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Der Wagen fuhr über die kurvenreiche Chaussee. Links im Tal erhoben sich die weißgetünchten Türme der Dorfkirchen. Die grünen Wiesen glänzten im Schein der sommerlichen Sonne. Satte Kühe standen am Wegrand und blickten mit runden, feuchten Augen auf das Auto. Kinder mit verstaubten Füßen saßen unter den Bäumen und spielten mit trockenem Geäst. Rechts erhoben sich weiche grüne Hügel. Die hellen Farben des späten Sommers bedeckten die Erde, und die Sonne war nahe, mild und vertraut wie ein alter Freund.
Asiadeh saß am Volant. Das Auto fuhr langsam zum Semmering hinauf, Asiadehs Fuß drückte den Gashebel, als wäre es ein gebrechliches Spielzeug. Ein Druck — und das Auto schoß vorwärts wie ein rasendes losgelassenes Pferd. Eine leichte Bewegung des Fußes, und das Auto verlangsamte die Fahrt wie ein folgsames zahmes Haustier. Asiadehs Augen streiften über die Landschaft. Sie sah die grünen Wiesen, die Kirchtürme im Tal und die Kruzifixe am Rande der Kurven. Es war ein seltsames Gefühl durch eine Handbewegung, durch einen kaum merkbaren Druck des Fußes einen wirren Haufen von Stahl, Rädern, Lampen, Röhren und Pneus zu beherrschen. Sie steuerte, den Rücken gegen die weiche Lehne gestützt. Die Augen, die Hände, die Füße waren mit der Maschine verbunden. Manchmal lächelte Asiadeh und glättete die gerunzelte Stirn. Vorsichtig bog sie um die Kurve, der Fuß drückte auf den Gashebel, die Maschine schoß vor, und die Gedanken blieben zurück, wanderten schneller als jedes Auto die kilometerlange Strecke nach Wien zurück, zur Wohnung am Ring, zu Hassa, der in der Wohnung saß, schweißtriefend und abgehetzt in der Glut der sommerlichen Sonne.
Die Fenster der Wohnung am Ring waren stets verhängt. Asiadeh besuchte die Strandbäder und die Kaffeehäuser. Sie kam nach Hause und stieß auf fremde Menschen, die im Wartezimmer saßen und in Zeitschriften blätterten. Im kleinen Salon mit den Erkerfenstern roch es ein wenig nach Medizin. Im Nebenzimmer klapperte Hassa mit Instrumenten. Manchmal ertönte seine laute Stimme:
»Zweiundzwanzig!« schrie er. »Hören Sie gut? Zweiundzwanzig!«
»Vierzehn«, antwortete ein Patient, und wieder klapperten die Instrumente. Dann kam Hassa heraus, im weißen Kittel und schweißtriefend. Er küßte flüchtig Asiadeh, und seine Augen blickten so abwesend, daß sie fürchtete, er werde gleich »zweiundzwanzig« sagen und eine Diagnose stellen. Er stellte aber keine Diagnose. Er ließ sich für wenige Augenblicke in den Sessel nieder, hielt Asiadehs Hand in der seinen und verschwand dann wieder im Ordinationszimmer.
»Sagen Sie ›i‹«, schrie er, und eine hohe Stimme sagte klagend und furchtsam »i-i-i-i-i…«
Asiadeh ging in den großen Salon. Auf dem Schreibtisch stapelten sich die Bücher. Die philologischen Zeitschriften hatten farblose Umschläge und glichen beleidigten alten Jungfrauen. Schuldbewußt öffnete Asiadeh ein Heft. Sie erfuhr, daß das Diapason der Polystadialität der georgischen Sprache sich von der amorphen Stufe bis zur flektivischen erstreckt. Es klang unverständlich, aber Asiadeh verstand es dennoch und war erstaunt, warum dieser unerhörte Diapason sie so kühl ließ. Gelangweilt überflog sie ein paar Seiten. Am Ende des Heftes stand die Mitteilung, daß Prof. Schanidse am Wan-See Palimpseste mit hanmetischen Texten entdeckt habe. Erbost klappte sie das Heft zu. Seit sie verheiratet war, verloren die rätselhaften Formen der fremden Worte ihren magischen Reiz. Grob und ungeschliffen klangen sie in ihren Ohren und weckten keinerlei Vorstellungen an schlitzäugige Nomaden und ferne Steppen.
