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Sie lagen im Sande, am Abhange des Strandhügels. Asiadehs Körper zitterte unmerklich. Sie blickte auf den grünen Badeanzug, den Hassa unterwegs für sie erworben hatte, und die Gegenwart erschien ihr wirr und phantastisch. Ihre rosigen Finger krabbelten im Sande, und sie schämte sich des Gewandes einer Bajadere, das sie jetzt trug.

In den vier Jahren, die sie in Berlin verbracht hatte, lernte sie Universität, Straßen und Kaffeehäuser kennen.

Ein Strandbad hatte sie noch nie gesehen und hatte nur eine ganz dunkle Vorstellung von den Orten, wo europäische Männer und Frauen halb nackt und eng umschlungen ihre Gesichter den milden Strahlen der nördlichen Sonne preisgaben. Ihre Augen weiteten sich vor Entsetzen, als die Bademeisterin sie in die enge, kleine Kabine führte, ihr den Schlüssel und den Badeanzug aushändigte und die Tür schloß.

In dem engen, dunklen Raum roch es nach Wasser und Holz. Asiadeh fühlte sich unglücklich und gottverlassen, wie vor einer schweren Prüfung. Sie setzte sich auf die schmale Holzbank und starrte fassungslos auf das winzige Stück Wolle, das nunmehr ihre Glieder verdecken sollte. Ihre Lippen spitzten sich, und sie sehnte sich nach der vertrauten Welt der uigurischen Suffixe und kleinasiatischen Sekten. Dann zog sie Schuhe und Strümpfe aus und bewegte sie zähe. Das beruhigte sie ein wenig. Sie schloß die Augen, warf das Kleid ab und rutschte in den Badeanzug. Dann blickte sie in den kleinen, fliegenbefleckten Wandspiegel und erstarrte. Sie sah ihren kleinen Busen nackt und ahnungslos aus dem breiten Ausschnitt des Trikots herausragen. Sie setzte sich verzweifelt auf die Bank und weinte hilflos. Nein, so konnte sie wirklich nicht hinaus, auch wenn alle Frauen Berlins so herumliefen. Sie hörte draußen das Strampeln nackter, kräftiger Beine und hob ängstlich die Schulter. Im Halbdunkel der Kabine glich sie einem erschrockenen, in die Enge getriebenen Vogel. Endlich steckte sie ihren Kopf durch die spaltbreit geöffnete Tür und winkte der Bademeisterin zu. Sie ließ sie in die Kabine hinein, sah sie mit schamvoll lächelnden Augen an und fragte furchtsam:

»Glauben Sie, daß ich so heraus kann? Ich meine — ich kann im Spiegel so schlecht sehen.«

»Nein«, sagte die Bademeisterin mit tiefer Stimme. »So können Sie unmöglich heraus. Sie haben den Badeanzug verkehrt angezogen.« Sie half Asiadeh den Anzug umzuziehen und ging kopfschüttelnd weg.

Asiadeh betrat den Badestrand wie ein Sünder die Pforte der Hölle. Ihre Hände waren verkrampft und über den Leib gefaltet, und sie schloß die Augen. Es schwindelte sie. Sie sah nackte Frauenrücken und Männer mit bärtigen Brüsten. »Bismillah«, »Im Namen Gottes«, flüsterte sie und öffnete mit Todesverachtung die Augen. Ein wildfremder Mann stand vor ihr und lächelte sie an. Sie sah zwei gerade sonnengebräunte Beine und gespreizte Zehen. Sie hob langsam die gesenkten Augen, und die Beine gingen in trikotbedeckte Schenkel über. Sie gab sich einen Ruck und zwang die Augen, sich noch weiter zu öffnen. Sie sah einen gutgeformten, trikotübergossenen Bauch, eine breite braune Brust mit schwarzen Kraushaaren und unbehaarte Arme mit Muskeln, die sich unter der Haut bewegten. Zum erstenmal sah sie einen fremden, beinahe nackten Mann, und es war sehr aufregend.

