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Einen Tag später - am frühen Morgen - entdeckte der Vorarbeiter und Schichtführer Drago Sopje einen Einbruch.
Die Hinterwand des Magazins war aufgesägt worden, ein paar Bretter waren gelöst, und der Dieb war in das Lager eingestiegen. Keiner hatte ihn gesehen, niemand hatte etwas gehört... der Einbruch mußte in den frühen Morgenstunden geschehen sein, als die Nachtschicht noch draußen arbeitete und die Frühschicht noch selig schlief.
Ralf Meerholdt und Stanis Osik besichtigten die Einbruchstelle und das Magazin.
»Es ist nichts gestohlen worden«, sagte Drago achselzuckend. »Die wertvollsten Sachen sind noch da. Nur drei dumme Sprengladungen fehlen und zweihundert Meter Zündschnur.«
»Was?!« schrie Meerholdt. »Zündschnur und Sprengladungen?!« Sein Gesicht war vor Entsetzen verzerrt, verständnislos sah in Osik an.
»Da will einer ein Feuerwerk machen.«, sagte er scherzhaft. Weiter kam er nicht, denn Meerholdt rannte wie gehetzt aus dem Magazin und stürzte in die Konstruktionsbaracke.
Sekunden später heulten die Alarmsirenen über Zabari. Aber nicht nur sie . auch die Katastrophenhörner gellten durch das Land, auf-und abschwellend, die Luft mit schauerlichem Geheul erfüllend.
Räumung der Bauten! hieß das. Sofortige Arbeitsniederlegung. Räumung des Dorfes . des Tales . alle Menschen weg aus Zabari.
Stanis Osik kam in das Zimmer. Er schwitzte und war ebenfalls bleich geworden.
»Sind Sie wahnsinnig geworden, Meerholdt?!« schrie er. »Was soll
der Unsinn?! Die Bauten werden ja geräumt!«
Von draußen hörte man das Trappeln tausender Füße ... die Arbeiter liefen zu ihren Baracken und rissen das Wertvollste aus den Spinden und Betten. Der Katastrophentrupp versammelte sich auf dem Lagerplatz ... im Dorf wurde das Vieh bereits aus den Ställen auf die Dorfstraße getrieben.
»Retten Sie alles, was Sie können, Osik!« schrie Meerholdt den Direktor an. »Organisieren Sie den Abzug der Bauern! Lassen Sie sofort das Zeltlager der Soldaten räumen .sie sollen den Abtransport des Viehs und der Bevölkerung leiten! Alle Arbeiter sofort auf die umgrenzenden Höhen! In spätestens einer Stunde darf kein Mensch, kein Tier mehr im Tal von Zabari sein!«
Osik fuhr sich mit beiden Händen an den Kopf. »Sie sind irr, Meer-holdt!« brüllte er. »Was soll das?!«
»Retten Sie Ihr Leben! Ich habe keine Zeit zum Reden!«
Er stieß Osik zur Seite und rannte hinaus. Im Laufen nahm er seinen Revolver aus der Tasche, entsicherte ihn und keuchte den Berg hinauf, dem Wald entgegen.
Bauern kamen ihm entgegen, schnatternd ... eine Schafherde wurde in die Berge getrieben ... vierhundert Arbeiter auf Lastwagen fuhren bereits in die Felsenstraße hinein, während Vrana mit seiner Truppe den Ordnungsdienst aufrecht hielt. Keiner fragte mehr ... noch immer gellten die Sirenen ... es war, als habe sich ein Schrei gelöst, der in tausend Kehlen schlief..
Bonelli rannte jammernd herum und verlud Schnaps und Eßwaren auf ein kleines Auto. Katja schleppte Kisten herbei und stapelte die Waren auf dem Wagen.
»Was ist los?« schrie Bonelli. »Was soll das denn?! Wer weiß denn, was los ist?!«
Keiner wußte es ... aber alle liefen aus dem Tal ... ein schwarzer Strom von Menschen drängte zu der einzigen Straße hin und wälzte sich in die Berge hinein. Menschen, Tiere und Maschinen. Der Katastrophentrupp besetzte die Staumauer und die fertige Brücke . Hauptmann Vrana suchte Meerholdt, um Auskunft zu bekommen.
Stanis Osik stand auf einem Lastwagen und dirigierte den Strom der Flüchtenden.
»Was ist denn los?« schrie Vrana. Osik zuckte mit den Schultern. Die Sirenen verstummten ... das Schreien der Bauern, die ihre Herden antrieben, erfüllte das Tal, durchsetzt von dem Geheul der Motoren und Autos.
Meerholdt hatte unterdessen den Waldrand erreicht. Außer Atem lehnte er sich schweißüberströmt gegen einen Baum und wischte sich über die Augen. Unten im Tal war die Hölle los - Hunderte von Rindern drängten zur Straße hin .die Schafe rannten wirr durcheinander, Bauern brüllten, die schweren Traktoren und Raupenschlepper fuhren rücksichtslos in die Tiere hinein.
Meerholdt sah sich um, ehe er weiterrannte, dem Felsen zu, der dunkel, steil aufgerichtet in den blauen Himmel stieß.
Plötzlich blieb er stehen. Vor Grauen weiteten sich seine Augen.
An der Steilwand des Felsens hing ein Mensch!
Allein, winzig, klebte er auf halber Höhe an der senkrechten Seite, die über Zabari stand.
»Jossip!« schrie Meerholdt grell. »Jossip! Das ist doch Wahnsinn!!!«
Er rannte weiter und stand vor dem Felsen. Nur ein schmaler Pfad führte in schwindelnder Höhe um den Felsen herum, ein Pfad, auf dem zwei Menschen nicht nebeneinander gehen konnten.
Meerholdt kletterte weiter . er riß sich die Hände an den spitzen Steinen blutig, er schürfte seine Knie auf. die Hose zerriß, als er abrutschte und sich an einem vorspringenden Stein festhielt. Dann war er auf dem Pfad und rannte ihn entlang, bis er unter Jossip stand, der langsam herunterkletterte.
Zwischen den Zähnen hielt er die Zündschnüre, während er abstieg . über ihm, in den Felsen gehauen, waren die Sprenglöcher, die er schon in der Nacht geschlagen hatte, bevor er das Dynamit aus dem Lager stahl. Um seine Knie und seine Schulter leuchtete es weiß . die Verbände, die ihm Osik geschickt hatte . die Verbände, die es ihm ermöglichten, diese grausige Tat zu vollbringen.