In Hassas Zimmer klingelte das Telephon. »Ja«, hörte sie, »Sie können heute noch kommen. Sagen wir um halb sieben Uhr.« Sie wußte Bescheid. Die Ordination würde bis acht Uhr dauern. Sie trabte zum Kaffeehaus und las Zeitschriften, bis Dr. Sachs kam oder Dr. Kurz.
Um halb neun Uhr kam Hassa, und sie fuhren in den Prater oder zum Kobenzl. Am Kobenzl raschelten die Bäume. Das Riesenrad war in der Dämmerung noch deutlich sichtbar. Asiadeh trank saure Milch und hörte zu, wie Hassa über die Kranken sprach, oder über das Theater, oder über die Politik. Bis in die Nacht saßen sie da, Asiadeh blickte zu den Lichtern der Stadt hinab und dachte, daß das wirkliche Leben sehr schön sei, aber auch sehr ernst und ganz anders, als man es sich vorstellte. »Wenn wir Kinder haben«, sagte sie, »werden wir sie zum Kobenzl mitnehmen. Sie werden zwischen uns sitzen und Kuchen essen. Ich will fünf Kinder haben.«
»Ja«, sagte Hassa zerstreut. »Wir werden bestimmt irgendwann Kinder haben.« Er schwieg. Er fürchtete sich vor den Kindern, die zwischen ihm und Asiadeh sitzen würden. »Ja«, wiederholte er und nahm ihre Hand. Er liebte sie sehr…
Sie fuhren zurück in den brütenden Hexenkessel der Stadt. »Wollen wir das Wochenende auf dem Semmering verbringen?« fragte Hassa. Asiadeh nickte. Sie war noch nie auf dem Semmering gewesen.
Der Samstag kam, und um sechs Uhr läutete der Bariton der Oper an und bildete sich ein, ein Fibrom zu haben. Es war kein Fibrom, aber der Bariton klammerte sich keuchend an Hassas Ärmel, seine Glotzaugen rollten, sein Bauch bebte, und Hassa mußte mit ins Theater, um in den Pausen Kokain in die Stimmbänder des Baritons zu gießen.
»Wir fahren morgen in aller Frühe«, sagte er zu Asiadeh, »und bleiben bis Montag abend.« Er sah schuldbewußt und verschämt aus wie ein kleiner Junge. Dann kam die Nacht, und um fünf Uhr morgens mußte Hassa aus dem Bett, denn irgendwo lag ein krankes Kind und erstickte an Diphtherie. »Luftröhrenschnitt«, sagte er, Asiadeh war gar nicht verwundert, als er um sieben Uhr anrief und sagte: »Fahre allein. Ich komme mit dem Zug nach. Rufe Kurz an. Er soll dich begleiten, damit du dich nicht langweilst.«
Asiadeh rief Kurz an. Ja, er hatte Zeit. Die Hysteriker könnten warten und die Manisch-Depressiven auch.
Um acht Uhr fuhr das Auto zur Semmeringer Chaussee hinaus. Nun erreichten sie Maria-Schutz. Asiadeh blickte auf die Madonnenbildnisse am Wegrand und dachte an Hassa, an das fremde kranke Kind und an das Leben, das schön und ernst war.
Hinten im Rücksitz saß Dr. Kurz. Auch er dachte, denn er war ein Mensch, er hatte ein hochorganisiertes Gehirn, das zum Denken da war. Er dachte an die Kühe, denn die Kühe standen am Straßenrand, er dachte an die Kirchen, denn die Kirchen lagen am Weg, er dachte an die Irren, denn er lebte von ihnen. Er sah Asiadehs Nacken, und er dachte an den Nacken.
Ein schöner Nacken — dachte er — und weiche blonde Haare! Hassa hat Glück bei Frauen. Aber nur zu Beginn, denn er kann sie nicht halten. Seltsam, daß sie ihren Mann immer nur Hassa nennt. Im Unterbewußtsein empfindet sie ihn also doch als etwas Fremdes. Einen schönen Busen hat sie. Vielleicht kommt Hassa gar nicht nach. Toll, was dieser Mensch für eine Praxis hat. Und dabei nur technische Geschicklichkeit. Ich werde abends Sekt bestellen und lange über Hassa sprechen. Natürlich lobend. Das wirkt immer. Sie wird Vertrauen zu mir haben. Das ist die Hauptsache. Außerdem hat sie Heimweh. Wohl ein verborgener Vaterkomplex. Da wird man auch anpacken müssen. Nein, dieser Nacken. Hassa ist ihr gewiß nicht gewachsen. Wenn sie Temperament hat, kann ich schon heute manches erreichen…
So dachte Dr. Kurz, denn er war ein Mensch, er hatte ein hochorganisiertes Gehirn, das zum Denken da war.