»Ich bin eine verkommene Frau«, dachte sie gramvoll und zwang sich, Dr. Hassa ins Gesicht zu blicken. Hassa lächelte verständnislos, aber entzückt. Dann führte er sie zu ihrem Platz, und Asiadeh warf sich in den Sand und wußte nicht, welchen Teil ihres Körpers sie zuerst im Sande vergraben sollte.

»Wollen Sie schwimmen?« fragte Hassa.

»Nein, viel zu kalt«, sagte Asiadeh und verschwieg, daß sie weder schwimmen konnte noch je einen schwimmenden Menschen gesehen hatte.

Dr. Hassa ging langsam zum Sprungbrett und Asiadeh blickte verwundert, wie ein erwachsener Mensch ohne sichtbaren Grund sich geräuschvoll ins Wasser stürzte. Schüchtern sah sie sich im Bade um. Die nackten Körper blendeten sie. Sie sah, wie Männer und Frauen unter großer und unbegründeter Kraftanwendung im Wasser herumtobten oder, müden Schnecken gleichend, faul und regungslos in der Sonne herumlagen. Papierfetzen und Speisereste bedeckten den Strand, und eine dicke Frau schmierte sich die Nase mit einer gelblichen Masse ein. Asiadeh setzte sich aufrecht, umschlang mit den Armen ihre hochgezogenen Knie und fühlte ihre Scham schwinden. Eine leichte Übelkeit stieg langsam in ihr auf. Die Menschen glichen Tieren aus einer exotischen Menagerie. Überdies waren alle behaart, affenartig behaart, an den Füßen, an der Brust, an den Armen. Sogar Frauen hatten dichte Härchen unter den Achselhöhlen. Asiadeh dachte an ihren eigenen Körper, von dem sie mit peinlicher Sorge jedes Härchen entfernte, und an die glänzende unbehaarte Haut ihres Vaters und ihrer Brüder. Eine stille Verachtung erfüllte sie. Sie wandte ihre Blicke von den halbbekleideten Leibern ab und sah zum Himmel. Die weichen und weiten Wolken hatten seltsame Umrisse und glichen manchmal der Nase des Prof. Bang und manchmal der geographischen Karte des Römischen Reiches in den Zeiten seiner größten Ausdehnung. Sie zuckte zusammen, als ein Regen kalter Wassertropfen auf ihren Rücken fiel. Dr. Hassa stand neben ihr, wassertriefend und wild wie ein nasser Pudel. Er ließ sich neben ihr nieder und blickte mit stillem Entzücken auf das seltsame Mädchen mit der etwas kurzen Oberlippe, die ihr einen unbeholfenen und kindlichen Ausdruck gab.

»Wie gefällt es Ihnen hier?« sagte Hassa.

»Danke gut. Ich bin zum erstenmal am Stölpchensee.«

»Wo schwimmen Sie denn gewöhnlich?«

»Im Rupenhorn«, log Asiadeh und blickte harmlos vor sich hin.

Etwas später lagen sie beide auf dem Bauch, Stirn an Stirn und krabbelten mit den Fingern im Sande.

»Sind Sie im Harem aufgewachsen, Asiadeh?« fragte Hassa, immer noch fassungslos, daß er eine richtige Haremsschönheit zum Stölpchensee ausführen durfte.

Asiadeh nickte. Sie erzählte, daß der Harem etwas sehr Angenehmes sei, ein Ort, wo die Männer nicht hineindürfen und wo die Frauen unter sich bleiben. Dr. Hassa verstand es nicht ganz. Er glaubte genau zu wissen, was ein Harem sei.

»Haben Sie viele Eunuchen gehabt?«

»Acht. Es waren sehr treue Menschen. Einer davon war mein Lehrer.«

Hassa war fassungslos und zündete sich eine Zigarette an. »Pfui«, sagte er. »Es ist ja wirklich eine Barbarei. Und der Vater hat dreihundert Frauen gehabt, nicht wahr?«

»Nur eine«, sagte Asiadeh stolz und beleidigt. Die Männer, die sie bis dahin kannte, wagten es nicht, mit ihr über den Harem zu sprechen. Aber Hassa war ein Arzt, da war es wohl anders.