Meerholdt riß den Revolver empor. Er schoß . er wußte keinen anderen Weg mehr ... er schoß zweimal, dreimal ... das ganze Magazin leer. Aber die Schüsse prallten seitlich von Jossip an dem Felsen ab. Meerholdt zitterte so sehr vom Lauf und der Erregung, daß er nicht ruhig zielen konnte.
Jossip hörte die Schüsse und sah es neben sich im Gestein splittern. Er schaute hinab und sah Meerholdt stehen, den Revolver in der Hand. Ein grausames Lächeln verzog sein Gesicht... er kletterte seitlich weiter, die Zündschnüre durch den Mund abspulend. Mit einem Sprung stand er dann auf dem Pfad, rannte ein Stück zurück und nahm einen dicken Knüppel vom Boden auf. Mit ihm rannte er zurück und stellte sich vor die herabhängende Schnur, bevor Meerholdt sie erreichte. Mit einem Streichholz, das er auch gestohlen hatte, entfachte er die Schnur und sah, wie die kleine, blaue Flamme mit rasender Geschwindigkeit die Schnur entlanglief und den Felsen höher und höher kletterte ... den Sprenglöchern entgegen . dem riesigen Tod des ganzen Landes.
Auch Meerholdt sah die kleine Flamme den Berg hinaufzischen . er schrie noch einmal auf und stürzte vorwärts.
Jossip stand mit dem Rücken an den Felsen gelehnt und ließ den großen Knüppel kreisen ... immer um sich herum wie einen großen Kreis der Vernichtung. Meerholdt stand vor ihm, zerrissen, blutend ... auf die kleine blaue Flamme starrend.
»Jossip! Das ist Irrsinn!« keuchte er. »Reiß die Schnur ab! Du weißt nicht, was du tust!«
»Ich weiß es!« schrie Jossip zurück. »In drei Minuten seid ihr alle ersäufte Ratten!« Er lachte grell und hieb um sich, als sich Meerholdt auf ihn stürzen wollte.
»Was haben dir die tausend Arbeiter getan?« brüllte Meerholdt. »Was haben dir die Bauern getan ... deine Freunde, deine Brüder, das Vieh ... du wirst sie alle vernichten! Reiß die Schnur ab.«
»Die Welt soll untergehen!« Jossips Gesicht war nicht mehr menschlich ... er grinste und hieb um sich. Den Schweiß, der über sein Gesicht und seinen Mund lief, leckte er auf. ein Untier war er in diesem Augenblick seines höchsten Triumphes, ein Körper ohne See-le, ohne Gedanken, ohne Empfinden, ohne Gehör und Gesicht. Er schwankte vor Wonne und schrie dazu mit einer Stimme, die Meer-holdt frieren ließ.
»Du sollst alles bekommen, Jossip.« Meerholdt stand machtlos vor dem Irren und seinem kreisenden Knüppel. »Du sollst die 100.000 Dinare bekommen, die Freiheit, keine Strafe ... du sollst alles haben ... nur lösch die Schnur aus! Du weißt nicht, was du tust.«
»Gib mir Rosa!« schrie Jossip zurück.
Meerholdt schloß die Augen. Vor seinen Lidern flimmerte es. In wenigen Minuten wird der Felsen aufreißen . der eingeschlossene See wird hervorstürzen, er wird das Tal ersäufen mit allem, was in ihm ist . tausend Arbeiter . die Soldaten . die Herden . die Bauern . die Häuser . den Staudamm . das Turbinenhaus . das Lager . die Wagen, das Material, Millionenwerte . alles, alles wird vernichtet sein . wegen Rosa.
Meerholdt ballte die Fäuste . seine Fingernägel rissen die Handflächen auf.
»Ich gebe dir auch Rosa!« schrie er grell. »Nur reiß die Schnur ab.«
Jossip blickte sich um . auf halber Höhe zischte die Flamme empor . noch drei Minuten, und der Felsen riß auseinander. Da sah er über dem Berg eine dichte Rauchwolke aufsteigen . kerzengerade stand der Rauch über dem Plateau, hinter dem seine Hütte verborgen war.
Jossip umklammerte seinen Knüppel. Die Hütte. Elena . sie hat die Hütte in Brand gesteckt . sie ist frei . meine Hütte brennt . die Hütte für mich und Rosa.
»Sterben sollt ihr alle!« schrie er mit sich überschlagender Stimme. Er weinte plötzlich, und weinend, vor Wut weinend, schlug er auf Meerholdt ein und trieb ihn vor sich her, weg von der Schnur, die den Tod bedeutete.
Im Tal sah Hauptmann Vrana den Feuerschein in den Bergen und die dichte Qualmwolke. Er zeigte hinauf und rannte zu seinen Soldaten. »Sieben Mann mit mir!« kommandierte er. »Wenn etwas brennt, dann kann es nur Jossips Hütte sein! Wir haben ihn! Jungs -wir haben ihn!«
Die acht Mann kletterten den Hang hinauf.
Noch immer wälzte sich der Strom der Flüchtenden aus Zabari hinaus. Die letzten Herden wurden weggetrieben, die Arbeiter am Wall räumten die Maschinen weg. Stanis Osik stand auf einem Seitenhügel und sah hinüber zu dem Rauch, der aus den Felsen stieg.
Elena, dachte er. Elenanja. Wenn sie dich retten, stifte ich eine Million für eine neue Kirche in Zagreb!
Ralf Meerholdt hatte sich gebückt ... mit Steinen bewarf er Jossip, der noch immer den großen Knüppel kreisen ließ.
In diesem Augenblick berührte jemand Ralfs Arm. Er fuhr herum und ließ die Steine, die er eben aufgenommen hatte, fallen. Rosa stand hinter ihm, bleich und schmal, mit großen, brennenden Augen.
»Rette dich!« schrie er grell. »Mein Gott ... rette dich! Gleich ist es vorbei!«
Sie ging an Meerholdt vorüber, auf Jossip zu. Wie wild schlug Jossip um sich, als er sie kommen sah.
