerholdt stand dicht vor ihm, jeder spürte den Atem des anderen auf seinem Gesicht.
»Jetzt sind wir gleich!« sagte Meerholdt. »Wir haben nur unsere Hände.«
Rosa hatte sich aufgerichtet . sie sah das Messer auf der Erde liegen und kroch auf allen vieren zu ihm hin. Mit letzter Kraft warf sie es weit weg in den Wald hinein und sank dann wieder zusammen, sich die Seite haltend, in die Jossip sie getreten hatte.
Sie standen sich gegenüber und beobachteten sich. Sie wußten, daß es jetzt nicht mehr um dieses Mädchen ging ... sie standen für zwei Welten, und es gab kein Zurück mehr, kein Ausweichen, keine Kompromisse. So, wie Völker und Weltanschauungen aufeinanderprallten, wie Religionen sich über Jahrhunderte bekriegten, wie Kontinente sich aufrieben und die Götter der Technik sich gegenseitig vernichteten, wie Atome im All Welten schufen und in den Retorten gezüchtet wurden, Welten zu zerstören, der ewige Kampf der Natur um Dasein und Fortbestehen war in diesem Augenblick -auf kleinstem Raum zusammengeballt - das Gegensätzliche zwischen Meerholdt und Jossip.
Es gab nur einen Überlebenden - sie wußten es! Und sie sahen sich an, mit starren, verschleierten Augen und sammelten die Kraft zum letzten Aufeinanderprall.
»Was hast du mit Elena gemacht?« keuchte Meerholdt.
Über Jossips Gesicht zog ein Grinsen. »Ich habe sie getötet. Langsam, ganz langsam getötet. Aber vorher habe ich sie gehabt wie ein Bär die Bärin ... zweimal - dreimal - eine ganze Nacht ... und sie hat geschrien und um Gnade gefleht, und ich habe sie gequält und nach dem letztenmal getötet. Ganz langsam ... mit dem Messer. Ich hätte sie zerschneiden können ... das schöne, weiße Fleisch.«
»Du Bestie!« Vor Meerholdts Augen flimmerte es, das Entsetzen vor diesem Menschen nahm ihm fast den Atem. »Du Saustück!«
Er sprach deutsch, und Jossip verstand ihn nicht und grinste. Mit diesem Grinsen schnellte er vor und sprang Meerholdt wie ein Panther an. Sein ganzer Körper flog durch die Luft und krachte gegen den Deutschen.
Aber wo er hingriff, war die Faust Meerholdts. Sie hatten sich umklammert und rangen mit keuchenden Lungen. Sie rollten über den Boden den abschüssigen Hang hinab bis vor ein kleines Plateau, hinter dem der Wald zum Felsen hin steil abfiel und in einer kleinen Senke endete.
Jossip war stark, stärker als Meerholdt. Die Kraft der Natur war in ihm, die unverbrauchte Gewalt eines Menschen, der Jahr um Jahr gegen Schnee und Sonne kämpfte und nicht unterlegen war. Der die Berge besiegte und die Schluchten, den Hunger und den Durst. Ein Mann, der einen Stier an den Hörnern zu Boden riß und mit einem Hammerschlag ein Rind tötete.
Aber er war unbeweglicher, steifer, erdschwerer als Meerholdt. Er konnte den Judogriffen nicht ausweichen ... er lief in sie hinein und stöhnte und schrie vor Wut, wenn er wie ein Ball durch die Luft flog und auf den Boden krachte. Doch immer wieder stürmte er heran, den Kopf gesenkt wie ein angreifender Stier, und jeder Schlag, der Meerholdt traf, jede Umklammerung nahm dem Deutschen die Luft und machte ihn unterlegen.
Am Rande des steil abfallenden Hanges standen sie sich wieder gegenüber. Sie blickten in die Tiefe, und jeder wußte, was der andere dachte. Sie sprachen kein Wort mehr ... ihre schweißüberströmten Körper in den zerrissenen Kleidern bebten vor Anstrengung. Noch einmal stürzten sie aufeinander. Jossips Hände griffen in die Luft, Meerholdt hatte ihn unterlaufen und schleuderte ihn jetzt mit letzter Kraft zur Seite über den Rand des Hanges hinaus.
Dann war Leere um Jossip ... er fiel, er spürte einen Aufprall, seine Hände krallten sich in den Boden, aber sein schwerer Körper rollte und wirbelte den steilen Hang hinab, eine Lawine von Steinen und Kies hinter sich herziehend. Staub nahm ihm den Atem und erstickte ihn fast... immer und immer wieder griffen seine blutigen Hände um sich, krallten sich fest und wurden wieder losgerissen von dem eigenen Gewicht. Sein Körper wurde aufgeschlagen ... die Schulter klaffte auf. die Beine brannten . da fanden seine Hände Halt an einem Busch, der auf dem Steilhang wuchs und seinen Sturz aufhielt. Er klammerte sich an den Zweigen fest, warf sich in das Gestrüpp und schloß die Augen.
So lag er, ein zerschellter Körper, die ganze Nacht hindurch und weinte vor Zorn.
Meerholdt hatte den Körper Jossips fallen sehen . er hörte, wie er hinabrollte, wie Steine und Sand ihm folgten und die Lawine sich entfernte. Es schauderte ihn, hinabzublicken und seinen Sieg zu betrachten. Schwankend ging er ein paar Schritte auf Rosa zu, die noch immer auf der Erde lag und sich die Seite hielt. Aber er erreichte sie nicht mehr . er sah erstaunt, wie seine Knie einknickten, wie die Beine einfach versagten und seinem Willen nicht mehr gehorchten. Mit einem Ächzen fiel er ins Gras und sah noch, wie eine Wolke sich über den Mond schob. Mit dieser Wolke verließen ihn die Sinne. Er lag im Gras wie ein Toter.
In der gleichen Nacht noch wurde Jossip gesucht. Hauptmann Vrana selbst leitete die Streifen . das gesamte Militär war aufgeboten und durchkämmte die Felsen und Schluchten.
Sie fanden Jossip nicht. Sie entdeckten auch nicht seine Hütte. Mit dem Augenblick, in dem ihn Meerholdt den Hang hinabwarf, war er verschwunden. Die besten Kletterer der Gebirgsjäger fanden zwar den Busch, an den er sich angeklammert hatte . die Steine waren um ihn herum mit Blut verschmiert, auch an dem Astwerk klebte Blut. Von da ab hörte jede Spur auf.
Rosa hatte man in Ralfs Haus getragen. Ein Arzt, der sofort aus Titograd geholt wurde und in der nächsten Nacht mit einem Sonderwagen eintraf, untersuchte sie eingehend.
Er blieb lange in dem Zimmer hinter dem Zeichenraum, das Meer-holdt als Krankenstube eingerichtet hatte. Es roch nach Karbol und Äther, als sich die Tür öffnete und der weiße Kittel des Arztes im Licht der starken Lampen leuchtete.
Meerholdt hatte die ganze Zeit über in einem Sessel gehockt und auf die Uhr gesehen. Zehn Minuten ... zwanzig ... eine halbe Stunde. Die Angst schnürte ihm die Kehle zu. Durch die dünne Tür hörte er das Klappern von Instrumenten und das leise Stöhnen Rosas.
Hauptmann Vrana schob ihm einen Kognak zu, er schüttelte den Kopf und stützte ihn dann in die Hände.
Vierzig Minuten. Er erhob sich und wanderte unruhig in der großen Stube hin und her. Jossip hat sie zu Tode getreten, durchfuhr es ihn. Er hat sie innerlich so verletzt, daß sie stirbt. Er schloß die Augen und drückte die heiße Stirn gegen das kühle Fensterglas. Das Gefühl, ein Stück seines Lebens läge sterbend nebenan im Zimmer, überwältigte ihn. Wie tief ich ihr verbunden bin, dachte er glücklich. Wie gemeinsam wir schon empfinden, wie eng verwachsen unsere Seelen sind.
Jetzt öffnete sich die Tür, und der Arzt erschien. Meerholdt fuhr herum ... in seinen Augen stand die große Frage. Doch über seine Lippen kam kein Ton ... er spürte, wie die Angst vor einem Nein ihm die Kehle zuschnürte.
»Oberhalb des linken Beckens hat sie eine schwere Prellung.« Der Arzt zog sich einen Stuhl heran und setzte sich. »Ein Bluterguß hat sich gebildet, der sich nach innen fortsetzt. Wir müssen abwarten, wie er sich verhält. Schlimmer scheint mir, daß die beiden unteren Rippen angeknickt sind. Sie muß einen fürchterlichen Tritt bekommen haben.« Der Arzt nahm eine Zigarette, die Hauptmann Vrana ihm hinreichte, und rauchte sie mit hastigen Zügen an. »Außerdem hat sie einen Nervenschock bekommen. Ihre tiefe Ohnmacht wird noch anhalten.«
Meerholdt atmete auf. »Es besteht keine Lebensgefahr?« fragte er leise.
Der Arzt schüttelte den Kopf. »Akute nicht. Noch wissen wir nicht, wie sich das Herz verhält, wenn die Ohnmacht länger dauert. Sie hat ein starkes Herz ... aber gerade ein Herz ist unberechenbar! Wir werden ihr Kräftigungsmittel und Kreislaufanreger geben müssen.«
»Und die angeknickten Rippen?«
»Sie muß absolute Ruhe haben! Ich habe eine Bandage angelegt. Am besten wäre es, wenn sie nach dem Erwachen aus der Ohnmacht nach Titograd oder Sarajewo in eine Klinik käme, wo man sie durchleuchten kann.«
»Ich werde sofort einen Krankenwagen aus Sarajewo anfordern«, versicherte Hauptmann Vrana.
Der Arzt erhob sich. »Das ist im Augenblick alles, was ich tun kann. Haben Sie ein Mädchen, das die Patientin pflegen kann?«
»Ja.« Meerholdt dachte an Katja Dobor, die draußen vor dem Haus stand und weinte. Bonelli hatte sie umfaßt und kämpfte ebenfalls mit den Tränen.
»Jossip«, sagte er und schüttelte wieder den Kopf. »Und Elena Osik hat er auch umgebracht! Mamma mia - die Welt ist nicht wert, daß die Sonne sie bescheint!«
Der Arzt kam mit Meerholdt und Vrana aus dem Haus. Katja und Bonelli schoben sich nach vorn.
»Wird sie weiterleben?« stammelte Bonelli. Er versuchte, hart zu sein, aber beim Anblick des Arztes begann er zu schluchzen. Meer-holdt legte den Arm um seine Schulter.
»Wir hoffen es, Pietro. Wir wollen Gott darum bitten. Katja soll sie pflegen.«
Katja Dobor ging weinend in das Haus. Der Arzt blieb noch ein paar Tage im Lager, er wollte den Abtransport Rosas überwachen. Hauptmann Vrana setzte seine Suche nach Jossip fort.
In seiner Hütte hockte Fedor Suhaja am Herd und schnitt den Blatt-Tabak zu langen, dünnen Streifen. Ein Tonbecher mit Schafsmilch stand neben ihm, denn das Schneiden des trockenen Tabaks dörrte die Kehle aus und kitzelte im Hals.
»Es war Jossip«, sagte er. »Er hat das fremde Mädchen getötet und wollte Rosa töten. Sein Fluch hängt noch über uns.«
Marina seufzte. »Wenn sie doch wegginge.«
»Wer?«
»Rosa! Mit dem Herrn! Sie gehört nicht mehr nach Zabari. Sie ist eine Fremde geworden.«
»Dummheit!« Fedor legte das Messer hin. »Hast du Angst vor Jos-sip?«
Marina nickte. »Große Angst, Fedor.«
Der Alte erhob sich. Er nahm seinen Umhang von der Wand, steckte das Messer ein und nahm ein Beil aus der Ecke, wo das Brennholz gestapelt lag. Marina sah ihm mit weiten Augen zu.