Sie runzelte die Stirn, und ihre kindliche Oberlippe zog sich nach vorn.

»Für Sie ist der Harem barbarisch«, sagte sie böse. »Für mich ist es bereits Ihr Name.«

Die Wirkung dieses Satzes war viel gewaltiger, als es Asiadeh erwartet hätte. Dr. Hassa richtete sich auf und sah sie entgeistert an. »Wieso mein Name?« stotterte er mit offensichtlicher Verlegenheit.

»Weil es gar kein Name ist«, sagte Asiadeh gereizt. »Es gibt ein Land Hessen und einen Namen Haß. Hassa ist barbarisch und nicht deutsch. Diese Endung auf ›a‹ ist einfach sinnlos.«

Hassa legte sich wieder auf den Bauch, sah sie mit lächelnden Augen an und kicherte erleichtert. Gott sei Dank, das Mädchen hatte keine Wiener Bekannten und wußte nichts über den Skandal mit Marion und der Schande, die über Hassas Namen kam. Philologen waren harmlose Geschöpfe.

»Hassa ist eine gesetzlich genehmigte Abkürzung«, sagte er. »Früher hießen wir Hassanovic. Wir stammen nämlich aus Sarajewo in Bosnien, sind aber noch vor der Annexion nach Wien übersiedelt. Ich selbst bin in Wien geboren.«

Jetzt richtete sich Asiadeh auf. Entgeistert blickte sie den Arzt an. »Aus Sarajewo?« sagte sie. »Hassanovic? Verzeihen Sie — die Endung ›vic‹ heißt doch soviel wie ›Sohn‹, der Stamm muß Hassan lauten.«

»Ganz richtig«, meinte Hassa harmlos. »Der Stammvater wird irgendein Hassan gewesen sein.«

»Aber Hassan ist doch…«, begann Asiadeh und verstummte, über die eigene Spitzfindigkeit erstaunt.

»Was ist denn?« staunte Hassa.

»Ich meine…«, stotterte Asiadeh. »Ich meine, daß doch Bosnien bis neunzehnhundertelf offiziell zur Türkei gehört hat, und Hassan ist ein muslimischer Name. Ein Enkel des Propheten hieß Hassan.«

Endlich begriff Hassa, wo das seltsame Mädchen hinauswollte.

»Ja«, sagte er. »Natürlich. Eigentlich sind wir Bosniaken, d. h. Serben, die nach der türkischen Eroberung zum Islam übergegangen sind. Ich glaube, daß ich noch einige wilde Vettern habe, die in Sarajewo hausen. Ich entsinne mich sogar, daß wir in der Türkenzeit irgendwelche Güter in Bosnien besaßen, aber das ist schon lange her.«

Asiadeh nahm eine Handvoll Sand und ließ ihn langsam durch die Finger rinnen. Ihre kurze Oberlippe zitterte.

»Dann müssen Sie doch auch Muslim sein, nicht wahr?«

Da lachte Hassa. Er legte sich auf den Bauch, und sein Körper bebte. Seine Augen wurden ganz klein, und er setzte sich mit gekreuzten Beinen auf den Sand.

»Kleine türkische Lady«, lachte er. »Wenn Kara-Mustafa Wien erobert hätte, oder wenn der Friede von San Stefano anders ausgefallen wäre, würde ich Ibrahim-Bei Hassanovic heißen und einen Turban tragen. Kara-Mustafa hat aber Wien nicht erobert, und so bin ich ein guter Österreicher geworden und heiße Dr. Alexander Hassa. Kennen Sie Wien? Wenn die Sonne hinter den Weinbergen untergeht und in den Gärten Lieder ertönen… es gibt nichts Schöneres als Wien.«