»Fort, du Hure!« kreischte er. »Fort! Fort!«
»Ich will bei dir bleiben, Jossip.« Rosa hob beide Hände, flehend, mit einer kindlichen, fast betenden Gebärde. »Ich will deine Frau werden ... nur tu es nicht.«
Mit einem Aufschrei stürzte Jossip auf die Schnur. Er erreichte sie ... er wollte sie herunterreißen ... da sprang die blaue Flamme in das Bohrloch und verschwand. Einen Augenblick nur ergriff entsetzte Erstarrung die drei Menschen ... dann krachte es in dem Felsen ... die Wand riß auf. ein unheimlicher, dicker Wasserstrahl schoß aus ihr hervor ... Steine, Felsbrocken, Kies schleuderte er vor sich her wie ein Katapult ... der Fels brach auseinander ... das befreite Wasser zerriß die Wand ... mit einem unbeschreiblichen Krach zerbarst der Berg und stürzte hinab ins Tal. Und mit ihm der See . das Wasser, die Sintflut... die Vernichtung allen Lebens. Der Himmel wurde dunkel ... die Luft war nicht mehr da ... nur ein Brausen, Krachen, Gurgeln und Aufschreien der Natur, ein Zusammenbrechen von Bäumen und Häusern, eine unerschöpfliche Lawine aus Wasser und Erde und Steinen. Es gab keine Sonne mehr . es war nur ein Donnern auf der Welt, ein Donnern des Jüngsten Gerichtes.
Als der Felsen aufriß, warf sich Rosa auf Meerholdt zurück. Sie flog an ihn heran, und von ihrem Aufprall verlor er den Halt und stürzte seitwärts den Hang hinab, rollte, sie umklammernd, zur anderen Seite des Tales und blieb im Wurzelwerk eines Baumes liegen. Bewußtlos, eng aneinandergepreßt, lagen sie so auf halber Höhe und sahen nicht mehr den Untergang Zabaris.
Der See stürzte mit einem einzigen Aufschrei zu Tal. Er riß Jos-sip mit, den weinenden Jossip, der den Knüppel noch einmal hob, ehe ihn die grauenhafte Woge erfaßte. Dann prallte die Flut und mit ihr der ganze Felsen auf die Häuser, das Leben zermalmend, das Tal füllend, auf die Sperrwand zulaufend und sie in einem Anlauf zerbrechend wie ein Gebilde aus Streichhölzern. Die Brücke wurde weggerissen, das Turbinenhaus versank in einer einzigen Flut, das Lager, die Zelte, die Wege wurden in Sekunden überspült. -Hauptmann Vrana und seine sieben Mann wurden vom Hang weggefegt und wirbelten mit den Wassermassen schreiend ins Tal... die Bauern, die noch ihre Herden holten, verschwanden in den Strudeln ... und immer noch, unaufhaltsam, unerschöpflich brach aus dem aufgerissenen Felsen das Wasser hervor und stürzte ins Tal . kristallklares Wasser, das in der Sonne schimmerte wie flüssiges Silber.
Stanis Osik stand auf einer Insel inmitten der Vernichtung. Mit Augen, die alles noch nicht begriffen, sah er die Welt um sich herum untergehen ... es gab kein Tal mehr, nur noch einen See ... es gab keine Sperrmauer mehr ... nur noch Wasser ... kein Turbinenhaus ... kein Lager ... keine Häuser ... keinen Wald ... keine Menschen ... Wasser ... gurgelndes, schreiendes, brausendes Wasser, das aus einer riesigen Wunde der Erde hervorstürzte und immer weiter und weiter lief, als habe man eine Arterie der Erde aufgesprengt, und sie begann auszubluten.
Die Wasserflut erreichte wie eine hohe Wand die Flüchtenden auf der Bergstraße. Bonelli sah sie kommen ... er riß Katja zu sich auf die Arme und rannte den Pfad weiter, höher, immer höher. Dann brauste es unter ihm heran, fegte die Wagen in den Abgrund, stieß die schreienden Menschen in die Tiefe ... die Köpfe von schwimmenden Rindern und Schafen tauchten sekundenschnell auf. dann donnerten die Steine mit der Flut heran und erschlugen sie.
Über die Höhenstraße rannten die Menschen in blinder Panik. Die Arbeiter waren bis auf den Katastrophentrupp, der an der Staumauer in zwei Sekunden vernichtet wurde, in Sicherheit . aber unter den Bauern ergriff die Flut die meisten und wirbelte sie in die Unendlichkeit. Fedor und Marina standen nicht weit von Bonelli auf dem Berg und beteten. Sie knieten nieder, und während unter ihnen die Wassermassen die Welt vernichteten, sangen sie die alten Lieder ihrer Heimat und beteten die alten Gebete ihrer Ahnen.
Über die Felssteige, die sonst nur die mutigsten Tiere nahmen, hetzten die Menschen. Unter ihnen, vor Angst brüllend, kletterte ein Bär hinauf. Kreischend kreisten die Adler über dem versunkenen Land. Und noch immer spie der Felsen die Fluten aus . unersättlich in seiner Vernichtung, die Seitentäler füllend und aus den engen Schluchten ein Bett reißender Flüsse machend.
Stanis Osik stand allein inmitten des Wassers und starrte an dem aufgerissenen Felsen empor. Meerholdts Ahnung - hier war sie wieder Wirklichkeit geworden. Wirklichkeit, die Hunderten Menschen das Leben kostete, Tausenden Tieren . und auch das Leben des bisher geschaffenen Werkes. Die Staumauer war zusammengebrochen . aus dem sich verlaufenden Wasser ragte das Dach des Turbinenhauses hervor . die Brücke lag als ein Gewirr von verbogenem Stahl und zerknickten Hölzern in der Flut. Wo der Felsen herabgestürzt war, über dem Wald, war das Land öde . die Stämme waren mitgerissen worden, nur die Stümpfe ragten aus der Erde . ein Bild wie nach einer großen Schlacht, von der sich der Boden noch nach Jahrzehnten nicht erholt.
