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Während Grenouille für die erste Etappe seiner Reise durch Frankreich sieben Jahre gebraucht hatte, brachte er die zweite in weniger als sieben Tagen hinter sich. Er mied die belebten Straßen und die Städte nicht mehr, er machte keine Umwege. Er hatte einen Geruch, er hatte Geld, er hatte Selbstvertrauen, und er hatte es eilig.
Schon am Abend des Tages, da er Montpellier verlassen hatte, erreichte er Le Grau-du-Roi, eine kleine Hafenstadt südwestlich von Aigues-Mortes, wo er sich auf einen Lastensegler nach Marseille einschiffte. In Marseille verließ er den Hafen gar nicht erst, sondern suchte gleich ein Schiff, das ihn weiter die Küste entlang nach Osten brachte. Zwei Tage später war er in Toulon, nach drei weiteren Tagen in Cannes. Den Rest des Weges ging er zu Fuß. Er folgte einem Pfad, der landeinwärts nach Norden führte, die Hügel hinauf.
Nach zwei Stunden stand er auf der Kuppe, und vor ihm breitete sich ein mehrere Meilen umfassendes Becken aus, eine Art riesiger landschaftlicher Schüssel, deren Umgrenzung ringsum aus sanft ansteigenden Hügeln und schroffen Bergketten bestand und deren weite Mulde mit frischbestellten Feldern, Gärten und Olivenhainen überzogen war. Es lag ein völlig eignes, sonderbar intimes Klima über dieser Schüssel. Obwohl das Meer so nah war, dass man es von den Hügelkuppen aus sehen konnte, herrschte hier nichts Maritimes, nichts Salzig-Sandiges, nichts Offenes, sondern stille Abgeschiedenheit, ganz so, als wäre man viele Tagesreisen von der Küste entfernt. Und obwohl nach Norden zu die großen Gebirge standen, auf denen noch der Schnee lag und noch lange liegen würde, war hier nichts Rauhes oder Karges zu spüren und kein kalter Wind. Der Frühling war weiter vorangeschritten als in Montpellier. Ein milder Dunst deckte die Felder wie eine gläserne Glocke. Aprikosen- und Mandelbäume blühten, und die warme Luft durchzog der Duft von Narzissen.
Am anderen Ende der großen Schüssel, vielleicht zwei Meilen entfernt, lag, oder besser gesagt, klebte an den ansteigenden Bergen eine Stadt. Sie machte aus der Entfernung gesehen keinen besonders pompösen Eindruck. Da war kein mächtiger Dom, der die Häuser überragte, bloß ein kleiner Stumpen von Kirchturm, keine dominierende Feste, kein auffallend prächtiges Gebäude. Die Mauern schienen alles andere als trutzig, da und dort quollen die Häuser über ihre Begrenzung hinaus, vor allem nach unten zur Ebene hin, und verliehen dem Weichbild ein etwas zerfleddertes Aussehen. Es war, als sei dieser Ort schon zu oft erobert und wieder entsetzt worden, als sei er es müde, künftigen Eindringlingen noch ernsthaften Widerstand entgegenzusetzen – aber nicht aus Schwäche, sondern aus Lässigkeit oder sogar aus einem Gefühl von Stärke. Er sah aus, als habe er es nicht nötig zu prunken. Er beherrschte die große duftende Schüssel zu seinen Füßen, und das schien ihm zu genügen.
Dieser zugleich unansehnliche und selbstbewusste Ort war die Stadt Grasse, seit einigen Jahrzehnten unumstrittene Produktions- und Handelsmetropole für Duftstoffe, Parfumeriewaren, Seifen und Öle. Giuseppe Baldini hatte ihren Namen immer mit schwärmerischer Verzückung ausgesprochen. Ein Rom der Düfte sei die Stadt, das gelobte Land der Parfumeure, und wer nicht seine Sporen hier verdient habe, der trage nicht zu Recht den Namen Parfumeur.
Grenouille sah mit sehr nüchternem Blick auf die Stadt Grasse. Er suchte kein gelobtes Land der Parfumerie, und ihm ging das Herz nicht auf im Angesicht des Nestes, das da drüben an den Hängen klebte. Er war gekommen, weil er wusste, dass es dort einige Techniken der Duftgewinnung besser zu lernen gab als anderswo. Und diese wollte er sich aneignen, denn er brauchte sie für seine Zwecke. Er zog den Flakon mit seinem Parfum aus der Tasche, betupfte sich sparsam und machte sich auf den Weg. Anderthalb Stunden später, gegen Mittag, war er in Grasse.
Er aß in einem Gasthof am oberen Ende der Stadt, an der Place aux Aires. Der Platz war der Länge nach von einem Bach durchschnitten, an dem die Gerber ihre Häute wuschen, um sie anschließend zum Trocknen auszubreiten. Der Geruch war so stechend, dass manchem der Gäste der Geschmack am Essen verging. Ihm, Grenouille, nicht. Ihm war der Geruch vertraut, ihm gab er ein Gefühl von Sicherheit. In allen Städten suchte er immer zuerst die Viertel der Gerber auf. Es war ihm dann, als sei er, aus der Sphäre des Gestankes kommend und von dort aus die anderen Regionen des Orts erkundend, kein Fremdling mehr.
Den ganzen Nachmittag über durchstreifte er die Stadt. Sie war unglaublich schmutzig, trotz oder vielmehr gerade wegen des vielen Wassers, das aus Dutzenden von Quellen und Brunnen sprudelte, in ungeregelten Bächen und Rinnsalen stadtabwärts gurgelte und die Gassen unterminierte oder mit Schlamm überschwemmte. Die Häuser standen in manchen Vierteln so dicht, dass für die Durchlässe und Treppchen nur noch eine Elle weit Platz blieb und sich die im Schlamm watenden Passanten aneinander vorbeipressen mussten. Und selbst auf den Plätzen und den wenigen breiteren Straßen konnten die Fuhrwerke einander kaum ausweichen.
Dennoch, bei allem Schmutz, bei aller Schmuddligkeit und Enge, barst die Stadt vor gewerblicher Betriebsamkeit. Nicht weniger als sieben Seifenkochereien machte Grenouille bei seinem Rundgang aus, ein Dutzend Parfumerie- und Handschuhmachermeister, unzählige kleinere Destillen, Pomadeateliers und Spezereien und schließlich einige sieben Händler, die Düfte en gros vertrieben.
Dies waren nun allerdings Kaufleute, die über wahre Duftstoffgroßkontore verfügten. Anzusehen war es ihren Häusern oftmals kaum. Die zur Straße hin gelegenen Fassaden sahen bürgerlich bescheiden aus. Doch was dahinter lagerte, auf Speichern und in riesenhaften Kellern, an Fässern von Öl, an Stapeln von feinster Lavendelseife, an Ballons von Blütenwässern, Weinen, Alkoholen, an Ballen von Duftleder, an Säcken und Truhen und Kisten, vollgestopft mit Gewürzen… – Grenouille roch es in allen Einzelheiten durch die dicksten Mauern – , das waren Reichtümer, wie sie Fürsten nicht besaßen. Und wenn er schärfer hinroch, durch die zur Straße gelegenen prosaischen Geschäfts- und Lagerräume hindurch, dann entdeckte er, dass auf der Rückseite dieser kleinkarierten Bürgerhäuser sich Gebäulichkeiten der luxuriösesten Art befanden. Um kleine, aber reizende Gärten, in denen Oleander und Palmen gediehen und zierliche von Rabatten umfasste Springbrunnen gur gelten, dehnten sich, meist U-förmig nach Süden gebaut, die eigentlichen Flügel der Anwesen aus: sonnendurchflutete, seidentapetenbespannte Schlafgemächer in den Obergeschossen, prächtige mit exotischem Holz getäfelte Salons zu ebener Erde und Speisesäle, bisweilen terrassenhaft ins Freie vorgebaut, in denen tatsächlich, wie Baldini erzählt hatte, mit goldenem Besteck von porzellanenen Tellern gegessen wurde. Die Herren, die hinter diesen bescheidenen Kulissen wohnten, rochen nach Gold und nach Macht, nach schwerem gesichertem Reichtum, und sie rochen stärker danach als alles, was Grenouille bisher auf seiner Reise durch die Provinz in dieser Hinsicht gerochen hatte.
Vor einem der camouflierten Palazzi blieb er längere Zeit stehen. Das Haus befand sich am Anfang der Rue Droite, einer Hauptstraße, die die Stadt in ihrer ganzen Länge von Westen nach Osten durchzog. Es war nicht außergewöhnlich anzusehen, wohl etwas breiter und behäbiger an der Front als die Nachbargebäude, aber durchaus nicht imposant. Vor der Toreinfahrt stand ein Wagen mit Fässern, die über eine Pritsche entladen wurden. Ein zweites Fuhrwerk wartete. Ein Mann ging mit Papieren ins Kontor, kam mit einem anderen Mann wieder heraus, beide verschwanden in der Toreinfahrt. Grenouille stand an der gegenüberliegenden Straßenseite und sah dem Treiben zu. Was da vor sich ging, interessierte ihn nicht. Trotzdem blieb er stehen. Irgendetwas hielt ihn fest.
Er schloss die Augen und konzentrierte sich auf die Gerüche, die ihm von dem Gebäude gegenüber zuflogen. Da waren die Gerüche der Fässer, Essig und Wein, dann die hundertfältigen schweren Gerüche des Lagers, dann die Gerüche des Reichtums, die aus den Mauern transpirierten wie feiner goldener Schweiß, und schließlich die Gerüche eines Gartens, der auf der anderen Seite des Hauses liegen musste. Es war nicht leicht, diese zarteren Düfte des Gartens aufzufangen, denn sie zogen nur in dünnen Streifen über den Giebel des Hauses hinweg herab auf die Straße. Grenouille machte Magnolien aus, Hyazinthen, Seidelbast und Rhododendron… – aber da schien noch etwas anderes zu sein, etwas mörderisch Gutes, was in diesem Garten duftete, ein Geruch so exquisit, wie er ihn in seinem Leben noch nicht – oder doch nur ein einziges Mal – in die Nase bekommen hatte… Er musste näher an diesen Duft heran.
Er überlegte, ob er einfach durch die Toreinfahrt in das Anwesen eindringen sollte. Aber da waren unterdessen so viele Leute mit dem Abladen und dem Kontrollieren der Fässer beschäftigt, dass er sicher aufgefallen wäre. Er entschloss sich, die Straße zurückzugehen, um eine Gasse oder einen Durchlaß zu finden, der vielleicht an der Querseite des Hauses entlangführte. Nach wenigen Metern hatte er das Stadttor am Beginn der Rue Droite erreicht. Er durchschritt es, hielt sich scharf links und folgte dem Verlauf der Stadtmauer bergabwärts. Nicht weit, und er roch den Garten, erst schwach, noch mit der Luft der Felder vermischt, dann immer stärker. Schließlich wusste er, dass er ihm ganz nahe war. Der Garten grenzte an die Stadtmauer. Er war direkt neben ihm. Wenn er ein wenig zurücktrat, konnte er über die Mauer hinweg die obersten Zweige der Orangenbäume sehen.
Wieder schloss er die Augen. Die Düfte des Gartens fielen über ihn her, deutlich und klar konturiert wie die farbigen Bänder eines Regenbogens. Und der eine, der kostbare, der, auf den es ihm ankam, war darunter. Grenouille wurde es heiß vor Wonne und kalt vor Schrecken. Das Blut stieg ihm zu Kopfe wie einem ertappten Buben, und es wich zurück in die Mitte des Körpers, und es stieg wieder und wich wieder, und er konnte nichts dagegen tun. Zu plötzlich war diese Geruchsattacke gekommen. Für einen Augenblick, für einen Atemzug lang, für die Ewigkeit schien ihm, als sei die Zeit verdoppelt oder radikal verschwunden, denn er wusste nicht mehr, war jetzt jetzt und war hier hier, oder war nicht vielmehr jetzt damals und hier dort, nämlich Rue des Marais in Paris, September 1753: Der Duft, der aus dem Garten herüberwehte, war der Duft des rothaarigen Mädchens, das er damals ermordet hatte. Dass er diesen Duft in der Welt wiedergefunden hatte, trieb ihm Tränen der Glückseligkeit in die Augen – und dass es nicht wahr sein konnte, ließ ihn zu Tode erschrecken.
Ihm schwindelte, und er taumelte ein wenig und musste sich gegen die Mauer stützen und langsam an ihr herab in die Hocke gleiten lassen. Sich dort versammelnd und seinen Geist bezähmend, begann er, den fatalen Duft in kürzeren, weniger riskanten Atemzügen einzuziehen. Und er stellte fest, dass der Duft hinter der Mauer dem Duft des rothaarigen Mädchens zwar extrem ähnlich, aber nicht vollkommen gleich war. Freilich stammte er ebenfalls von einem rothaarigen Mädchen, daran war kein Zweifel möglich. Grenouille sah dieses Mädchen in seiner olfaktorischen Vorstellung wie auf einem Bilde vor sich: Es saß nicht still, sondern es sprang hin und her, es erhitzte sich und kühlte sich wieder ab, offenbar spielte es ein Spiel, bei dem man sich rasch bewegen und rasch wieder stillstehen musste – mit einer zweiten Person übrigens von völlig unsignifikantem Geruch. Es hatte blendendweiße Haut. Es hatte grünliche Augen. Es hatte Sommersprossen im Gesicht, am Hals und an den Brüsten… das heisst – Grenouille stockte für einen Moment der Atem, dann schnupperte er heftiger und versuchte, die Geruchserinnerung an das Mädchen aus der Rue des Marais zurückzudrängen – … das heißt, dieses Mädchen hatte noch gar keine Brüste im wahren Sinne des Wortes! Es hatte kaum beginnende Ansätze von Brüsten. Es hatte unendlich zart und gering duftende, von Sommersprossen umsprenkelte, sich vielleicht erst seit wenigen Tagen, vielleicht erst seit wenigen Stunden,… seit diesem Augenblick eigentlich erst, sich zu dehnen beginnende Häubchen von Brüstchen. Mit einem Wort: Das Mädchen war noch ein Kind. Aber was für ein Kind!
Grenouille stand der Schweiß auf der Stirn. Er wusste, dass Kinder nicht sonderlich rochen, ebensowenig wie die grün aufschießenden Blumen vor ihrer Blüte. Diese aber, diese fast noch geschlossene Blüte hinter der Mauer, die gerade eben erst, und noch von niemandem als ihm, Grenouille, bemerkt, die ersten duftenden Spitzen hervortrieb, duftete schon jetzt so haarsträubend himmlisch, dass, wenn sie sich erst zu ganzer Pracht entfaltet haben würde, sie ein Parfum verströmen würde, wie es die Welt noch nicht gerochen hatte. Sie riecht schon jetzt besser, dachte Grenouille, als damals das Mädchen aus der Rue des Marais – nicht so kräftig, nicht so voluminös, aber feiner, facettenreicher und zugleich natürlicher. In ein bis zwei Jahren aber würde dieser Geruch gereift sein und eine Wucht bekommen, der sich kein Mensch, weder Mann noch Frau, würde entziehen können. Und die Leute würden überwältigt sein, entwaffnet, hilflos vor dem Zauber dieses Mädchens, und sie würden nicht wissen, warum. Und weil sie dumm sind und ihre Nasen nur zum Schnaufen gebrauchen können, alles und jedes aber mit ihren Augen zu erkennen glauben, würden sie sagen, es sei, weil dieses Mädchen Schönheit besitze und Grazie und Anmut. Sie würden in ihrer Beschränktheit seine ebenmäßigen Züge rühmen, die schlanke Figur, den tadellosen Busen. Und ihre Augen, würden sie sagen, seien wie Smaragde und die Zähne wie Perlen und ihre Glieder elfenbeinglatt – und was der idiotischen Vergleiche noch mehr sind. Und sie würden sie zur Jasminkönigin küren, und sie würde gemalt werden von blöden Porträtisten, ihr Bild würde begafft werden, man würde sagen, sie sei die schönste Frau Frankreichs. Und Jünglinge werden nächtelang zu Mandolinenklängen heulend unter ihrem Fenster sitzen… dicke reiche alte Männer auf den Knien rutschend ihren Vater um ihre Hand anbetteln… und Frauen jeden Alters werden bei ihrem Anblick seufzen und im Schlaf davon träumen, nur einen Tag lang so verführerisch auszusehen wie sie. Und sie werden alle nicht wissen, dass es nicht ihr Aussehen ist, dem sie in Wahrheit verfallen sind, nicht ihre angeblich makellose äußere Schönheit, sondern einzig ihr unvergleichlicher, herrlicher Duft! Nur er würde es wissen, er Grenouille, er allein. Er wusste es ja jetzt schon.