Er schwieg und blickte Asiadeh etwas überheblich an. Asiadeh hob den Kopf und fühlte, wie sich ihre Wangen, ihre Ohren, ihre Augen, ihre Lippen und ihre Stirn mit Blut füllten. Sie wollte aufspringen und dem Menschen, der da nackt im Sande lag und über ihre Welt spottete, ins Gesicht schlagen, sie wollte davonlaufen und nie wieder von der Stadt hören, an deren Toren die Macht des alten Reiches zerbrochen war. Dann sah sie die kindlich-ahnungslosen Augen des Fremden, sein zufriedenes Lächeln und die dunklen, lockenden Augen, die sie harmlos anschauten. Eine große Trauer überkam sie. Sie schloß die Augen und dachte an das zertrümmerte Reich, dessen Sturz an den Toren Wiens begonnen hatte.

»Ist Ihnen heiß, Asiadeh?« sagte Hassa besorgt.

»Nein, eher kalt. Vielleicht bin ich noch nicht ganz gesund. Es ist ja Herbst.« Sie blickte verlegen vor sich hin, und ihre Augen wurden ganz dunkel.

Hassa war plötzlich sehr geschäftstüchtig. Er warf einen Bademantel um ihre Schulter und holte heißen Kaffee. Er rieb ihre Hände, die kalt und regungslos in den seinen lagen und zählte die Namen der unzähligen Bazillen auf, die den Menschen im Herbst beim Baden zu überfallen pflegen. Bei den Streptokokken angelangt, sah er Asiadehs schreckverzerrtes Gesicht und begann in der gleichen Reihenfolge die diversen Antitoxine aufzuzählen. Er fühlte sich dabei selbst sichtlich beruhigt, streichelte Asiadehs Wange, wobei es nicht ersichtlich wurde, ob es prophylaktisch oder erotisch gemeint war, und schlug endlich vor, nach Hause zu fahren.

Asiadeh erhob sich. Ihre Wangen glühten. Dr. Hassa war der erste Mann, der sie streicheln durfte, aber auch das war nur ein Detail, das niemanden etwas anging. Sie lief zur Kabine, warf ihr Trikot haßerfüllt in die Ecke und zog sich rasch an. Sie trat hinaus und stand stolz und unnahbar am Wagen, während Hassa am Motor herumhantierte.

Sie fuhren über die staubige Asphaltstraße. Autos hupten, fuhren an ihnen vorbei, und Hassa schlängelte sich zwischen den Autobussen, Radfahrern und Taxichauffeuren hindurch. Er erzählte dabei von der Arbeit in der Klinik und von einer temporalen Septumresektion, die er heute früh vorgenommen hatte und die nur acht Minuten gedauert hatte. Der große Hajek in Wien hätte es auch nicht schneller machen können. Dabei mußte er selbst tupfen, was seinem Tone nach offensichtlich ein erschwerender Umstand war. Asiadeh lehnte sich an die Rücklehne des Autos. Ihr Gesicht war aufmerksam und teilnahmsvoll, aber sie hörte den Worten des Arztes nicht zu. Sie blickte auf den Straßenrand und verfolgte angestrengt die Schilder, die sie aufforderten, in jeder Lebenslage Bullrichs Kochsalz zu sich zu nehmen, oder einen dicken Mann darstellten, der mit verzweifelt erhobenen Händen der Welt sein Leid klagte: »Das Ullsteinbuch blieb im Coupé — was tu’ ich bloß am Stölpchensee.«

»Ich gehe zugrunde«, dachte sie kopflos und zuckte mit der Oberlippe. »Ich gehe bestimmt zugrunde.«

Sie stellte sich eine große Rutschbahn vor, auf der sie langsam einem siedenden See entgegenrutschte. Auf der andern Seite des Sees stand ihr Vater und rief ihr unverständliche, aber drohende Sätze zu mit philologisch sehr interessanten Endungen. Dann schielte sie zu Dr. Hassa hinüber und ärgerte sich, daß ihr dieser fremde gottlose Mann immer mehr gefiel. Endlich entdeckten ihre Augen den schräggestellten Spiegel des Wagens. In der geschliffenen Glasfläche sah sie eine schmale und strenge Lippe, eine längliche Nase und zwei schräggestellte, aufmerksam in die Ferne blickende Augen. Sie starrte so lange in diesen Spiegel, bis die Züge des Mannes einen deutlich mongolischen Einschlag bekamen. Das beruhigte sie ungemein.