Osik senkte den Kopf. Er hatte Meerholdt ausgelacht, er hatte die
Bohrversuche abgebrochen, er hatte Jossip Verbände und Medikamente gebracht und ihm somit die Kraft wiedergegeben, dieses einmalige schaurige Werk der Vernichtung auszuführen. Er dachte an die Worte Jossips: Geh aus Zabari weg! Sofort! Nichts wird mehr leben! Aber du wirst leben und auch Elena. Und Elena lebte ... sie mußte ihm gegenüber in den Felsen sein und wie er hinabblicken auf eine Welt, die keiner mehr erkannte.
Da fiel der große, starke Stanis Osik auf die Knie, schlug die Hände vor die Augen und bettelte zu Gott um Gnade für seinen Irrtum.
Drei Tage dauerte der Fluß aus dem Felsen ... dann hatte sich das Wasser beruhigt ... es floß ab in andere Täler und rauschte durch unbewohnte Gebiete, bis es sich fern aller Siedlungen aus einer Schlucht in die Tara ergoß. Aus dem Felsen quoll jetzt nur noch in starkem Strahl ein mächtiger Bach, der in herrlichen Kaskaden den zerklüfteten Berg hinabstürzte und im See unterging, im See, der einmal das Dorf Zabari war.
Meerholdt und Rosa waren von Suchtrupps gefunden worden, die drei Stunden nach der Katastrophe die umliegenden Gegenden absuchten und auch Stanis Osik von seiner Insel holten. Elena fanden sie ohnmächtig vor der verbrannten Hütte, deren noch immer aufsteigender, beißender Rauch ihnen den Weg wies. Sie hatte in letzter Verzweiflung, als Jossip sie am Tage verließ und ihr höhnisch sagte, daß er jetzt Zabari vernichten wollte, die Tür mit Feuer aufgebrannt und war dann aus dem brennenden Haus geflüchtet, ehe die Balken des Daches einstürzten. Vom Plateau aus sah sie den Untergang Zabaris, und sie war zusammengebrochen vor Grauen und dem Gedanken, daß auch ihr Vater und Ralf Meerholdt von der Woge der Vernichtung zermalmt worden waren.
Bonelli saß bereits wieder in einem gefundenen Zelt und rechnete auf einem Blatt Papier aus, was er verloren hatte. Er war empört und wehrte sich mit Händen und Füßen, als man sein Zelt, eines der wenigen, die man rettete, für ein Notlazarett beschlagnahmte, das der Arzt einrichtete. Osik brüllte ihn an und warf ihn hinaus, als er sich beschwerte . resignierend saß er dann wieder mit seiner Katja auf einem Grasplatz und haderte mit der Welt. Aus Belgrad kam mit dem Flugzeug eine Abteilung Regierungsbeamte nach Niksic und landete mit Hubschraubern auf der Felsenstraße. Sie besichtigte die Katastrophengebiete und versprach den Bauern Entschädigungen und neues Land.
Ralf Meerholdt saß in einem der Lazarettzelte, eingewickelt in Mullbinden, und zeichnete schon wieder. Rosa hatte von dem Sturz weniger körperlichen Schaden erlitten, aber ihre Nerven waren wieder zerrissen . sie hatte drei Tage lang geweint, Tag und Nacht, bis man sie nach Sarajewo in die staatliche Klinik brachte und in einen Heilschlaf versetzte. Jeden Tag rief Meerholdt an und erkundigte sich. »Sie schläft - nichts Neues«, hieß es immer. »Lassen Sie sie schlafen, sie stand am Rande eines völligen Zusammenbruchs.«
Jetzt zeichnete und rechnete er wieder. Osik saß bei ihm am Bett, die Beamten aus Belgrad, die beiden Techniker, die den Untergang überlebt hatten, er zeigte ihnen seine Pläne und war selbst erstaunt, woher ihm seine Gedanken kamen.
»Jossips Rache öffnet für uns ein ungeahntes Kraftfeld«, sagte er. »Wir werden den Strom, der aus dem Felsen kommt, durch große Beton- und Stahlrohre leiten ... wir werden den Felsenmund vermauern und das Wasser gleich vor dem Austritt auffangen und durch die Rohre zu Turbinen leiten, die auf dem Hang stehen, wo ehemals der Wald wuchs. Von dort leiten wir es ebenfalls durch ein Röhrensystem zu dem Staudamm, wo es wiederum durch die unteren Turbinen läuft, um dann als Fluß durch verschiedene Gräben und Kanäle in Gebiete geleitet zu werden, wo es die unfruchtbaren Böden bewässert. So kann uns der freigewordene Fluß dreimal nutzen!«
»Genial!« sagte Osik ehrlich. »Einfach genial! Der Kerl macht aus einem Unglück ein Gewinn! Aus der Verwüstung schafft er Neues!«
Er klopfte Meerholdt vorsichtig auf die Schulter. »Ihr Deutschen seid ein Teufelsvolk!«
Meerholdt lächelte schwach. »Wer hatte damals recht, Osik?«
Stanis winkte ab. Er wurde verlegen. »Fangen Sie nicht wieder von dieser alten Sache an! Ich habe alles nach Belgrad gemeldet. Marschall Tito wird Sie - sobald Sie gesund sind - selbst empfangen. Er wird aus Ihnen einen der berühmtesten Männer Jugoslawiens machen!«
Meerholdt schüttelte den Kopf. »Sie verstehen mich nicht, Osik. Ich will keinen Ruhm ... ich will wieder nach Hause.«
»Nach Zagreb? Mit Rosa, was? Sollen Sie, Meerholdt. Ich richte Ihnen eine wundervolle Villa ein!«
»Ich will nach Deutschland, Osik.«
»Nach -? Aber Meerholdt!« Osik setzte sich schwer.
