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»Hosrew-Pascha war ein mächtiger und reicher Mann.« Asiadeh stand im Hofe der großen Moschee. Ein leichter Schleier verdeckte ihr Gesicht. Sie hatte ihren Kopf zurückgeworfen und verfolgte entzückt die schlanke Linie des Minaretts. »Sogar ein sehr mächtiger Mann«, wiederholte sie, »als er hierher kam, fand er drei Dörfer, die er schleifen ließ. An ihrer Stelle erbaute er einen Saraj — einen Palast —, seitdem heißt diese Stadt Sarajewo.«
Sie setzte sich auf die Marmorstufe des Moschee-Einganges und starrte auf die Fontäne mit der arabischen Aufschrift. Kinder spielten an der Fontäne, und ein Geistlicher mit weißem Turban ging über den Hof.
Hassa stand im Schatten des Säulenganges. Er blickte auf Asiadehs Beine und auf die Tauben, die über die Marmorfliesen trippelten und an Venedig erinnerten. Es war alles ganz anders als damals, als er mit Marion über den Markusplatz ging und Marion die Tauben fütterte und ewige Treue schwor. Asiadeh futterte keine Tauben. Sie saß still und versonnen da, und die Sonnenstrahlen fielen auf ihr Kinn.
»Schön ist es hier«, sagte sie, und Hassa schwieg und blickte immer noch auf Asiadehs Beine. Der seidene Strumpf war von blassem Rosa, und das Leben war in der Tat sehr schön. Hassa lehnte sich an die Säule und dachte, daß es richtig war, verheiratet zu sein, und daß sein ganzes Leben bis jetzt nur ein Zwischenspiel war zwischen Schule und Ordination. Er war dreißig Jahre alt und kannte die Wiener Universität, die Spitäler Europas und Marion. Jetzt kannte er Asiadeh. Er wollte sich zu ihr beugen und ihr sagen, daß es Phlegmone gibt, die durch eine Erkrankung der hinteren Nebenhöhlen bedingt sind und daß er darüber in der Medizinischen Gesellschaft berichten möchte. Er schwieg aber, denn Asiadeh würde ihn nicht verstehen und nach der Etymologie des Wortes Phlegmone fragen.
Ein alter Mann, gebückt und verwittert, betrat die Moschee. Er legte die Schuhe ab, und Hassa sah, wie er mit ernstem und nachdenklichem Gesicht sein Gebet verrichtete. Es war eine fremde Welt, zu der Hassa keinen Zugang hatte. Er dachte an die wilden Vettern, die in sein Hotel kamen, Tee mit ihm tranken und ihn wie ein exotisches Tier anglotzten. Vor Asiadeh vergingen die Vettern in Respekt. Man bedenke nur — die Tochter eines echten Paschas! Die Vettern schnalzten mit den Zungen, und Asiadeh genoß die Ehrung mit ruhiger Würde. Sie besuchte die Weiber der wilden Vettern und sprach mit ihnen lange und tiefsinnig über die Seele des Orients. Die wilden Weiber gossen ihr Kaffee ein und sahen sie starr an. Denn sie war die Tochter eines Paschas und sprach weise und unverständlich. »Alle Muslime sind Brüder«, sagte sie überheblich. »Unsere Heimat beginnt auf dem Balkan und endet in Indien. Wir alle haben gleiche Sitten und gleichen Geschmack, deswegen fühle ich mich wohl bei euch.« Die Weiber schwiegen dankbar und verängstigt und gossen der Paschatochter Kaffee ein. »Komm«, sagte Asiadeh zu Hassa und erhob sich. Sie gingen durch die engen Gassen Sarajewos und sahen die blauen Türen der Basarläden und kleine Esel, die versonnen über die Plätze torkelten und mit den Ohren wackelten. »Es gefällt mir hier«, sagte Asiadeh und blickte auf die Esel. »Die Menschen hier scheinen glücklich zu sein.«
Sie betraten ein kleines Kaffeehaus. Auf der Theke standen Teller mit Oliven und winzigen Käsescheiben, in denen Zahnstocher steckten. Hassa erfuhr mit Bewunderung, daß die Zahnstocher als Gabel benutzt werden, was ihm vernünftig und hygienisch vorkam. Dann bestellte er auf Asiadehs Rat einen Raki, der in kleinen Karaffen serviert wurde und den man aus der Karaffe trinken mußte. Er trank, und es schmeckte wie Zahnwasser mit Absinth gemischt.
Asiadeh spießte die Oliven auf die Zahnstocher und kaute glückselig. Es war sehr schön, sorgenlos mit Hassa durch die Welt zu reisen, Moscheen zu besichtigen und Oliven zu essen. Die Stadt war ihr plötzlich vertraut und lieb, und Hassa war ohne Zweifel, wenn auch kein Offizier und kein Beamter, so doch der beste Ehemann der Welt.