Indessen bog der Wagen in den Kurfürstendamm ein, und Hassa beendete den Bericht über die temporale Septumresektion und dachte an die weiche Oberlippe Asiadehs. Die Oberlippe bewegte sich und eine fremdländische Stimme sagte: »Zur Uhlandstraße.« Hassa sah für einen Augenblick zwei erschrockene und verträumte Augen, die unter einer leicht gewölbten, jetzt finster gerunzelten Stirn hervorblickten. Er hupte lange und aufgeregt, obwohl es gar nicht notwendig war und bog in die Uhlandstraße ein. Er hielt an dem vierstöckigen Haus mit der ehrbaren grünlichgrauen Fassade und blickte sich um. Asiadeh sah ihn an und ihre blonden windzerzausten Haare fielen in ihre Stirn. Da beugte er sich zu ihr hinüber, ergriff ihren Kopf und seine Lippen umfaßten ihren kleinen zitternden Mund. Er hörte ein leises unterdrücktes Stöhnen und fühlte, wie sich Asiadehs Knie zusammenzogen. Ihre weichen Lippen öffneten sich, ihr Kopf war nach rückwärts gelehnt und es war gar nicht mehr notwendig, ihn zu halten. Dann schob sich Asiadeh in die Ecke des Wagens, beugte den Kopf nach unten und blickte schwer atmend und mit verschleierten Augen zu Hassa empor. Langsam öffnete sie die Tür des Wagens, stieg hinaus und stand am Bürgersteig, lächelnd und die linke Hand auf die Autotür gestützt. Sie führte die rechte Hand zum Munde, streifte mit den Zähnen den Handschuh ab und ohrfeigte Hassa knallend und kurz. Ihre Augen blitzten halb erbost, halb verwundert, sie lächelte sanft und traurig und verschwand hinter der Tür mit der Aufschrift »Zum Gartenhaus«.

An den Wänden hingen Halbmonde und Koransätze in schwarzen Rahmen. Der Löwe von Iran prangte mit seiner Löwenmähne neben dem grauen Wolf des türkischen Wappens. Die drei Sternchen des ägyptischen Halbmondes hingen friedlich neben der grünen Fahne des Königreiches Hedschas. Teppiche waren im großen Saal ausgebreitet in die Richtung Mekkas. Auf den Teppichen und auf den Stühlen, die an den Wänden entlang standen, saßen feierlich gekleidete Männer mit Fes, Turban und mit nackten Füßen. Zwischendurch blitzte die vergilbte Uniform einer kaiserlichen Hofcharge oder eines hohen Offiziers. Persische Grüße ertönten neben arabischen Segensformeln und türkischen Glückwünschen. Der Orientklub zu Berlin feierte den Tag der Geburt des Propheten Mohammed.

Der Imam, jener indische Professor, der nebenbei das Kaffeehaus »Watan« besaß, hatte das Gebet zelebriert. Perser, Türken, Araber, Generäle und Kellner, Studenten und Minister standen barfuß dicht nebeneinander und sprachen die Sätze des Korans. Dann warfen sie sich in den Staub vor dem Allmächtigen, und der indische Professor sang mit hoher und trauriger Stimme das Gebet. Nachher umarmten sich alle, küßten einander auf die Schulter und setzten sich auf die Stühle, Sofas und Teppiche des großen Saales. Diener brachten Kaffee, türkischen Honig, arabisches Gebäck und persischen Scherbett. Der Präsident des Klubs, ein kleiner trockener Marokkaner, hielt eine kurze Ansprache, dankte dem Allmächtigen für seine Güte, dem Deutschen Reich für seine Gastfreundschaft und den Anwesenden für ihr Erscheinen. Dann tauchte er arabisches Gebäck in türkischen Kaffee und sprach einen persischen Segenswunsch, denn er war ein gelehrter Mann, der genau wußte, was sich gehört.