»Wo willst du hin, Fedorjesch?«
»In den Wald!« Der Alte stopfte sich eine Handvoll Tabak in die Tasche und nahm seine Pfeife vom Tisch. »Ich werde Jossip finden!«
»Mit dem Beil?«
»Mit dem Beil, Marinja. Solange er lebt, werden wir Angst haben. Er hat mir das tote Schaf vor die Tür gelegt - es wird nicht Ruhe sein in Zabari, bis er daneben liegt!« Fedors Augen waren dunkel, als er die zitternde Marina ansah. »Er wollte Rosa töten ... meine Rosanja ... mein Mädchen. Ich habe einen Grund, in die Berge zu gehen!«
Er ging durch den Garten davon. Ein großer, tappender Bär. Marina sah ihm nach, ihre Augen leuchteten. Fedorjesch ... dachte sie. Er ist wie früher. Er ist ein Held! Er fürchtet auch Jossip nicht! Gott schütze Fedorjesch.
Sie schlurfte in die Ecke und fiel vor einem alten Ikon auf die Knie. Ein Perlenkranz hing um das verstaubte Bild, eine ausgebrannte Öllampe davor.
Der alte Bär tappte durch den Wald.
Sein Umhang wehte im Nachtwind. Er stieg den Hang hinauf. er umging den Felsen, er kletterte durch eine von der Schneeschmelze ausgewaschene Schlucht ... in der Hand blinkte das kurze Beil.
So erblickte ihn Jossip, der zwischen zerklüfteten Felsen lag. Würgende Angst sprang in ihm empor, als er den Alten sah.
Es war, als steige der Tod zu ihm empor. Da flüchtete er in panischer Furcht und rannte durch die Felsen und lief, vor Schmerzen leise wimmernd, tiefer in die unbekannten Schluchten, in denen die Schwärze der Nacht stand wie eine Wand, die nicht zu durchbrechen war.
Fedor folgte ihm. Langsam, tappend, das Beil in der Hand. Einmal blieb er stehen und zündete sich seine Pfeife an. Ganz ruhig, mit fast behutsamen Händen.
Von Grauen gepackt, rannte Jossip weiter in die Felsen.
Nach zwei Stunden löste Meerholdt Katja in der Nachtwache bei Rosa ab.
Er saß auf dem Stuhl neben dem Bett und hatte ihre schlaffe, schmale Hand in die seine genommen. Ihr bleiches Gesicht, umrahmt von dem langen Haar, lag tief in den Kissen. Die Decke war von ihrer Brust geglitten ... er zog sie höher und beugte sich dabei über sie und küßte sie zart auf die zusammengepreßten Lippen.
Ihr Atem war leise, kaum vernehmbar. In langen Abständen kamen die Atemzüge. Auf dem Tischchen neben dem Bett lag die abgebrochene Ampulle der Spritze, die der Arzt ihr gegeben hatte. Ralf nahm das Glasröhrchen und las die Aufschrift. Es war ein ihm unbekanntes Medikament ... ein russisches Herzmittel, wie er an den kyrillischen Buchstaben erkannte, die neben dem englischen Namen in das Glas gebrannt waren.
Die Tür öffnete sich leise. Hauptmann Vrana kam herein. Er ging auf Zehenspitzen und setzte sich neben Meerholdt.
»Nichts«, sagte er. »Gar nichts! Der Kerl ist wie vom Erdboden verschluckt. Aber wir bekommen ihn - der alte Suhaja jagt ihn wie ein Wild.«
»Fedor?« Meerholdt faßte sich an den Kopf. »Schicken Sie sofort ein paar Mann zu seinem Schutz los! Jossip erschlägt ihn mit einem einzigen Fausthieb!«
Vrana lächelte wissend. »Jeden von uns, Herr Meerholdt. Aber nicht den alten Fedor. Kennen Sie die Geschichte von den beiden Elefanten, den Einzelgängern, die sich in der Savanne trafen? Der uralte Riese sah den jungen, und sie stürzten aufeinander. Auch wenn der junge stärker war ... der Ruf des Alten lähmte ihn. Jeder kannte ihn in der Savanne, jeder fürchtete ihn. Und nun stand er da und griff an. Da flüchtete der junge Riese und kam nie wieder in die Nähe des greisen Herrschers.«
Meerholdt winkte ab. »Das sind Geschichten. Jagdgeschichten, die keiner beweisen kann. Ihr Vergleich ist treffend ... aber Jossip fürchtet niemanden ... am wenigsten den alten Fedor.«
»Warten wir es ab!« Vrana sah auf die schlafende Rosa und erhob sich. »Es ist besser, Fedor erschlägt ihn, als wenn ich Jossip in die Hände bekomme. Ich würde ihn aufhängen, an den nächsten Baum! Aber vorher würde er spüren müssen, was es heißt, Schmerzen zu erleiden.«
Meerholdt sah Vrana groß an. »Ihr seid grausam, ihr Slawen«, sagte er leise. Vrana hob entschuldigend die Schultern. »Der Mensch ist es, Herr Meerholdt. Der Mensch! Nur überdecken die einen es mit Bildung oder auch nur Zivilisation, die anderen leben nach dem Naturgesetz des >Auge um Auge, Zahn um Zahn<. Ich wage nicht, zu kritisieren und zu sagen, welche Methode die bessere ist - der höfliche Mord oder der einfache! Die gesetzlich verankerte Rache am Täter mit Gaskammern, elektrischem Stuhl, Fallbeil und Henken - oder die vogelfreie Gerechtigkeit, in der der Mensch die Außenseiter seines Geschlechtes ausmerzt wie ein Tierrudel seine Abtrünnigen. Im Grunde sind sie gleich, die Methoden der Strafe -sie dienen dem Frieden auf der Welt!«
Meerholdt sah auf Rosa. Sie hatte sich bewegt, aber es war nur eine Reflexbewegung. Sie erwachte nicht.
»Sie müssen es wissen, Vrana«, sagte er. »Ich werde es nie lernen, in eurer Mentalität zu denken.«
Leise verließ Hauptmann Vrana wieder das Zimmer und schloß hinter sich die Tür. Auf dem Flur traf er Bonelli, der Katja nicht allein ließ.
»Was macht sie?« fragte er leise.
»Sie schläft!«
Bonelli wischte sich über die Stirn. »Ich werde den Ingenieur ablösen.«
»Tun Sie das nicht, Pietro.« Vrana grinste breit. »Wenn Rosa aufwacht und sieht als erstes Ihr blaues Auge, bekommt sie einen Herzschlag.«
Beleidigt wandte sich Bonelli ab und ging in das Zimmer Katjas.
Am Morgen kam Fedor Suhaja nach Zabari zurück.
Er hängte seinen Umhang an den Nagel, warf das Beil in die Ecke neben das Holz, hockte sich an den Herd und setzte seine Arbeit, das Tabakschneiden, fort. Marina schlich um ihn herum und kochte erst eine Suppe und einen Kräutertee, ehe sie fragte.
»Ist er tot?«
»Nein.«
»Du hast ihn nicht gefunden?«
»Nein!«
Marina seufzte. »Dann geht die Angst weiter. Immer diese Angst. Ich werde nicht mehr schlafen können.«
Fedor legte das Messer hin, er stierte vor sich in das Feuer auf dem Herd.
»Ich werde diese Nacht wieder hinausgehen ... jede Nacht, bis ich ihn finde! Am Tage verkriecht er sich, aber in der Nacht muß er hinaus. Wie der Bär ans Wasser, so wird er im Dunkeln sein Essen suchen. Dabei finde ich ihn ... ich werde nicht müde werden, Ma-rinja.«
Hauptmann Vrana hatte Fedor Suhaja zurückkommen sehen. An seiner Haltung las er, daß auch er vergeblich gesucht hatte. Er hielt eine Besprechung mit seinen Unteroffizieren ab und erklärte noch einmal die Karte der Umgebung, die man damals bei der Suche nach Elena Osik durch Hubschrauber angefertigt hatte.
»Irgendwo muß das Schwein liegen«, sagte er. »Er ist verwundet!
Jemand, der den Steilhang hinabstürzt, kann nicht mehr kilometerweit laufen!! Er muß also hier in der nächsten Umgebung sein! Er hat einen Schlupfwinkel, den wir noch nicht kennen. Solange Jossip lebt, wird er eine ständige Gefahr für uns alle sein!«
»Es gibt kaum noch einen Stein, den wir nicht untersucht haben«, meinte einer der Unteroffiziere.
»Dann wart ihr Idioten und habt geschlafen!« Vrana stampfte wütend auf. »Vor unseren Augen hat er Elena umgebracht, und später haben wir ihn angestellt, damit er uns suchen hilft!«
Wenn Hauptmann Vrana an diese Tage dachte, wurde ihm immer schlecht. Das Spiel, das Jossip damals mit ihm getrieben hatte, die Lächerlichkeit, der er dann ausgesetzt war, die Blindheit, die damals alle erfaßte und gerade dem vertrauen ließ, den sie suchten, erzeugte in ihm jenen geheimnisvollen Willen zur Grausamkeit, den Slawen und Asiaten gemeinsam haben.
»Er ist in unserer Nähe!« brüllte er. »Ich spüre es... es ist, als stände er hinter mir, und ich fühlte seinen Blick! Ist dieser Schäfer denn klüger und stärker als hundert Soldaten des Marschalls?! Ich lasse euch in ein Straflager versetzen, wenn ihr Jossip nicht findet!«
Die Unteroffiziere sahen zu Boden. Straflager ... es gibt bei den östlichen Völkern kein Wort, das grausamer ist als Straflager. Baracken in einem Steinbruch ... irgendwo an der dalmatinischen Küste, abgelegen von den Plätzen, an denen sich die Reichen der Welt sonnen und die weißen Segel über das tintenblaue Wasser schweben. Ein Steinbruch unter praller Sonne. Arbeiter mit nacktem Oberkörper, mit Spitzhacke und Schaufeln. Vier Mann schieben eine Lore . der Steinstaub hüllt sie ein. Auf einem Platz stehen hundert Mann und zerstückeln den Stein mit schweren Hämmern. Krach! geht es. Krach! Krach! Mit hundert Hämmern immer nur krach! Zehntausendmal am Tag . hunderttausendmal in der Woche . von hundert Hämmern - krach! Und am Abend gibt es eine dünne Suppe und Maisbrot. Gelbes Brot, hart wie der Stein, den man zerklopft. Man muß es in die Suppe tunken, um es essen zu können. Und dann wird es weich, schwammig, klebrig wie Leim und füllt den
Mund aus mit einer ekligen gelben Masse.
Straflager.
Die Unteroffiziere grüßten stramm, als Hauptmann Vrana wegging. Sie sahen sich gegenseitig an und riefen dann ihre Gruppen zusammen.
»In drei Tagen habt ihr Jossip, ihr Rindviecher!« schrien sie. »Ihr kommt alle ins Straflager, wenn ihr Jossip nicht findet!«
Auch hier verbreitete die Aussicht auf die Steinbrüche Entsetzen und Verzweiflung. Die Folge der Kopflosigkeit war, daß einer der Geologen, der am Tage den Felsen von der anderen Seite untersuchte, von einem der Soldaten als vermeintlicher Jossip angeschossen wurde.
Hauptmann Vrana tobte. »Bleiben Sie am besten gleich im Lager, Doktor«, sagte er zu dem Arzt, der in Meerholdts Zeichenraum auf einem der Tische die Kugel aus dem Oberschenkel des Geologen herausoperierte. »Wenn das so weitergeht, haben Sie bald alle Hände voll zu tun!«
»Ich würde ihren Helden Platzpatronen geben«, meinte der Arzt sarkastisch.
Hauptmann Vrana winkte wütend ab. »In drei Tagen, wenn sie Jos-sip nicht gefunden haben, wird es ganz ohne Pulver knallen. Dann scheißen sich hundert Mann aus Angst in die Hosen.«
Rosa war noch immer nicht erwacht. Sie blieb in ihrer tiefen Ohnmacht, auch am zweiten Tag, und bekam Vitamininjektionen und Kreislaufmittel verabreicht.