Ach! Er wollte diesen Duft haben! Nicht auf so vergebliche, täppische Weise haben wie damals den Duft des Mädchens aus der Rue des Marais. Den hatte er ja nur in sich hineingesoffen und damit zerstört. Nein, den Duft des Mädchens hinter der Mauer wollte er sich wahrhaftig aneignen; ihn wie eine Haut von ihr abziehen und zu seinem eigenen Duft machen. Wie das geschehen sollte, wusste er noch nicht. Aber er hatte ja zwei Jahre Zeit, es zu lernen. Es konnte im Grunde nicht schwieriger sein, als den Duft einer seltenen Blume zu rauben.
Er stand auf. Andächtig fast, als verließe er etwas Heiliges oder eine Schläferin, entfernte er sich, geduckt, leise, dass niemand ihn sehe, niemand ihn höre, niemand auf seinen köstlichen Fund aufmerksam werde. So floh er an der Mauer entlang bis ans entgegengesetzte Ende der Stadt, wo sich das Mädchenparfum endlich verlor und er an der Porte des Feneants wieder Einlass fand. Im Schatten der Häuser blieb er stehen. Der stinkende Dunst der Gassen gab ihm Sicherheit und half ihm, die Leidenschaft, die ihn überfallen hatte, zu bändigen. Nach einer Viertelstunde war er wieder vollkommen ruhig geworden. Fürs erste, dachte er, würde er nicht mehr in die Nähe des Gartens hinter der Mauer gehen. Es war nicht nötig. Es erregte ihn zu sehr. Die Blume dort gedieh ohne sein Zutun, und auf welche Weise sie gedeihen würde, wusste er ohnehin. Er durfte sich nicht zur Unzeit an ihrem Duft berauschen. Er musste sich in Arbeit stürzen. Er musste seine Kenntnisse erweitern und seine handwerklichen Fähigkeiten vervollkommnen, um für die Zeit der Ernte gerüstet zu sein. Er hatte noch zwei Jahre Zeit.
Nicht weit von der Porte des Feneants, in der Rue de la Louve, entdeckte Grenouille ein kleines Parfumeuratelier und fragte nach Arbeit.
Es erwies sich, dass der Patron, Maitre Parfumeur Honore Arnulfi, im vergangenen Winter verstorben war und dass seine Witwe, eine lebhafte schwarzhaarige Frau von vielleicht dreißig Jahren, das Geschäft allein mit Hilfe eines Gesellen führte.
Madame Arnulfi, nachdem sie lange über die schlechten Zeiten und über ihre prekäre wirtschaftliche Lage geklagt hatte, erklärte, dass sie sich zwar eigentlich keinen zweiten Gesellen leisten könne, andrerseits aber wegen der vielen anfallenden Arbeit dringend einen brauche; dass sie außerdem einen zweiten Gesellen hier bei sich im Hause gar nicht würde beherbergen können, andrerseits aber über eine kleine Kabane auf ihrem Olivengarten hinter dem Franziskanerkloster – keine zehn Minuten von hier – verfüge, in welcher ein anspruchsloser junger Mensch zur Not würde nächtigen können; dass sie ferner zwar als ehrliche Meisterin um ihre Verantwortung für das leibliche Wohl ihrer Gesellen wisse, sich aber andrerseits ganz außerstande sehe, zwei warme Mahlzeiten am Tag zu gewähren – mit einem Wort: Madame Arnulfi war – was Grenouille freilich schon längst gerochen hatte – eine Frau von gesundem Wohlstand und gesundem Geschäftssinn. Und da es ihm selber auf Geld nicht ankam und er sich mit zwei Franc Lohn pro Woche und den übrigen dürftigen Bedingungen zufrieden erklärte, wurden sie schnell einig. Der erste Geselle wurde gerufen, ein riesenhafter Mann namens Druot, von dem Grenouille sofort erriet, dass er gewohnt war, Madames Bett zu teilen, und ohne dessen Konsultation sie offenbar gewisse Entscheidungen nicht traf. Er stellte sich vor Grenouille hin, der in Gegenwart dieses Hünen geradezu lächerlich windig aussah, breitbeinig, eine Wolke von Spermiengeruch verbreitend, musterte ihn, fasste ihn scharf ins Auge, als wolle er auf diese Weise irgendwelche unlauteren Absichten oder einen möglichen Nebenbuhler erkennen, grinste schließlich herablassend und gab mit einem Nicken sein Einverständnis.
Damit war alles geregelt. Grenouille erhielt einen Händedruck, ein kaltes Abendbrot, eine Decke und den Schlüssel für die Kabane, einen fensterlosen Verschlag, der angenehm nach altem Schafmist und Heu roch und in dem er sich, so gut es ging, einrichtete. Am nächsten Tag trat er seine Arbeit bei Madame Arnulfi an.
Es war die Zeit der Narzissen. Madame Arnulfi ließ die Blumen auf eigenen kleinen Parzellen Landes ziehen, die sie unterhalb der Stadt in der großen Schüssel besaß, oder sie kaufte sie von den Bauern, mit denen sie um jedes Lot erbittert feilschte. Die Blüten wurden schon in aller Früh geliefert, körbeweise in das Atelier geschüttet, zehntausendfach, in voluminösen, aber federleichten duftenden Haufen. Druot unterdessen verflüssigte in einem großen Kessel Schweine- und Rindertalg zu einer cremigen Suppe, in die er, während Grenouille unaufhörlich mit einem besenlangen Spatel rühren musste, scheffelweise die frischen Blüten schüttete. Wie zu Tode erschreckte Augen lagen sie für eine Sekunde auf der Oberfläche und erbleichten in dem Moment, da der Spatel sie unterrührte und das warme Fett sie umschloss. Und fast im selben Moment waren sie auch schon erschlafft und verwelkt, und offenbar kam der Tod so rasch über sie, dass ihnen gar keine andere Wahl mehr blieb, als ihren letzten duftenden Seufzer eben jenem Medium einzuhauchen, das sie ertränkte; denn – Grenouille gewahrte es zu seinem unbeschreiblichen Entzücken – je mehr Blüten er in seinem Kessel unterrührte, desto stärker duftete das Fett. Und zwar waren es nicht etwa die toten Blüten, die im Fett weiterdufteten, nein, es war das Fett selbst, das sich den Duft der Blüten angeeignet hatte.
Mitunter wurde die Suppe zu dick, und sie mussten sie rasch durch große Siebe gießen, um sie von den ausgelaugten Leichen zu befreien und für frische Blütenbereit zu machen. Dann scheffelten und rührten und seihten sie weiter, den ganzen Tag über ohne Pause, denn das Geschäft duldete keine Verzögerung, bis gegen Abend der ganze Blütenhaufen durch den Fettkessel gewandert war. Die Abfälle wurden – damit auch nichts verloren ginge – mit kochendem Wasser überbrüht und in einer Spindelpresse bis zum letzten Tropfen ausgewrungen, was immerhin noch ein zart duftendes Öl abgab. Das Gros des Duftes aber, die Seele eines Meeres von Blüten, war im Kessel verblieben, eingeschlossen und bewahrt im unansehnlich grauweißen, nun langsam erstarrenden Fett.
Am kommenden Tag wurde die Mazeration, wie man diese Prozedur nannte, fortgesetzt, der Kessel wieder angeheizt, das Fett verflüssigt und mit neuen Blüten beschickt. So ging es mehrere Tage lang von früh bis spät. Die Arbeit war anstrengend. Grenouille hatte bleierne Arme, Schwielen an den Händen und Schmerzen im Rücken, wenn er abends in seine Kabane wankte. Druot, der wohl dreimal so kräftig wie er war, löste ihn kein einziges Mal beim Rühren ab, sondern begnügte sich, die federleichten Blüten nachzuschütten, auf das Feuer aufzupassen und gelegentlich, der Hitze wegen, einen Schluck trinken zu gehen. Aber Grenouille muckte nicht auf. Klaglos rührte er die Blüten ins Fett, von morgens bis abends, und spürte während des Rührens die Anstrengung kaum, denn er war immer aufs neue fasziniert von dem Prozess, der sich unter seinen Augen und unter seiner Nase abspielte: dem raschen Welken der Blüten und der Absorption ihres Duftes.
Nach einiger Zeit entschied Druot, dass das Fett nun gesättigt sei und keinen weiteren Duft mehr absorbieren könne. Sie löschten das Feuer, seihten die schwere Suppe zum letzten Mal ab und füllten sie in Tiegel aus Steingut, wo sie sich alsbald zu einer herrlich duftenden Pomade verfestigte.
Dies war die Stunde von Madame Arnulfi, die kam, um das kostbare Produkt zu prüfen, zu beschriften und die Ausbeute genauestens nach Qualität und Quantität in ihren Büchern zu verzeichnen. Nachdem sie die Tiegel höchstpersönlich verschlossen, versiegelt und in die kühlen Tiefen ihres Kellers getragen hatte, zog sie ihr schwarzes Kleid an, nahm ihren Witwenschleier und machte die Runde bei den Kaufleuten und Parfumhandelshäusern der Stadt. Mit bewegenden Worten schilderte sie den Herren ihre Situation als alleinstehende Frau, ließ sich Angebote machen, verglich die Preise, seufzte und verkaufte endlich – oder verkaufte nicht. Parfumierte Pomade, kühl gelagert, hielt sich lange. Und wenn die Preise jetzt zu wünschen übrigließen, wer weiß, vielleicht kletterten sie im Winter oder nächsten Frühjahr in die Höhe. Auch war zu überlegen, ob man nicht, statt diesen Pfeffersäcken zu verkaufen, mit andern kleinen Produzenten gemeinsam eine Ladung Pomade nach Genua verschiffen oder sich an einem Konvoi zur Herbstmesse in Beaucaire beteiligen sollte – riskante Unternehmungen, gewiss, doch im Erfolgsfall äußerst einträglich. Diese verschiedenen Möglichkeiten wog Madame Arnulfi sorgsam gegeneinander ab, und manchmal verband sie sie auch und verkaufte einen Teil ihrer Schätze, hob einen anderen auf und handelte mit einem dritten auf eigenes Risiko. Hatte sie allerdings bei ihren Erkundigungen den Eindruck gewonnen, der Pomademarkt sei übersättigt und werde sich in absehbarer Zeit nicht zu ihren Gunsten verknappen, so eilte sie wehenden Schleiers nach Hause und gab Druot den Auftrag, die ganze Produktion einer Lavage zu unterziehen und sie in Essence Absolue zu verwandeln.
Und dann wurde die Pomade wieder aus dem Keller geholt, in verschlossenen Töpfen aufs Vorsichtigste erwärmt, mit feinstem Weingeist versetzt und vermittels eines eingebauten Rührwerks, welches Grenouille bediente, gründlich durchgemischt und ausgewaschen. Zurück in den Keller verbracht, kühlte diese Mischung rasch aus, der Alkohol schied sich vom erstarrenden Fett der Pomade und konnte in eine Flasche abgelassen werden. Er stellte nun quasi ein Parfum dar, allerdings von enormer Intensität, während die zurückbleibende Pomade den größten Teil ihres Duftes verloren hatte. Abermals also war der Blütenduft auf ein anderes Medium übergegangen. Doch damit war die Operation noch nicht zu Ende. Nach gründlicher Filtrage durch Gazetücher, in denen auch die kleinsten Klümpchen Fett zurückgehalten wurden, füllte Druot den parfumierten Alkohol in einen kleinen Alambic und destillierte ihn über dezentestem Feuer langsam ab. Was nach der Verflüchtigung des Alkohols in der Blase zurückblieb, war eine winzige Menge blass gefärbter Flüssigkeit, die Grenouille wohlbekannt war, die er aber in dieser Qualität und Reinheit weder bei Baldini noch etwa bei Runel gerochen hatte: Das schiere Öl der Blüten, ihr blanker Duft, hunderttausendfach konzentriert zu einerkleinen Pfütze Essence Absolue. Diese Essenz roch nicht mehr lieblich. Sie roch beinahe schmerzhaft intensiv, scharf und beizend. Und doch genügte schon ein Tropfen davon, aufgelöst in einem Liter Alkohol, um sie wieder zu beleben und ein ganzes Feld von Blumen geruchlich wiederauferstehen zu lassen.
Die Ausbeute war fürchterlich gering. Gerade drei kleine Flakons füllte die Flüssigkeit aus der Destillierblase. Mehr war von dem Duft von hunderttausend Blüten nicht übriggeblieben als drei kleine Flakons. Aber sie waren ein Vermögen wert, schon hier in Grasse. Und um wie viel mehr noch, wenn man sie nach Paris verschickte oder nach Lyon, nach Grenoble, nach Genua oder Marseille! Madame Arnulfi bekam einen schmelzend schönen Blick beim Anschauen dieser Fläschchen, sie liebkoste sie mit Augen, und als sie sie nahm und mit fügig geschliffenen Glaspfropfen verstöpselte, hielt sie den Atem an, um nur ja nichts vom kostbaren Inhalt zu verblasen. Und damit auch nach dem Verstöpseln nicht das kleinste Atom verdunstenderweise entweiche, versiegelte sie die Pfropfen mit flüssigem Wachs und umkapselte sie mit einer Fischblase, die sie am Flaschenhals fest verschnürte. Dann stellte sie sie in ein wattegefüttertes Kästchen und brachte sie im Keller hinter Schloss und Riegel.
Im April mazerierten sie Ginster und Orangenblüte, im Mai ein Meer von Rosen, deren Duft die Stadt für einen ganzen Monat in einen cremigsüßen unsichtbaren Nebel tauchte. Grenouille arbeitete wie ein Pferd. Bescheiden, mit fast sklavenhafter Bereitschaft führte er all die untergeordneten Tätigkeiten aus, die Druot ihm auftrug. Aber während er scheinbar stumpfsinnig rührte, spachtelte, Bottiche wusch, die Werkstatt putzte oder Feuerholz schleppte, entging seiner Aufmerksamkeit nichts von den wesentlichen Dingen des Geschäfts, nichts von der Metamorphose der Düfte. Genauer als Druot es je vermocht hätte, mit seiner Nase nämlich, verfolgte und überwachte Grenouille die Wanderung der Düfte von den Blättern der Blüten über das Fett und den Alkohol bis in die köstlichen kleinen Flakons. Er roch, lange ehe Druot es bemerkte, wann sich das Fett zu stark erhitzte, er roch, wann die Blüte erschöpft, wann die Suppe mit Duft gesättigt war, er roch, was im Innern der Mischgefäße geschah und zu welchem präzisen Moment der Destillationsprozess beendet werden musste. Und gelegentlich gab er sich zu verstehen, freilich ganz unverbindlich und ohne seine unterwürfige Attitüde abzulegen. Ihm komme so vor, sagte er, als sei das Fett jetzt womöglich zu heiß geworden; er glaube fast, man könne demnächst abseihen; er habe es irgendwie im Gefühl, als sei der Alkohol im Alambic jetzt verdunstet… Und Druot, der zwar nicht gerade fabelhaft intelligent, aber auch nicht völlig dumpfköpfig war, bekam mit der Zeit heraus, dass er mit seinen Entscheidungen justament dann am besten fuhr, wenn er das tat oder anordnete, was Grenouille gerade »so glaubte« oder »irgendwie im Gefühl« hatte. Und da Grenouille niemals vorlaut oder besserwisserisch äußerte, was er glaubte oder im Gefühl hatte, und weil er niemals und vor allem niemals in Gegenwart von Madame Arnulfi – Druots Autorität und seine präponderante Stellung als des ersten Gesellen auch nur ironisch in Zweifel gezogen hätte, sah Druot keinen Anlass, Grenouilles Ratschlägen nicht zu folgen, ja, ihm sogar nicht mit der Zeit immer mehr Entscheidungen ganz offen zu überlassen.