Der Wagen hielt vor dem Südbahn-Hotel. Aus den Fenstern der großen Halle sah man die kantigen Berge und die breite Schlucht des Tales. »Schön«, sagte Asiadeh. Sie ging zur Terrasse und wurde plötzlich von wilder Lebenslust ergriffen. Die Berge waren blau, und die Luft klar und kühl. Der Horizont war eingeengt von dem Massiv der Berge. Die Unendlichkeit war im engen Kreise des Tales eingefangen. Es mußte schön sein, hier zu bleiben, durch die steile Bergwand von den Sorgen des Lebens getrennt.
Unten in der Stadt saß Hassa am Bett des röchelnden Kindes, unten in der Stadt lief durch das Vorzimmer der Ringwohnung der keuchende Bariton und wartete auf Hassa, denn er war jetzt überzeugt, daß er Krebs habe, unten in der Stadt läutete das Telephon, das Mädchen hob den Hörer ab, ein Hotel fragte nach Frau Dr. Hassa, und das Mädchen antwortete, daß die gnädige Frau auf dem Semmering sei. Unten in der Stadt fragte ein eleganter Ausländer den Hotelportier, wo sich der Semmering befinde. Doch all das wußte Asiadeh nicht, und wenn sie es gewußt hätte, würde sie es nicht beachtet haben.
»Gehen wir spazieren«, sagte sie. Kurz folgte ihr. Sie gingen die enge Straße zum Hotel Panhans hinauf. Der Wald rechts war dunkel und drohend, voll urzeitlicher Finsternis.
»Wissen Sie«, sagte Asiadeh, »ich habe nie Berge gesehen. Ich kenne nur den Bosporus und Berlin. Ich denke immer, daß das Mauern sind oder Burgruinen.« Kurz sah sie aufmerksam an. Dann sprach er mit leiser, eindringlicher Stimme. Er sprach und war über die Tiefgründigkeit seiner Sätze gerührt. »Die Frau beschwingt mich«, dachte er. Er wußte nicht, daß Asiadeh gar nicht zuhörte.
Sie gingen ins Tal hinab. Auf einer kleinen Anhöhe erhob sich eine alte Kirche. Sie traten näher. Asiadeh las die verwitterten Lettern am Eingange: »Maria-Schutz steht allen Feinden zum Trutz.« Sie betrachtete lange die Aufschrift und war plötzlich gerührt. Eine Welt stand hinter der kleinen Kirche mit der alten Aufschrift. Vielleicht sah diese Kirche noch den Siegeszug der Türken. Vielleicht streiften durch diese Berge auf langmähnigen Pferden die Bogenschützen des Hauses Osman. Dörfer gingen damals in Flammen auf. Vor dem Kirchenportal, auf dem kleinen Platz mag ein Scheiterhaufen gebrannt haben. Soldaten wärmten sich am nächtlichen Feuer und dachten an die Beute, die sie hinter den Mauern Wiens erwartete. Die Kirchentür war verschlossen, aber stumm und abgeklärt blickte die Inschrift, die über das fremde Heer, über den grimmigen Feldherrn, über das ganze Haus Osman gesiegt hatte.
Asiadeh blickte sich um. Tiefer Friede lag über der Landschaft. Sie seufzte. »Ihr seid ein glückliches Volk«, sagte sie, »und ihr habt ein schönes Land.« Trauer und leiser Neid klangen in ihrer Stimme. Aber Kurz merkte es nicht. Er sah ihre aufgeworfenen Lippen und die seltsam geschnittenen Augen. Er sprach, und Asiadeh wurde immer stiller, denn es fiel ihr ein, daß sie jetzt selbst diesem schönen und grünen Lande angehöre und sich freuen müßte, daß an der kleinen Kirche die Macht des Hauses Osman zerbrach. Nachdenklich ging sie zum Hotel zurück. Kurz ging neben ihr.