Abwechselnd wachten Meerholdt, Katja und auch Bonelli am Bett Rosas.
Zweimal waren Fedor und Marina, ihre Eltern, da, und Marina segnete Rosa und betete eine Stunde lang, auf den Knien liegend.
Der Bluterguß in der Hüfte schwoll an, das Hüftgelenk verdickte sich. Der Arzt wiegte den Kopf und kaute an der Unterlippe.
»Wir müssen sie bald nach Sarajewo bringen. Vielleicht müssen wir sie operieren, wenn sie kein steifes Bein behalten soll. Wir wissen ja noch nicht einmal, ob von dem Hüftknochen etwas abge-
splittert ist.«
»Wir fahren sie in vier Tagen zum Röntgen fort.« Meerholdt sagte es so bestimmt, daß der Arzt erstaunt aufblickte.
»Auch dann, wenn sie noch ohne Besinnung ist?«
»Auch dann!«
Der Arzt zuckte mit den Schultern. »Es ist ein verdammt holpriger Weg! Ich würde es noch nicht wagen. Warten wir ab, was in vier Tagen ist.«
Der Bau an der Talsperre ging unterdessen in der bisherigen Reibungslosigkeit weiter. Die beiden Techniker leiteten jetzt den Bau, Vorarbeiter Drago Sopje war zum Bauführer befördert worden und hatte die Kolonnen unter sich. Die Brücken wuchsen weiter, die Straße wurde durch Felssprengungen verbreitert, im Tal, unterhalb der Staumauer, die immer mehr unter den Verschalungen hervorwuchs, wurde das Turbinenhaus errichtet... große Hallen mit gläsernen Wänden und dicken Betonböden, auf denen einmal die rauschenden, sich drehenden Ungetüme stehen würden.
Meerholdt ging nicht mehr aus seiner Konstruktionsbaracke hinaus. Er saß entweder bei Rosa am Bett oder schlief unruhig im Nebenzimmer, aß, was Bonelli ihm vorsetzte, und stärkte sich mit Tokajer und starkem Kaffee.
»Sie sind unvernünftig«, ermahnte ihn der Arzt. »Sie liegen garantiert unter der Erde, wenn Rosa geheilt entlassen wird! Was haben Sie damit gewonnen? Seien Sie doch vernünftig. Sie können das Schicksal nicht durch Asketentum und Drogenfresserei zwingen!«
Am dritten Tage, kurz vor Einbruch der Dunkelheit, erwachte Rosa aus ihrer tiefen Bewußtlosigkeit. Sie schlug die Augen auf und sah Katja, die neben ihr saß und an einer Decke stickte.
»Katjascha.«, sagte sie leise.
Katja ließ die Decke fallen und sank auf die Knie. Sie nahm die Hände Rosas und küßte sie. »Du bist wach«, stammelte sie. »Du bist zu uns zurückgekommen. O Rosanja. Gott ist doch gnädig.«
Meerholdt stürzte ins Zimmer. Ihm folgten Bonelli, sein Gesicht glänzte. »Mädchen!« rief er laut. »Wir haben gesiegt! Du bist wach!
Heute wird der Chianti über die Straßen fließen.«
Der Arzt kam und warf alle aus dem Zimmer. »Raus!« schimpfte er. »Ihr macht sie verrückt mit eurem Geschrei! Still sollt ihr sein!!« Dann hörte er das Herz ab und nickte zufrieden. »Es geht ja wieder, Rosa«, sagte er erfreut. »In ein paar Tagen kommst du nach Sarajewo, und in drei Wochen merkst du nichts mehr von all dem.«
Rosa schloß die Augen. Sie atmete schneller und kratzte mit den Fingern nervös über die Decke.
»Was ist mit Jossip?« fragte sie.
»Danach sollst du nicht fragen. Du sollst überhaupt nicht daran denken.« Der Arzt setzte sich auf das Bett und nahm ihre schlaffe Hand. »Du mußt denken, daß alles ein Traum war, ein böser, wilder Traum. Und nun bist zu erwacht, die Sonne scheint, die Blumen duften, von den Bergen stürzt das Wasser ins Tal, die Schafe weiden auf den Wiesen, und alles riecht nach Wald und Erde. Das ist das Leben, Rosa . du siehst es jetzt. Warum an diesen Traum denken. Sieh doch aus dem Fenster. Dort, der Wald . wie wunderbar steigt er den Berg hinauf. Als Kind hast du oft hinter einem Stamm gesessen und hast drei kleine Bären belauscht, die in der Sonne spielten. Und im Winter hocktest du am Fenster der Hütte und sahst aus dem Wald die Wölfe kommen, hungrig, heulend, und dein Vater ging hinaus mit den anderen Bauern und tötete sie mit Äxten und langen, spitzen Gabeln. Wie wunderbar ist doch das Leben.«
Rosa nickte schwach. Sie drückte die Hand des Arztes.
»Danke«, sagte sie leise. »Danke, Doktor.« Sie wandte den Kopf ab und seufzte. »Hat er ihn getötet.?«
Der Arzt schob die Unterlippe vor. »Nein! Er lebt! Aber er wurde sehr verletzt. Wir suchen ihn seit Tagen.«
»Er hat eine Höhle, in der er sich versteckt.«
»Ich werde es sofort Herrn Meerholdt sagen.« Der Arzt erhob sich. »Und du mußt ganz ruhig bleiben und ein wenig essen. Nach dem Essen schläfst du wieder ein bißchen.«
Er nahm aus seiner Tasche eine Spritze, setzte die Nadel ein und zog aus einer kleinen Flasche eine wasserhelle Flüssigkeit auf. Dann beugte er sich über sie, reinigte eine kleine Stelle des Unterarmes mit einem Wattebausch und Alkohol und injizierte das Mittel. Rosa zuckte bei dem Einstich zusammen, aber als sie den Kopf umwandte, war die Nadel schon wieder heraus.
»Es beruhigt die Nerven«, sagte der Arzt. »Du mußt ganz, ganz ruhig werden.«
Sie nickte und begann schon zu schlafen, als der Arzt das Zimmer verließ. Meerholdt, der an ihm vorbei zu Rosa wollte, hielt er fest.
»Bleiben Sie hier! Sie schläft jetzt ... es ist keine Bewußtlosigkeit mehr, sondern eine Art Heilschlaf. Bei großen seelischen Schocks machen wir das jetzt öfter ... eine Ausschaltung der Nerven bis auf ein Mindestmaß der Funktionen und damit eine vollkommene Beruhigung des Körpers und dessen, was der Laie Seele nennt. Stören Sie sie nicht.« Der Arzt sah sich um. »Wo kann ich Hauptmann Vrana erreichen?«
»Ich nehme an, bei der Wache am Berg.« Meerholdt musterte den Arzt. »Warum, Doktor?«
»Rosa hat verraten, daß er in einer Höhle lebt!«
»In einer Höhle?« Meerholdt faßte den Arzt am Arm. »Kommen Sie - ich gehe mit! Wenn es eine Höhle ist, dann kann es nur die sein, die wir suchen ... die Höhle mit dem eingeschlossenen See!« Meerholdts Augen wurden starr. »Mein Gott«, stöhnte er. »Wenn Jossip die dünnste Stelle des Felsens weiß und sprengt sie auf. Wir würden alle in Sekundenschnelle ertrinken!«
Der Arzt erbleichte. »Sie malen den Teufel an die Wand.«
»Ich brauche ihn nicht zu malen! Er ist da! Kommen Sie schnell!«
Sie rannten aus dem Haus und durch das Lager. Am Ausgang zum Wald trafen sie Hauptmann Vrana. Er machte eine Art Strafexer-zieren mit dem Soldaten, der den Geologen angeschossen hatte. Hin und her jagte er den Armen durch eine Zementgrube, bis die Uniform nur noch eine dicke, langsam erstarrende Zementschicht war. »In einer Stunde trittst du mit sauberer Uniform und gereinigten
Waffen wieder an!« brüllte er, als er die Männer auf sich zulaufen sah. »Hau ab, du Vollidiot!«
Der Soldat rannte zum Zeltlager, einen nassen Zementstreifen hinter sich herziehend.
Hauptmann Vrana war mit sich sehr zufrieden.
Jossip lag in seiner Hütte und stöhnte.
Er hatte sein Lager direkt an der Tür aufgeschlagen, die er mit zwei schräggestellten Balken doppelt gesichert hatte. Neben ihm lagen eine Axt, ein langes Schurmesser, eine Peitsche und eine Mistgabel mit spitzen Zinken.
Elena Osik saß am Tisch und aß. Sie schielte auf den stöhnenden Jossip und schüttelte den Kopf.
»Was du machst, ist Wahnsinn, Jossip! Du verreckst hier wie ein Tier! Deine Wunden müssen verbunden werden! Du bekommst den Starrkrampf... sie sind ja voller Schmutz! Du mußt ins Tal zu einem Arzt!«
»Im Tal hängen sie mich auf!« Jossip richtete sich mit schmerzverzerrtem Gesicht empor. Er schob sich auf die Knie und lehnte den Kopf erschöpft gegen die Türbalken. »Fedor jagt mich wie einen wildernden Hund. Er hat ein Beil bei sich. Ich habe Angst.«
»Du hast Angst?« Elena erhob sich, aber Jossip ergriff die Peitsche und das Messer.
»Bleib sitzen! Erst, wenn ich tot bin, ist die Tür frei! Und ich sterbe so schnell nicht!«
»In spätestens zwei Tagen hast du den schönsten Wundbrand! Du bist irrsinnig in deiner Wut.«
»Sie sollen mich holen!« Jossip zog sich an den Querbalken empor . schwankend stand er an der Tür.
Seine Schulterwunde war verharscht . seine aufgeschlagenen Knie und der linke Oberschenkel waren große Wunden, aus denen Blutserum und Eiter floß. Mit Blättern und einem Wurzelbrei hatte er versucht, das Blut zu stillen, aber die Wunden waren zu groß und tief. Die Mittel der Natur versagten ... in Jossip brach auch diese Welt zusammen - selbst die Natur verließ ihn und stieß ihn zurück in das Elend. Die Natur, die er retten wollte - seine letzte, große Geliebte. »Ich warte, bis er kommt! Und er wird kommen ... ich weiß es. Mit ihm zusammen gehe ich in die Hölle!«
Elena wußte, wen Jossip mit >er< meinte. Und sie wußte, daß Meer-holdt mit seinen Leuten die Berge absuchte und einmal auch das Geheimnis Jossips entdecken würde. Dann gab es keine Gnade mehr, dann verhüllte Gott sein Haupt und weinte über die Menschen.
»Wenn du mich gehen läßt, will ich Ralf bitten, dich leben zu lassen. Du hast keinen Menschen getötet - warum sollten sie dich töten? Sie glauben, du habest mich umgebracht, aber wenn ich gesund zurückkomme, werden sie dir nichts tun!«
Jossip lächelte grausam. Er lehnte sich an die Tür und umklammerte Halt suchend die Balken. »Sie sollen mich nicht sehen«, sagte er leise. »Und ich werde auch dich nicht töten, nicht Meerholdt, nicht Rosa, nicht den Hund Vrana. Ich werde sie alle töten! Alle!« schrie er wild. »Ich habe eine Waffe, die sie nicht besiegen! Ich habe einen Gott in der Hand! Von einem Atemzug zum anderen werden sie sterben ... sie werden sehen, wie sich der Himmel verdunkelt, und ehe sie schreien können, sind sie vernichtet. Nur die Natur wird schreien, mein Gott wird schreien: Rache! Rache! Und ich werde lachen und meine Wunden in ihrem Untergang kühlen.«
Elena starrte Jossip wie etwas Grauenerregendes an. Sie wich zu ihrem Lager zurück und setzte sich an den Ofen auf das Stroh.