»Meine Verträge mit Ihrer Regierung laufen in zwei Jahren ab. Ich möchte sie nicht erneuern. Ich hinterlasse Ihnen die Pläne, bis in die kleinste Einzelheit ausgeführt. Sie brauchen nur nach ihnen zu bauen.«
»Nur! Nur! Mir fehlt Ihr Geist! Ihre Hand! Ihre Umsicht! Mir fehlt alles, wenn Sie gehen!« Osik raufte sich die Haare. »Bleiben Sie doch, Meerholdt! Wir bieten Ihnen so viel, wie Sie in der ganzen Welt nicht bekommen! Selbst nicht in den USA!«
»Geld!« Meerholdt schüttelte den Kopf. »Darum geht es nicht. Es geht um die Seele, Osik. Um das Heimweh, das ich habe. Um die Heimat, in die ich gehöre. Ich habe damals vor vier Jahren Ihren Vertrag angenommen, weil ich ein kleiner, unbedeutender Ingenieur war und man in Deutschland die Sucht hat, nur die großen Namen anzuhören und dem Nachwuchs von Beginn an jede Begabung abzusprechen! Es hat gar keinen Zweck in Deutschland, als Unbekannter mit neuen Ideen zu kommen, mit großen Plänen! Wirrsinn, sagen sie dann. Unausgegorenes Zeug! Phantastereien! Jugendideen, die keine Tiefe haben! Erst wenn man dann im Ausland einen Namen bekommen hat, wenn Deutschland sieht, daß der Unausgegorene doch ein guter Wein geworden ist, werden wir wieder importiert und mit Zucker eingestäubt! Das ist die Schattenseite meiner Heimat . aber sie wiegt nicht auf, daß es dort einen Rhein gibt, die Weinberge, Dome, einen Bodensee und Deiche, die kilometerweit an der See entlangführen und auf deren Krone man stehen kann, den Wind im Haar und hinüberblickt auf die Schiffe, die in die Welt fahren. Es gibt auch Schnee dort.«
»Den haben wir auch.« Osik lächelte schwach.
»Ja, den habt ihr auch. Aber wie in Rußland ist auch bei euch der Schnee grausam, eine Faust der Natur gegen den Menschen. Bei uns. O Osik . hätten Sie jemals erlebt, wie die Tannen aussehen, wenn es schneit . ein verschneiter Wald im Schwarzwald . im Sauerland . die Sprungschanzen, von denen die Skispringer durch den Himmel fliegen . die Kinder mit den Schlitten . die hingeduckten Häuser im Allgäu, wenn nur der Qualm anzeigt, wo Menschen wohnen. Es ist wie ein Märchen, Osik . eine Winternacht in Deutschland, zu Weihnachten, wenn die Tannenbäume brennen und die Lieder der Kinder durch die eiskalte Luft schwirren und die Glocken läuten und die Menschen in der Christmesse beten, kniend unter dem Orgelklang, der weit ins Land tönt. Osik, das kann mir kein Geld ersetzen, keine fremde Schönheit, kein Mensch auf dieser Welt. Und darum will ich zurück nach Deutschland.«
Osik schwieg. Er verstand Meerholdt. Traurig blickte er auf die Zeichnungen, die um das Bett herum auf der Erde lagen.
»Und wir werden dann Ihr Werk bauen! Kommen Sie wenigstens zur Einweihung zu uns?«
»Bestimmt, Osik.« Meerholdt lachte und klopfte dem Direktor auf den Arm. »Nun weinen Sie nicht - zwei Jahre werden wir ja noch zusammenarbeiten müssen! Zwei lange Jahre. Vielleicht sind Sie dann froh, wenn Sie mich los werden.«
Acht Tage später fuhr Meerholdt, noch immer verbunden und von dem Arzt begleitet, nach Sarajewo.
In der staatlichen Klinik, einem Neubau mit weiten Glasflächen, Terrassen und Liegehallen, der man die Hand eines amerikanisch beeinflußten Architekten ansah, wurde er sofort von dem Chefarzt empfangen und in das Privatbüro geführt.
»Fräulein Suhaja geht es gut«, sagte der Chefarzt, ein alter Serbe mit einem weißen Spitzbart und einer goldeingefaßten Brille. »Wir haben sie gründlich untersucht und durchleuchtet ... es ist nichts, was zu Besorgnis Anlaß gibt. Noch etwa zwei Wochen, und wir können sie entlassen. Nur -« Der Chefarzt wiegte den dicken Kopf -»ich würde es nicht empfehlen, nach Zabari zurückzufahren! Noch nicht, Herr Meerholdt! Ich habe gehört, daß das Dorf völlig vernichtet ist?«
»Wo das Dorf war, ist heute nur noch ein See. Aber wir werden in Kürze das Tal wieder frei bekommen und das Wasser bändigen können. Dann kann Zabari neu entstehen und schöner, als es war! Wir werden neben dem Staudamm und unter dem Felsenfluß eine moderne Stadt erbauen!«
Der alte Serbe nickte weise. »Die Jugend! Der Geist des Fortschritts! Wenn früher über die Bosna eine neue Brücke gebaut wurde, eine kleine, runde Brücke aus Steinen und Flechtwerk, dann war es das Werk von zwei oder drei Generationen. Heute wird ein Landstrich vernichtet... und schon rechnet man aus, daß in drei oder vier Jahren aus dieser Vernichtung etwas noch Schöneres entstehen wird. Als ob es keine Zeit mehr gäbe. Wir Menschen wachsen über uns hinaus, Herr Meerholdt ... ich habe manchmal Angst davor.«
Ralf Meerholdt sah zu Boden und faltete die Hände. »Wir resignieren nicht mehr vor dem Schicksal, wie es unsere Vorväter taten ... wir kämpfen gegen es an und bezwingen es, wenn wir es können. Das ist alles. Der Mensch hat einen Einbruch in die Sphäre dessen getan, was man vor hundert Jahren noch Gottes Wille nannte!«
»Und Sie finden das gut?«
»Gut.? Es ist nützlich! Das ist alles. Oder wollen Sie sagen, daß die Wiedergeburt Zabaris nicht gut sei?«
»Richtig - Zabari!« Der Chefarzt lächelte verzeihend. »Wir kamen vom Thema ab und wurden weltschmerzlich! Das ist Unsinn ... wir Alten kommen nur nicht mehr mit! Zabari! Das wollte ich Ihnen noch sagen: Lassen Sie Fräulein Suhaja hier oder woanders ... aber holen Sie sie erst in die Berge zurück, wenn das neue Dorf - oder die Stadt, wie Sie sagen - fertig ist! Ersparen Sie ihr den Anblick der zerstörten Heimat. Sie weiß, daß ihre Eltern leben, sie weiß, daß man ihnen alles wiedergeben wird ... wie es richtig aussieht in Za-bari, das hat sie gar nicht wahrgenommen!« Der Chefarzt schüttelte den Kopf. »Man sollte meinen, sie habe die rauhe und derbe Natur einer Bergkatze ... und dabei hat sie eine so zarte Seele.« Er lächelte und legte Meerholdt die Hand auf die Schulter. »Und sie liebt Sie. Es gibt eigentlich für sie nichts anderes auf der Welt als Sie. Sie sollen verdammt sein, wenn Sie jemals dieses Mädchen im Leben enttäuschen.!«
Später gingen sie durch die langen, weißgestrichenen Gänge der Klinik. Die Schwestern, in großen, wehenden weißen Hauben, knicksten vor ihnen, die jungen, schwarzlockigen Ärzte in den weißen Mänteln standen stramm und traten an die Seite, wenn sie ihnen begegneten. Der Chefarzt grinste.