Immer häufiger geschah es, dass Grenouille nicht mehr nur rührte, sondern zugleich auch beschickte, heizte und siebte, während Druot auf einen Sprung in die >Quatre Dauphins< verschwand, für ein Glas Wein, oder hinauf zu Madame, um dort nach dem Rechten zu sehn. Er wusste, dass er sich auf Grenouille verlassen konnte. Und Grenouille, obwohl er doppelte Arbeit verrichtete, genoss es, allein zu sein, sich in der neuen Kunst zu perfektionieren und gelegentlich kleine Experimente zu machen. Und mit diebischer Freude stellte er fest, dass die von ihm bereitete Pomade ungleich feiner, dass seine Essence Absolue um Grade reiner war als die gemeinsam mit Druot erzeugte.
Ende Juli begann die Zeit des Jasmins, im August die der Nachthyazinthe. Beide Blumen waren von so exquisitem und zugleich fragilem Parfum, dass ihre Blüten nicht nur vor Sonnenaufgang gepflückt werden mussten, sondern auch die speziellste, zarteste Verarbeitung erheischten. Wärme verminderte ihren Duft, das plötzliche Bad im heißen Mazerationsfett hätte ihn völlig zerstört. Diese edelsten aller Blüten ließen sich ihre Seele nicht einfach entreißen, man musste sie ihnen regelrecht abschmeicheln. In einem besonderen Beduftungsraum wurden sie auf mit kühlem Fett bestrichene Platten gestreut oder locker in ölgetränkte Tücher gehüllt und mussten sich langsam zu Tode schlafen. Erst nach drei oder vier Tagen waren sie verwelkt und hatten ihren Duft an das benachbarte Fett und Öl abgeatmet. Dann zupfte man sie vorsichtig ab und streute frische Blüten aus. Der Vorgang wurde wohl zehn, zwanzig Mal wiederholt, und bis sich die Pomade sattgesogen hatte und das duftende Öl aus den Tüchern abgepresst werden konnte, war es September geworden. Die Ausbeute war noch um ein Wesentliches geringer als bei der Mazeration. Die Qualität aber einer solchen durch kalte Enfleurage gewonnenen Jasminpaste oder eines Huile Antique de Tubereuse übertraf die jedes anderen Produkts der parfumistischen Kunst an Feinheit und Originaltreue. Namentlich beim Jasmin schien es, als habe sich der süßhaftende, erotische Duft der Blüte auf den Fettplatten wie in einem Spiegel abgebildet und strahle nun völlig naturgetreu zurück – cum grano salis freilich. Denn Grenouilles Nase erkannte selbstverständlich noch den Unterschied zwischen dem Geruch der Blüte und ihrem konservierten Duft: Wie ein zarter Schleier lag da der Eigengeruch des Fetts – es mochte so rein sein, wie es wollte – über dem Duftbild des Originals, milderte es, schwächte das Eklatante sanft ab, machte vielleicht sogar seine Schönheit für gewöhnliche Menschen überhaupt erst erträglich… In jedem Falle aber war die kalte Enfleurage das raffinierteste und wirksamste Mittel, zarte Düfte einzufangen. Ein besseres gab es nicht. Und wenn die Methode auch nicht genügte, Grenouilles Nase vollkommen zu überzeugen, so wusste er doch, dass sie zur Düpierung einer Welt von Dumpfnasen tausendmal hinreichte.
Schon nach kurzer Zeit hatte er seinen Lehrmeister Druot, ebenso wie beim Mazerieren, auch in der Kunst der kalten Beduftung überflügelt und ihm dies auf die bewährte, unterwürfig diskrete Weise klargemacht. Druot überließ es ihm gerne, hinaus zum Schlachthof zu gehen und dort die geeignetsten Fette zu kaufen, sie zu reinigen, auszulassen, zu filtrieren und ihr Mischverhältnis zu bestimmen – eine für Druot immer höchst diffizile und gefürchtete Aufgabe, denn ein unreines, ranziges oder zu sehr nach Schwein, Hammel oder Rind riechendes Fett konnte die kostbarste Pomade ruinieren. Er überließ es ihm, den Abstand der Fettplatten im Beduftungsraum, den Zeitpunkt des Blütenwechsels, den Sättigungsgrad der Pomade zu bestimmen, überließ ihm bald alle prekären Entscheidungen, die er, Druot, ähnlich wie seinerzeit Baldini, immer nur ungefähr nach angelernten Regeln treffen konnte, die Grenouille aber mit dem Wissen seiner Nase traf – was Druot freilich nicht ahnte.
»Er hat eine glückliche Hand«, sagte Druot, »er hat ein gutes Gefühl für die Dinge.« Und manchmal dachte er auch: »Er ist ganz einfach viel begabter als ich, er ist ein hundertmal besserer Parfumeur.« Und zugleich hielt er ihn für einen ausgemachten Trottel, da Grenouille, wie er glaubte, nicht das geringste Kapital aus seiner Begabung schlug, er aber, Druot, es mit seinen bescheideneren Fähigkeiten demnächst zum Meister bringen würde. Und Grenouille bestärkte ihn in dieser Meinung, gab sich mit Fleiß dümmlich, zeigte nicht den geringsten Ehrgeiz, tat, als wisse er gar nichts von seiner eigenen Genialität, sondern als handle er nur nach den Anordnungen des viel erfahreneren Druot, ohne den er ein Nichts wäre. Auf diese Weise kamen sie recht gut miteinander aus.
Dann wurde es Herbst und Winter. In der Werkstatt ging es ruhiger zu. Die Blütendüfte lagen in Tiegeln und Flakons gefangen im Keller, und wenn nicht Madame die eine oder andre Pomade auszuwaschen wünschte oder einen Sack getrockneter Gewürze destillieren ließ, war nicht mehr allzu viel zu tun. Oliven gab es noch, Woche für Woche ein paar Körbe voll. Sie pressten ihnen das Jungfernöl ab und gaben den Rest in die Ölmühle. Und Wein, von dem Grenouille einen Teil zu Alkohol destillierte und rektifizierte.
Druot ließ sich immer weniger blicken. Er tat seine Pflicht im Bett von Madame, und wenn er erschien, nach Schweiß und Samen stinkend, so nur, um alsbald in die >Quatre Dauphins< zu verschwinden. Auch Madame kam selten herunter. Sie beschäftigte sich mit ihren Vermögensangelegenheiten und mit der Umarbeitung ihrer Garderobe für die Zeit nach dem Trauerjahr. Oft sah Grenouille tagelang niemanden außer der Magd, bei der er mittags Suppe bekam und abends Brot und Oliven. Er ging kaum aus. Am korporativen Leben, namentlich den regelmäßigen Gesellentreffen und Umzügen beteiligte er sich gerade so häufig, dass er weder durch seine Abwesenheit noch durch seine Gegenwart auffiel. Freundschaften oder nähere Bekanntschaften hatte er keine, achtete aber peinlich darauf, nicht womöglich als arrogant oder außenseiterisch zu gelten. Er überließ es den anderen Gesellen, seine Gesellschaft fad und unergiebig zu finden. Er war ein Meister in der Kunst, Langeweile zu verbreiten und sich als unbeholfenen Trottel zu geben – freilich nie so übertrieben, dass man sich mit Genuss über ihn lustig machen oder ihn als Opfer für irgendeinen der derben Zunftspäße gebrauchen hätte können. Es gelang ihm, als vollständig uninteressant zu gelten. Man ließ ihn in Ruhe. Und nichts anderes wollte er.
Er verbrachte seine Zeit im Atelier. Druot gegenüber behauptete er, er wolle ein Rezept für Kölnisches Wasser erfinden. In Wirklichkeit aber experimentierte er mit ganz anderen Düften. Sein Parfum, das er in Montpellier gemischt hatte, ging, obwohl er es sehr sparsam verwendete, allmählich zu Ende. Er kreierte ein neues. Aber diesmal begnügte er sich nicht mehr damit, aus hastig zusammengesetzten Materialien den Menschengrundgeruch schlecht und recht zu imitieren, sondern er setzte seinen Ehrgeiz daran, sich einen persönlichen Duft oder vielmehr eine Vielzahl persönlicher Düfte zuzulegen.
Zunächst machte er sich einen Unauffälligkeitsgeruch, ein mausgraues Duftkleid für alle Tage, bei dem der käsigsäuerliche Duft des Menschlichen zwar noch vorhanden war, sich aber gleichsam nur noch wie durch eine dicke Schicht von leinenen und wollenen Gewändern, die über trockne Greisenhaut gelegt sind, an die Außenwelt verströmte. So riechend konnte er sich bequem unter Menschen begeben. Das Parfum war stark genug, um die Existenz einer Person olfaktorisch zu begründen, und zugleich so diskret, dass es niemanden behelligte. Grenouille war damit geruchlich eigentlich nicht vorhanden und dennoch in seiner Präsenz immer aufs Bescheidenste gerechtfertigt – ein Zwitterzustand, der ihm sowohl im Hause Arnulfi als auch bei seinen gelegentlichen Gängen durch die Stadt sehr zupass kam.
Bei gewissen Gelegenheiten freilich erwies sich der bescheidene Duft als hinderlich. Wenn er im Auftrag von Druot Besorgungen zu machen hatte oder für sich selbst bei einem Händler etwas Zibet oder ein paar Körner Moschus kaufen wollte, konnte es geschehen, dass man ihn in seiner perfekten Unauffälligkeit entweder völlig übersah und nicht bediente oder zwar sah, aber falsch bediente oder während des Bedienens wieder vergaß. Für solche Anlässe hatte er sich ein etwas rasseres, leicht schweißiges Parfum zurechtgemixt, mit einigen olfaktorischen Ecken und Kanten, das ihm eine derbere Erscheinung verlieh und die Leute glauben machte, es sei ihm eilig und ihn trieben dringende Geschäfte. Auch mit einer Imitation von Druots aura seminalis, die er mittels Beduftung eines fettigen Leintuchs durch eine Paste von frischen Enteneiern und angegorenem Weizenmehl täuschend ähnlich herzustellen wusste, hatte er gute Erfolge, wenn es darum ging, ein gewisses Maß an Aufmerksamkeit zu erregen.
Ein anderes Parfum aus seinem Arsenal war ein mitleiderregender Duft, der sich bei Frauen mittleren und höheren Alters bewährte. Er roch nach dünner Milch und sauberem weichem Holz. Grenouille wirkte damit – auch wenn er unrasiert, finsterer Miene und bemäntelt auftrat – wie ein armer blasser Bub in einem abgewetzten Jäckchen, dem geholfen werden musste. Die Marktweiber, wenn sie seiner anrüchig wurden, steckten ihm Nüsse und trockne Birnen zu, weil er so hungrig und hilflos aussah, wie sie fanden. Und bei der Frau des Metzgers, einer an und für sich unerbittlich strengen Vettel, durfte er sich alte stinkende Fleisch- und Knochenreste aussuchen und gratis mitnehmen, denn sein Unschuldsduft rührte ihr mütterliches Herz. Aus diesen Resten wiederum bezog er durch direktes Digerieren mit Alkohol die Hauptkomponente eines Geruchs, den er sich zulegte, wenn er unbedingt allein und gemieden sein wollte. Der Geruch schuf um ihn eine Atmosphäre leisen Ekels, einen fauligen Hauch, wie er beim Erwachen aus alten ungepflegten Mündern schlägt. Er war so wirkungsvoll, dass sogar der wenig zimperliche Druot sich unwillkürlich abwenden und das Freie aufsuchen musste, ohne sich freilich ganz deutlich bewusst zu werden, was ihn wirklich abgestoßen hatte. Und ein paar Tropfen des Repellents, auf die Schwelle der Kabane geträufelt, genügten, jeden möglichen Eindringling, Mensch oder Tier, fernzuhalten.
Im Schutz dieser verschiedenen Gerüche, die er je nach den äußeren Erfordernissen wie die Kleider wechselte und die ihm alle dazu dienten, in der Welt der Menschen unbehelligt zu sein und in seinem Wesen unerkannt zu bleiben, widmete sich Grenouille nun seiner wirklichen Leidenschaft: der subtilen Jagd nach Düften. Und weil er ein großes Ziel vor der Nase hatte und noch über ein Jahr lang Zeit, ging er nicht nur mit brennendem Eifer, sondern auch ungemein planvoll und systematisch vor beim Schärfen seiner Waffen, beim Ausfeilen seiner Techniken, bei der allmählichen Perfektionierung seiner Methoden. Er fing dort an, wo er bei Baldini aufgehört hatte, bei der Gewinnung der Düfte lebloser Dinge: Stein, Metall, Glas, Holz, Salz, Wasser, Luft…
Was damals mit Hilfe des groben Verfahrens der Destillation kläglich misslungen war, gelang nun dank der starken absorbierenden Kraft der Fette. Einen messingnen Türknauf, dessen kühl-schimmliger, belegter Duft ihm gefiel, umkleidete Grenouille für ein paar Tage mit Rindertalg. Und siehe, als er den Talg herunterschabte und prüfte, so roch er, in zwar sehr geringem Maße, aber doch eindeutig nach eben jenem Knauf. Und selbst nach einer Lavage in Alkohol war der Geruch noch da, unendlich zart, entfernt, vom Dunst des Weingeists überschattet und auf der Welt wohl nur von Grenouilles feiner Nase wahrnehmbar aber eben doch da, und das hieß: zumindest im Prinzip verfügbar. Hätte er zehntausend Knäufe und würde er sie tausend Tage lang mit Talg umkleiden, er könnte einen winzigen Tropfen Essence Absolue von Messingknaufduft erzeugen, so stark, dass jedermann die Illusion des Originals ganz unabweisbar vor der Nase hätte.
Das gleiche gelang ihm mit dem porösen Kalkduft eines Steins, den er auf dem Olivenfeld vor seiner Kabane gefunden hatte. Er mazerierte ihn und gewann ein kleines Bätzchen Steinpomade, deren infinitesimaler Geruch ihn unbeschreiblich ergötzte. Er kombinierte ihn mit anderen, von allen möglichen Gegenständen aus dem Umkreis seiner Hütte abgezogenen Gerüchen und produzierte nach und nach ein olfaktorisches Miniaturmodell jenes Olivenhains hinter dem Franziskanerkloster, das er in einem winzigen Flakon verschlossen mit sich führen und wann es ihm gefiel geruchlich auferstehen lassen konnte.
Es waren virtuose Duftkunststücke, die er vollbrachte, wunderschöne kleine Spielereien, die freilich niemand außer ihm selbst würdigen oder überhaupt nur zur Kenntnis nehmen konnte. Er selbst aber war entzückt von den sinnlosen Perfektionen, und es gab in seinem Leben weder früher noch später Momente eines tatsächlich unschuldigen Glücks wie zu jener Zeit, da er mit spielerischem Eifer duftende Landschaften, Stilleben und Bilder einzelner Gegenstände erschuf. Denn bald ging er zu lebenden Objekten über.
Er machte Jagd auf Winterfliegen, Larven, Ratten, kleinere Katzen und ertränkte sie in warmem Fett. Nachts schlich er sich in Ställe, um Kühe, Ziegen und Ferkel für ein paar Stunden mit fettbeschmierten Tüchern zu umhüllen oder in ölige Bandagen einzuwickeln. Oder er stahl sich in ein Schafgehege, um heimlich ein Lamm zu scheren, dessen duftende Wolle er in Weingeist wusch. Die Ergebnisse waren zunächst noch nicht recht befriedigend. Denn anders als die geduldigen Dinge Knauf und Stein ließen sich die Tiere ihren Duft nur widerwillig abnehmen. Die Schweine schabten die Bandagen an den Pfosten ihrer Koben ab. Die Schafe schrien, wenn er sich nachts mit dem Messer näherte. Die Kühe schüttelten stur die fetten Tücher von den Eutern. Einige Käfer, die er fing, produzierten, während er sie verarbeiten wollte, eklig stinkende Sekrete, und Ratten, wohl aus Angst, schissen ihm in seine olfaktorisch hochempfindlichen Pomaden. Jene Tiere, die er mazerieren wollte, gaben, anders als die Blüten, ihren Duft nicht klaglos oder nur mit einem stummen Seufzer ab, sondern wehrten sich verzweifelt gegen das Sterben, wollten sich partout nicht unterrühren lassen, strampelten und kämpften und erzeugten dadurch unverhältnismäßig hohe Mengen Angst- und Todesschweiß, die das arme Fett durch Übersäuerung verdarben. So konnte man natürlich nicht vernünftig arbeiten. Die Objekte mussten ruhiggestellt werden, und zwar so plötzlich, dass sie gar nicht mehr dazu kamen, Angst zu haben oder sich zu widersetzen. Er musste sie töten.