»Warum willst du das?« fragte sie stockend.
Jossip lehnte den Kopf an die Tür. »Sie haben mir die Heimat genommen, die Liebe, den Glauben, den Himmel und die Erde! Was bin ich denn noch? Bin ich noch Jossip, der Schäfer?! Meine Weiden werden zu Äcker ... meine Täler werden Seen ... mein Dorf wird eine Stadt ... meine Berge werden zerstückelt ... meine Pfade auseinandergerissen zu Straßen. Mein Land blutet, und mein Herz blutet. Ist das nicht genug, alles zu vernichten?! Wie schön war das Leben, bevor sie nach Zabari kamen. Die Zeit schreckte uns nicht .
wie Jahrhunderte vor uns weidete das Vieh in den Bergen. Ich hätte Rosa bekommen, und unsere Kinder hätten die Herden vermehrt und wären ausgezogen in andere Täler und hätten sich Frauen genommen ... ein Geschlecht der Petaki! Was bin ich jetzt?« Er ballte die Fäuste. »Ich muß sie vernichten!«
Er stieß sich von der Tür ab und schwankte durch den Raum, das Messer und die Peitsche in den Händen. Mißtrauisch sah er sich nach Elena um.
»Versuche nicht zu flüchten! Auch wenn ich lahm bin - meine Peitsche erreicht dich. Und auch das Messer!«
Er wankte zum Tisch, setzte sich und begann, seine eitrigen Wunden mit Wasser auszuwaschen. Dann legte er wieder einen Brei aus Blättern und Wurzeln auf seine Wunden und umwickelte sie mit Leinenstreifen. Dann wankte er wieder zur Tür zurück, legte sich auf das Stroh, das er davor geschüttet hatte.
»Ich hätte dich für vernünftiger gehalten, Jossip«, versuchte Elena noch einmal ein Gespräch.
Jossip antwortete nicht. Er nahm seine Peitsche und schlug zu ihr hin. Die Spitze der Lederschnur traf ihre Schulter ... sie zuckte zusammen und kroch weiter in die Ecke.
Du Satan, dachte sie. Man sollte kein Mitleid haben! Man sollte dich verrecken lassen. Aber sie schwieg.
Selbst als Jossip schlief, wagte sie nicht, aufzustehen und an ihn heranzutreten. Sie wußte, daß er wie ein Wild schlief, jeden Augenblick aufwachend und sich verteidigend.
In den Bergen suchten die Gebirgsjäger Hauptmann Vranas. Sie fanden die Hütte nicht, und die Unteroffiziere schrien und tobten.
Straflager ... Steinbruch und Hitze ... Hauptmann Vrana stellte bereits die Liste zusammen.
Am Abend saßen die Soldaten in ihren Zelten und weinten vor Angst.
Die Bohrarbeiten am Felsen waren an der ersten Stelle eingestellt worden. Nach zweihundertundzehn Metern hartem Gestein gaben die Geologen es auf, hier nach einem eingeschlossenen See zu suchen. Man verlegte die Bohrstelle auf die andere Seite des Felsens ... hier war es noch sinnloser, denn der See lag oberhalb des Teiles, in den sich die Bohrstangen einfraßen. Sie unterbohrten den See und trafen nur auf Gestein. Dreißig ... vierzig ... siebzig Meter. Die Geologen verzweifelten. Selbst Meerholdt glaubte nicht mehr an seinen großen Gedanken, nur die Erzählung Rosas hielt ihn aufrecht, der Bericht von Jossips Höhle, mit dem er sie in den Wald gelockt hatte. Und das Rinnsal aus dem Felsen war ebenfalls nicht fortzudenken . als man an dieser Stelle bohrte, vergrößerte sich zwar der Wasserstrahl, aber man traf auf kein Becken, das das Wasser mit einem gewaltigen Strahl durch den Hohlbohrer drückte wie einen Geiser.
Eines Tages erschien völlig überraschend und unangemeldet ein großer, chromblitzender Wagen in Zabari: Stanis Osik.
Nach dem völligen Zusammenbruch und einer Zeit fast paranoischer Lethargie war in ihm wieder ein Funken Lebenswille erwacht. Die Geschäfte eines Leiters der staatlichen Bauten hatte er noch nicht wieder übernommen, aber nachdem man ihm mitgeteilt hatte, daß der Mörder Elenas bekannt sei, hielt es ihn nicht länger in seiner weißen Zagreber Villa.
»Ich werde Jossip eigenhändig erwürgen!« hatte er zum Abschied zu seinem Chauffeur gesagt.
Es war niemand, der an der Ausführung dieser Tat zweifelte.
Nun war er wieder in Zabari, etwas dünner geworden, weißer im Haar und herzkranker denn je. Er bezog Elenas Zimmer in Meer-holdts Baracke, und er war es, der den aufgebrochenen Koffer entdeckte.
»Sie lebt!« schrie er durch die Baracke. Er gebärdete sich wie ein Irrer . er schleppte den zerbrochenen Koffer herum, zeigte ihn Hauptmann Vrana, fiel Meerholdt weinend um den Hals und wurde von dem Arzt mit einer starken Dosis Herztropfen auf den Beinen gehalten.
Der Koffer wurde untersucht. Das Rätsel um Elena verstärkte sich. Stanis Osik war nicht abzubringen von seiner Theorie, die er sofort entwickelt hatte.
»Ein Toter braucht keine Kleider, keine Wäsche! Wenn sie ermordet wurde, warum hat der Mörder später ihre Kleider geholt? Warum setzte er sich der großen Gefahr aus, die dieser Einbruch mit sich brachte? Nein, nein, meine Herren - Elena wird von Jossip irgendwo gefangengehalten! Es zeugt von Ihrer Idiotie, daß Sie sie bisher noch nicht gefunden haben!« Dabei sah er Hauptmann Vrana an. Dieser wurde rot und verließ sofort das Zimmer.
»Aber das Blut!« wandte Meerholdt ein. »Die blutige Wäsche. Die Laboruntersuchungen haben ergeben, daß es Elenas Blut war. Einwandfrei!«
»Jossip hat sie verletzt. Sie hat sich gewehrt, meine Elenaschka. Oh, sie ist ein tapferes Mädchen!« Osik atmete schwer. »Schlagen Sie Plakate an, Meerholdt. 100.000 Dinare Belohnung dem, der mir Elena oder Jossip findet!«
Hauptmann Vrana kam wieder herein, er hatte draußen seinen Unteroffizieren nur vier Worte gesagt. »Übermorgen geht es ab!« Das genügte. Er hörte noch den letzten Satz Osiks, als er eintrat.
»Für 100.000 Dinare bekommen Sie keine Röntgenaugen, Herr Osik! Wir haben nach den besten Karten die Berge durchgekämmt... das Versteck Jossips haben wir nicht gefunden! Wissen Sie, was es heißt, diese Schluchten und Spalten, Zerklüftungen und Plateaus, diese Höhlen und ausgewaschenen Buchten zu untersuchen? Es ist ein Labyrinth, in dem sich keiner auskennt! Es wird nie möglich sein, die schwarzen Berge bis ins einzelne zu erforschen! Es sei denn, man hat Jahre zur Verfügung ... nicht Tage oder sogar nur Stunden wie wir.«
Stanis Osik kaute an der Unterlippe. »Setzen Sie die Bauern ein, Vrana.«
»Seit dem Überfall auf Rosa durchzieht der alte Fedor Suhaja jede Nacht die Berge und sucht Jossip. Wenn er am Abend aufbricht, in seinem langen Umhang, das Beil in der Hand, denke ich immer an ein Bild aus irgendeiner griechischen Tragödie. Glauben Sie mir, daß der alte Suhaja die Berge kennt... seit über sechzig Jahren durchstreift er sie. Auch er findet Jossip nicht.«
Stanis Osik rauchte eine seiner dicken Zigarren an. Der Arzt wollte sie ihm wegnehmen, aber Osik schlug ihm auf die Hand. »Lassen Sie das, Doktor. Ich weiß, daß ich ein Wrack bin ... aber das Wrack soll wenigstens noch qualmen, wenn es schon nicht mehr fahren kann! Wenigstens nach außen hin lassen Sie mich den starken Mann spielen!« Er lächelte und wandte sich dann wieder an Meer-holdt und Hauptmann Vrana. »Machen wir es anders. Ich kann mich entsinnen, daß die Deutschen uns Partisanen in den Bergen nicht ausräuchern konnten ... sie fuhren deshalb mit großen Lautsprechern durchs Gebirge und forderten uns auf, uns freiwillig zu ergeben. Sie sicherten uns das Leben zu und volle Freiheit. Wäre das nicht ein Weg? Wir fahren mit drei Lautsprechern in die Felsen und bitten Jossip, Elena herauszugeben. Ich wäre sogar bereit, ihm die 100.000 Dinare zu geben!«
»Verrückt!« Vrana schüttelte wild den Kopf. »An einem Strick ziehe ich ihn hoch! 100.000 Dinare für einen Verbrecher und Saboteur!«
»Reden Sie bei mir nicht mit der Terminologie volkseigener Staaten! Ich will mein Kind wiederhaben, wenn es lebt! Dafür verspreche ich ihm 100.000 Dinare!«
»Und ich hänge ihn auf!« sagte Vrana störrisch.
»Das werden Sie nicht! Wenn ich Jossip mein Wort gebe, müssen Sie mich schon neben ihm aufhängen! Was hat er denn gemacht? Meerholdt lebt, Rosa lebt, Elena wird auch leben!«
»Für Entführung gibt es in Amerika die Todesstrafe!«
»Amerika!« Osik lächelte breit. »Sie, Hauptmann Vrana, als Repräsentant einer sozialistischen Regierung, als Offizier eines freien Volkes<, führen das Beispiel eines verruchten kapitalistischen Staates an?! Sie stellen ein System, das wir bisher immer verbrecherisch nannten, als Vorbild dar? Aber Herr Hauptmann - was soll ich von Ihrer Linientreue denken?!«
Vrana sah zu Boden. Er war blutrot geworden und zuckte mit den Augenlidern.
»Bieten Sie ihm das Drecksgeld«, sagte er wütend. »Und wenn er es genommen hat, werden wir ihn den ordentlichen Gerichten übergeben. Wegen Körperverletzung und versuchter Notzucht!«
»Das steht Ihnen frei! Aber Sie hängen ihn nicht auf!«
Vrana lächelte breit. »Es wäre besser, er hängt, Herr Osik. Wissen Sie, was drei Jahre Steinbruch bedeuten?«
Stanis Osik wandte sich ab. »Ich danke Gott, daß ich noch nicht so völlig materialisiert bin wie Sie. Meerholdt - gehen wir und montieren wir ein paar Lautsprecher ab.«
Am Abend fuhren drei Jeeps in die Schluchten, und vier Männer trugen Lautsprecher an den Rand des Waldes. Von allen Seiten schallte es bald durch den stillen Abend, immer und immer wieder ... 100.000 Dinare ... Straffreiheit. Für Elenas Rückgabe freies Geleit für Jossip Petaki.
Jossip lag an der Tür und hörte die Worte aus dem Lautsprecher. Auch Elena saß aufrecht an der Wand und lauschte auf die Sätze.