»Junge Militärärzte, die hier ein wenig Klinikluft atmen. Sie sollen hier lernen, daß der Patient nicht ein Stück Fleisch ist, sondern ein Mensch!« Er lachte. »War das nicht bei Ihnen so, in Deutschland? Zwei Standard-Medikamente: Rizinus und Aspirin?«
Meerholdt winkte ab. »Erinnern Sie mich nicht daran. Mein Stabsarzt in Rußland sagte immer, wenn einer der Verwundeten vor Schmerzen schrie: >Kerl, ein Landser kann ohne Kopf herumlaufen - dann singt er noch die Wacht am Rhein ... aber er schreit nicht!<«
Der Chefarzt lächelte und nickte.
Vor einer Tür hielten sie. Sie lag am Ende des Ganges. Der alte Serbe blieb stehen. »Hier ist es.«
Meerholdt drückte ihm die Hand. »Ich bin Ihnen so dankbar.«
»Seien Sie still.« Der Chefarzt öffnete leise die Tür. Er schob sie auf und blickte hinein. »Sie schläft. Nur einen Blick . dann schluß.«
Auf Zehenspitzen trat Meerholdt in das helle, sonnige Zimmer. Rosa lag in den Kissen . ihr blasses, schmales Gesicht war von innerem Frieden überstrahlt. Ihr langes, schwarzes Haar lag auf der
Bettdecke wie eine ausgebreitete Stola. Sie atmete ruhig.
Meerholdt betrachtete sie. Er spürte sein Herz zucken, ein Strom von Liebe und Glück durchrann ihn heiß. Rosa, dachte er. Ich will dem Schicksal alles verzeihen für die eine Stunde, in der ich dich sah.
Leise legte er den Blumenstrauß, den er mitgebracht hatte, auf ihr Bett und verließ auf Zehenspitzen wieder das Zimmer. Vorsichtig, damit sie nicht knarrte, zog er hinter sich die Tür zu.
Der Chefarzt faßte ihn unter ... sie gingen die langen Gänge bis zum Ausgang wieder zurück. Vorbei an den knicksenden Schwestern und den jungen, strammstehenden Ärzten.
»In 14 Tagen«, sagte der alte Serbe, als Meerholdt wieder im Wagen neben dem Arzt aus Zabari saß. »Und suchen Sie einen schönen Ort aus, wohin Sie sie bringen können. Am besten ans Meer.«
Sie fuhren ab. Lange blickte Meerholdt durch das Rückfenster des Wagens auf das weiße, große Haus, ehe es hinter anderen Häusern und einer Moschee verschwand.
»Ein fabelhafter Mensch, dieser Chefarzt«, sagte er zu dem Arzt, der den Wagen lenkte.
»Das ist er!« Der Arzt sah starr geradeaus. »Hat er Ihnen nichts erzählt?«
»Nein? Was?« Meerholdt sah erstaunt herum.
»Seinen einzigen Sohn hat eine deutsche Kompanie bei Mostar erschossen. Sie fanden bei ihm versteckt eine Maschinenpistole. Seine Frau starb zehn Tage später ... sie nahm sich vor Gram das Leben. Sie erhängte sich im Keller des Hauses, wo man die Waffe gefunden hatte.«
»Mein Gott!« Meerholdt sah auf seine Hände. »Und er weiß, daß ich Deutscher bin.«
»Er ist ein fabelhafter Kerl. Sie sagten es schon. Er erkennt die Erschießung seines Sohnes an. Es war bei Todesstrafe verboten, Waffen zu verstecken. Wir alle wußten es, und wir alle hatten Waffen! Den Jungen erwischte es ... es war Schicksal! So sieht er es, und er trägt es nach außen mit Fassung.«
Sie sprachen kein Wort mehr, bis sie nach Zabari kamen.
Pietro Bonelli hatte den größten Kampf seines Lebens gewonnen ... den Kampf gegen sich selbst. Nachdem die Katastrophe ihm die Hälfte seiner Kantine vernichtet hatte und das, was er und Katja retten konnten, gerade noch ausreichte, die Flüchtenden zu versorgen und eine Art >Nothilfe< einzurichten, beschloß er, Jugoslawien zu verlassen und seinem Plane näher zu treten, zuerst in Sorrent und später auf Capri eine Cafeteria aufzumachen. Er hatte per Post schon verschiedene Zusagen von Grundstücksbesitzern und einen Anwalt damit betraut, sich die Objekte einmal anzusehen, als Katja Dobor ihm einen dicken Strich durch alle Pläne machte.
»Ich bleibe hier!« sagte sie, als Bonelli ihr den Fortschritt seiner Bemühungen erzählte.
Pietro raufte sich die Haare. »Was willst du? Hier bleiben? Hier?! Maria mia ... ich werde verrückt! In drei Monaten beginne ich in Sorrent zu bauen!«
»Du ja - aber ich nicht!!« Katja sah hinüber zu dem überfluteten Zabari. Der Fluß, der aus dem aufgerissenen Felsen quoll, war bereits gebändigt ... eine provisorische Leitung aus Holz und Blech lenkte das Wasser seitlich ab. Langsam sank dadurch der Spiegel des Sees ... die Dächer der Hütten, soweit sie noch standen, ragten bereits einzeln aus dem Wasser. Als der Wald aus dem Wasser auftauchte, fand man in dem Gewirr des Astwerkes auch Hauptmann Vrana und seine sieben Männer. Sie hatten noch die Waffen in den verkrampften Fäusten. In ihren Augen stand das Entsetzen der Sekunde, in der sie von der riesigen Woge überrollt wurden. »Wir haben alles verloren, Pietro«, sagte Katja leise. »Ich muß bei meinen Eltern bleiben und ihnen helfen, wieder aufzubauen. Sie brauchen mich. Sie sind alt, die Eltern, sie können es nicht mehr. Ich kann nicht mit.«
Bonelli rannte herum, als habe man seinen Hosenboden angezündet. Er schrie, er jammerte, er flehte alle Heiligen an. Katja blieb ungerührt. Schließlich setzte sich Bonelli an den Weg und starrte
trübsinnig auf das überschwemmte Tal.