Asiadeh saß auf dem kleinen Diwan und atmete gierig den Duft der Wüsten, der einsamen Lager und Kamelritte, die sie in den Gewändern der Gäste witterte. Menschen näherten sich ihr und blickten sie schüchtern und gleichsam erschrocken an, denn sie war eine Frau, und die Menschen hier waren des Umgangs mit Frauen nicht gewohnt. Sie drückten Asiadehs Hand, und Achmed-Pascha nannte gewichtig die langen Namen, die zu den Händen gehörten. Asiadeh blickte in die dunklen, braunen und ganz schwarzen Gesichter der Nachbarn. Da waren sie — Völker aller Länder, nur vereint durch die Worte des Korans. Keiner dieser jungen und alten, braunen und schwarzen Menschen würde es wagen — wie jener Langbeinige aus der Klinik —, sie am Kopfe zu fassen und an ihren Lippen zu zerren. Sie blickte auf ihre kleinen Handflächen und lächelte still und versonnen.

Ein junger Neger mit strahlendem Gebiß und vergrämten Augen stand vor ihr.

»Anta min misri?«

»Sie sind aus Ägypten«, fragte sie auf arabisch.

»Aus Timbuktu«, sagte der Neger.

»Timbuktu?« wiederholte Asiadeh, und der Name klang wie ein Zauberspruch. »Das liegt doch im Sudan. Einst regierte dort der König Dialliaman und das Haus Asku. Ihr hattet einen Weisen, und der hieß Achmed-Baba. Mehr weiß ich von euch nicht.«

Der Neger strahlte glückselig.

»Bei uns sagt man: Vom Norden das Salz, vom Süden das Gold, vom Westen das Silber, aber göttliche Weisheit und göttliche Lieder nur aus Timbuktu.« Er grinste dankbar und stolz.

»Was tun Sie hier?« fragte Asiadeh.

»Ich bin Pförtner im Hause des ägyptischen Gesandten«, sagte der Neger mit Würde. »Sie haben recht, unser Weiser hieß Achmed-Baba. Er schrieb das Buch el-Ihtihadschi, aber er ist schon tot. Marokkaner zerstörten Timbuktu, seitdem ist es Wüste, und niemand singt mehr.« Er verstummte und blickte mißbilligend auf den kleinen Marokkaner, der Präsident des Klubs war.

Ein junger Mann mit olivenfarbenem Gesicht verbeugte sich vor Asiadeh. »Warum kommen Sie so selten zu uns, Hanum?« Er sprach ein gebrochenes Deutsch, und Asiadeh antwortete auf persisch: »zeman ne darem« — »habe keine Zeit«, denn der junge Mann war ein persischer Prinz.

Achmed-Paschas Wangen röteten sich von sichtbarem Stolz. Ja, er hatte seine Tochter gut erzogen. Sie sprach türkisch — die Sprache der Ahnen, sie sprach arabisch — die Sprache Gottes, und sie sprach persisch, die Sprache der Liebe. Gott hat es nicht gewollt, daß sie in den Harem des Prinzen kam. Gott war groß. Er allein wußte, warum das geschah und warum das Reich zerfiel.