»Mein Vater sucht mich! Hörst du ... dir wird nichts geschehen, wenn du mich freiläßt!«
Jossip lehnte sich gegen die Tür. »Ich glaube es nicht.«
»Mein Vater hat noch nie sein Wort gebrochen!«
»Aber die anderen. Hauptmann Vrana.« Jossip nickte, er kannte seine Landsleute. »Und Fedor wird sich rächen. Jede Nacht streift er durch den Wald. Ich habe ihn gestern gesehen, als ich Wasser holte.«
»Mein Vater und auch ich werden mit Vrana und Fedor sprechen.« Elenas Stimme wurde eindringlich. »Wir werden dich in die Stadt schaffen zu einem Arzt. Du wirst ein reicher Mann sein, mit 100.000 Dinaren! Die ganze Welt steht dir offen, Jossip.«
»Meine Welt ist hier«, sagte er dumpf. »Ich will nicht hinaus aus den Bergen!«
»Du wirst elend sterben, Jossip! Deine Beine werden schon gelähmt ... du hast den Wundbrand! Ein Arzt kann dich noch retten! Du
bist ja wahnsinnig, dieses Angebot zurückzuweisen!«
Jossip schüttelte den Kopf. »Sie wollen mich töten! Sie locken mich heraus ... und dann töten sie mich! Kein Tier, nichts auf der Welt ist gemeiner als der Mensch! Ein Löwe brüllt und peitscht mit dem Schwanz die Erde, und du weißt - jetzt springt er dich an! Ein Wolf heult und hetzt dich zu Tode ... eine Schlange richtet sich auf, ihre Zunge züngelt, und sie stößt vor und schlägt ihren Giftzahn in dein Fleisch. Bei allen weißt du - jetzt tötet es dich! Jetzt gibt es kein Zurück ... nur der Mensch lächelt, verspricht, gibt dir die Hand der Freundschaft, und mit dieser Hand zieht er dich zu sich heran und erwürgt dich! Mit einem Lächeln ... mit einer Zufriedenheit, die keiner unter dem Himmel kennt ... mit einer Selbstverständlichkeit, daß Gott tot sein muß, weil er zu allem schweigt!«
Die Lautsprecher tönten immer noch ... einmal nah ... dann wieder weiter ... sie sprachen die halbe Nacht hindurch, und Jossip saß lauschend an der Tür und lächelte.
»Sie wollen mich überlisten«, sagte er störrisch. »Sie wollen mich hervorlocken!«
Elena war am Ende ihrer Kräfte. Die nahen Stimmen ihrer Befreiung und die Unmöglichkeit, sie in diesen Schlupfwinkel zu führen, brachten sie an den Rand ihrer Fassung. Jossip bemerkte es, und er legte sich die Peitsche und das lange Messer zurecht.
»Rühr dich nicht«, sagte er stöhnend vor Schmerzen. In seinen Beinen begann das Blut zu klopfen, die Knie waren dick angeschwollen und stachen wie mit tausend Nadeln. »Auch wenn du schreist, töte ich dich!«
So ging die Nacht herum mit hoffendem Wachen und einer immer größer werdenden und das Herz fast abschnürenden Enttäuschung. Die Lautsprecher entfernten sich immer mehr ... die Stimmen, die durch die nächtlichen Berge dröhnten, wurden schwächer und waren später nur noch ein Echo von weit entfernten Tälern. Sie gingen unter in der Einsamkeit.
Jossip saß an der Tür und lachte. Er war zufrieden. Triumphierend sah er die weinende Elena an.
»Jossip ist nicht so dumm, wie es deine Freunde annehmen! Er ist nicht in die Falle gelaufen!«
»Sie haben es ehrlich gemeint!« Elena sank auf das Strohlager zurück und deckte sich mit den Fellen zu. »Wenn sie dich jetzt bekommen, kennen sie keine Gnade mehr!«
»Ich werde sie alle vernichten, bevor sie mich sehen!« sagte er störrisch. »Nur ich weiß, wie man die Natur aus ihren Fesseln befreit!«
Elena drehte sich zu der rohen Holzwand. Zu oft hatte sie diese irren Reden gehört, um weiter darauf zu achten. Daß man sie suchte, beruhigte sie. Einmal würden sie auch diese verborgene Hütte entdecken ... vielleicht konnte sie in ein paar Tagen selbst das Haus verlassen, über den ohnmächtigen Jossip steigend, den seine eiternden Wunden zersetzten.
Sie schielte zu ihm hinüber. Er lag an der Tür, gekrümmt, mit den Händen den Verband aus Blätter- und Wurzelbrei gegen die Knie drückend. Die große Wunde an der Schulter war gerötet und brandig ... sie hatte es am Vormittag gesehen, als er sie auswusch. Nur ein paar Tage noch, dachte sie, und er wird zusammenbrechen. Auch seine Kraft ist einmal zu Ende, jeder Mensch, auch Jossip, hat eine Grenze, an der jede Duldung aufhört und der Zusammenbruch erfolgt.
Gegen Morgen verließ Jossip die Hütte. Er schloß sie wieder ab und wälzte mit verzerrtem Gesicht und lautem Stöhnen die Steine vor die Tür. Durch die Ritzen an den Fensterläden sah Elena, wie er ins Tal hinabschwankte, sich an den Felsen vorwärtstastend, als sei er schon blind vor Schmerzen.
Aus dem Tal stieg der Frühnebel und ließ die Sonne in einem milchigen Brei schwimmen. Ein Adler kehrte aus dem Wald zurück, er schwebte lautlos durch die Nebelschwaden zu seinem Horst.
An einem Bach sank Jossip nieder und hielt die Knie in das kalte, fließende Wasser. Er wimmerte vor Schmerzen und starrte in die Sonne, als könne sie ihm helfen.
Stanis Osik saß in der großen Konstruktionsbaracke und trank eine Tasse starken Tee. Hauptmann Vrana lehnte am Fenster und rauchte unruhig. Meerholdt ging im Zimmer auf und ab.
»Ein Fiasko«, sagte er erregt. »Ein völliges Fiasko! Unsere Lautsprecheraktion ist verpufft!«
»Ich habe es gleich gesagt! Mit solchen Dingen kann man Jossip nicht beikommen! Versprechungen und dergleichen ziehen nur bei zivilisierten Menschen - sie glauben das! Jossip ist ein Stück Wild -und Wild wittert immer die Gefahr!« Hauptmann Vrana lachte. »Das ist der Segen der Zivilisation - sie macht den Menschen zu gutgläubigen Trotteln und erstickt ihren Instinkt. Eine Zeitung schreibt was, ein Radio bellt etwas heraus, ein Staatsmann, ein Politiker, ein Redner, ein Philosoph sagt irgend etwas - und der gebildete Mensch glaubt es! Er zieht dem Wort nach wie einem Magnet ... der Fuchs aber zieht der Füchsin nur nach, wenn sie heiß ist - ich finde das natürlicher! Und Jossip ist ein Fuchs, für ihn sind Worte nur Schall. Er weiß, was ihn erwartet!«
»Ich habe ihm Straffreiheit zugesichert.«
Vrana hob beide Hände. »Zugesichert! Was ist eine Zusicherung? Er wird nicht von Staatswegen bestraft - aber wer kann verhindern, daß zweihundert Arbeiter Jossip aus Ihrem Zimmer herausreißen und einfach lynchen? Können Sie das verhindern?«
»Das ist doch Dummheit.« Osik schob die Teetasse fort. »Keiner hätte ihn gelyncht!«
»Wissen Sie das so genau?« Vrana lächelte hämisch.
Meerholdt fuhr herum. »Wenn Sie so reden, Herr Hauptmann, dann haben Sie hier Ihre Hand im Spiel. Dann haben Sie schon zweihundert Mann organisiert, welche die sogenannte >Volksmei-nung< darstellen und einen legalisierten Mord begehen!«
»Mord? Mein bester Herr Meerholdt - Sie verkennen die Wut der Volksseele! Ich bin nur ihr Fürsprecher, weiter nichts.«
»Sie sind Soldat! Offizier!«
»Aber doch immerhin ein Kind dieses Volkes!«
Stanis Osik sprang auf. »Lassen Sie diese albernen Phrasen weg,
Vrana! Sie haben einen Verrat geplant ... fast kann man Jossip bewundern, daß er Sie so gut durchschaute und in seinem Fuchsbau blieb! Aber das Los meiner Tochter ist dadurch nicht gemindert worden, im Gegenteil - jetzt wird Jossip sie besonders scharf bewachen! Er weiß jetzt, daß wir nicht an ihren Tod glauben! Ein Toter ist eine reale Sache ... er schweigt vor allem! Aber ein Entführer kann ausbrechen, er kann sich bemerkbar machen, er ist eine Gefahr! Glauben Sie, daß Elena zart behandelt wird? Ich nicht! Und darum ist ihre Einstellung eine Gemeinheit!«
Er brüllte plötzlich. Hauptmann Vrana wurde blaß.
»Ich verwahre mich dagegen! Ich bin Offizier!«
»Ein Dreckskerl sind sie!« schrie Osik. »Ein Misthund! Ein Scheißhaufen!«
»Herr Osik!« Vrana trat ein paar Schritte vor. »Ich werde das nach Belgrad melden! Ich werde um die Erlaubnis bitten, mich mit Ihnen duellieren zu dürfen!«
»Einen Scheißdreck dürfen Sie!« Osik hieb mit der Faust auf den Tisch. Die Teetasse sprang empor und klirrte zu Boden. Pietro Bonelli steckte den Kopf durch die Tür; als er sah, welche Luft im Zimmer herrschte, verzog er sich schnell. »Melden Sie es nach Belgrad! Ich werde auch etwas melden! Ich werde mit Marschall Tito selbst sprechen und vorschlagen, daß Ihnen eine ganze Kompanie in den Hintern tritt, ehe man Sie auf die Straße wirft!« Er schob Vrana, der etwas antworten wollte, mit einer Armbewegung zur Seite und trat an das Fenster. »Dort oben, in den Felsen, dort muß Jossip sein! Mein Gott - es sollte doch nicht so schwer sein, auf einem so kleinen Raum ein Versteck zu finden!«
»Die schwarzen Berge sind ein einziges Labyrinth.« Meerholdt beugte sich wieder über die Karte. »Sehen Sie bloß diese Luftaufnahmen an! Zerklüftet wie ein Mondgebirge! Wir brauchen Jahre, um einen Flecken von einem Quadratkilometer bis ins einzelne zu untersuchen!«
Stanis Osik schnaufte. Er wischte sich mit seiner schwammigen Hand über die Augen. »Ich werde selbst mit Jossip reden!«
Vrana lächelte maliziös. »Sie?«
»Ja. Ich. Ich werde allein mit einem Lautsprecher in den Berg gehen und mit ihm reden! Und keiner folgt mir! Und wenn Sie, Vra-na, eine Dummheit machen und Ihre Dreckskerle herumpostieren oder sogar selbst in die Nähe kommen, knalle ich Sie ab! Und ich werde es in Belgrad verantworten können!«
Hauptmann Vrana schwieg. Er kannte den langen Arm Osiks bei Marschall Tito, er wußte, daß Osik Recht bekam, wenn er wollte, er wußte, daß er nur ein Stück Dreck war, das in einer Hauptmannsuniform steckte und Befehle entgegennahm.
Ralf Meerholdt sah von der Karte auf.
»Darf ich Sie begleiten, Herr Osik?«
»Auch Sie nicht, Meerholdt! Keiner!«
»Jossip ist zu allem fähig. Er könnte Sie überwältigen.«
»Was hätte er davon?«
»Was hatte er davon, als er Elena entführte? Als er ihren Tod vortäuschte - wir wollen hoffen, daß er vorgetäuscht ist!«
»Das kann ich Ihnen sagen: Er wollte die Arbeit am Stauwerk stoppen! Er wollte Unruhe in die Leute bringen! Er wollte auf kalte Art sabotieren! Ist es ihm nicht gelungen?! Hatten Sie nicht einen Aufstand im Lager?! Stockte der Bau nicht fast zwei Wochen lang, bis auf die notwendigsten Arbeiten? Jetzt hat er sein Pulver verschossen - er weiß es! Sein Plan zieht nicht mehr - und er behält Elena nur aus eigener Sicherheit. Sie soll ihn nicht verraten ... vor allem nicht seinen Schlupfwinkel! Kann man es ihm verübeln? Er mißtraut allen!«
»Weil er selbst ein Schwein ist!« Vranas Stimme war heiser vor Wut.