Als erstes probierte er es mit einem kleinen Hund. Drüben vor dem Schlachthaus lockte er ihn mit einem Stück Fleisch von seiner Mutter weg bis in die Werkstatt, und während das Tier mit freudig erregtem Hecheln nach dem Fleisch in Grenouilles Linker schnappte, schlug er ihm mit einem Holzscheit, den er in der Rechten hielt, kurz und derb auf den Hinterkopf. Der Tod kam so plötzlich über den kleinen Hund, dass der Ausdruck des Glücks noch um seine Lefzen und in seinen Augen war, als Grenouille ihn längst im Beduftungsraum auf einen Rost zwischen die Fettplatten gebettet hatte, wo er nun seinen reinen, von Angstschweiß ungetrübten Hundeduft verströmte. Freilich galt es aufzupassen! Leichen, ebenso wie abgepflückte Blüten, waren rasch verderblich. Und so hielt Grenouille bei seinem Opfer Wache, etwa zwölf Stunden lang, bis er bemerkte, dass die ersten Schlieren des zwar angenehmen, doch verfälschend riechenden Leichendufts aus dem Körper des Hundes quollen. Sofort unterbrach er die Enfleurage, schaffte die Leiche weg und barg das wenige beduftete Fett in einem Kessel, wo er es sorgfältig auswusch. Er destillierte den Alkohol bis auf die Menge eines Fingerhutes ab und füllte diesen Rest in ein winziges Glasröhrchen. Das Parfum roch deutlich nach dem feuchten, frischtalgigen und ein wenig scharfen Duft des Hundefells, es roch sogar erstaunlich stark danach. Und als Grenouille die alte Hündin vom Schlachthaus daran schnuppern ließ, da brach sie in Freudengeheul aus und winselte und wollte ihre Nüstern nicht mehr von dem Röhrchen nehmen. Grenouille aber verschloss es dicht und steckte es zu sich und trug es noch lange bei sich als Erinnerung an jenen Tag des Triumphs, an dem es ihm zum ersten Mal gelungen war, einem lebenden Wesen die duftende Seele zu rauben.
Dann, sehr allmählich und mit äußerster Vorsicht, machte er sich an die Menschen heran. Er pirschte zunächst aus sicherer Distanz mit weitmaschigem Netz, denn es kam ihm weniger darauf an, große Beute zu machen, als vielmehr, das Prinzip seiner Jagdmethode zu erproben.
Mit seinem leichten Duft der Unauffälligkeit getarnt, mischte er sich im Wirtshaus zu den >Quatre Dauphins< abends unter die Gäste und heftete winzige Fetzen öl- und fettgetränkten Stoffs unter Bänke und Tische und in verborgene Nischen. Ein paar Tage später sammelte er sie wieder ein und prüfte. Tatsächlich atmeten sie neben allen möglichen Küchendünsten, Tabaksqualm- und Weingerüchen auch ein wenig Menschenduft ab. Er blieb aber sehr vage und verschleiert, war mehr die Ahnung eines allgemeinen Brodems als ein persönlicher Geruch. Eine ähnliche Massenaura, doch reiner und ins Erhaben- Schwitzige gesteigert, war in der Kathedrale zu gewinnen, wo Grenouille seine Probefähnchen am 24. Dezember unter den Bänken aushängte und sie am 26. wieder einholte, nachdem nicht weniger als sieben Messen über ihnen abgesessen worden waren: Ein schauerliches Duftkonglomerat aus Afterschweiß, Menstruationsblut, feuchten Kniekehlen und verkrampften Händen, durchmischt mit ausgestoßner Atemluft aus tausend chorsingenden und avemarianuschelnden Kehlen und dem beklemmenden Dampf des Weihrauchs und der Myrrhe hatte sich auf den imprägnierten Fetzchen abgebildet: schauerlich in seiner nebulösen, unkonturierten, übelkeiterregenden Ballung und doch schon unverkennbar menschlich.
Den ersten Individualgeruch ergatterte Grenouille im Hospiz der Charite. Es gelang ihm, das eigentlich zur Verbrennung bestimmte Bettlaken eines frisch an Schwindsucht verstorbenen Säcklergesellen zu entwenden, in welchem dieser zwei Monate umhüllt gelegen war. Das Tuch war so stark vom Eigentalg des Säcklers durchsogen, dass es dessen Ausdünstungen wie eine Enfleuragepaste absorbiert hatte und direkt der Lavage unterzogen werden konnte. Das Resultat war gespenstisch: Unter Grenouilles Nase erstand der Säckler aus der Weingeistsolution olfaktorisch von den Toten auf, schwebte, wenngleich durch die eigentümliche Reproduktionsmethode und die zahlreichen Miasmen seiner Krankheit schemenhaft entstellt, doch leidlich erkenntlich als individuelles Duftbild im Raum: ein kleiner Mann von dreißig Jahren, blond, mit plumper Nase, kurzen Gliedern, platten käsigen Füßen, geschwollenem Geschlecht, galligem Temperament und fadem Mundgeruch – kein schöner Mensch, geruchlich, dieser Säckler, nicht wert, wie jener kleine Hund, länger aufbewahrt zu werden. Und dennoch ließ ihn Grenouille eine ganze Nacht lang als Duftgeist durch seine Kabane flattern und schnupperte ihn immer wieder an, beglückt und tiefbefriedigt vom Gefühl der Macht, die er über die Aura eines ändern Menschen gewonnen hatte. Am nächsten Tag schüttete er ihn weg.
Noch einen Test unternahm er in diesen Wintertagen. Einer stummen Bettlerin, die durch die Stadt zog, bezahlte er einen Franc dafür, dass sie einen Tag lang mit verschiedenen Fett- und Ölmischungen präparierte Läppchen auf der nackten Haut trug. Es fand sich, dass eine Kombination von Lammnierenfett und mehrfach geläutertem Schweins- und Kuhtalg im Verhältnis zwei zu fünf zu drei unter Hinzuführung geringer Mengen von Jungfernöl für die Aufnahme des menschlichen Geruchs am besten geeignet war.
Damit ließ es Grenouille bewenden. Er verzichtete darauf, sich irgendeines lebenden Menschen im ganzen zu bemächtigen und ihn parfumistisch zu verarbeiten. So etwas wäre immer mit Risiken verbunden gewesen und hätte keine neuen Erkenntnisse gebracht. Er wusste, dass er nun die Techniken beherrschte, eines Menschen Duft zu rauben, und es war nicht nötig, dass er es sich erneut bewies.
Des Menschen Duft an und für sich war ihm auch gleichgültig. Des Menschen Duft konnte er hinreichend gut mit Surrogaten imitieren. Was er begehrte, war der Duft gewisser Menschen: jener äußerst seltenen Menschen nämlich, die Liebe inspirieren. Diese waren seine Opfer.
Im Januar ehelichte die Witwe Arnulfi ihren ersten Gesellen Dominique Druot, der damit zum Maitre Gantier et Parfumeur avancierte. Es gab ein großes Essen für die Gildenmeister, ein bescheideneres für die Gesellen, Madame kaufte eine neue Matratze für ihr Bett, das sie nun offiziell mit Druot teilte, und holte ihre bunte Garderobe aus dem Schrank. Sonst blieb alles beim alten. Sie behielt den guten alten Namen Arnulfi bei, behielt das ungeteilte Vermögen, die finanzielle Leitung des Geschäfts und die Schlüssel zum Keller; Druot erfüllte täglich seine sexuellen Pflichten und erfrischte sich danach beim Wein; und Grenouille, obwohl nun erster und einziger Geselle, verrichtete das Gros der anfallenden Arbeit für unverändert kleinen Lohn, bescheidene Verpflegung und karge Unterkunft.
Das Jahr begann mit der gelben Flut von Kassien, mit Hyazinthen, Veilchenblüte und narkotischen Narzissen. An einem Sonntag im März – es mochte etwa ein Jahr seit seiner Ankunft in Grasse vergangen sein – machte sich Grenouille auf, nach dem Stand der Dinge im Garten hinter der Mauer am anderen Ende der Stadt zu sehen. Er war diesmal auf den Duft vorbereitet, wusste ziemlich genau, was ihn erwartete… und doch, als er sie dann erwitterte, an der Porte Neuve schon, auf halbem Wege erst zu jener Stelle an der Mauer, da klopfte sein Herz lauter, und er spürte, wie das Blut in seinen Adern prickelte vor Glück: sie war noch da, die unvergleichlich schöne Pflanze, sie hatte den Winter unbeschadet überdauert, stand im Saft, wuchs, dehnte sich, trieb prächtigste Blütenstände! Ihr Duft war, wie er es erwartet hatte, kräftiger geworden, ohne an Feinheit einzubüßen. Was noch vor einem Jahr sich zart versprenkelt und vertröpfelt hatte, war nun gleichsam legiert zu einem leicht pastosen Duftfluss, der in tausend Farben schillerte und trotzdem jede Farbe band und nicht mehr abriss. Und dieser Fluss, so stellte Grenouille selig fest, speiste sich aus stärker werdender Quelle. Ein Jahr noch, nur noch ein Jahr, nur noch zwölf Monate, dann würde diese Quelle überborden, und er könnte kommen, sie zu fassen und den wilden Ausstoß ihres Duftes einzufangen.
Er lief an der Mauer entlang bis zur bewussten Stelle, hinter der sich der Garten befand. Obwohl das Mädchen offenbar nicht im Garten, sondern im Haus war, in einer Kammer hinter geschlossenen Fenstern, wehte ihr Duft wie eine stete sanfte Brise herab. Grenouille stand ganz still. Er war nicht berauscht oder benommen wie das erste Mal, als er sie gerochen hatte. Er war vom Glücksgefühl des Liebhabers erfüllt, der seine Angebetete von fern belauscht oder beobachtet und weiß, er wird sie heimholen übers Jahr. Wahrhaftig, Grenouille, der solitäre Zeck, das Scheusal, der Unmensch Grenouille, der Liebe nie empfunden hatte und Liebe niemals inspirieren konnte, stand an jenem Märztag an der Stadtmauer von Grasse und liebte und war zutiefst beglückt von seiner Liebe.
Freilich liebte er nicht einen Menschen, nicht etwa das Mädchen im Haus dort hinter der Mauer. Er liebte den Duft. Ihn allein und nichts anderes, und ihn nur als den künftigen eigenen. Er würde ihn heimholen übers Jahr, das schwor er sich bei seinem Leben. Und nach diesem absonderlichen Gelöbnis, oder Verlöbnis, diesem sich selbst und seinem künftigen Duft gegebenen Treueversprechen, verließ er den Ort frohgemut und kehrte durch die Porte du Cours in die Stadt zurück.
Als er nachts in der Kabane lag, holte er den Duft noch einmal aus der Erinnerung herauf- er konnte der Versuchung nicht widerstehen – und tauchte in ihm unter, liebkoste ihn und ließ sich selbst von ihm liebkosen, so eng, so traumhaft nah, als besäße er ihn schon wirklich, seinen Duft, seinen eigenen Duft, und er liebte ihn an sich und sich durch ihn eine berauschte köstliche Weile lang. Er wollte dieses selbstverliebte Gefühl mit in den Schlaf hinübernehmen. Aber gerade m dem Moment, als er die Augen schloss und nur noch einen Atemzug lang Zeit gebraucht hätte, um einzuschlummern, da verließ es ihn, war plötzlich weg, und anstatt seiner stand der kalte scharfe Ziegenstallgeruch im Raum.
Grenouille schrak auf. »Was ist«, so dachte er, »wenn dieser Duft, den ich besitzen werde… was ist, wenn er zu Ende geht? Es ist nicht wie in der Erinnerung, wo alle Düfte unvergänglich sind. Der wirkliche verbraucht sich an die Welt. Er ist flüchtig. Und wenn er aufgebraucht sein wird, dann wird es die Quelle, aus der ich ihn genommen habe, nicht mehr geben. Und ich werde nackt sein wie zuvor und mir mit meinen Surrogaten weiterhelfen müssen. Nein, schlimmer wird es sein als zuvor! Denn ich werde ja inzwischen ihn gekannt und besessen haben, meinen eigenen herrlichen Duft, und ich werde ihn nicht vergessen können, denn ich vergesse nie einen Duft. Und also werde ich zeitlebens von meiner Erinnerung an ihn zehren, wie ich schon jetzt, für einen Moment, aus meiner Vorerinnerung an ihn, den ich besitzen werde, gezehrt habe… Wozu also brauche ich ihn überhaupt?«
Dieser Gedanke war Grenouille äußerst unangenehm. Es erschreckte ihn maßlos, dass er den Duft, den er noch nicht besaß, wenn er ihn besäße, unweigerlich wieder verlieren musste. Wie lange würde er vorhalten? Einige Tage? Ein paar Wochen? Vielleicht einen Monat lang, wenn er sich ganz sparsam damit parfumierte? Und dann? Er sah sich schon den letzten Tropfen aus der Flasche schütteln, den Flakon mit Weingeist spülen, damit auch nicht der kleinste Rest verlorenginge, und sah dann, roch es, wie sich sein geliebter Duft für immer und unwiederbringlich verflüchtigte. Es würde sein wie ein langsames Sterben, eine Art umgekehrten Erstickens, ein qualvolles allmähliches Hinausverdunsten seiner selbst in die gräßliche Welt.
Er fröstelte. Es überkam ihn das Verlangen, seine Pläne aufzugeben, hinaus in die Nacht zu gehen und davonzuziehen. Über die verschneiten Berge wollte er wandern, ohne Rast, hundert Meilen weit in die Auvergne, und dort in seine alte Höhle kriechen und sich zutode schlafen. Aber er tat es nicht. Er blieb sitzen und gab dem Verlangen nicht nach, obwohl es stark war. Er gab ihm nicht nach, weil es ein altes Verlangen von ihm war, davonzuziehen und sich in einer Höhle zu verkriechen. Erkannte das schon. Was er allerdings noch nicht kannte, war der Besitz eines menschlichen Duftes, so herrlich wie der Duft des Mädchens hinter der Mauer. Und wenn er auch wusste, dass er den Besitz dieses Duftes mit seinem anschließenden Verlust würde entsetzlich teuer bezahlen müssen, so schienen ihm doch Besitz und Verlust begehrenswerter als der lapidare Verzicht auf beides. Denn verzichtet hatte er Zeit seines Lebens. Besessen und verloren aber noch nie.
Allmählich wichen die Zweifel und mit ihnen das Frösteln. Er spürte, wie das warme Blut ihn wieder belebte und wie der Wille, das zu tun, was er sich vorgenommen hatte, wieder Besitz von ihm ergriff. Und zwar mächtiger als zuvor, da dieser Wille nun nicht mehr einer reinen Begierde entsprang, sondern dazu noch einem erwogenen Entschluss. Der Zeck Grenouille, vor die Wahl gestellt, in sich selbst zu vertrocknen oder sich fallenzulassen, entschied sich für das zweite, wohl wissend, dass dieser Fall sein letzter sein würde. Er legte sich aufs Lager zurück, wohlig ins Stroh, wohlig unter die Decke, und kam sich sehr heroisch vor.
Grenouille wäre aber nicht Grenouille gewesen, wenn ihn ein fatalistisch-heroisches Gefühl lange befriedigt hätte. Dazu besaß er einen zu zähen Selbstbehauptungswillen, ein zu durchtriebenes Wesen und einen zu raffinierten Geist. Gut – er hatte sich entschlossen, jenen Duft des Mädchens hinter der Mauer zu besitzen. Und wenn er ihn nach wenigen Wochen wieder verlöre und an dem Verlust stürbe, so sollte auch das gut sein. Besser aber wäre es, nicht zu sterben und den Duft trotzdem zu besitzen, oder zumindest seinen Verlust so lange als irgend möglich hinauszuzögern. Man müsste ihn haltbarer machen. Man müsste seine Flüchtigkeit bannen, ohne ihm seinen Charakter zu rauben – ein parfumistisches Problem.