»Nachmittags«, sagte er, »findet in der Hotelhalle ein Fünf-Uhr-Tee statt. Es sind immer viele Ausländer da. Würden Sie mir die Ehre geben?«
Asiadeh nickte. Sie dachte an die Kirche mit der Aufschrift, und es kam ihr zum erstenmal zum Bewußtsein, daß sie keine Türkin mehr war und daß ihre Kinder und Kindeskinder es nie sein würden.
Um fünf Uhr saß sie mit Kurz an einem niedrigen Tisch in der Halle. Die Kapelle spielte eine fremde sehnsüchtige Melodie. Tanzpaare schwebten über das Parkett, und Asiadeh fing abgerissene Sätze auf, die in allen Sprachen der Welt dieselben Koseworte wiederholten. Kurz verbeugte sich. Er tanzte mit ihr, und der Rhythmus der fremden Melodie befiel sie. Es war schön, in der lichten Halle zu tanzen, die blauen Berge im Hintergrund. Kurz’ Hände berührten kaum ihre Taille. Er war offensichtlich ein anständiger Mensch, der genau wußte, was sich bei der Frau eines Freundes gehörte. Männer und Frauen kreisten eng umschlungen an ihnen vorbei. Asiadeh fing begehrliche Blicke auf. Sie hörte das Atmen der fremden Körper. Es war ein schönes Land und ein schönes Hotel, und auch das Leben war schön und gar nicht so ernst.
»Genug«, sagte sie plötzlich und ließ Kurz stehen, als wäre er ein Mannequin. Ganz außer Atem ging sie zu ihrem Tisch und setzte sich hin. Kurz’ Gesicht beugte sich vor. Hastig leerte Asiadeh eine Kaffeeschale. Jetzt müßte Hassa da sein, sie wollte mit ihm durch den Saal wirbeln, seine starken Hände spüren, seine schräggestellten Augen sehen, die sie lächelnd und bittend ansahen…
Eine hohe schlanke Dame erhob sich am anderen Ende des Saales. Sie ging durch die Halle. Asiadeh sah ein zartes längliches Gesicht mit hochmütigen Augen und schmaler Nase. Die Linien des Mundes hatten einen vornehmen Schwung, und der gleiche Schwung wiederholte sich in den schmalen Augenbrauen, die über die hohe glatte Stirn liefen. Die Frau sah stolz, fremd und schön aus.
Langsam kam die Fremde auf Asiadehs Tisch zu. Asiadeh blickte zu Kurz empor. Sein Gesicht war plötzlich rot geworden. Die Augen blinzelten verwundert und verlegen. Der Mund stand halb offen, als könne er sich nicht entschließen, zu lächeln oder zu niesen. Die fremde Frau stand am Tisch. Ihre Lippen öffneten sich. Asiadeh sah zwei Reihen kleiner glänzender Zähne.
»Guten Tag, Dr. Kurz. Ich freue mich, Sie zu sehen.« Die Stimme klang melodisch und weich. Kurz erhob sich. Schweißtropfen traten auf seine Stirn. Asiadeh musterte neugierig die fremde Dame. Sie stand immer noch da und lächelte hochmütig und überlegen. Kurz räusperte sich.
»Sie erlauben… darf ich bekannt machen.« Seine Stimme klang heiser. Asiadeh sah ihn erstaunt an. Er glich einem Menschen, der sich mit einem plötzlichen Entschluß in eine kalte Flut stürzen will.
»Darf ich vorstellen… Frau Dr. Marion Hassa — Frau Dr. Asiadeh Hassa.« Er verstummte, und es war ihm gar nicht mehr anzusehen, daß er Arzt für Nervenkranke war.
Asiadeh schloß die Augen. Nur für einen Augenblick. Irgendwo in der Brust entstand ein plötzlicher reißender Schmerz. Der Mund wurde trocken. Sie hatte das Gefühl, in einen wirbelnden Abgrund hinabzustürzen. Ganz unten in der Tiefe spielte die Kapelle. Wilde Klänge drangen an ihr Ohr. Sie öffnete die Augen. Marion saß an ihrem Tisch und lächelte hoheitsvoll.
»Ich freue mich sehr. Welcher Zufall!« Die Stimme klang weich, aber nicht mehr melodisch. »Ist Alex auch hier? Oder blieb er in Wien?«
»Wer bitte?«
»Alex, unser Mann.« Marion lachte.