»Weil er Sie kennt!« Osik wandte sich ab. »Heute abend steige ich auf! Meerholdt, Sie fahren mir den Lautsprecher bis zum Waldrand und verschwinden dann. Und Ihre komischen Typen, Hauptmann Vrana, die Sie da oben zur Bewachung des Felsens und der dusseligen Quelle postiert haben, ziehen Sie zurück! Überhaupt das Bächlein. Meerholdt, ich hätte nicht solch einen Wind darum gemacht! Die Bohrungen haben ergeben, daß sich unmöglich ein einge-schlossener See im Felsen befinden kann. Unmöglich! Überall nur Stein! Wer weiß, wo das Wässerlein herkommt ... ich ziehe auch die Bohrkolonnen heute noch zurück! Sie kosten nur ein Schweinegeld und nützen doch nichts! Ich kann sie für einen Tunnelbau bei Sje-nica besser gebrauchen!«
»Wie Sie wollen, Herr Osik.« Ralf Meerholdt zuckte mit den Schultern. »Ich könnte immer noch schwören, daß dieses Wasser nur ein Abfluß eines großen Sees ist! Trotz der mißlungenen Bohrungen!«
»Schwören Sie nicht! Das klingt so bestimmt... und dabei haben Sie nur eine Vermutung, die sich auf keinerlei Tatsachen stützt als auf ein dummes Gefühl! Wenn ich nach meinem Gefühl gegangen wäre, würde ich heute Besitzer eines Harems von 4.000 Frauen sein, aber nicht einer Baufirma! Gefühle, die Geld kosten, sind Luxus!«
Ralf Meerholdt schwieg. Was sollte er auch dagegen sagen? Osik zu überzeugen von einer Sache, von der er von Beginn an nicht überzeugt war, schien aussichtslos. Er hatte das schon einmal erlebt, damals, in Zagreb, als er bei dem Bau einer Brücke behauptete, der Unterboden des einen Pfeilers sei Fließsand und würde in ein paar Jahren abrutschen und die Brücke auseinanderreißen. Osik hatte gelacht und sich an die Stirn getippt! »Der Boden ist Fels, Meerholdt!« Die Brücke wurde gebaut... und schon nach sechs Monaten rutschte der Pfeiler um zehn Zentimeter nach unten und die Brücke stand schräg. Osik schrie damals und ließ sich dazu hinreißen, den Statiker, der die Berechnungen gemacht hatte, in den Hintern zu treten. Diese Art von Gefühlsausbruch ist in slawischen Ländern weit verbreitet, und man mißt ihr nicht die hochbeleidigende Wirkung bei wie in unseren Gegenden. Er ist mehr der Ausdruck eines kräftigen Mißfallens und eines Tadels, für den es noch keine Wortbezeichnung gibt als eben die Demonstrierung des Tritts. Damals hatte Meerholdt jedenfalls recht behalten und stieg sehr im Ansehen Osiks.
War es heute anders? Osik verneinte den See. Meerholdt spürte seine Anwesenheit fast körperlich. Aber er schwieg . man soll nie zuviel sagen, auch, wenn es wahr ist, dachte er. Es gab ein chi-
nesisches Sprichwort, das er nie vergessen hatte: Ein Esel schreit, ein Kamel brüllt ... aber der Tiger ist lautlos, wenn er seine Beute sieht.
Stanis Osik stand noch immer am Fenster und schaute hinaufin den Bergwald und auf den großen Felsen. Seitdem es für ihn gewiß war, daß Elena noch lebte, hatte sich seine Lethargie in eine Betriebsamkeit verwandelt, die der Arzt verbrecherisch gegenüber dem kranken Herzen nannte. Es gab auf einmal nichts mehr, was Osik nicht in die Hand nahm ... die Befreiung Elenas war nur eines der Dinge, um die er sich kümmerte. Er war auf den Bauten, er inspizierte die Lager, er kontrollierte die Materialnachschübe, er verglich die Arbeitsblätter der Kolonnen mit der Abrechnung, er sah sogar in Bonellis Kantine und Küche hinein und erlebte hier einen kleinen Schock.
Bonelli, kein Angestellter Osiks, sondern ein Kantinenpächter auf eigene Rechnung, betrachtete den schnüffelnden Osik mit schiefem Kopf. Er wurde unruhig, als Osik eine Flasche Slibowitz aus der Kühltheke nahm und sich ein großes Glas einschüttete.
Osik trank es in einem Zug leer, stutzte, nahm die Flasche wieder aus dem Kühlloch der Theke, las die Aufschrift, schüttelte den Kopf, goß sich noch ein Glas ein und trank es. Dann stellte er die Flasche mit einem Krach auf den Tisch.
»Was ist das!« fragte er laut.
Bonelli schwitzte und kam langsam näher.
»Slibowitz.«
»Das hier?« Osik zeigte auf die Flasche.
»Ja. Es steht ja drauf!«
»Was drauf steht, braucht noch lange nicht das zu sein, was drin ist!« Osik schnaufte wieder. »Und Slibowitz ist nicht drin!«
»Sie müssen's ja wissen.« Bonelli grinste frech. »Ich habe es als Slibowitz in Sarajewo selbst eingekauft.«
»Wo?« wollte Osik wissen. Bonelli zuckte mit Armen, Schultern und Beinen.
»Den Laden kenne ich nicht mehr! Ich bin ja fremd in Sarajewo.
Es war ein kleiner Laden.«
»Dann fahren wir zusammen nach Sarajewo, und du zeigst mir den Verbrecher! Das ist Wasser mit Alkoholgeschmack.« Osik goß sich noch einmal ein Glas voll und kippte es hinunter. Er schüttelte sich. »Bei allen Ikonen - das ist eine Sauerei! Und du verkaufst es den Arbeitern als echten Slibowitz?!«
»Es steht ja auf der Flasche«, beharrte Bonelli eisern.
Er grinste frech, aber es war ihm nicht wohl in seiner Haut. Kommandieren konnte ihn Osik nicht . dazu war er ein freier Mann. Aber er konnte den Arbeitern sagen: Trinkt keinen Tropfen mehr bei Bonelli! Der Kerl betrügt euch! Wen ich ab heute bei Bonelli sehe, dem kündige ich! Und dann war Bonellis Kantine nur noch einen Haufen Dreck wert, und er konnte Zabari auf dem schnellsten Wege verlassen, ehe man ihm beide Augen auf einmal blau schlug. Es war eine sehr dumme Situation für Bonelli.
Stanis Osik setzte sich vor die Theke.
»Was hast du außer Slibowitz?« fragte er.
»Tiroler Wein.«, stotterte Bonelli.
»Weiter!«
»Anisette . Pfefferminz . einen Anis . Cinzano . Aperitif . Kognak.« Bonelli schwitzte ehrlich und wischte sich mit dem Ärmel über die Stirn. »Und so weiter.«
»Und alles ist so ein Mist wie dein Slibowitz?« Osik trommelte mit den dicken Fingern auf die Tischplatte. »Gib mir einen Kognak.«
Bonelli seufzte. Er griff unter die Theke und goß seinen geliebten Napoleon ein . den Privatkognak, der rein war wie kein anderer. Diesen brachte er Osik. Stanis roch am Glas . er sah Bonelli an . er roch noch einmal und trank dann den Kognak mit kleinen, genießerischen Zügen.
»Hm!« machte er. »Woher, du alter Gauner?«
»Direkt aus Frankreich!«
»Und was kostet ein Glas?«
Bonelli sah an die Decke. »Herr Osik - gibt es einen hier in Zabari, der einen solchen Tropfen zu würdigen weiß? Nur drei, Herr
Osik! Sie, Herr Meerholdt und ich! Darum ist der Kognak unverkäuflich!«
»Und was kriegen meine Arbeiter?«
»Eine Spezialmarke! Wollen Sie sie probieren?«
»Der Himmel bewahre mich davor! Ich habe von deinem Spezi-al-Slibowitz genug!« Osik sah Bonelli aus seinen kleinen Augen an. »Wieviel Prozent Wasser setzt du zu?«
Bonelli kaute an der Oberlippe. »Ich verstehe nicht.«
»Wieviel Wasser?« brüllte Osik.
»Auf sechs Flaschen eine ganze Flasche!«
Stanis Osik hieb sich auf die Schenkel. »Du Erzgauner! Du Höllenhund!«
Bonelli hob wieder die Hände. »Ich tue es nur aus gesundheitlichen Rücksichten. Alkohol in starkem Maße erregt die Sinne! Alkohol macht süchtig. Alkohol hebt den Drang nach den Frauen.«
»Halt's Maul«, sagte Osik grob.
»Und wir haben keine Frauen hier! Wir leben wie auf einer Insel. Darum dachte ich: Mische ein wenig Wasser in den scharfen Schnaps ... das tut den Armen gut! Wasser schadet nicht, Wasser beruhigt. Ich habe es nur aus Menschenfreundlichkeit getan ... aus purer Nächstenliebe! Ich habe mit ihnen gefühlt und kenne ihre Nöte! Glauben Sie mir.«
Stanis Osik erhob sich. Er betrachtete Bonelli wie ein ausgestelltes Gemälde. »So etwas wie dich müßte man in Spiritus legen und für alle Zeiten aufheben!« sagte er. »Eine solche Ansammlung von Frechheit und Schlauheit haut einen glatt um!« Er faßte Bonelli an den Rockaufschlägen und zog ihn zu sich heran. »Ab morgen bekomme ich täglich eine Flasche Napoleon, verstanden?!«
»Sehr gut, Herr Osik!«
»Und deine Spezialmischungen behältst du bei!«
»Jawohl, Herr Osik!« schrie Bonelli. Er strahlte.
»Aber -« Osik hob die Hand. »Du verkaufst sie ab heute zum halben Preis.«
Bonelli warf die Flasche Slibowitz gegen die Wand, als Osik die
Kantine verlassen hatte, und fluchte wie ein piemontesischer Eseltreiber. Dann kletterte er auf einen Stuhl und änderte auf der Preistafel, die über der Theke hing, die Preise um. Und jedesmal, wenn er einen alten Preis durchstrich und einen neuen dahinter setzte, seufzte er tief auf und bestätigte sich immer wieder, daß er ein schweres Schicksal habe.
Der Zustand Rosas besserte sich zusehends. Der Bluterguß war zurückgegangen, die Rippen schmerzten nicht mehr ... der Arzt hielt es nicht für nötig, sie nach Sarajewo zu bringen und zu röntgen. »Wir haben es schlimmer gesehen, als es ist«, sagte er zu Meerholdt nach der letzten Untersuchung. »Es ist das alte Lied. Katzen sind zäh!« Dabei lächelte er zufrieden und zwinkerte Meerholdt zu. »In zwei Tagen darf sie sogar aufstehen . die frische Bergluft wird ihr gut tun und sie kräftigen. Nur -« Der Arzt hob den Zeigefinger wie ein Lehrer - »keine Aufregungen! Auch nicht -« er hüstelte -»in der Liebe! Schonung, mein Bester. Vollkommene Schonung. Das muß man den Männern sagen, sonst vergessen sie, daß sie in erster Linie Beschützer, und dann erst Liebhaber sein sollen! Ihre Seele ist kränker als ihr Körper . ihre Nerven haben einen Stoß bekommen, und nun schwingen sie noch nach. Erst, wenn sie ganz zur Ruhe gekommen sind, können Sie mit Rosa wieder Turteltäubchen spielen!«
Meerholdt fand die Ausdrucksweise des Arztes ein wenig zu kraß, aber er lächelte und gab ihm die Hand.