Es gibt Düfte, die haften jahrzehntelang. Ein mit Moschus eingeriebener Schrank, ein mit Zimtöl getränktes Stück Leder, eine Amberknolle, ein Kästchen aus Zedernholz besitzen geruchlich fast das ewige Leben. Und andere – Limettenöl, Bergamotte, Narzissen- und Tuberosenextrakte und viele Blütendüfte verhauchen sich schon nach wenigen Stunden, wenn man sie rein und ungebunden der Luft aussetzt. Der Parfumeur begegnet diesem fatalen Umstand, indem er die allzu flüchtigen Düfte durch haftende bindet, ihnen also gleichsam Fesseln anlegt, die ihren Freiheitsdrang zügeln, wobei die Kunst darin besteht, die Fesseln so locker zu lassen, dass der gebundene Geruch seine Freiheit scheinbar behält, und sie doch so eng zu schnüren, dass er nicht fliehen kann. Grenouille war dieses Kunststück einmal in perfekter Weise beim Tuberosenöl gelungen, dessen ephemeren Duft er mit winzigen Mengen von Zibet, Vanille, Labdanum und Zypresse gefesselt und damit erst recht eigentlich zur Geltung gebracht hatte. Warum sollte etwas Ähnliches nicht auch mit dem Duft des Mädchens möglich sein? Weshalb sollte er diesen kostbarsten und fragilsten aller Düfte pur verwenden und verschwenden? Wie plump! Wie außerordentlich unraffiniert! Ließ man Diamanten ungeschliffen? Trug man Gold in Brocken um den Hals? War er, Grenouille, etwa ein primitiver Duftstoffräuber wie Druot und wie die anderen Mazeratoren, Destillierer und Blütenquetscher? Oder war er nicht vielmehr der größte Parfumeur der Welt?
Er schlug sich vor den Kopf vor Entsetzen, dass er nicht schon früher darauf gekommen war: Natürlich durfte dieser einzigartige Duft nicht roh verwendet werden. Er musste ihn fassen wie den kostbarsten Edelstein. Ein Duftdiadem musste er schmieden, an dessen erhabenster Stelle, zugleich eingebunden in andere Düfte und sie beherrschend, sein Duft strahlte. Ein Parfum würde er machen nach allen Regeln der Kunst, und der Duft des Mädchens hinter der Mauer sollte die Herznote sein.
Als Adjuvantien freilich, als Basis-, Mittel- und Kopfnote, als Spitzengeruch und als Fixateur waren nicht Moschus und Zibet, nicht Rosenöl oder Neroli geeignet, das stand fest. Für ein solches Parfum, für ein Menschenparfum, bedurfte es anderer Ingredienzen.
Im Mai desselben Jahres fand man in einem Rosenfeld, halben Wegs zwischen Grasse und dem östlich gelegenen Flecken Opio, die nackte Leiche eines fünfzehnjährigen Mädchens. Es war mit einem Knüppelhieb auf den Hinterkopf erschlagen worden. Der Bauer, der es entdeckt hatte, war von dem grausigen Fund so verwirrt, dass er sich fast selbst in Verdacht brachte, indem er dem Polizeilieutenant mit zitternder Stimme meldete, er habe so etwas Schönes noch nie gesehen – wo er doch eigentlich hatte sagen wollen, er habe so etwas Entsetzliches noch nie gesehen.
Tatsächlich war das Mädchen von exquisiter Schönheit. Es gehörte jenem schwerblütigen Typ von Frauen an, die wie aus dunklem Honig sind, glatt und süß und ungeheuer klebrig; die mit einer zähflüssigen Geste, einem Haarwurf, einem einzigen langsamen Peitschenschwung ihres Blickes den Raum beherrschen und dabei ruhig wie im Zentrum eines Wirbelsturmes stehen, der eigenen Gravitationskraft scheinbar unbewusst, mit der sie Sehnsüchte und Seelen von Männern wie von Frauen unwiderstehlich an sich reißen. Und sie war jung, blutjung, der Reiz des Typus war noch nicht ins Sämige verflossen. Noch waren ihre schweren Glieder glatt und fest, die Brüste wie aus dem Ei gepellt, und ihr flächiges Gesicht, vom schwarzen starken Haar umflogen, besaß noch zarteste Konturen und geheimste Stellen. Das Haar selbst freilich war weg. Der Mörder hatte es ihr abgeschnitten und mitgenommen, ebenso wie die Kleider.
Man verdächtigte die Zigeuner. Den Zigeunern war alles zuzutrauen. Zigeuner woben bekanntlich Teppiche aus alten Kleidern und stopften Menschenhaar in ihre Kissen und fertigten aus Haut und Zähnen von Gehenkten kleine Puppen. Für ein so perverses Verbrechen kamen nur Zigeuner in Frage. Es waren aber zu der Zeit keine Zigeuner da, weit und breit nicht, das letzte Mal hatten Zigeuner die Gegend im Dezember durchzogen.
In Ermangelung von Zigeunern verdächtigte man daraufhin italienische Wanderarbeiter. Italiener waren aber auch keine da, für sie war es zu früh im Jahr, sie würden erst im Juni zur Jasminernte ins Land kommen, sie konnten's also nicht gewesen sein. Schließlich gerieten die Perückenmacher in Verdacht, bei denen man nach dem Haar des ermordeten Mädchens fahndete. Vergeblich. Dann sollten es die Juden gewesen sein, dann die angeblich geilen Mönche des Benediktinerklosters – die freilich alle schon weit über siebzig waren – , dann die Zisterzienser, dann die Freimaurer, dann die Geisteskranken aus der Charité, dann die Köhler, dann die Bettler und zu guter Letzt der sittenlose Adel, insbesondere der Marquis von Cabris, denn der war schon zum dritten Mal verheiratet, veranstaltete, wie es hieß, in seinen Kellern orgiastische Messen und trank dabei Jungfrauenblut, um seine Potenz zu steigern. Konkretes ließ sich freilich nicht beweisen. Niemand hatte den Mord beobachtet, Kleider und Haare der Toten wurden nicht gefunden. Nach einigen Wochen stellte der Polizeilieutenant seine Nachforschungen ein.
Mitte Juni kamen die Italiener, viele mit ihren Familien, um sich als Pflücker zu verdingen. Die Bauern beschäftigten sie zwar, verboten aber, eingedenk des Mordes, ihren Frauen und Töchtern den Umgang mit ihnen. Sicher war sicher. Denn obwohl die Wanderarbeiter für den geschehenen Mord tatsächlich nicht verantwortlich waren, so hätten sie doch prinzipiell dafür verantwortlich sein können, und deshalb war es besser, vor ihnen auf der Hut zu sein.
Nicht lange nach Beginn der Jasminernte geschahen zwei weitere Morde. Wieder waren die Opfer bildschöne Mädchen, wieder gehörten sie jenem schwerblütigen schwarzhaarigen Typus an, wieder fand man sie nackt und geschoren und mit einer stumpfen Wunde am Hinterkopf in den Blumenfeldern liegen. Wieder fehlte vom Täter jede Spur. Die Nachricht verbreitete sich wie ein Lauffeuer, und es drohten schon Feindseligkeiten gegen das zugezogene Volk auszubrechen, als bekannt wurde, dass beide Opfer Italienerinnen waren, Töchter eines Genueser Taglöhners.
Nun legte sich die Furcht über das Land. Die Leute wussten nicht mehr, auf wen sie ihre ohnmächtige Wut richten sollten. Wohl gab es noch welche, die die Irren oder den obskuren Marquis verdächtigten, aber so recht wollte niemand daran glauben, denn jene standen Tag und Nacht unter Aufsicht, und dieser war schon vor langer Zeit nach Paris abgereist. Also rückte man näher zusammen. Die Bauern öffneten den Zugewanderten, die bis dahin auf freiem Feld gelagert hatten, ihre Scheunen. Die Städter richteten in jedem Viertel einen nächtlichen Patrouillendienst ein. Der Polizeilieutenant verstärkte die Wachen an den Toren. Doch alle Vorkehrungen nützten nichts. Wenige Tage nach dem Doppelmord fand man wieder eine Mädchenleiche, ebenso zugerichtet wie die vorigen. Diesmal handelte es sich um eine sardische Wäscherin aus dem bischöflichen Palais, die nahe dem großen Wasserbecken an der Fontaine de la Foux, also direkt vor den Toren der Stadt, erschlagen worden war. Und obwohl die Konsuln, von der erregten Bürgerschaft gedrängt, weitere Maßnahmen ergriffen – schärfste Kontrollen an den Toren, Verstärkung der Nachtwachen, Ausgangsverbot für alle weiblichen Personen nach Einbruch der Dunkelheit – , verging in diesem Sommer keine Woche mehr, in der nicht die Leiche eines jungen Mädchens gefunden wurde. Und immer waren es solche, die gerade erst begonnen hatten, Frauen zu sein, und immer waren es die schönsten und meist jener dunkle, haftende Typus. – Obwohl der Mörder bald auch nicht mehr den in der einheimischen Bevölkerung vorherrschenden weichen, weißhäutigen und etwas beleibteren Mädchenschlag verschmähte. Sogar brünette, sogar dunkelblonde – sofern sie nicht zu mager waren – fielen ihm neuerdings zum Opfer. Er spürte sie überall auf, nicht mehr nur im Umland von Grasse, sondern mitten in der Stadt, ja sogar in den Häusern. Die Tochter eines Tischlers wurde in ihrer Kammer im fünften Stock erschlagen aufgefunden, und niemand im Haus hatte das geringste Geräusch gehört, und keiner der Hunde, die sonst jeden Fremden witterten und verbellten, hatte angeschlagen. Der Mörder schien unfassbar, körperlos, wie ein Geist zu sein.
Die Menschen empörten sich und beschimpften die Obrigkeit. Das kleinste Gerücht führte zu Zusammenrottungen. Ein fahrender Händler, der Liebespulver und andere Quacksalbereien verkaufte, wurde fast massakriert, denn es hieß, seine Mittelchen enthielten gemahlenes Mädchenhaar. Auf das Hotel de Cabris und auf das Hospiz der Charité wurden Brandanschläge verübt. Der Tuchhändler Alexandre Misnard erschoss seinen eigenen Hausdiener bei dessen nächtlicher Heimkehr, weil er ihn für den berüchtigten Mädchenmörder hielt. Wer es sich leisten konnte, schickte seine heranwachsenden Töchter zu entfernten Verwandten oder in Pensionate nach Nizza, Aix oder Marseille . Der Polizeilieutenant wurde auf Drängen des Stadtrats seines Postens enthoben. Sein Nachfolger ließ die Leichen der geschorenen Schönheiten von einem Ärztekollegium auf ihren virginalen Zustand untersuchen. Es fand sich, dass sie alle unberührt geblieben waren.
Sonderbarerweise vermehrte diese Erkenntnis das Entsetzen, anstatt es zu mindern, denn insgeheim hatte jedermann angenommen, dass die Mädchen missbraucht worden seien. Man hätte dann wenigstens ein Motiv des Mörders gekannt. Nun wusste man nichts mehr, nun war man völlig ratlos. Und wer an Gott glaubte, rettete sich ins Gebet, es möge doch wenigstens das eigene Haus von der teuflischen Heimsuchung verschont bleiben.
Der Stadtrat, ein Gremium der dreißig reichsten und angesehensten Großbürger und Adligen von Grasse, in ihrer Mehrzahl aufgeklärte und antiklerikale Herren, die den Bischof bisher einen guten Mann hatten sein lassen und aus den Klöstern und Abteien am liebsten Warenlager oder Fabriken gemacht hätten – die stolzen, mächtigen Herren des Stadtrats ließen sich in ihrer Not herbei, Monseigneur den Bischof in einer unterwürfig abgefassten Petition zu bitten, er möge das mädchenmordende Monster, dessen die weltliche Macht nicht habhaft werden könne, verfluchen und mit Bann belegen, ebenso, wie es sein erlauchter Vorgänger im Jahre 1708 mit den entsetzlichen Heuschrecken gemacht habe, die damals das Land bedrohten. Und in der Tat wurde Ende September der Grasser Mädchenmörder, der bis dahin nicht weniger als vierundzwanzig der schönsten Jungfrauen aus allen Schichten des Volkes hinweggerafft hatte, per schriftlichem Anschlag sowie mündlich von sämtlichen Kanzeln der Stadt, darunter der Kanzel von Notre-Dame-du-Puy, durch den Bischof persönlich in feierlichen Bann und Fluch getan.
Der Erfolg war durchschlagend. Die Morde hörten auf, von einem Tag zum anderen. Oktober und November vergingen ohne Leiche. Anfang Dezember kamen Berichte aus Grenoble, dass dort neuerdings ein Mädchenmörder umgehe, der seine Opfer erdrossle und ihnen die Kleider in Fetzen vom Leibe und die Haare in Büscheln vom Kopfe reiße. Und obwohl diese grobschlächtigen Verbrechen keineswegs in Einklang mit den sauber ausgeführten Grasser Morden standen, war doch alle Welt davon überzeugt, es handle sich um ein und denselben Täter. Die Grasser schlugen drei Kreuze vor Erleichterung, dass die Bestie nicht mehr bei ihnen, sondern im sieben Tagereisen entfernten Grenoble wütete. Sie organisierten einen Fackelzug zu Ehren des Bischofs und hielten am 24. Dezember einen großen Dankgottesdienst ab. Zum 1. Januar 1766 wurden die verstärkten Sicherheitsvorkehrungen gelockert und die nächtliche Ausgangssperre für Frauen aufgehoben. Mit unglaublicher Schnelligkeit kehrte die Normalität ins öffentliche und private Leben zurück. Die Angst war wie weggeblasen, niemand redete mehr von dem Grauen, das noch vor wenigen Monaten Stadt und Umland beherrscht hatte. Nicht einmal in den betroffenen Familien sprach man noch davon. Es war, als habe der bischöfliche Fluch nicht nur den Mörder, sondern auch jede Erinnerung an ihn verbannt. Und den Menschen war es recht so.
Nur wer eine Tochter hatte, die gerade in das wundersame Alter kam, der ließ sie immer noch nicht gerne ohne Aufsicht, dem wurde bange, wenn es dämmerte, und morgens, wenn er sie gesund und munter vorfand, war er glücklich – freilich ohne sich den Grund dafür recht eingestehen zu wollen.
Einen Mann aber gab es in Grasse, der traute dem Frieden nicht. Er hieß Antoine Richis, bekleidete das Amt des Zweiten Konsuls und wohnte in einem stattlichen Anwesen am Beginn der Rue Droite.
Richis war Witwer und hatte eine Tochter namens Laure. Obwohl keine vierzig Jahre alt und von ungebrochner Vitalität, gedachte er eine neuerliche Verehelichung noch einige Zeit hinauszuschieben. Erst wollte er seine Tochter an den Mann bringen. Und zwar nicht an den ersten besten, sondern an einen von Stande. Es gab da einen Baron von Bouyon, Besitzer eines Sohnes und eines Lehens bei Vence, von guter Reputation und lausiger Finanzlage, mit dem Richis schon Abmachungen über eine künftige Heirat der Kinder getroffen hatte. Wenn Laure dann unter der Haube wäre, wollte er selbst seine freierlichen Fühler in Richtung der hochangesehenen Häuser Dree, Maubert oder Fontmichel ausstrecken – nicht weil er eitel war und auf Teufel komm raus ein adeliges Bettgemahl besitzen musste, sondern weil er eine Dynastie gründen und seine Nachkommenschaft auf ein Geleise setzen wollte, welches zu höchstem gesellschaftlichem Ansehen und politischem Einfluss führte. Dazu brauchte er noch mindestens zwei Söhne, deren einer sein Geschäft übernahm, während der andere via juristische Laufbahn und das Parlament in Aix selbst in den Adel aufrückte. Solche Ambitionen konnte er jedoch als Mann seines Standes nur dann mit Aussicht auf Erfolg hegen, wenn er seine Person und seine Familie aufs engste mit der provenzalischen Nobilität verband.