»Ja so… nein. Hassa ist in Wien. Ich nenne ihn immer Hassa, wissen Sie…«
Sie stand auf. Rasch durchquerte sie den Saal und fühlte stechende Nadeln im Rücken. Das war es also, »unser Mann«. Frau Marion Hassa — Frau Asiadeh Hassa. Sie lag in einem fremden Bett. Sie führte einen fremden Namen. Sie saß in dem Salon mit dem Erkerfenster, in dem auch die schlanke Marion gesessen war, und Hassa küßte die stolzen hochmütigen Augen. Es gab wirklich eine Frau, die Marion hieß und deren Stelle sie einnahm.
Asiadeh lief über den Hof. Ihre Stirn war gerunzelt. Die grauen Augen starr.
»Den Wagen, bitte.«
Der Diener öffnete die Garage. Der Wagen sprang an. Asiadehs Hände umklammerten das Steuerrad, als wäre es Marions Hals. Sie fuhr, wild hupend, und blickte haßerfüllt auf zwei Kinder, die erschrocken zur Seite sprangen.
Man müßte dieses Hotel in die Luft sprengen — dachte sie und gab Vollgas. Der graue Asphalt kreiste vor ihren Augen. Sie schluchzte kurz und wischte die Tränen ab. Rechts erhob sich die Kirche Maria-Schutz. Die Türken waren ein müdes und schwaches Volk. Kein Stein sollte in diesem Lande stehenbleiben, keine Wiese, keine Kuh. Wüst sollte es werden, grau und öd, wie die Steppen Turkestans.
Die Achsen des Autos quietschten. Mitten in der Kurve bremste Asiadeh den Wagen. Die Räder bohrten sich in den Staub des Wegrandes. Sie schaltete um. Weiter!
Auch wenn das Wasser im Kühler schon zu kochen beginnt. Unten an der nächsten Biegung zeigte sich ein Viersitzer. Asiadeh beachtete ihn nicht. Sie umklammerte das Steuerrad und löste die Bremse. So! — jetzt auf Touren!..
Sie kam nicht auf Touren. Sie blickte auf das Armaturenbrett und fühlte, wie ihr plötzlich jemand einen Schlag an die Brust versetzte. Glas klirrte. Sie hob den Kopf und sah den fremden Wagen mit verbogener Stoßstange und zerschlagenen Lampen. Sie hatte keine Ahnung, wie sie in ihn hineingefahren war.
Zwei Menschen saßen im fremden Wagen und sahen sie erstaunt und erschrocken an. Asiadeh sprang aus dem Wagen. Sie eilte zu den Fremden hinüber, und ihre grauen Augen funkelten vor Zorn. Sie sah zwei Gesichter, ein dickes und ein schmales, und die aufgespeicherte Wut zerriß ihre Brust.
»Bagage«, schrie sie und wußte nicht, daß es Marion galt. »Könnt ihr nicht fahren!? Seht ihr nicht, was ihr tut?! Jedes Pack hat heute einen Führerschein! Besoffen seid ihr! Anzeigen müßte man euch, Bande!!!«
Sie stand im Staub der Straße und schimpfte mit Marion. Die beiden Männer krochen bedächtig aus dem Wagen. Sie verbeugten sich und lächelten verlegen.
»Grinst nicht so«, rief Asiadeh und stampfte mit dem Fuß.
Die Herren verbeugten sich nochmals: »Entschuldigen Sie, Madame«, sagte der eine im näselnden Englisch. »Wir sind untröstlich, daß Sie in uns hineingefahren sind. Wir sind bereit, alles wieder gutzumachen.« Eine gepflegte Hand streckte Asiadeh einen Geldschein entgegen.
»Ausländer seid ihr auch noch?!« rief Asiadeh, außer sich vor Wut. »Kommt einfach in unser Land und fahrt Damen an! Ausweisen müßte man euch. Bleibt doch zu Hause, Zigeunerbande! Was reist ihr herum?!«
Die Fremden verstanden offensichtlich kein Wort. Verlegen standen sie da und traten von einem Fuß auf den anderen. Endlich sagte der Dickere zu dem Schlanken in einer landesfremden, aber auch Asiadeh verständlichen Sprache:
»Schau, John, welch schönen Busen das Mädchen hat! Und was für Hüften! Gib ihr einen Kuß, vielleicht wird sie dann sanfter.«
Wilde Raserei ergriff Asiadeh beim Klange der heimatlichen Worte. Sie nahm dem Schlanken den grünen Dollarschein aus den Fingern. Sie zerriß ihn in kleine Fetzen, spuckte sie an und schmiß die Fetzen mit einer majestätischen Geste dem Fremden ins Gesicht. Dann sprang sie in den Wagen und fuhr wortlos davon.