»Du hast so nette Verwandte«, sagte sie und spuckte einen Olivenkern aus.
Hassa sah sie verwundert an. Die wilde Sippe der Hassanovic erschien ihm sehr fremd.
»Es sind beinahe Türken«, antwortete er. »Die Türken haben ja das Land unterjocht und ihm einen asiatischen Stempel aufgeprägt.«
Asiadehs Augen rundeten sich vor Staunen. Sie lachte vergnügt, und ihre weißen Zähne blitzten.
»Armer Hassa«, sagte sie und schüttelte den Kopf. »Die Türken sind besser als ihr Ruf. Wir haben dieses Land nie unterjocht. Das Land hat uns gerufen. Sogar dreimal. Unter Mohammed dem Ersten, Murad dem Zweiten und Mohammed dem Zweiten. Das Land wurde von Bürgerkriegen zerrissen, und König Twrtko flehte den Sultan an, hier Ordnung zu schaffen. Später wurde es die frömmste und treueste Provinz des Reiches. Wir taten übrigens alles, um das Land zu zivilisieren, aber das Land wollte sich nicht zivilisieren lassen.«
Jetzt lachte Hassa.
»Jedermann weiß«, sagte er, »daß die Türken gegen jeglichen Fortschritt waren. Das habe ich noch in der Schule gelernt.«
Asiadeh biß sich in die Lippen.
»Paß auf«, sagte sie. »Am elften Silkadeh zwölfhunderteinundvierzig — du würdest sagen am sechzehnten Juni achtzehnhundertsechsundzwanzig — beschloß der Sultan Murad der Zweite, sein Land zu reformieren. Zu diesem Zwecke erließ er eine freiheitliche und liberale Verfassung, den Tansimati Hairieh. Die Verfassung war freiheitlicher und liberaler als alle Verfassungen der damaligen Zeit. Das Volk von Bosnien wollte aber weder freiheitlich noch liberal sein. Hussein-Aga Berberli entfesselte einen Aufstand gegen den ungläubigen Padischah. Er eroberte Trawnik, wo der Gouverneur von Bosnien saß, der Marschall Ali-Pascha. Der Marschall wurde gefangengenommen. Er trug bei der Gefangennahme eine Marschallsuniform nach modernstem europäischem Schnitt. Die frommen Aufständischen rissen ihm die sündhafte Uniform vom Leibe und badeten den Pascha drei Tage und drei Nächte, damit er nicht mehr nach Europa rieche. Dann gab man ihm alttürkische Gewänder, und er mußte Tag und Nacht Psalmen singen und seine Sünden bereuen. Sag selbst, Hassa, wer war dabei rückständig?«
Hassa leerte seine Karaffe. Er hatte eine gelehrte Frau, und es war nicht gut, sich mit ihr zu streiten.
»Gehen wir heim«, sagte er bescheiden. »Wir sind halt Barbaren und kennen uns nur in der Medizin aus.«
Asiadeh erhob sich langsam. Sie gingen ins Hotel, und Hassa hoffte im stillen, daß sie ihn wenigstens einmal fragen würde, wie man die Mandeln entfernt. Asiadeh fragte aber nicht nach den Mandeln, und Hassa wurde betrübt. Offenbar war ihr alles Medizinische eben so fremd wie ihm die barbarischen Endungen der exotischen Worte. Asiadeh ging neben ihm wie eine ernste und folgsame Schülerin. Ihr Gesicht war grüblerisch, und die kurze Oberlippe stand ab.
Im Hotel, in der grell beleuchteten Halle, saßen bärtige Menschen mit gebogenen Nasen und glühenden schwarzen Augen. Die Familie Hassanovic begrüßte den exotischen Vetter. Hassa bestellte den Kaffee, und Asiadeh übersetzte die simplen Fragen der Verwandten.
»Ja«, sagte Hassa, »es gefällt mir sehr gut hier« — und »nein, in Wien gibt es keine Moschee«.
Die Vettern zwitscherten Unverständliches, und Asiadeh übersetzte lächelnd, daß die Vettern fragen, ob Hassa ein guter Arzt sei.
»Ich hoffe«, sagte Hassa verlegen und war darauf gefaßt, einem Vetter ein Abführmittel verschreiben zu müssen. Die Vettern schwiegen aber, schlürften den Kaffee und blickten gedankenverloren auf die Straße. Dann schluchzte der Älteste auf, und zwei Tränen flossen über seine behaarten Wangen. Er wischte sie ab und sprach sehr lange und traurig. Asiadeh hörte ihm angestrengt zu.