Was ihn überhaupt zu derartig hochfliegenden Plänen berechtigte, war sein sagenhafter Reichtum. Antoine Richis war der mit Abstand vermögendste Bürger weit und breit. Er besaß Latifundien nicht nur im Grasser Raum, wo er Orangen, Öl, Weizen und Hanf anbauen ließ, sondern auch bei Vence und gegen Antibes zu, wo er verpachtet hatte. Er besaß Häuser in Aix, Häuser auf dem Lande, Anteile an Schiffen, die nach Indien fuhren, ein ständiges Kontor in Genua und das größte Handelslager für Duftstoffe, Spezereien, Öle und Leder Frankreichs.
Das Kostbarste jedoch, was Richis besaß, war seine Tochter. Sie war sein einziges Kind, gerade sechzehn Jahre alt, mit dunkelroten Haaren und grünen Augen. Sie hatte ein so entzückendes Gesicht, dass Besucher jeden Alters und Geschlechts augenblicks erstarrten und den Blick nicht mehr von ihr nehmen konnten, ihr Gesicht geradezu leckten mit den Augen, als leckten sie Eis mit der Zunge, und dabei den für solch leckende Beschäftigung typischen Ausdruck von dümmlicher Hingegebenheit annahmen. Selbst Richis, wenn er die eigne Tochter ansah, ertappte sich dabei, dass er für unbestimmte Zeit, für eine Viertelstunde, für eine halbe Stunde vielleicht, die Welt und damit seine Geschäfte vergaß – was ihm sonst nicht einmal im Schlaf passierte – , sich vollkommen auflöste in des herrlichen Mädchens Betrachtung und hinterher nicht mehr zu sagen wusste, was er eigentlich getan hatte. Und neuerdings – er nahm es mit Unbehagen wahr – , abends beim Zubettbringen oder manchmal morgens, wenn er ging, um sie zu wecken, und sie lag noch schlafend, wie von Gotteshänden hingelegt, und durch den Schleier ihres Nachtgewands drückten sich die Formen ihrer Hüften und ihrer Brüste ab, und aus dem Geviert von Busen, Achselschwung, Ellenbogen und glattem Unterarm, in das sie ihr Gesicht gelegt hatte, stieg ihr ausgestoßner Atem ruhig und heiß… – da ballte es sich ihm elend im Magen, und die Kehle wurde ihm eng, und er schluckte, und, weiß Gott! er verfluchte sich, dass er der Vater dieser Frau war und nicht ein Fremder, nicht irgendein Mann, vor dem sie so läge wie jetzt vor ihm, und der sich ohne Bedenken an sie, auf sie, in sie legen könnte mit all seiner Begehrlichkeit. Und der Schweiß brach ihm aus, und seine Glieder zitterten, indes er diese grauenvolle Lust in sich erwürgte und sich hinabbeugte zu ihr, um sie mit keuschem väterlichem Kuss zu wecken.
Im vergangenen Jahr, zur Zeit der Morde, waren solch fatale Anfechtungen noch nicht über ihn gekommen. Der Zauber, den seine Tochter damals auf ihn ausgeübt hatte, war – so wollte ihm wenigstens scheinen – noch ein kindlicher Zauber gewesen. Und deshalb hatte er auch nie ernstlich befürchtet, dass Laure Opfer jenes Mörders werden könnte, der, wie man wusste, weder Kinder noch Frauen, sondern ausschließlich erwachsene jungfräuliche Mädchen anfiel. Zwar hatte er die Bewachung seines Hauses verstärkt, die Fenster des Obergeschosses mit neuen Gittern versehen lassen und die Zofe angewiesen, ihre Schlafkammer mit Laure zu teilen. Aber es widerstrebte ihm, sie wegzuschicken, wie es seine Standesgenossen mit ihren Töchtern, ja sogar mit ihren ganzen Familien taten. Er fand dieses Verhalten verächtlich und unwürdig eines Mitglieds des Rates und Zweiten Konsuln, der, wie er meinte, seinen Mitbürgern ein Vorbild an Gelassenheit, Mut und Unbeugsamkeit sein sollte. Außerdem war er ein Mann, der sich seine Entschlüsse nicht von anderen vorschreiben ließ, nicht von einer in Panik geratenen Menge und schon gar nicht von einem einzelnen anonymen Lump von Verbrecher. Und so war er während der ganzen schrecklichen Zeit einer der wenigen in der Stadt gewesen, die gegen das Fieber der Angst gefeit waren und einen kühlen Kopf behielten. Doch dies, sonderbarerweise, änderte sich nun. Während nämlich die Menschen draußen, als hätten sie den Mörder schon gehenkt, das Ende seines Treibens feierten und die unselige Zeit bald ganz vergaßen, kehrte in das Herz Antoine Richis' die Angst ein wie ein häßliches Gift. Lange Zeit wollte er sich's nicht zugeben, dass es die Angst war, die ihn bewog, längst fällige Reisen hinauszuzögern, ungern das Haus zu verlassen, Besuche und Sitzungen abzukürzen, damit er nur rasch wieder heimkehren könne. Er entschuldigte sich vor sich selbst mit Unpäßlichkeit und Überarbeitung, gestand sich wohl auch zu, dass er ein wenig besorgt sei, wie eben jeder Vater besorgt ist, der eine Tochter in mannbarem Alter besitzt, eine durchaus normale Sorge… War denn nicht schon der Ruhm ihrer Schönheit nach draußen gedrungen? Reckten sich nicht schon die Hälse, wenn man mit ihr sonntags in die Kirche ging? Machten nicht schon gewisse Herren im Rat Avancen, im eigenen Namen oder in dem ihrer Söhne…?
Aber dann, eines Tages im März, saß Richis im Salon und sah, wie Laure hinaus in den Garten ging. Sie trug ein blaues Kleid, über das ihr rotes Haar fiel, es loderte im Sonnenlicht, er hatte sie noch nie so schön gesehen. Hinter einer Hecke verschwand sie. Und dann dauerte es vielleicht nur zwei Herzschläge länger, als er erwartet hatte, bevor sie wieder auftauchte – und er war zutode erschrocken, denn er hatte zwei Herzschläge lang gedacht, er habe sie für immer verloren.
In der gleichen Nacht wachte er aus einem entsetzlichen Traum auf, an dessen Inhalt er sich nicht mehr erinnern konnte, der aber mit Laure zu tun hatte, und er stürzte in ihr Zimmer, überzeugt, sie sei tot, läge gemordet, geschändet und geschoren im Bett – und fand sie unversehrt.
Er ging zurück in sein Gemach, schweißnass und bebend vor Aufregung, nein, nicht vor Aufregung, sondern vor Angst, jetzt endlich gestand er es sich ein, dass die schiere Angst ihn gepackt hatte, und indem er es sich eingestand, wurde er ruhiger und klarer im Kopf. Wenn er ehrlich war, so hatte er von Anfang an nicht an die Wirkung des bischöflichen Bannfluchs geglaubt; auch nicht daran, dass der Mörder jetzt in Grenoble umgehe; auch nicht daran, dass er die Stadt überhaupt verlassen hatte. Nein, er lebte noch hier, mitten unter den Grassern, und irgendwann würde er wieder zuschlagen. Im August und September hatte Richis einige der ermordeten Mädchen gesehen. Der Anblick hatte ihn entsetzt und zugleich, wie er zugeben musste, fasziniert, denn sie waren alle, und jede auf sehr spezielle Weise, von ausgesuchter Schönheit gewesen. Niemals hätte er gedacht, dass es in Grasse so viel unerkannte Schönheit gab. Der Mörder hatte ihm die Augen geöffnet. Der Mörder besaß einen exquisiten Geschmack. Und er besaß ein System. Nicht nur, dass die Morde alle auf die gleiche ordentliche Weise ausgeführt waren, auch die Wahl der Opfer verriet eine beinahe ökonomisch planende Absicht. Zwar wusste Richis nicht, was der Mörder eigentlich von seinem Opfer begehrte, denn ihr Bestes: die Schönheit und den Reiz ihrer Jugend konnte er ihnen ja nicht geraubt haben… oder doch? Auf jeden Fall aber schien ihm der Mörder, so absurd das klingen mochte, kein destruktiver Geist zu sein, sondern ein sorgfältig sammelnder. Wenn man sich nämlich – so dachte Richis all die Opfer nicht mehr als einzelne Individuen, sondern als Teile eines höheren Prinzips vorstellte und sie wie in idealistischer Weise ihre jeweiligen Eigenschaffen als zu einem einheitlichen Ganzen verschmolzen dächte, dann müsste das aus solchen Mosaiksteinen zusammengesetzte Bild das Bild der Schönheit schlechthin sein, und der Zauber, der von ihm ausginge, wäre nicht mehr von menschlicher, sondern von göttlicher Art. (Wie wir sehen, war Richis ein aufgeklärt denkender Mensch, der auch vor blasphemischen Schlussfolgerungen nicht zurückschreckte, und wenn er nicht in geruchlichen, sondern in optischen Kategorien dachte, so kam er doch der Wahrheit sehr nahe.)
Gesetzt nun den Fall – so dachte Richis weiter – , der Mörder war solch ein Sammler von Schönheit und arbeitete am Bildnis der Vollkommenheit, und sei es auch nur in der Phantasie seines kranken Hirns; gesetzt ferner, er war ein Mann von höchstem Geschmack und perfekter Methode, wie er es in der Tat zu sein schien, dann konnte man nicht annehmen, dass er auf den kostbarsten Baustein zu jenem Bildnis verzichtete, den es auf Erden zu finden gab: auf die Schönheit von Laure. Sein ganzes bisheriges Mordwerk wäre nichts wert ohne sie. Sie war der Schlussstein seines Gebäudes.
Richis, während er diese entsetzliche Folgerung zog, saß im Nachtgewand auf seinem Bett und wunderte sich darüber, wie ruhig er geworden war. Er fröstelte und zitterte nicht mehr. Die unbestimmte Angst, die ihn seit Wochen geplagt hatte, war verschwunden und dem Bewusstsein einer konkreten Gefahr gewichen: Des Mörders Sinn und Trachten war ganz offenbar auf Laure gerichtet, von Anfang an. Und alle andern Morde waren Beiwerk für diesen letzten krönenden Mord. Zwar blieb unklar, welchen materiellen Zweck die Morde haben sollten und ob sie einen solchen überhaupt besaßen. Aber das Wesentliche, nämlich des Mörders systematische Methode und sein ideelles Motiv, hatte Richis durchschaut. Und je länger er darüber nachdachte, desto besser gefielen ihm beide und desto größer wurde seine Hochachtung vor dem Mörder – eine Hochachtung freilich, die sogleich wie aus einem blanken Spiegel auf ihn selbst zurückstrahlte, denn immerhin war er, Richis, es ja gewesen, der mit seinem feinen analytischen Verstand dem Gegner auf die Schliche gekommen war.
Wenn er, Richis, selbst ein Mörder wäre und von des Mörders selben leidenschaftlichen Ideen besessen, hätte er auch nicht anders vorgehen können, als jener bisher vorgegangen war, und würde wie dieser alles daransetzen, sein Wahnsinnswerk durch einen Mord an Laure, der herrlichen, der einzigartigen, zu krönen.
Dieser letzte Gedanke gefiel ihm ganz besonders gut. Dass er in der Lage war, sich gedanklich in die Lage des künftigen Mörders seiner Tochter zu versetzen, machte ihn dem Mörder nämlich haushoch überlegen. Denn der Mörder, das stand fest, war bei all seiner Intelligenz gewiss nicht in der Lage, sich in Richis' Lage zu versetzen – und sei's nur, weil er gewiss nicht ahnen konnte, dass Richis sich längst in seine, des Mörders Lage versetzt hatte. Im Grunde war das nicht anders als im Geschäftsleben auch – mutatis mutandis, versteht sich. Einem Konkurrenten, dessen Absichten man durchschaut hatte, war man überlegen; von ihm ließ man sich nicht mehr aufs Kreuz legen; nicht, wenn man Antoine Richis hieß, mit allen Wassern gewaschen war und eine Kämpfernatur besaß. Schließlich waren ihm der größte Duftstoffhandel Frankreichs, sein Reichtum und das Amt des Zweiten Konsuls nicht gnadenhalber in den Schoß gefallen, sondern er hatte sie sich erkämpft, ertrotzt, erschlichen, indem er Gefahren beizeiten erkannt, die Pläne der Konkurrenten schlau erraten und Widersacher ausgestochen hatte. Und seine künftigen Ziele, die Macht und Nobilität seiner Nachkommenschaft, würde er ebenso erreichen. Und nicht anders würde er die Pläne jenes Mörders durchkreuzen, seines Konkurrenten um den Besitz an Laure – und wäre es nur deshalb, weil Laure auch den Schlussstein im Gebäude seiner, Richis', eigenen Pläne bildete. Er liebte sie, gewiss; aber er brauchte sie auch. Und was er brauchte zur Verwirklichung seiner höchsten Ambitionen, das ließ er sich von niemandem entwinden, das hielt er fest mit Zähnen und mit Klauen.
Nun war ihm wohler. Nachdem es ihm gelungen war, seine nächtlichen Überlegungen betreffs Kampf mit dem Dämon auf die Ebene einer geschäftlichen Auseinandersetzung herabzudrücken, spürte er, wie frischer Mut, ja Übermut ihn erfasste. Verflogen war der letzte Rest von Angst, verschwunden das Gefühl von Verzagtheit und grämlicher Sorge, das ihn wie einen senilen Tattergreis gequält hatte, weggeblasen der Nebel von düsteren Ahnungen, in dem er seit Wochen herumtappte. Er befand sich auf vertrautem Terrain und fühlte sich jeder Herausforderung gewachsen.
Erleichtert, vergnügt fast, sprang er aus dem Bett, zog am Klingelband und befahl seinem schlaftrunken hereintaumelnden Diener, Kleider und Proviant zu packen, da er gedächte, bei Tagesanbruch in Begleitung seiner Tochter nach Grenoble zu reisen. Dann zog er sich an und scheuchte das übrige Personal aus den Betten.
Mitten in der Nacht erwachte das Haus in der Rue Droite zu emsigem Leben. In der Küche flammten die Feuer auf, durch die Gänge huschten die aufgeregten Mägde, treppauf treppab eilte der Diener, in den Kellergewölben klapperten die Schlüssel des Lagerverwalters, im Hof leuchteten Fackeln, Knechte liefen um Pferde, andere zerrten die Maultiere aus den Ställen, es wurde gezäumt, gesattelt, gerannt und geladen – man hätte glauben können, die austrosardischen Horden seien plündernd und sengend im Anmarsch wie anno 1746 und der Hausherr rüste in panischer Eile zur Flucht. Doch keineswegs! Der Hausherr saß souverän wie ein Marschall von Frankreich am Schreibtisch seines Kontors, trank Milchkaffee und erließ seine Anweisungen an die ständig hereinstürzenden Domestiken. Nebenher schrieb er Briefe an den Bürgermeister und Ersten Konsul, an seinen Notar, an seinen Anwalt, an seinen Bankier in Marseille, an den Baron de Bouyon und an diverse Geschäftspartner.
Gegen sechs Uhr früh hatte er die Korrespondenz erledigt und alle zu seinen Plänen notwendigen Verfügungen getroffen. Er steckte zwei kleine Reisepistolen zu sich, schnallte sich seinen Geldgürtel um und sperrte den Schreibtisch zu. Dann ging er seine Tochter wecken.