Die beiden blickten ihr stumm nach. »Eine temperamentvolle Frau«, sagte John endlich, »ihr Mann wird einen schweren Stand haben.«
»Schöner Busen«, wiederholte Sam. »Sie ist noch ganz jung. Was wollte sie eigentlich? Sie ist verrückt. Nur Verrückte zerreißen Geldscheine.«
Betrübt nahm er im Wagen Platz. John folgte ihm. Vorsichtig fuhren sie weiter. Eine halbe Stunde später betraten sie das Hotel. Der Fünf-Uhr-Tee war vorbei. Gähnend leer war die große Halle.
»Wohnt hier eine Frau Dr. Hassa?« fragte John.
Der Portier verbeugte sich. »Jawohl. Zimmer achtundzwanzig.«
»Gehen wir vorher in die Bar«, meinte Sam. »Du solltest dir ein wenig Mut antrinken.« John nickte. Sie gingen zur Bar hinüber. Beim dritten Whisky sagte Sam: »Sprich mit ihr zuerst englisch, damit sie nicht erschrickt. Sei höflich und zuvorkommend. Das haben die Frauen gern.«
Beim sechsten Whisky blickte er verschämt vor sich hin und brummte: »Wenn sie dir gefällt, kannst du sie gleich mitnehmen. Sollten die Verhandlungen ins Stocken geraten, so rufe mich. Ich bin ja dein Agent. Geh jetzt. Ich warte hier.«
John erhob sich. Er ging die Treppe hinauf und hatte ein ernstes und stolzes Gesicht. Er klopfte an der Tür.
»Herein«, rief eine melodische Frauenstimme.
John Rolland trat ein. Eine Frau mit hochmütigen braunen Augen und vornehm geschwungenen Lippen erhob sich.
»Frau Dr. Hassa?« fragte John und verbeugte sich. Die Dame nickte. John sah sie durchdringend an und lächelte gnädig. Dann nahm er in einem Sessel Platz und zündete sich eine Zigarette an.
»Ziehen Sie eine englische oder eine türkische Unterhaltung vor?« fragte er nachlässig.
Die Dame sah ihn erstaunt an. »Eine englische natürlich«, sagte sie schüchtern.
John lächelte und schlug ein Bein über das andere. Die Dame war sehr schön, aber offensichtlich ahnungslos.
»Ich bin Prinz Abdul-Kerim. Ich hole Sie jetzt ab, denn Sie gefallen mir.« Sechs Whisky an einem Nachmittag waren entschieden zuviel.
»Wie bitte?« sagte die Dame und wurde sehr blaß.
John lachte. »Sie haben mich nicht erwartet. Mein Palast ist weg, aber ich bin da. Ich langweile mich in der fremden Welt und bin dem Produzenten durchgegangen. Wir können schon heute wegfahren.«
»Mein Gott«, sagte die Dame und biß sich auf die Lippe. »Was wollen Sie eigentlich?«
John runzelte die Stirn. »Machen Sie mir nichts vor«, sagte er streng, »muß ich wirklich befehlen?«
»Ach komme schon«, sagte Marion, und ihre Zähne klapperten. »Ich muß nur einmal telephonieren, mit der Zofe.«
Mit zitternder Hand ergriff sie den Hörer. »Kurz, kommen Sie um Himmels willen herüber, aber schnell.« Sie hängte ab. »Ich gehe die Koffer packen«, sagte sie liebenswürdig. »In einer halben Stunde bin ich fertig.«
Sie stürzte aus dem Zimmer. John löschte die Zigarette aus und wartete. Ins Zimmer trat ein düster aussehender Herr und verbeugte sich. »Dr. Kurz«, sagte er. Dann setzte er sich hin, blickte fachmännisch zu Rolland hinüber und fragte sehr sanft:
»Um was kreisten Ihre ersten Kindheitsgedanken?«
»Um die Krone«, antwortete John offenherzig und leicht trunken.
»Oh«, sagte Kurz und runzelte die Stirn.