Die Versammelten bildeten einen großen Kreis. Ein hagerer Ägypter setzte sich auf den Boden und sang mit schwermütiger und hoher Stimme. Zwei syrische Jünglinge mit großen schwarzen Augen und geschmeidigen Gliedern erschienen, in weiße Beduinengewänder gehüllt. Sie trugen krumme lange Schwerter und alte runde Schilde mit weisen und kämpferischen Sprüchen. Ihre Füße, in weiches Saffianleder gekleidet, bewegten sich im Takt des wilden Liedes. Ihre schwarzen Augen blickten verwundert unter dem weißen Tuch des Beduinengewandes. »Jah sahib«, riefen sie, und die krummen Säbel blitzten. Ihre Bewegungen wurden kurz und hastig. Die Stahlklingen berührten sich mit melodischem Klang. Die Schilde schlugen hart aneinander. Die Augen der Jünglinge wurden wild. Sie waren gesittete Kaufmannssöhne aus Beirut, aber das Blut der wilden Ahnen, die aus der Wüste kamen und Beirut bezwangen, schlug in ihren Adern. »Jah-i-i-i«, riefen sie gedehnt und heiser, und die Stahlklingen funkelten. Sie knieten auf dem Parkettboden, vom Schilde verdeckt, und lauerten aufeinander, wie ein Beduine hinter einem Wüstenhügel. Dann sprangen sie auf, schlank und jung, und stürzten sich aufeinander, von der Hitze des plötzlichen Gefechtes ergriffen. Ihre Burnusse wehten in der Tabakluft des Saales. Immer wieder ertönte der melodische Aufschlag des Damaszeners und die harten Schläge des Schildes. Immer höher, immer schneller wurde das Lied des Ägypters, und plötzlich drehten sich die beiden, wie vom Wüstenwind ergriffen, wirbelartig umeinander. Die Blicke wurden starr, die Bewegungen krampfhaft. Der Kampf der Beduinen ging in wilde Zuckungen tanzender Derwische über.

Plötzlich verstummte der Ägypter, und die wilden Derwische verwandelten sich in gesittete Kaufmannssöhne aus Beirut. Sie verbeugten sich, und die Stahlklingen berührten sich zum Gruße und friedlich.

Asiadeh klatschte, von der spukhaften Phantastik des wilden Tanzes hingerissen. Im Saal wurde es qualmig und dumpf. Im blauen Tabakqualm tauchten Gesichter auf und verschwanden plötzlich, als wären sie Larven. In der Tabakwolke schwamm ein Bart und blieb dicht vor Asiadeh in der Luft hängen. Der Bart gewann Formen, und Asiadeh sah buschige Augenbrauen und lange Zähne hinter roten schnurrbartverhängten Lippen.

»Friede«, sagte der Bart, und Asiadeh beugte den Kopf ermüdet und beklommen. Der Alte setzte sich neben sie und hatte kleine bewegliche Augen einer tausendjährigen Eidechse.

»Ich bin Reza«, sagte der Alte. »Aus der Bruderschaft der Bektaschi.«

»Bektaschi«, wiederholte Asiadeh und dachte an die heilige Gemeinschaft der Krieger, Asketen und Mönche. Die kleinen Augen des Alten waren unruhig und stachlig. »Wir sind alle weg«, sagte er. »Istanbul hat uns ausgespien. In Bosnien wohnt jetzt der Meister. Ali-Kuli ist sein Name. Dort kasteien wir den Leib.« Seine Unterlippe hing herab, und der Mund blieb halb offen.

»Sie sind ein weiser Mann«, flüsterte Asiadeh gepreßt.

»Wir hüten den Glauben«, sagte der Alte mit Inbrunst. »Alles zerfällt in der Welt des Unglaubens. Licht und Schatten vereinen sich, und Gott straft die Irrenden. Die Sünde belauert die Schwankenden und hat viele Gesichter.«

»Ich sündige wenig«, sagte Asiadeh, und der Alte lachte nachsichtig und mit Schwermut.

»Sie gehen unverschleiert, Hanum. Das ist keine Sünde, aber das fordert die Sünde bei andern heraus.«

Er erhob sich und verdeckte für einen Augenblick mit der rechten Hand die Augen. Dann ging er gebückt und einsam, und die Menschen blickten ihn scheu an.

Achmed-Pascha kam herbei. Seine Augen lachten.

»Der ganze Saal will dich heiraten, Hanum«, sagte er leise.

Asiadeh blickte sich spöttisch um.