»Addio, Sorrent und Capri«, sagte er wehmütig. »Ich bin der unglücklichste Mensch der Welt! Jetzt muß ich mein Leben in diesem Saunest verbringen.«
»Du kannst doch fahren, Pietro.«
Bonelli fuhr herum. »Ohne dich - nie!«
Katja streichelte ihm über das krause, schwarze Haar. Ihre Stimme zitterte. »So lieb hast du mich.«
»Leider!« Bonelli stöhnte laut. »Der Himmel vergeb' es mir . ich bin ein Riesenkamel.«
Katja hob die Schultern. »Was ist ein Kamel.?«
»Ein Kamel ist.« Bonelli winkte ab. »Nichts . das ist ein Ausdruck für einen Mann, der glaubt, es gäbe nur eine Frau auf der Welt, und zwar dich!«
Dann küßten sie sich, und Bonelli blieb in Zabari. Er zahlte dem Anwalt seine Gebühren, er verzichtete auf den Kauf der Grundstücke . er fuhr statt dessen nach Sarajewo und kaufte für die neue Kantine Waren ein, Möbel für das zukünftige Haus und vorausschauend drei Kinderbetten in verschiedenen Größen. »Der kluge Mann rechnet mit allem!« sagte er zu Katja, die kopfschüttelnd zusah. »Unter drei Bambinos brauchst du Pietro gar nicht zu kommen!«
Das Wasser verlief sich . an den Talrändern standen riesige Motorpumpen und pumpten das Tal leer. Die ersten Röhren wurden in den Felsmund eingemauert . auf Betonpfeilern schwangen sie sich wie eine riesige, weißglänzende Schlange ins Tal. Auf dem Boden des abgerissenen Waldes entstanden die ersten Planierböden. Fundamente wurden gegraben, Betonmischer donnerten Tag und Nacht. Die zerstörte Brücke wurde an großen Flaschenzügen und mächtigen Stahlkränen emporgezogen und neu befestigt . die eingesunkene Staumauer wuchs wieder empor . durch die Verschalungen rieselte der Beton. Die Stahlgeflechte wurden zurechtgebogen - als das Dorf auftauchte und das Wasser versickerte - sieben Wochen nach dem Untergang - fuhren die ersten Raupenschlepper durch den Schlamm und zogen an Stahlseilen Hunderte von Kühen, Schafen und Schweinen in die Schluchten, bargen die Toten in den Häusern und Ställen und säuberten das Tal, indem sie alles niederwalzten, was noch an Hütten und Ställen stehen geblieben war.
Ralf Meerholdt und Stanis Osik wohnten wieder in einer Baracke nahe der Staumauer. Tag und Nacht gingen die Detailpläne an die Kolonnenführer ... die Techniker - aus Belgrad und Mostar waren noch siebzehn gekommen - zeichneten und planten in drei Schichten. Landmesser kamen aus Titograd und vermaßen das Tal neu . auf den großen Bogen Detailpapier und den riesigen Transparentblättern der Architekten entstand das neue Zabari ... eine Stadt mit Läden, Straßen, einem Kino, einer Kirche, einer kleinen Moschee, einem Krankenhaus, einem Parteihaus, einem Strandbad am Stausee und einem Rathaus, in dem der Bürgermeister wohnen sollte. Aus den Bauern sollten Städter werden ... Händler, Handwerker, Arbeiter. Ihre Wohnungen waren luftig, sonnig, modern. Um die reißenden Schmelzwasser im Frühjahr nicht in die Stadt laufen zu lassen, hatte man ein raffiniertes Grabensystem erfunden, das die Wasser in den Bergen abfing und ableitete.
Eine Stadt auf dem Papier ... ein phantastischer Plan, ein Triumph menschlichen Willens.
Stanis Osik sah Meerholdt zufrieden an. »Marschall Tito hat Ihnen eine Pension ausgesetzt«, sagte er und bot Meerholdt eine Zigarre an. »Monatlich 4.000 Dinare - bis zu Ihrem Lebensende und -verzeihen Sie, aber ich muß es sagen - auch für Ihre Witwe! Ich gratuliere.« Er streckte Meerholdt die Hand hin. »Es gibt für Sie keine Zukunft mehr - Sie werden bis zu Ihrem Tode immer in der Gegenwart leben!«
»Ich danke Ihnen sehr, Herr Osik.« Er drückte die angebotene Hand. »Wie geht es Elena?« fragte er dann zögernd.
»Sie ist noch in Zagreb!« Osik winkte ab. »Zuerst hat sie noch ein wenig getobt ... dann war sie in Sarajewo bei Rosa.«
»Was?!« Meerholdt war entsetzt. »Wer hat sie vorgelassen! Ich hätte das auf jeden Fall verhindert.«
»Es war auch Rosas Wunsch, Meerholdt.« Osik räusperte sich. »Sie haben sich ausgesprochen, die beiden. Es war gut so, glauben Sie es mir. Besser, als wenn Sie wieder durch Rücksichtnahme gegen den einen oder anderen die Lage in der Schwebe gehalten hätten. Elena hat euch alles Glück auf Erden gewünscht und ist von Sarajewo gleich weiter nach Zagreb gefahren. Ich soll Sie grüßen, Meer-holdt, wenn Sie einmal nach ihr fragen sollten. Ich tue es hiermit. Und ich soll Ihnen sagen, daß sie darum keinen Abschied von Ihnen genommen hat, weil sie trotz des Verzichtes nicht anders empfindet als vorher. Es wäre ein schrecklicher Abschied geworden!«
»Sie tut mir leid«, sagte Meerholdt leise. Er schämte sich vor Osik.