Um acht setzte sich die kleine Karawane in Bewegung. Richis ritt voran, er war prächtig anzusehen in einem weinroten, goldbetressten Rock, schwarzer Redingote und schwarzem Hut mit kessem Federbusch. Ihm folgte seine Tochter, bescheidener gekleidet, aber so strahlend schön, dass das Volk auf der Straße und an den Fenstern nur Augen für sie hatte, dass andächtige Ahs und Ohs durch die Menge gingen und die Männer ihren Hut zogen – scheinbar vor dem zweiten Konsul, in Wahrheit aber vor ihr, der königlichen Frau. Dann kam, fast unbeachtet, die Zofe, dann Richis' Diener mit zwei Packpferden – die Verwendung eines Wagens verbot sich wegen des berüchtigt schlechten Zustands der Grenobler Route – , und den Abschluss des Zuges bildeten ein Dutzend mit allen möglichen Waren beladene Maultiere unter Aufsicht zweier Knechte. An der Porte du Cours präsentierten die Wachen das Gewehr und ließen es erst wieder sinken, als das letzte Maultier vorübergetippelt war. Kinder liefen hinterher, noch eine ganze Weile lang, winkten dem Tross nach, der sich langsam auf dem steilen, gewundenen Weg bergwärts entfernte.
Auf die Menschen machte der Auszug des Antoine Richis mit seiner Tochter einen seltsam tiefen Eindruck. Ihnen war, als hätten sie einem archaischen Opfergang beigewohnt. Es hatte sich herumgesprochen, dass Richis nach Grenoble reiste, in jene Stadt also, wo neuerdings das mädchenmordende Monster hauste. Die Leute wussten nicht, was sie davon halten sollten. War es sträflicher Leichtsinn, was Richis tat, oder bewundernswerter Mut? War es eine Herausforderung oder eine Besänftigung der Götter? Sie ahnten nur sehr undeutlich, dass sie das schöne Mädchen mit den roten Haaren soeben zum letzten Mal gesehen hatten. Sie ahnten, dass Laure Richis verloren war.
Diese Ahnung sollte sich als richtig erweisen, obwohl sie auf völlig falschen Voraussetzungen beruhte. Richis zog nämlich keineswegs nach Grenoble. Der pompöse Auszug war nichts als eine Finte gewesen. Anderthalb Meilen nordwestlich von Grasse, in der Nähe des Dorfes Saint-Vallier, ließ er anhalten. Er händigte seinem Diener Vollmachten und Begleitschreiben aus und befahl ihm, den Maultiertreck allein mit den Knechten nach Grenoble zu bringen.
Er selbst wandte sich mit Laure und der Zofe in Richtung Cabris, wo er eine Mittagspause einlegte, und ritt dann quer durch das Gebirge des Tanneron nach Süden. Der Weg war äußerst beschwerlich, aber er gestattete es, Grasse und das Grasser Becken in einem weiten westlichen Bogen zu umgehen und bis zum Abend unerkannt die Küste zu erreichen… Am folgenden Tag – so Richis' Plan – wollte er sich mit Laure nach den Lerinischen Inseln übersetzen lassen, auf deren kleinerer sich das wohlbefestigte Kloster Saint-Honorat befand. Es wurde von einem Häuflein greiser, aber noch durchaus wehrfähiger Mönche bewirtschaftet, mit denen Richis gut bekannt war, denn er kaufte und vertrieb schon seit Jahren die gesamte klösterliche Produktion an Eukalyptuslikör, Pinienkernen und Zypressenöl. Und eben dort, im Kloster Saint-Honorat, dem neben dem Zuchthaus von Chateau d'If und dem Staatsgefängnis der Ile Sainte-Mar-guerite wohl sichersten Ort der Provence, gedachte er seine Tochter fürs erste unterzubringen. Er selbst würde unverzüglich wieder aufs Festland zurückkehren, Grasse diesmal via Antibes und Cagnes östlich umgehen, um noch am Abend desselben Tages in Vence einzutreffen. Dorthin hatte er bereits seinen Notar bestellt zwecks einer zu treffenden Vereinbarung mit dem Baron de Bouyon über die Verehelichung ihrer Kinder Laure und Alphonse. Er wollte Bouyon ein Angebot machen, das dieser nicht würde ablehnen können: Übernahme von Schulden in Höhe von 40000 Livre, Mitgift bestehend aus einer Summe in gleicher Höhe sowie diversen Ländereien und einer Ölmühle bei Maganosc, eine jährliche Rente von 3000 Livre für das junge Paar. Einzige Bedingung Richis' war, dass die Ehe innerhalb von zehn Tagen eingegangen und am Hochzeitstag vollzogen würde, und dass das Paar anschließend Wohnung in Vence nahm.
Richis wusste, dass er durch ein so eiliges Vorgehen den Preis für die Verbindung seines Hauses mit dem Haus derer von Bouyon ganz unverhältnismäßig in die Höhe trieb. Bei längerem Zuwarten hätte er sie billiger bekommen. Gebettelt hätte der Baron darum, die Tochter des bürgerlichen Großhändlers durch seinen Sohn standesmäßig erhöhen zu dürfen, denn der Ruhm von Laures Schönheit würde ja noch wachsen, ebenso wie Richis' Reichtum und wie Bouyons finanzielle Misere. Aber sei's drum! Nicht der Baron war bei diesem Handel der Gegner, sondern der unbekannte Mörder war es. Ihm galt es das Geschäft zu versalzen. Eine verheiratete Frau, defloriert und womöglich schon geschwängert, passte nicht mehr in seine exklusive Galerie. Der letzte Mosaikstein wäre blind geworden, Laure hätte für den Mörder jeden Wert verloren, sein Werk wäre gescheitert. Und diese Niederlage sollte er zu spüren bekommen! Richis wollte die Hochzeit in Grasse abhalten, mit großem Pomp und in aller Öffentlichkeit. Und wenn er seinen Gegner auch nicht kannte und niemals kennen würde, so sollte es ihm doch ein Genuss sein, zu wissen, dass dieser dem Ereignis beiwohnte und mit eignen Augen zusehen musste, wie ihm das Begehrteste vor der Nase weggeschnappt wurde.
Der Plan war fein ausgedacht. Und wieder müssen wir Richis' Gespür bewundern, mit dem er der Wahrheit nahekam. Denn in der Tat hätte die Heimführung der Laure Richis durch den Sohn des Baron de Bouyon für den Grasser Mädchenmörder eine vernichtende Niederlage bedeutet. Aber noch war der Plan nicht verwirklicht. Noch hatte Richis seine Tochter nicht unter die rettende Haube gebracht. Noch hatte er sie nicht in das sichere Kloster von Saint-Honorat übergesetzt. Noch schlugen sich die drei Reiter durch das unwirtliche Gebirge des Tanneron. Manchmal waren die Wege so schlecht, dass man von den Pferden absitzen musste. Es ging alles sehr langsam. Gegen Abend hofften sie das Meer bei Napoule zu erreichen, einem kleinen Ort westlich von Cannes.
Zu dem Zeitpunkt, da Laure Richis mit ihrem Vater Grasse verließ, befand sich Grenouille am andern Ende der Stadt im Arnulfischen Atelier und mazerierte Jonquillen. Er war allein, und er war guter Dinge. Seine Zeit in Grasse neigte sich dem Ende zu. Der Tag des Triumphes stand bevor. Draußen in der Kabane lagen in einem wattegepolsterten Kästchen vierundzwanzig winzige Flakons mit der zu Tropfen geronnenen Aura von vierundzwanzig Jungfrauen – kostbarste Essenzen, die Grenouille im vergangenen Jahr durch kalte Fettenfleurage der Körper, Digerieren von Haaren und Kleidern, Lavage und Destillation gewonnen hatte. Und die fünfundzwanzigste, die köstlichste und wichtigste, wollte er sich heute holen. Er hatte schon ein Tiegelchen mit mehrfach gereinigtem Fett, ein Tuch von feinstem Leinen und einen Ballon hochrektifizierten Alkohols für diesen letzten Fischzug vorbereitet. Das Terrain war aufs genaueste sondiert. Es herrschte Neumond.
Er wusste, dass ein Einbruchsversuch in das gut gesicherte Anwesen an der Rue Droite sinnlos war. Deshalb wollte er sich schon bei Anbruch der Dämmerung, ehe noch die Tore geschlossen wurden, einschleichen und im Schutz der eigenen Geruchlosigkeit, die ihn wie eine Tarnkappe der Wahrnehmung von Mensch und Tier entzog, in irgendeinem Winkel des Hauses verbergen. Später dann, wenn alles schlief, würde er, vom Kompass seiner Nase durch die Dunkelheit geführt, zur Kammer seines Schatzes hinaufsteigen. Er würde ihn an Ort und Stelle im fettgetränkten Tuch verarbeiten. Nur Haar und Kleider würde er wie gewöhnlich mitnehmen, da diese Teile direkt in Weingeist ausgewaschen werden konnten, was sich bequemer in der Werkstatt machen ließ. Für die Endverarbeitung der Pomade und das Abdestillieren zu Konzentrat veranschlagte er eine weitere Nacht. Und wenn alles gutging – und er hatte keinen Grund, daran zu zweifeln, dass alles gutgehen würde – , dann war er übermorgen im Besitz sämtlicher Essenzen für das beste Parfum der Welt, und er würde Grasse verlassen als der bestriechende Mensch auf Erden.
Gegen Mittag war er mit seinen Jonquillen fertig. Er löschte das Feuer, deckte den Fettkessel zu und ging vor die Werkstatt, um sich abzukühlen. Der Wind kam von Westen.
Schon mit dem ersten Atemzug merkte er, dass etwas nicht stimmte. Die Atmosphäre war nicht in Ordnung. Im Duftkleid der Stadt, diesem vieltausendfädig gewebten Schleier, fehlte der goldene Faden. Während der letzten Wochen war dieser duftende Faden so kräftig geworden, dass Grenouille ihn sogar noch jenseits der Stadt bei seiner Kabane deutlich wahrgenommen hatte. Jetzt war er weg, verschwunden, durch intensivstes Schnuppern nicht mehr aufzuspüren. Grenouille war wie gelähmt vor Schreck.
Sie ist tot, dachte er. Dann, noch entsetzlicher: Es ist mir ein anderer zuvorgekommen. Ein anderer hat meine Blume abgerupft und ihren Duft an sich gebracht! Einen Schrei brachte er nicht heraus, dazu war seine Erschütterung zu groß, aber zu Tränen reichte es, die in seinen Augenwinkeln schwollen und plötzlich beiderseits der Nase herabstürzten.
Da kam Druot aus den >Quatre Dauphins< zum Mittagessen nach Hause und erzählte en passant, heute früh sei der Zweite Konsul mit zwölf Maultieren und einer Tochter nach Grenoble gezogen. Grenouille schluckte die Tränen hinunter und rannte davon, quer durch die Stadt zur Porte du Cours. Auf dem Platz vor dem Tor hielt er an und schnupperte. Und im reinen, von den Stadtgerüchen unberührten Westwind fand er tatsächlich seinen goldenen Faden wieder, dünn und schwach zwar, aber dennoch unverkennbar. Allerdings wehte der geliebte Duft nicht von Nordwesten her, wohin die Straße nach Grenoble führte, sondern eher aus Richtung Cabris – wo nicht gar aus Südwesten.
Grenouille fragte die Wache, welche Straße der Zweite Konsul genommen habe. Der Posten wies nach Norden. Nicht die Straße nach Cabris? Oder die andere, die südlich nach Auribeau und La Napoule führte? – Bestimmt nicht, sagte der Posten, er habe es mit eigenen Augen gesehen.
Grenouille rannte zurück durch die Stadt zu seiner Kabane, packte Leintuch, Pomadentopf, Spatel, Schere und eine kleine glatte Keule aus Olivenholz in seinen Reisesack und machte sich unverzüglich auf den Weg – nicht auf den Weg nach Grenoble, sondern auf den Weg, den ihm seine Nase wies: nach Süden.
Dieser Weg, der direkte Weg nach Napoule, führte an den Ausläufern des Tanneron entlang durch die Flusssenken von Frayere und Siagne. Er war bequem zu gehen. Grenouille kam rasch voran. Als zu seiner Rechten Auribeau auftauchte, oben an den Bergkuppen hängend, roch er, dass er die Flüchtenden fast eingeholt hatte. Wenig später war er auf gleicher Höhe mit ihnen. Er roch sie jetzt einzeln, er roch sogar den Dunst ihrer Pferde. Sie konnten höchstens eine halbe Meile westlich sein, irgendwo in den Wäldern des Tanneron. Sie hielten nach Süden, aufs Meer zu. Genau wie er.
Gegen fünf Uhr nachmittag erreichte Grenouille La Napoule. Er ging in das Gasthaus, aß und bat um ein billiges Lager. Er sei ein Gerbergeselle aus Nizza, sagte er, auf dem Weg nach Marseille . Er könne im Stall nächtigen, hieß es. Dort legte er sich in eine Ecke und ruhte aus. Er roch, dass die drei Reiter sich näherten. Er brauchte nur noch zu warten.
Zwei Stunden später – es dämmerte schon stark kamen sie an. Um ihr Inkognito zu wahren, hatten sie die Kleider gewechselt. Die beiden Frauen trugen nun dunkle Gewänder und Schleier, Richis einen schwarzen Rock. Er gab sich als Edelmann aus, kommend von Castellane; morgen wolle er auf die Lerinischen Inseln übersetzen, der Wirt solle für ein Boot sorgen, das bei Sonnenaufgang bereitstünde. Ob außer ihm und seinen Leuten noch andere Gäste im Haus seien? Nein, sagte der Wirt, nur ein Gerbergeselle aus Nizza, der nächtige im Stall.
Richis schickte die Frauen auf die Zimmer. Er selbst ging in den Stall, um noch etwas aus den Satteltaschen zu holen, wie er sagte. Zunächst konnte er den Gerbergesellen nicht finden, er musste sich vom Rossknecht eine Laterne geben lassen. Dann sah er ihn, in einem Winkel auf Stroh und einer alten Decke liegend, den Kopf gegen seinen Reisesack gelehnt, tief schlafend. Er sah so vollkommen unscheinbar aus, dass Richis für einen Moment den Eindruck hatte, er sei gar nicht vorhanden, sondern nur eine von den schwankenden Schatten der Laternenkerze hingeworfene Schimäre. Jedenfalls stand für Richis augenblicklich fest, dass von diesem geradezu rührend harmlosen Wesen nicht die geringste Gefahr zu befürchten war, und er entfernte sich leise, um seinen Schlaf nicht zu stören, und kehrte ins Haus zurück.
Das Abendessen nahm er gemeinsam mit seiner Tochter auf dem Zimmer ein. Er hatte sie über Zweck und Ziel der seltsamen Reise nicht aufgeklärt, und er tat es auch jetzt nicht, obwohl sie ihn darum bat. Morgen werde er sie einweihen, sagte er, und sie könne sich darauf verlassen, dass alles, was er plane und tue, zu ihrem Besten und zukünftigen Glück ausschlagen werde.
Nach dem Essen spielten sie einige Partien L'hombre, die er alle verlor, weil er statt in seine Karten immerfort in ihr Gesicht schaute, um sich an ihrer Schönheit zu ergötzen. Gegen neun Uhr brachte er sie in ihr Zimmer, das dem seinen gegenüberlag, küsste sie zur Nacht und versperrte die Türe von außen. Dann ging er selbst zu Bett.
Er war mit einem Mal sehr müde von den Anstrengungen des Tages und der vergangenen Nacht und zugleich sehr zufrieden mit sich und dem Gang der Dinge. Ohne den geringsten Gedanken der Sorge, ohne düstere Ahnungen, wie sie ihn noch bis gestern jedesmal nach dem Löschen der Lampe gequält und wach gehalten hatten, schlief er sofort ein, und schlief ohne Traum, ohne Gestöhn, ohne krampfhaftes Zucken oder nervöses Um- und Umwälzen des Körpers. Zum ersten Mal seit langer Zeit fand Richis einen tiefen, ruhigen, erquickenden Schlaf.
Um die gleiche Zeit erhob sich Grenouille von seinem Lager im Stall. Auch er war zufrieden mit sich und dem Gang der Dinge und fühlte sich äußerst erfrischt, obwohl er keine Sekunde lang geschlafen hatte. Als Richis in den Stall gekommen war, um ihn aufzusuchen, hatte er sich nur schlafend gestellt, um den Eindruck von Harmlosigkeit, den er an und für sich schon wegen seines Unauffälligkeitsgeruchs ausstrahlte, noch augenscheinlicher zu machen. Anders als Richis ihn, hatte übrigens er Richis äußerst präzise wahrgenommen, olfaktorisch nämlich, und Richis' Erleichterung angesichts seiner war ihm keineswegs entgangen.