»Einen Whisky«, hauchte um die gleiche Zeit Marion und stürzte in die Bar. »Stellen Sie sich nur vor«, sie sprach zum Kellner und war ganz verwirrt, »es kommt ein Fremder zu mir ins Zimmer, spricht englisch, sagt, er sei ein Prinz und daß er mich gleich mitnimmt. Mein geschiedener Mann war ein Arzt. Ich begriff sofort: Größenwahn.«
»Schrecklich«, sagte der Kellner.
Der dicke Mann, der friedlich in der Ecke saß und schlummerte, räusperte sich plötzlich und rief: »Zahlen!« Er eilte durch die Halle und sprach einige Worte mit dem Portier. Hierauf wurde er sehr munter und lief eiligst die Treppe hinauf. Als er die Tür zum Zimmer achtundzwanzig aufmachte, sah er Dr. Kurz begütigend auf Johns Knie klopfen.
»Träumen Sie oft von Eisenbahnen oder Flugzeugen?« fragte der Arzt, und John antwortete: »Nein, ich träume überhaupt nie.«
»Oh!« sagte der Arzt besorgt und kniff die Augen zusammen.
»Komm«, rief Sam auf türkisch. »Rasch, sonst wird es zu spät.«
John sprang auf. Auch der Arzt erhob sich. »Aha«, sagte er und nahm Sam unter den Arm. Er führte ihn zur Seite und flüsterte: »Sie sind wohl der Wärter? Typischer Cäsarenwahn. Neigung zu manisch-depressiven Zuständen. An wen darf ich die Honorarnote schicken?«
»Welche Note?« fragte Sam gereizt.
Dr. Kurz wurde sehr würdevoll: »Fünfzig Schilling, wenn ich bitten darf, für ärztliche Behandlung.«
»Zwanzig genügen«, zischte Sam und schob dem Arzt den Schein zu. Dann ergriff er John an der Hand und zog ihn aus dem Zimmer.
»Ich begriff es sofort«, sagte John im Hotelgang und kniff ein Auge listig zusammen. »Dieser Arzt ist der Mann meiner Braut. Sie wollte Zeit gewinnen, bis sie gepackt hat. Jetzt ist sie wohl fertig?«
»Schweig schon«, flüsterte Sam und führte John zum Wagen.
Erst als der Wagen aus dem Hotelhof hinausfuhr, sagte er überlegen: »Merk dir, John — wenn ein Autor ohne Agenten zu verhandeln beginnt, so endet er in der Irrenanstalt. Der Arzt hat recht, du hast Cäsarenwahn. Du bildest dir ein, ohne mich eine Verhandlung führen zu können. Ich werde morgen zu der richtigen Asiadeh gehen und ohne dich die Frage regeln. Auch zum Ehevertrag braucht man einen Agenten.« Er sprach lange und überlegen, und John sank merklich in sich zusammen.
»Sam«, sagte er sehr kleinlaut, »glaube mir. Die Frau war mir sofort unsympathisch.« Er schüttelte betrübt den Kopf und spuckte aus. Das Auto fuhr nach Wien.
Um die gleiche Zeit hielt ein Wagen mit zerschlagener Scheibe am Ringhaus. Asiadeh lief die Treppe hinauf und fand Hassa mit dem Hut in der Hand reisebereit im Zimmer stehen.
»Hassa«, rief sie und schluchzte. »Ich habe deinen Freund Kurz beleidigt, ich habe das Auto kaputtgefahren, ich habe hundert Dollar zerrissen und fremde Leute angespuckt, und an allem ist Marion schuld.« Sie schluchzte, und ihr Kopf vergrub sich in Hassas Schulter. Hassa sah sie an, sah die zitternden Schultern und verweinte graue Augen. Dieses wilde Mädchen liebte ihn, hieran konnte er nicht zweifeln, auch wenn diese Liebe fremd und unverständlich war, voll seltsamer Regungen, Einfälle und Impulse. Er streichelte Asiadehs Haare und sprach leise und begütigend:
»Marion gibt es gar nicht, es hat nie eine Marion gegeben. Es gibt nur Asiadeh.«
Asiadeh sah ihn dankbar an. »Ja«, sagte sie, »es gibt nur Asiadeh, und die hat vergessen, sich die Nummer des Wagens zu merken, den sie angefahren hat. Sei nicht böse, Hassa, ich will nie wieder chauffieren.«