»Es lebt in dieser Stadt«, übersetzte sie dann, »ein weiser und heiliger Mann, und sein Name ist Ali-Kuli. Er ist sehr alt. Er ist ein berühmter Derwisch aus der Bruderschaft der Bektaschi. Das Volk verehrt ihn, denn er ist ein Heiliger und führt ein gottgefälliges Leben.«
Asiadeh verstummte, und der Gast sprach weiter, traurig und weitschweifig.
»Jetzt traf Gottes Zorn den heiligen Mann«, übersetzte sie weiter. »Er ist krank, und die Kunst der Derwische ist machtlos. Auch Ärzte waren bei ihm, aber es waren ungläubige Ärzte, und sie halfen ihm nicht.«
»Was fehlt denn dem heiligen Mann?« fragte Hassa mit plötzlichem Interesse.
Der Gast sprach, und Asiadeh sah ihn entsetzt an.
»Er wird blind«, sagte sie leise und hoffnungslos. »Er hat keine Kraft mehr. Er verbringt seine Tage in trübem Halbschlaf. Sein Gesicht hat die Farbe eines Toten. Hassa, ich glaube, du wirst dem Armen nicht helfen können. Gott ruft ihn zu sich.«
Hassa blickte zu Asiadeh, sah ihre traurigen Augen und die kurze rosige Oberlippe. »Ich will mir den heiligen Mann anschauen«, sagte er entschlossen.
Sie fuhren im Auto durch die holprigen Straßen zum Rande der Stadt. Asiadeh hielt Hassas Hand.
»Ich fürchte mich«, sagte sie. »Wie kann man einem Gottgezeichneten helfen.«
Hassa zuckte mit den Achseln. Seine Frau hielt ihn für einen Barbaren. »Ich kann etwas, was kein Philologe kann«, sagte er kurz.
Asiadeh sah ihn zweifelnd an. Sie war vom tiefen Mißtrauen des Orients gegen die Welt des technischen Wissens erfüllt. Der Beruf ihres Mannes erschien ihr als eine ebensolche Spielerei wie ihr eigener. Im Ernstfall gab es ja doch nur drei Berufe: Krieger, Priester, Staatsmann.
Sie hielten vor einem niedrigen weißgetünchten Hause. Im Hof unter einem breiten Baum saß ein alter Mann und spielte mit einem Rosenkranz. Sein fahles Gesicht mit spärlichen Haaren und alabasterweißer Haut war dem Himmel zugewandt. Auf dem Kopf trug er einen kesselartigen Hut mit einer arabischen Aufschrift. Asiadeh las ergriffen den uralten Spruch der Bektaschi: »Alles, was besteht, wird zugrunde gehen, außer seinem Sein. Ihm gehört die Allmacht, und von ihm hängt alles ab.«
Die Männer küßten die Hand des Greises. Er blickte sie mit leeren und erstaunten Augen an. Asiadeh beugte sich zum Derwisch. Sie sagte leise:
»Vater! Vertraue dich der Welt des westlichen Wissens an. Gottes Allmacht kann auch durch die Hand eines Arztes sprechen.«
Hassa stand abseits. Er blickte auf das alabasterweiße Gesicht des Derwischs und hörte die fremden zwitschernden Laute. Er dachte an Asiadeh, die ihn liebte und deren Achtung er erringen wollte. Endlich nickte der Derwisch und hob die Hand.
»Komm, untersuche ihn«, sagte Asiadeh zögernd. Hassa näherte sich dem Greis. Er stellte Fragen, die Asiadeh verwirrten, und erfuhr, daß der Alte vergeblich und langwierig wegen Nieren, Zucker und Augen behandelt wurde. Er runzelte die Stirn und erfuhr, daß der heilige Mann achtzehn Stunden am Tage schlafe. Der Derwisch zog sich aus. Hassa kniff die Augen zusammen und blickte auf den hageren Körper. »Er soll die Arme heben«, sagte er und sah, daß die Haare in den Achselhöhlen fast bis auf die Wurzeln herausgefallen waren.
»Ich sehe fast gar nichts«, sagte der Derwisch. Hassa untersuchte die Augen. »Bitemporale Hemianopsie«, sagte er, und der Derwisch sah ihn an, als spreche er eine Zauberformel. Dann schwieg Hassa und blickte auf die grüne Rasenfläche des Hofes. Die Menschen standen um ihn und sahen ihn erwartungsvoll an. Der Derwisch zog sich an und saß auf dem Teppich, gleichgültig und verschlafen.
»Ich werde morgen sagen können, ob ich ihm helfen kann«, sagte Hassa. »Ich muß es überschlafen.«
Asiadeh richtete sich auf. Es war klar, daß das westliche Wissen dort ohnmächtig war, wo Gott gesprochen hatte. Der Heilige würde sterben, trotz aller Überlegungen Hassas, denn Gott hatte so beschlossen.
»Gehen wir«, sagte Hassa und nahm Asiadeh am Arm. Unterwegs schwieg er, verbissen und gedankenvoll.