»Es sind alles gute Menschen, Vater. Wem gibst du mich, dem Neger aus Timbuktu oder dem Prinzen aus dem Hause der Kadscharen?«

»Niemandem«, sagte der Pascha. »Ich werde nach Afghanistan ziehen und mein Schwert in das Blut der Feinde tauchen. Ich erbaue mir eine Burg, und du heiratest den König.«

Asiadeh blickte zum Vater empor. Hinter dem Kopfe des Vaters hing die schwarze Fahne Afghanistans und das Bild eines Mannes mit Adlernase und langer weißer Feder auf der Mütze.

»Der König«, sagte sie leise, und ihre Hand streichelte den Arm des Vaters. »Was würdest du tun, Vater, wenn ein fremder Mann mich küssen würde?«

Achmed-Pascha sah seine Tochter verblüfft an.

»Ein fremder Mann dich küssen? Das würde doch keiner wagen!«

»Und wenn?«

»Mein Gott, Hanum, wie kannst du nur so was denken? Ich würde mein Messer nehmen, ich würde die Lippen abschneiden, die dich geküßt haben, und die Augen ausstechen, die dich gesehen haben. Er würde es sehr bereuen, daß er dich geküßt hat.«

Asiadeh drückte dankbar die Hand des Vaters. Sie fühlte sich als die Retterin der Augen und Lippen des Dr. Hassa. »Soll ich also einen König heiraten?«

»Nein«, lachte der Pascha. »Ich hab’ es mir überlegt. Du heiratest den Präsidenten der Vereinigten Staaten und bekehrst Amerika zum Islam. Der Präsident schickt seine ganze Flotte nach Istanbul, und wir können in die Heimat zurück. Das wird sein Brautpreis sein.«

»Gut, mein Vater«, sagte Asiadeh feierlich. »Ich gehe jetzt heim und überlege deine Worte, es wird hier viel geraucht, und der Tag des Propheten ist vorbei.«

Sie erhob sich und ging durch den Saal. Schüchterne Blicke verfolgten sie, doch sie erwiderte sie nicht. Im qualmigen Rauch tauchten geschlitzte Augen auf und schmale zusammengepreßte Lippen. Die Augen glichen denen Dr. Hassas, und Asiadeh wandte sich ab.

Sie ging zur Tür. Der Diener reichte ihr den Mantel, und der Neger aus Timbuktu lächelte ihr zu. Sie verließ den Klub und fühlte sich bereits auf der Treppe einer fremden feindlichen Welt ausgeliefert. Hinter ihr war die Heimat, waren dienstbeflissene Neger, Prinzen und Blutsverwandte, die ihre Ehre schützen würden, und fromme Derwische, die sie an die Sünden gemahnten. Es war die Welt, die sie kannte, in der sie sich ruhig und geborgen fühlte. Vor ihr war die staubige Treppe eines spärlich beleuchteten Hauses und fernes Licht der Straßenlaternen. Sie ging die Treppe hinunter und öffnete die Tür. Wind wehte durch die breite menschenleere Straße. Abendliche Dunkelheit umhüllte die Häuser. Trübes Licht fiel aus den Fenstern auf den feuchten Asphalt, und von den Scheiben der Straßenlaternen fielen die Tropfen eines eben abgeklungenen Regens. Asiadeh trat auf die Straße. Gierig atmete sie die kühle abendliche Luft ein. Der Asphalt der Straße war in mathematisch-genaue Vierecke geteilt. Asiadeh blickte auf das Pflaster, runzelte die Stirn und fühlte ein leichtes Zittern in den Knien. Sie hatte plötzlich den Wunsch, zurückzulaufen und mit dem Neger aus Timbuktu das Gespräch über den weisen Achmed-Baba fortzusetzen, der das berühmte Buch el-Ihtihadschi geschrieben hatte und schon lange tot war.

Sie tat es nicht. Sie hob den Kopf und sah ernst und finster in die Augen Dr. Hassas. Hassa zog den Hut und verbeugte sich. »Guten Abend, Fräulein Anbari«, sagte er sanft.