»Ehrenwort, Sie Pillendreher - ich werde Rosa wie ein rohes Ei behandeln.«
»So wieder auch nicht! Gerade Liebe heilt die Nerven vorzüglich. Ein Küßchen, ein bißchen Streicheln, Schmusen - wie man so sagt -das hilft ungemein! Gerade bei Frauen!«
Meerholdt nickte. »Auch das werde ich tun, Doktor. Darf ich ihr wenigstens sagen, daß ich sie heiraten will?«
»Selbst damit würde ich warten, Herr Meerholdt. Gerade diese Aus-sicht würde in ihr einen Sturm entfachen. Und alles, was stürmt, alles, was sie erregt - ob es das Schlechte oder das Schöne ist -, wollen wir vermeiden.« Der Arzt rollte seinen weißen Mantel zusammen und steckte ihn in die Aktentasche. »Ich würde vorschlagen, ein paar Wochen abzuwarten und dann mit Rosa an das Meer zu fahren. Nach Dubrovnik oder Split oder auf die Insel Hvar. Dort hat sie die kräftige, salzige Meerluft und wird völlig gesunden. Und dort - eigentlich sehr romantisch, Herr Meerholdt - unter Palmen, am weißen Strand und blauen Meer, können Sie ihr sagen, was Sie vorhaben.«
»In ein paar Wochen.« Ralf Meerholdt sah zu Boden. »Wer weiß, was in wenigen Tagen ist... was morgen ist! Ich habe ein ganz dummes Gefühl, Doktor! Ich habe das immer gehabt, wenn etwas in der Luft lag. Damals, im Krieg, träumte ich im Bunker - es war bei Orel - daß ich eine Puppe sei und man meinen linken Arm abschraubt. Ein verrückter Traum. Drei Tage später wurde ich verwundet, als wir eine russische Stellung stürmten ... am linken Arm! Auch jetzt habe ich eine Unruhe in mir ... ich ahne eine Gefahr, ohne sagen zu können, was es ist und woher sie kommt!«
Der Arzt nickte. »Sie sind überreizt, Herr Meerholdt. Die letzten Wochen und Tage waren auch für Sie eine Nervenprobe! Das geht nicht spurlos vorbei. Man steigert sich dann in eine Psychose hinein und glaubt am Ende selbst daran. Auch Sie sollten so bald als möglich Urlaub machen ... an das Meer mit Rosa, wie ich schon sagte. Sie haben es beide nötig!«
Meerholdt nickte und lächelte schwach. »Wie schön ist es, Arzt zu sein! Man hat dann für alles eine medizinische Erklärung und eine Therapie bei der Hand. Psychose ... Nervenknacks ... neuro-vegetative Störungen. Therapie: viel Ruhe, keine Aufregung, gutes Essen, viel Gehirnnahrung. Medikamente mit Glutamin. Nein, nein, Doktor - so einfach ist das nicht in Zabari! Hier geht es um eine Naturauseinandersetzung, die man medizinisch nicht angehen kann. Vielleicht philosophisch ... aber das wäre ein Gebiet, das jenseits aller Realität liegt! Hier aber ist Realität! Wenn Sie sich um-blicken, Doktor, dann sehen Sie es plötzlich, vorausgesetzt, daß Sie einen Blick für diese Dinge haben: Die Felsen, der Wald, das Tal, die Schluchten, die Bäche, die Menschen, die Tiere, die Erde und der Himmel ... alles, was Sie hier sehen, ist gegen uns feindlich eingestellt! Wir sind in eine jahrtausendealte Ordnung eingebrochen und wollen sie in zwei Jahren umstellen nach einem nüchternen Bauplan, der hier in meinem Gehirn entstanden ist. Im Gehirn eines einzigen Menschen! Wir werfen alles um, was Jahrtausende bestanden hat... wir lenken die Bäche neu, wir sprengen in die Felsen Straßen, wir leiten Wasser in unfruchtbare Gebiete, wir schaffen künstliche Seen und zwängen das Wasser ein, um mit seiner Kraft Strom zu erzeugen. Strom, der Werke speist, Licht gibt und Energie entlädt, die diese ganze Landschaft neu bildet und formt! Landschaft und Mensch! Wir nennen es in den Konstruktionsbüros ein >Projekt<, -es ist in Wahrheit ein unerbittlicher Kampf gegen die Natur.« Meer-holdt atmete tief auf. »Und in diesem Kampf - das spüre ich - steht eine Wende bevor! Ich spüre es förmlich körperlich, Doktor.«
»Sprechen Sie mal mit Osik darüber«, sagte der Arzt beeindruckt.
»Osik!« Meerholdt winkte ab. »Ich habe es versucht. Er nennt es Hirngespinste! Er ist ein Rechner - aber er hat kein Gefühl für die Dinge, die ihn umgeben. Es heißt, jeder Mensch ist ein Sender und Empfänger . er hat ein Strahlungsfeld, das ihn umgibt.« Meerholdt lachte gequält. »Um es banal zu sagen: Bisher habe ich gesendet . meinen Willen ausgesendet . jetzt empfange ich plötzlich, und es ist eine starke Strahlung, von der ich nur nicht weiß, woher sie kommt!«
Der Arzt sah Meerholdt eine Weile schweigend an. Dann gab er ihm die Hand. »Nehmen Sie es mir nicht übel, Herr Meerholdt, aber als Mediziner muß ich Ihnen sagen, daß dies Auswirkungen eines überbelasteten und nicht zur Ruhe gekommenen Nervensystems sind. Spannen Sie aus, erholen Sie sich . ich garantiere, daß Ihnen dann diese >Gefahrstrahlen<, um einmal im spiritistischen Jargon zu sprechen, nicht mehr zu nahe kommen.«
Nachdenklich sah Meerholdt auf die Tür, die sich hinter dem Arzt schloß. Ausspannen ... am Meer liegen und den weißen, pulverfeinen Sand durch die Finger rinnen lassen ... das Rauschen des Meeres um sich und das Fächeln der niedrigen Palmen im warmen Wind, der herüber kommt von der Küste Afrikas ... der Wind der weiten Sahara.
Meerholdt schüttelte den Kopf. Unmöglich, das Werk zu verlassen! Noch ein Jahr - vielleicht noch ein halbes dazu ... dann stand der Damm, dann donnerten die Turbinen, dann surrte der Strom von Zabari über das Land der schwarzen Berge. Vielleicht war dann etwas Zeit, sich auszuruhen und das Leben für ein paar Wochen zu genießen ... ein paar Wochen nur, bis zur nächsten Einsamkeit, zum nächsten Bau. Dann würde Rosa seine Frau sein, er würde ein gemütliches Heim haben, und er würde wissen, wozu er sich in die Arbeit stürzte und für wen er das Geld auf der Bank von Belgrad deponierte.
Rosa ... ein Haus... Kinder ... ein Garten, in dem sie spielen konnten, ein Planschbecken. Er würde Rosen pflanzen und sich ein Gewächshaus anlegen ... viel Rasen sollte um das Haus sein ... viel Wiese, auf der man tollen konnte mit den Kindern.
Meerholdt lächelte verträumt. Wie weit das noch alles lag, wie phantastisch.
Er öffnete die Tür von Rosas Zimmer und ging hinein.
Die Einzelaktion Stanis Osiks in der Nacht war nur ein halber Erfolg. Immerhin - sie war ein Erfolg!
Osik hatte mit Jossip gesprochen!
Als Meerholdt das Mikrophon, die Kabel, den Verstärker und den Lautsprecher am Waldrand aufgebaut hatte und Osik verließ, wartete Stanis noch eine halbe Stunde, ehe er zu sprechen begann. Er hatte eine geladene Pistole neben sich liegen und beobachtete seine Umgebung mit einem starken Nachtglas.
Nichts rührte sich. Die vollkommene Stille umgab ihn. Nur der Mond zauberte Schatten und Lichtbündel zwischen die Bäume und verstärkte den Eindruck, daß die Berge Montenegros wirklich schwarz sind.
Stanis Osik zitterte ein wenig. Die Aufregung war stärker, als er sich eingestand. Er atmete hastig, ehe er das Mikrophon einschaltete und sich räusperte.
»Jossip!« sagte er. Seine Stimme hallte durch den Lautsprecher weit in die Berge hinein. Stanis Osik lauschte ihr und dem Echo, das zweifach zurückgeworfen wurde. »Jossip Petaki ... hier spricht Sta-nis Osik! Der Vater Elenas. Ich bin allein, ganz allein am Rande des Waldes! Ich gebe dir mein Wort, daß ich allein bin und daß keiner im Umkreis von 500 Metern bei mir ist. Ich möchte dich sprechen, Jossip - ohne Hinterlist, ohne, daß dir etwas geschieht!«
Jossip lag wieder am Bach und kühlte seine Kniewunden, als er die Stimme Osiks hörte. Er zuckte auf, ergriff seine Axt und kroch dem Felswege zu, der den Wald von dem Berg trennte. Dort lag er zwischen den Steinen und lauschte. Er sah Osik am Waldrand sitzen, allein, vor sich den Lautsprecher, das Mikrophon in der Hand.
Jossip wartete.
In der Hütte erreichte die Stimme Osiks Elena, die am Herd stand und kochte. Sie zuckte zusammen, als sie die Worte hörte, und ließ den Topf fallen, den sie in der Hand hielt.
»Vater.«, stammelte sie. »Vater.« Dann schrie sie auf, stürzte auf die Tür zu, rüttelte an ihr und schrie, schrie. »Vater! Hilf mir! Vater!! Hilfe Hilfe!!« Sie schlug mit beiden Fäusten gegen den Balken, sie trat dagegen, sie rannte in sinnloser Verzweiflung mit der Schulter gegen die dicken Bohlen, bis der ganze Körper schmerzte und sie wimmernd an der Tür auf die Knie fiel. »Mein Gott!« stammelte sie. »Hilf mir doch! Mein Vater ist hier . mein Vater!«
Jossip lag auf der Erde und lauschte. Stanis Osik sprach weiter.
»Ich habe dir gestern 100.000 Dinare geboten, wenn du Elena freigibst. Du sollst sie auch heute noch haben. Du brauchst sie nicht selbst zu bringen . laß sie frei laufen, und sie wird nicht verraten, wo dein Versteck ist! Die 100.000 Dinare lege ich dir hier an den Waldrand hin .du kannst sie nehmen und wegziehen und ein schö-nes Leben führen. Niemand wird dich suchen. Hörst du mich, Jos-sip?«
Jossip kniff die Augen zusammen. Er richtete sich hinter einem dicken Stein auf und lehnte sich dagegen. Stanis Osik hielt den Atem an ... er starrte in die Dunkelheit und die hellen Flecken, die der Mondschein auf den Boden zauberte. Sein Herz schlug wie eine Trommel ... er preßte die Hand auf die Brust und ächzte.
Plötzlich fuhr er empor ... er umklammerte das Mikrophon und stieß mit dem Kopf nach vorn.
Eine Stimme ... eine Stimme aus den Felsen ... dünn, wie weit weg ... aber vernehmbar und deutlich.
»Ich brauche dein Geld nicht, Osik! Ich habe Elena nicht mitgenommen, um Geld zu bekommen!«
Osik spürte, wie kalter Schweiß über seinen Körper rann. Er stöhnte leise. »Aber sie lebt?« fragt er durch das Mikrophon.
»Sie lebt, und es geht ihr gut.«
»Das ist schön, Jossip.« Stanis Osik traten die Tränen in die Augen. »Warum gibst du sie nicht heraus?«
»Ich habe meine Gründe, Osik. Ich hasse dich nicht ... ich hasse auch Elena nicht, obgleich sie Rosa schlug. Meine Rosa, Osik! Ich hätte sie töten müssen dieser Schläge wegen.«
»Sie tat es aus Eifersucht, Jossip. Verstehst du das nicht? Gerade du nicht?«
Jossip schwieg. Er lehnte hinter seinem großen Stein und wischte sich über die Stirn. Gerade du ... sagte er. Gerade du. Eifersucht . sie macht wahnsinnig, sie macht toll, sie läßt den Menschen zum Mörder werden ... Jossip nickte.