»Sie wird andere Männer finden und lieben lernen.« Osik steckte seine Zigarre an. »Im Winter wollen wir nach Ägypten fahren ... nächstes Frühjahr nach Cannes und Nizza. Elena wird vergessen, wenn sie den gewohnten Luxus wieder um sich hat. Und bilden Sie sich bloß nicht ein, der einzige Mann auf der Welt zu sein, der Elena imponiert!«
Lachend gingen sie in den Nebenraum.
An zehn Zeichenbrettern standen die Techniker und zeichneten die Details der Pläne.
»Darf ich zurückfragen?« meinte Osik. »Was macht Rosa?«
»Sie ist in Dubrovnik. Es geht ihr gut.« Meerholdt sah aus dem Fenster hinaus auf die Baustellen und das Tal, in dem die ersten Bauten emporwuchsen . das neue Zabari. »Ich werde nächste Woche zu ihr fahren und ihr sagen, daß ich -«, er zögerte und drehte sich von Osik weg, damit er nicht seine Erschütterung sah - »daß ich in Jugoslawien bleibe ... in Zabari.«
»Meerholdt!« Osik riß ihn an der Schulter herum und drückte ihn an sich. »Kerl . ist das wahr?!«
Und Stanis Osik küßte ihn stürmisch und benahm sich wie ein kleiner, beschenkter Junge.
Rosa lag am Strand in einem Liegestuhl, als Ralf in Dubrovnik an-kam. Ein großer, runder Sonnenschirm schützte sie vor den starken Strahlen. Neben sich, auf einem kleinen Tisch, der in den pulverfeinen, weißen Sand gerammt war, stand ein Eissiphon mit Orangeade. Sie trug einen einteiligen, goldgelben Badeanzug, über den ihr schwarzes Haar floß.
Ralf Meerholdt betrachtete sie von weitem, ehe er näher trat. Sie war etwas schmaler geworden in den Wochen der Aufregungen und Sorgen, aber noch immer war ihr Körper von jener faszinierenden Proportion, die die Männer am Strande von Dubrovnik zu balzenden Auerhähnen werden ließ. Meerholdt beobachtete es mit einem Schmunzeln und einem gewissen Besitzerstolz, wie drei muskulöse Herren vor den Augen Rosas am Strand mit einem Medizinball spielten, ihn hochwarfen, auffingen, sich damit jagten und das Spiel ihrer Muskeln priesen. Ab und zu sahen sie zu Rosa hinüber und waren enttäuscht, daß sie die Augen geschlossen hielt und sie gar nicht bemerkte. Da zogen sie nahe an ihrem Liegestuhl vorbei und sangen, um ihre Aufmerksamkeit zu erregen.
Meerholdt lachte vor sich hin. »Eine geile Bande!« sagte er. Er machte dem Zauber ein Ende, indem er leise an Rosa herantrat und sie unter den entsetzten Augen der anderen Männer einfach auf den Mund küßte. Sie fuhr empor, ihre Hand zuckte vor ... die Männer grinsten bereits schadenfroh ... da sah sie Ralfs Augen, sie jauchzte auf und fiel ihm um den Hals. Sie küßte ihn stürmisch vor allen Leuten und zog ihn zu sich, so daß er auf die Knie fiel und neben ihrem Liegestuhl hockte.
»Du bist hier.«, sagte sie glücklich. »Endlich ... endlich bist du hier.« Sie fuhr mit ihren schmalen Händen durch seine blonden Haare und wuschelte sie durcheinander. Beleidigt gingen die anderen Männer fort und suchten den Strand nach anderen schönen Mädchen ab.
»Ich wollte dir sagen, daß wir bald zurück nach Zabari gehen.« Er richtete sich auf und setzte sich auf die Lehne des Stuhles. »Du wirst es nicht wiedererkennen.«
»So schön ist es geworden?« »Das weiß ich nicht. Aber anders ist es... ganz anders. Es gibt keine Ställe mehr.«
Rosa riß die Augen auf. »Keine Herden?«
»Nein.«
»Keine Brunnen und eine hölzerne Viehtränke?«
»Nein.«
»Keinen Wald mehr, aus dem wir das Winterholz holen?«
»Nein.« Er umfaßte ihre schmale Schulter. »Das Fleisch kaufst du in einem Geschäft . das Wasser kommt aus einer Leitung, die in jedes Haus führt ... du brauchst nur einen Hahn aufzudrehen wie hier in Dubrovnik. Und Holz für den Winter? In allen Häusern werden Öfen stehen, die man elektrisch beheizt. Zabari hat Strom genug .für alle Ewigkeiten, solange Wasser von seinen Bergen kommt!«
»Es ist ein Märchen, Ralf.«
»Ein Märchen? Ich weiß nicht. Es ist der Fortschritt, die Zivilisation in konzentrierter Form. Es wird dir vieles fremd sein.«
»Nicht, wenn du bei mir bist.«
Sie sahen über das strahlend blaue Meer auf die weißen Segel, die wie zarte Wolken über das Wasser schwebten. Motorboote knatterten durch die Klippen und zogen Wellenreiter hinter sich her. Hoch-auf spritzte das Wasser, wenn sie stürzten und sich schwimmend zu einem Felsen retteten. Ein weißes Bäderschiff mit niedrigem Schornstein und buntüberdachten Sonnendecks fuhr langsam durch die Bucht von Dubrovnik. Musik tönte herüber . man sah sie tanzen in ihren weißen Hosen und Hemden und den bunten, leichten Kleidern. Es war für Rosa eine neue Welt.
»Wann holst du mich?« fragte sie und lehnte sich zurück.
»Bald. So schön wie hier wird es nicht sein.«
»Es ist nirgendwo schön, wo du nicht bist. Ich bin hier so einsam, Ralf. Ich bin so ganz allein mit meiner Sehnsucht. Wenn es Abend wird und das Meer leuchtet golden und rot, dann sitze ich am Fenster und könnte weinen. Allein, immer allein . Tage, Wochen, Monate . jede Nacht. Ach Ralf, warum liebe ich dich so.«
Sie kuschelte sich in seinen Armen und ließ den salzigen Seewind über ihr Gesicht streichen. So saßen sie bis zum Abend und waren glücklich, daß sie sich fühlten, daß jeder den Atem des anderen hörte und daß ihre Herzen klopften, schneller, immer schneller, je weiter die Sonne am Horizont in das Meer versank.