Zu Hause angelangt, seufzte Asiadeh. »Traurig«, sagte sie, »sehr traurig. Aber die Hand Gottes ist über allen Händen.«
»Ja«, antwortete Hassa. »Natürlich. Telephoniere mit der hiesigen Klinik. Ich muß einiges fragen.«
Asiadeh ging zum Telephon und übersetzte mechanisch:
»Hier bei Dr. Hassa. Kann ich den Direktor sprechen? Hallo, Herr Direktor! Mein Mann läßt fragen, ob sich hier jemand traut… Einen Moment, Herr Direktor… Einen Moment! Wie war es, Hassa?… Ja, also einen… Verzeihung, es ist so schwer auszusprechen… einen Hypophysentumor zu operieren? Kaum, Herr Direktor? Ja, hier bei Dr. Hassa. Er wird Sie besuchen.«
Hassa stürzte zum Ausgang. Asiadeh folgte ihm ganz außer Atem. Der Direktor des Spitals trug einen weißen Kittel, und Asiadeh übersetzte, ohne zu verstehen, was sich hinter den langen lateinischen Namen verbarg. Endlich nickte der Direktor, und Hassa drückte ihm dankbar die Hand.
Etwas später saßen sie wieder zu Hause. Hassa und Asiadeh. Hassa trank Kaffee und war aufgeregt und wortreich.
»Verstehst du«, sagte er. »Es ist der Türkensattel, die Sella turcica. Dort sitzt die Drüse. Sie heißt die Hypophyse. Es muß ein Tumor sein. Wir werden es noch röntgen. Aber der Befund scheint einwandfrei zu sein. Ich werde es endonasal operieren. Nach der Methode von Hirsch. Nach bisherigen Erfahrungen nur zwölf Komma vier von Hundert letal. Aber dennoch eine der schwierigsten Operationen, die es überhaupt gibt. Verstehst du mich?«
Er nahm ein Blatt Papier und zeichnete einen vertikalen Schädelschnitt. »Hier«, sagte er. »Das ist die Sattelgrube und hier sitzt die Hypophyse.«
Asiadeh blickte angestrengt drein und verstand nichts. »Türkensattel«, meinte sie verängstigt und hob die Augenbrauen.
Daraufhin ergriff Hassa ihren Körper und hob sie in die Luft. Er hielt sie ausgebreitet auf den Händen und drehte sich wirbelartig im Zimmer herum. »Türkensattel«, rief er dabei, und seine Hände waren stark und hart. Endlich setzte er Asiadeh ab. Das Zimmer drehte sich vor ihren Augen. Sie setzte sich auf den Teppich und starrte Hassa an.
»Mein Gott«, sagte sie. »So tanzen die heulenden Derwische aus der Bruderschaft der Mewlewi. Und das nennst du Hypophyse?«
»Nein, das ist der Türkensattel.« Hassa stand vor ihr und sprach herrisch und im Kommandoton. »Mit achtundachtzig Komma sechs Prozent Wahrscheinlichkeit werde ich deinem Derwisch helfen können. Er hat die ausgefallenste Krankheit der Welt. Aber auch du mußt mithelfen, zur Strafe für dein Mißtrauen. Sonst kann ich mich bei der Operation mit niemandem verständigen. Du bekommst einen weißen Kittel und wirst dabeistehen. Kannst du das? Oder wirst du einen onomatopoetischen Schrei ausstoßen und ohnmächtig zu Boden sinken?«
Asiadeh, immer noch auf dem Teppich sitzend, hob den Kopf.
»Wir sind alle Krieger gewesen. Ich werde es schon ertragen.«
Sie erhob sich und berührte Hassas Gesicht. Hassa stand in der Mitte des Zimmers und war jetzt vertraut und nahe. Sie blickte auf seine Hände, die etwas vermochten, was kein Mensch in Sarajewo konnte, und wurde schüchtern und befangen.
»Du meinst also wirklich, daß du diesen Türkensattel bezwingen wirst?«
»Ich hoffe. Falls die Diagnose stimmt…«
»Allah barif, Gott allein weiß es«, sagte Asiadeh. Sie blickte erschrocken vor sich hin und sah im hellen Wachtraum eine Schar buntbekleideter Reiter im weichen breiten Türkensattel durch die Steppe jagen. Hassa trug eine Lanze, und sein Sattel war mit goldenen Lettern bestickt. Er hob die Hand, und seine Lanze bohrte sich in das Gesicht des Feindes. Über den Sattel beugte sich ein alabasterweißes Gesicht, und eine fremde Stimme rief: »Alles, was besteht, geht zugrunde, außer seinem Sein.«
»Allah barif«, sagte sie und rieb sich die Augen. Die Vision verschwand. Hassa stand am Waschtisch und wusch sich die Hände. Große, helle Wassertropfen rannen über seine Finger.