»Geh weg aus Zabari, Osik«, rief er zurück. »Geh sofort weg! Es wird Schreckliches geschehen ... darum geh, Osik!«
»Nicht ohne Elena.«
»Ich verspreche dir, sie dir wiederzubringen! Sie und du und ich . wir werden die einzigen sein, die Zabari wiedersehen. Ich muß sie hierbehalten, um ihr Leben zu retten ... geht sie mit dir nach Zabari, wird auch sie getötet werden. Ich bringe dir Elena gesund nach
Sarajewo! Warte dort auf mich!«
Stanis Osik erhob sich und wollte der Stimme entgegenkommen. Jossip sah es und schrie.
»Bleib stehen, oder ich muß mich wehren!«
Osik blieb stehen, das Mikrophon in der Hand.
»Laß uns vernünftig sprechen, Jossip! Brauchst du etwas?«
»Verbandstoff und Mittel gegen Fieber und Wundbrand.«
Osik hob beide Hände. »Sei kein Idiot, Jossip! Das kannst du nicht selber heilen! Wenn du verwundet bist, mußt du zu einem Arzt!«
»In Zabari hängen sie mich auf!Lieber sterbe ich in meinen Bergen wie ein Stück Wild.«
»Ich werde dir die Sachen bringen.« Osik ging zurück zu seinem Klappstuhl und setzte sich. »Ich lege dir alles auf den Weg dort. Noch etwas?«
»Ja.« Jossips Augen leuchteten. Verbände, dachte er. Fiebermittel, Kühlung des Wundbrandes! Ich bin gerettet ... ich habe mein Leben wieder. Eine tiefe, fast hündische Dankbarkeit Osik gegenüber stieg in ihm empor. »Verlaß sofort Zabari, Stanis. Ich bitte dich darum. Hörst du . ich bitte dich! Ich schwöre dir bei Gott, daß Elena nichts geschieht!«
»Dann laß sie frei!«
»Sie würde mich verraten!«
»Nein. Wir werden morgen früh abreisen, wenn du Elena freigibst.«
Jossip schwieg. Er zögerte. Osik zitterte, wie ein Schüttelfrost überkam es ihn. Jetzt entscheidet es sich . jetzt wird er antworten. Osik drückte die Hand gegen das Herz. Er glaubte, zu ersticken.
Jossip schüttelte langsam den Kopf.
»Es geht nicht, Stanis. Ich habe Angst vor der Schwäche der Menschen.«
Stanis Osik hörte, wie Steine zu Tal rollten, wie in der Ferne ein Schritt durch die stille Nacht knirschte. Jossip ging. »Bleib!« schrie Osik grell. »Führ mich zu Elena . laß sie mich sehen . nur einmal sehen . einmal sprechen! Ich verrate dich nicht.«
Seine Stimme verlor sich in den Bergen . das Echo warf seine
Stimme zurück ... sie überschlug sich ein paarmal.
Er lauschte. Die vollkommene Stille war wieder um ihn. Der Mond wanderte ... die hellen Flecken auf dem Boden verschoben sich.
Jossip schwieg.
Da klappte Osik weinend seinen Stuhl zusammen und stieg hinunter ins Tal.
Dort, wo die Lichtung begann, wo die Holzfällerkommandos der Bautrupps das Bauholz schlugen, erwarteten ihn Meerholdt, der Arzt und Hauptmann Vrana.
Vrana rannte unruhig hin und her. Er stürzte auf Osik zu, als er aus der Dunkelheit des Waldes hervortrat, und fuchtelte mit beiden Armen durch die Luft.
»Haben Sie ihn erreicht?«
Osik nickte. »Ich habe ihn gesprochen.«
»Was?« Ralf Meerholdt fuhr sich mit dem Finger in den Kragen, als sei er plötzlich zu eng geworden. »Sie haben ihn gesprochen?«
»Ja.«
»Und Elena?«
»Sie lebt.«
»Sie lebt!« Hauptmann Vrana tobte. »Und Sie sind noch immer dafür, daß man diesen Kerl leben läßt und nicht ausräuchert?!«
»Ja. Er hat versprochen, Elena gesund zurückzubringen, wenn -«, er stockte und sah die drei groß und mit entsetzten Augen an - »wenn Sie und alle hier, alle in Zabari getötet sind!«
Hauptmann Vrana biß sich auf die Lippen. »Er ist verrückt geworden.«
Osik wandte sich an den Arzt. Er sah ihm ins bleiche Gesicht und zuckte mit den Schultern. »Ich weiß nicht, was er vorhat! Aber es muß Irrsinn sein, denn solch ein Plan ist undurchführbar. Aber ich brauche Medikamente. Doktor . ich brauche einige Binden, Penicillinsalben, Schmerztabletten, Wunddesinfektionsmittel.«
»Und Zyankali!« sagte Vrana giftig.
»Ich habe Jossip versprochen, es ihm hinaufzuschicken.«
Vrana schlug sich an die Stirn. »Versprochen! Einem Verbrecher versprochen! Krepieren soll er wie ein toller Hund! Doktor, wenn Sie die Mittel herausgeben, legen Sie ein paar Pillen Gift bei! Schreiben Sie drauf:zum Schlafen! Es ist keine Lüge ... er wird danach schlafen!«
Stanis Osik sah Meerholdt hilfesuchend an. Die Unterredung mit Jossip hatte in ihm allen Widerstand gebrochen.
»Sorgen Sie dafür, Meerholdt, daß die Dinge an den Waldrand kommen, heute nacht noch! Er soll sehen, daß ich mein Wort halte. Dann wird er auch seines halten.«
»Die Spekulation auf die Verbrecherehre!« Hauptmann Vrana lachte höhnisch.
»Sie werden es hinauftragen, Meerholdt?« Osik beachtete Vrana nicht.
»Ja.« Meerholdt zögerte, aber dann sagte er es doch. »Ich hätte auch noch eine Bitte, Herr Osik.«
»Ja - und?«
»Lassen Sie ab morgen wieder den Felsen bewachen ... ich ahne, was Jossip vorhat!«
»Wie Sie wollen - mir ist alles gleichgültig! Elena lebt ... das ist mir mehr wert als hundert Staatsbauten.«
Als Jossip in seine verborgene Hütte zurückkam, unter dem Arm ein Paket mit Verbandszeug und Medikamenten, fand er Elena ohnmächtig an der Tür liegen. Sie hielt ein kleines Beil in der Hand, mit dem sie versucht hatte, die Tür aufzuschlagen. Er schüttelte den Kopf, nahm den schmalen Körper wie ein Kind auf die Arme und trug sie zurück zu dem Strohlager. Dann wickelte er das Paket aus, schluckte zwei Schmerztabletten und wusch seine Kniewunden und die Schulter mit Watte und einer Desinfektionslösung aus. Darauf legte er die Verbände an, nachdem er Penicillinpuder in die Wunden gestreut hatte. Die Knie verband er gut... aber bei der großen Schulterwunde stöhnte er oft und hielt die Verbandrolle mit den Zähnen fest, um die Mullstreifen fest um den Körper ziehen zu können.
Zwei Tage später durfte Rosa zum erstenmal aufstehen. Am Arm Meerholdts ging sie in die Sonne und wanderte ganz langsam über die Dorfstraße zu ihrem Haus. Fedor und Marina kamen ihr entgegen ... der Alte küßte sie auf die Stirn, und Marina weinte vor Freude und machte vor Meerholdt einen tiefen Knicks.
»Nur eine halbe Stunde«, hatte der Arzt gesagt. Meerholdt hielt sich streng daran und führte Rosa nach Ablauf der Zeit wieder zurück. Er schob ihr einen Sessel in die Sonne am Fenster, umwickelte ihre Beine mit einer Decke und setzte sich zu ihr. Bonelli und Katja brachten Früchte und Obstsaft und erzählten, daß sie bald heiraten wollten. Sobald die Mauer stand und ein großer Teil der Arbeiter wegzog, wollte auch Pietro Bonelli zurück nach Italien und Katja mitnehmen. Die Kolonnen, die später das Turbinenhaus ausbauten, kamen mit einer kleinen Kantine aus, deren Führung unter der Würde Bonellis war.
»Ich habe schon einmal Könige bedient!« renommierte er. »In Griechenland habe ich die Majestäten bewirtet, als wir einen Kanal bauten. Kinder - diesen Tag vergesse ich nie. >Bonelli<, sagte die Königin Friederike zu mir, >Bonelli, Ihr Steak ist ein Gedicht!< - >Ma-jestät<, habe ich da geantwortet, >das ist nur der Prolog ... wenn Sie den kommenden Braten probieren, wird es wie eine Hymne sein!<«
Katja war stolz auf ihren Pietro und himmelte ihn an. Josef Lu-kacz hatte sie seit dem letzten blauen Auge Bonellis nur einmal wieder gesprochen. Sie war am nächsten Morgen zum Materiallager gegangen, hatte sich Lukacz vor die Tür holen lassen, und dort, vor allen Leuten, vor den sich biegenden Arbeitern, hatte sie sich auf die Zehenspitzen gestellt und Josef vier kräftige Ohrfeigen gegeben. Lukacz ließ es mit sich geschehen ... wie ein geprügelter Hund schlich er in die Materialhalle zurück und fuhr am Mittag mit dem nächsten Wagen nach Plewlja. Er kam von da ab nicht wieder, sondern fuhr die Kolonne zwischen Plewlja und Niksic.
Rosa saß in der Sonne und war glücklich. Sie hielt die Hand Ralfs fest und hatte den Kopf an seine Schulter gelehnt. Ihre langen Haare hingen über die Sessellehne bis fast auf den Boden.
»Bald ist es Sommer«, sagte sie. »Nun bist du schon ein Jahr bei uns. Ein ganzes Jahr. Es ist so schnell vergangen.«
Er legte den Arm um ihre Schulter und drückte sie an sich. »Weißt du noch, wie ich zum erstenmal nach Zabari kam? Mit dem zerbrochenen Wagen, den sie später abschleppten und reparierten?«
»Du kamst damals in das Zimmer und hast mich nicht gesehen«, sagte sie. Sie lächelte vor sich hin. »Ich stand am Herd, und du warst so müde. Oh, ich weiß es noch ganz genau. Du hattest keinen Hut und keine Mütze auf. deine blonden Haare leuchteten im Schein des Feuers. Und am anderen Morgen hast du dich draußen am Brunnen gewaschen ... und wieder leuchteten deine Haare wie Gold in der Sonne. Schon damals habe ich dich geliebt.«
Sie drehte den Kopf zu ihm hin und strich mit den Fingerspitzen zärtlich über seine Augen.
»Sag ... wann hast du gemerkt, daß du mich liebst?«
Ralf zögerte. Wann war das, fragte er sich. Als er das zweite Mal nach Zabari kam, dachte er, mit dem Willen, Elena zu lieben, bis er Rosa am Wege stehen sah, mit dem großen Strauß Blumen am Arm, hinter dem sie ihr Gesicht verbarg. Damals küßte er sie ... doch wußte er damals schon, daß er sie so lieben würde, wie es heute selbstverständlich war?
»Ich weiß es nicht«, sagte er ehrlich. »Es war plötzlich da. Ich spürte, daß deine Nähe mich glücklich machte, daß deine Stimme, deine Augen, deine Haare, dein Körper, daß alles an dir und aus dir mir fehlte, wenn ich es einen Tag entbehren mußte. Vielleicht war es da, Rosa.«
Sie nickte. »Wie lange bleibst du?« fragte sie leise. Er sah erstaunt auf.
»Warum fragst du? Bestimmt noch ein Jahr.«
»Ein Jahr noch.« Sie schloß die Augen. »Ich will dieses Jahr erleben wie keines vor ihm. Es wird das letzte glückliche Jahr sein.«
Er schüttelte den Kopf und drückte sie wieder an sich. »Es werden viele Jahre kommen, Rosa. Viele, viele Jahre des Glücks. Wir werden heiraten.«
Da weinte sie vor Freude wie ein Kind.