Und so hatten sich beide bei ihrer kurzen Begegnung gegenseitig von ihrer Arglosigkeit überzeugt, zu Unrecht und zu Recht, und das war gut so, wie Grenouille fand, denn seine scheinbare und Richis' wirkliche Arglosigkeit erleichterten ihm, Grenouille, das Geschäft – eine Anschauung übrigens, die Richis im umgekehrten Fall durchaus geteilt hätte.
Mit professioneller Bedächtigkeit ging Grenouille ans Werk. Er öffnete den Reisesack, entnahm ihm Leintuch, Pomade und Spatel, breitete das Tuch über die Decke, auf der er gelegen hatte, und begann es mit der Fettpaste zu bestreichen. Das war eine Arbeit, die ihre Zeit brauchte, denn es kam darauf an, das Fett hier in dickerer, dort in dünnerer Schicht aufzutragen, je nachdem, an welche Stelle des Körpers die jeweilige Partie des Tuches zu liegen käme. Mund und Achsel, Brust, Geschlecht und Füße gaben größere Duftmengen ab als etwa Schienbeine, Rücken und Ellbogen; Handflächen größere als Handrücken; Brauen größere als Lider etc. – und mussten dementsprechend kräftiger mit Fett versehen werden. Grenouille modellierte also gleichsam ein Duftdiagramm des zu behandelnden Körpers auf das Leintuch, und dieser Teil der Arbeit war ihm eigentlich der befriedigendste, denn es handelte sich um eine künstlerische Technik, die Sinne, Phantasie und Hände gleichermaßen beschäftigte und obendrein den Genuss des zu erwartenden Endergebnisses auf ideelle Weise vorwegnahm.
Als er das ganze Töpfchen Pomade aufgebraucht hatte, tupfte er noch da und dort, nahm an einer Stelle des Tuches Fett ab, fügte an einer anderen zu, retuschierte, überprüfte noch einmal die modellierte Fettlandschaft – mit der Nase übrigens, nicht mit den Augen, denn das ganze Geschäft spielte sich in vollkommener Finsternis ab, was vielleicht ein weiterer Grund für Grenouilles ausgeglichen freudige Stimmung war. In dieser Neumondnacht lenkte ihn nichts ab. Die Welt war nichts als nur Geruch und ein wenig Brandungsgeräusch vom Meer her. Er war in seinem Element. Dann schlug er das Tuch zusammen wie eine Tapete, so dass die befetteten Flächen aufeinanderlagen. Es war ihm dies eine schmerzliche Handlung, denn er wusste wohl, dass sich selbst bei aller Vorsicht Teile der ausgeformten Konturen dadurch abplatteten und verschoben. Aber es gab keine andere Möglichkeit, das Tuch zu transportieren. Nachdem er es soweit gefaltet hatte, dass er es ohne allzugroße Behinderung über den Unterarm gelegt tragen konnte, steckte er Spatel, Schere und die kleine Olivenholzkeule zu sich und schlich hinaus ins Freie.
Der Himmel war bedeckt. Im Haus brannte kein Licht mehr. Der einzige Funken in dieser stockfinsteren Nacht zuckte im Osten auf dem Leuchtturm des Forts auf der Ile Sainte-Marguerite, über eine Meile entfernt, ein winziger heller Nadelstich in rabenschwarzem Tuch. Aus der Bucht kam ein leichter fischiger Wind. Die Hunde schliefen.
Grenouille ging zur äußeren Tennenluke, an die eine Leiter gelehnt stand. Er hob die Leiter ab und balancierte sie aufrecht, drei Sprossen unter den freien rechten Arm geklemmt, den Überstand gegen die rechte Schulter gepresst, über den Hof bis unter ihr Fenster. Das Fenster stand halb offen. Als er die Leiter hinaufstieg, bequem wie auf einer Treppe, beglückwünschte er sich zu dem Umstand, den Duft des Mädchens hier in Napoule ernten zu dürfen. In Grasse, bei vergitterten Fenstern und streng bewachtem Haus, wäre alles sehr viel schwieriger gewesen. Hier schlief sie sogar allein. Er brauchte nicht einmal die Zofe auszuschalten.
Er drückte den Fensterflügel auf, schlüpfte in die Kammer und legte das Laken ab. Dann wandte er sich dem Bett zu. Der Duft ihres Haares dominierte, denn sie lag auf dem Bauch, und sie hatte das Gesicht, vom Armwinkel umrahmt, ins Kissen gedrückt, so dass sich ihr Hinterkopf in geradezu idealer Weise dem Keulenschlag präsentierte.
Das Geräusch des Schlages war dumpf und knirschend. Er hasste es. Er hasste es allein deshalb, weil es ein Geräusch war, ein Geräusch in seinem ansonsten lautlosen Geschäft. Nur mit zusammengebissenen Zähnen konnte er dieses ekelhafte Geräusch ertragen, und nachdem es vorüber war, stand er noch eine Weile lang steif und verbissen da, die Hand um die Keule gekrampft, als fürchte er, das Geräusch könne zurückkehren als widerhallendes Echo von irgendwoher. Es kehrte aber nicht zurück, sondern die Stille kehrte zurück in die Kammer, eine vermehrte Stille sogar, da nun nicht einmal mehr der schlürfende Atem des Mädchens ging. Und alsbald löste sich Grenouilles verspannte Haltung (die man vielleicht auch als eine Ehrfurchtshaltung oder eine Art verkrampfter Schweigeminute hätte deuten können), und sein Körper sank geschmeidig in sich zusammen.
Er steckte die Keule weg und war nun nur noch von emsiger Betriebsamkeit erfüllt. Als erstes faltete er das Beduftungstuch auseinander, breitete es locker mit der Rückseite über Tisch und Stühle und achtete darauf, dass die Fettseite unberührt blieb. Dann schlug er die Bettdecke zurück. Der herrliche Duft des Mädchens, der plötzlich warm und massiv aufquoll, berührte ihn nicht. Er kannte ihn ja, und genießen, genießen bis zum Rausch, würde er ihn später, wenn er ihn erst wirklich besaß. Jetzt ging es darum, möglichst viel davon einzufangen, möglichst wenig verströmen zu lassen, jetzt waren Konzentration und Eile geboten.
Mit raschen Scherenschnitten schlitzte er das Nachtgewand auf, zog es ihr aus, ergriff das befettete Laken und warf es über ihren nackten Körper. Dann hob er sie hoch, strich ihr das überhängende Tuch unter, rollte sie ein wie ein Bäcker den Strudel, falzte die Enden, umhüllte sie von den Zehen bis an die Stirn. Nur ihr Haar schaute noch aus dem Mumienverband hervor. Er schnitt es dicht über der Kopfhaut ab, packte es in ihr Nachthemd, das er zu einem Bündel verknotete. Zuletzt klappte er ein freigelassenes Stück Tuch über den geschorenen Schädel, strich das überlappende Ende glatt, tupfte es mit zartem Fingerdruck fest. Er überprüfte das ganze Paket. Kein Schlitz, kein Löchlein, kein aufgekniffenes Fältlein klaffte mehr, an dem der Duft des Mädchens hätte entweichen können. Sie war perfektverpackt. Es blieb nichts mehr zu tun, als zu warten, sechs Stunden lang, bis der Morgen graute.
Er nahm den kleinen Sessel, auf dem ihre Kleider lagen, trug ihn ans Bett und setzte sich. In dem weiten schwarzen Gewand hing noch der zarte Hauch ihres Duftes, vermischt mit dem Geruch von Anisplätzchen, die sie als Reiseproviant in die Tasche gesteckt hatte. Er legte seine Füße auf den Bettrand, in die Nähe ihrer Füße, deckte sich mit ihrem Kleid zu und aß die Anisplätzchen. Er war müde. Aber er wollte nicht schlafen, denn es gehörte sich nicht, dass man während der Arbeit schlief, auch wenn die Arbeit nur aus Warten bestand. Er erinnerte sich an die Nächte, die er in der Werkstatt Baldinis beim Destillieren verbracht hatte: an den rußgeschwärzten Alambic, an das flackernde Feuer, an das leise spuckende Geräusch, mit dem das Destillat aus dem Kühlrohr in die Florentinerflasche tröpfelte. Von Zeit zu Zeit hatte man nach dem Feuer sehen müssen, hatte Destillierwasser nachfüllen, die Florentinerflasche wechseln, das erschöpfte Destilliergut ersetzen müssen. Und dennoch war ihm immer gewesen, als wache man nicht, um diese gelegentlich anfallenden Tätigkeiten zu verrichten, sondern als habe die Wache ihren eigenen Sinn. Selbst hier in dieser Kammer, wo sich der Prozess der Enfleurage ganz von allein vollzog, ja, wo sogar ein unzeitiges Prüfen, Wenden und Betun des duftenden Pakets nur störend hätte wirken können selbst hier, so schien Grenouille, war seine wachende Gegenwart wichtig. Der Schlaf hätte den Geist des Gelingens gefährdet.
Es fiel ihm im übrigen nicht schwer, wachzubleiben und zu warten, trotz seiner Müdigkeit. Dieses Warten liebte er. Auch bei den vierundzwanzig anderen Mädchen hatte er es geliebt, denn es war ja kein dumpfes Dahinwarten und auch kein sehnsüchtiges Herbeiwarten, sondern ein begleitendes, sinnvolles, gewissermaßen ein tätiges Warten. Es tat sich etwas während dieses Wartens. Das Wesentliche tat sich. Und wenn er es auch nicht selbst tat, so tat es sich doch durch ihn. Er hatte sein Bestes gegeben. Er hatte all seine Kunstfertigkeit aufgebracht. Kein Fehler war ihm unterlaufen. Das Werk war einzigartig. Es würde von Erfolg gekrönt sein… Nur noch ein paar Stunden warten musste er. Es befriedigte ihn zutiefst, dieses Warten. Er hatte sich in seinem Leben nie so wohl gefühlt, so ruhig, so ausgeglichen, so eins und einig mit sich selbst – auch damals nicht in seinem Berg – wie in diesen Stunden der handwerklichen Pause, da er in tiefster Nacht bei seinen Opfern saß und wachend wartete. Es waren die einzigen Momente, da sich in seinem düsteren Hirn fast heitere Gedanken bildeten.
Sonderbarerweise gingen diese Gedanken nicht in die Zukunft. Er dachte nicht an den Duft, den er in ein paar Stunden ernten würde, nicht an das Parfum aus fünfundzwanzig Mädchenauren, nicht an künftige Pläne, Glück und Erfolg. Nein, er gedachte seiner Vergangenheit. Er erinnerte sich an die Stationen seines Lebens vom Hause der Madame Gaillard und dem feuchtwarmen Holzstoß davor bis zu seiner heutigen Reise in das kleine fischig riechende Dorf Napoule. Er gedachte des Gerbers Grimal, Giuseppe Baldinis, des Marquis de la Taillade-Espinasse. Er gedachte der Stadt Paris, ihres großen tausendfach schillernden üblen Brodems, er gedachte des rothaarigen Mädchens in der Rue des Marais, des freien Landes, des dünnen Winds, der Wälder. Er gedachte auch des Bergs in der Auvergne – er umging diese Erinnerung keineswegs – , seiner Höhle, der menschenleeren Luft. Er gedachte auch seiner Träume. Und er gedachte all dieser Dinge mit großem Wohlgefallen. Ja, es schien ihm, wenn er so zurückdachte, dass er ein vom Glück besonders begünstigter Mensch sei und dass sein Schicksal ihn auf zwar verschlungenen, doch letzten Endes richtigen Wegen geführt habe – wie wäre es sonst möglich gewesen, dass er hierhergefunden hätte, in diese dunkle Kammer, ans Ziel seiner Wünsche? Er war, wenn er sich's recht überlegte, ein wirklich begnadetes Individuum!
Rührung stieg in ihm auf, Demut und Dankbarkeit. »Ich danke dir«, sagte er leise, »ich danke dir, Jean-Baptiste Grenouille, dass du so bist, wie du bist!« So ergriffen war er von sich selbst.
Dann schloss er die Lider – nicht, um zu schlafen, sondern um sich ganz dem Frieden dieser Heiligen Nacht hinzugeben. Der Friede erfüllte sein Herz. Aber es schien ihm, als herrsche er auch ringsum. Er roch den friedlichen Schlaf der Zofe im Nebenzimmer, den tiefbefriedigten Schlaf des Antoine Richis jenseits des Ganges, er roch den friedlichen Schlummer des Wirts und der Knechte, der Hunde, der Tiere im Stall, des ganzen Orts und des Meeres. Der Wind hatte sich gelegt. Alles war still. Nichts störte den Frieden.
Einmal bog er seinen Fuß zur Seite und berührte ganz sacht den Fuß von Laure. Nicht ihren Fuß eigentlich, sondern gerade eben das Tuch, das ihn umhüllte, mit der dünnen Schicht Fett darunter, die sich mit ihrem Duft tränkte, mit ihrem herrlichen Duft, mit seinem.
Als die Vögel zu schreien begannen – also noch geraume Zeit vor Anbruch der Morgendämmerung –, erhob er sich und vollendete seine Arbeit. Er schlug das Tuch auseinander und zog es wie ein Pflaster von der Toten ab. Das Fett schälte sich gut von der Haut. Nur an den verwinkelten Stellen blieben einige Reste hängen, die er mit dem Spatel abstreichen musste. Die übrigen Pomadeschlieren wischte er mit Laures eigenem Unterhemd auf, mit dem er zuletzt auch noch den Körper von Kopf bis Fuß abrubbelte, so gründlich, dass sich selbst noch das Porenfett in Krümeln von der Haut rieb, und mit ihm die letzten Fusselchen und Fitzelchen ihres Duftes. Jetzt erst war sie für ihn wirklich tot, abgewelkt, blass und schlaff wie Blütenabfall.
Er warf das Unterhemd ins große enfleurierte Tuch, in dem allein sie weiterlebte, legte das Nachtgewand mit ihren Haaren dazu und rollte alles zu einem kleinen festen Paket zusammen, das er sich unter den Arm klemmte. Er nahm sich nicht die Mühe, die Leiche auf dem Bett zuzudecken. Und obwohl die Nachtschwärze sich schon ins Blaugraue der Morgendämmerung verwandelt hatte und die Dinge im Zimmer Kontur anzunehmen begannen, warf er keinen Blick mehr auf ihr Bett, um sie wenigstens ein einziges Mal in seinem Leben mit Augen zu sehen. Ihre Gestalt interessierte ihn nicht. Sie war für ihn als Körper gar nicht mehr vorhanden, nur noch als körperloser Duft. Und diesen trug er unterm Arm und nahm ihn mit sich.
Leise schwang er sich auf die Brüstung des Fensters und stieg die Leiter hinab. Draußen war wieder Wind aufgekommen, und der Himmel klarte auf und goss ein kaltes dunkelblaues Licht über das Land.
Eine halbe Stunde später schlug die Magd in der Küche Feuer. Als sie vor das Haus trat, um Holz zu holen, sah sie die angelehnte Leiter, war aber noch zu verschlafen, sich irgendeinen Reim darauf zu machen. Kurz nach sechs ging die Sonne auf. Riesig und goldrot hob sie sich zwischen den beiden Lerinischen Inseln aus dem Meer. Keine Wolke war am Himmel. Ein strahlender Frühlingstag begann.
Richis, dessen Zimmer nach Westen lag, erwachte um sieben. Er hatte zum ersten Mal seit Monaten wirklich prächtig geschlafen und blieb entgegen seiner Gewohnheit noch eine Viertelstunde lang liegen, räkelte sich und seufzte vor Vergnügen und lauschte dem angenehmen Rumoren, das aus der Küche heraufdrang. Als er dann aufstand und das Fenster weit öffnete und draußen das schöne Wetter gewahrte und die frische würzige Morgenluft einsog und die Brandung des Meeres hörte, da kannte seine gute Laune keine Grenzen mehr, und er spitzte die Lippen und pfiff eine muntere Melodie.
Während er sich ankleidete, pfiff er weiter und pfiff immer noch, als er sein Zimmer verließ und mit beschwingtem Schritt über den Gang an die Kammertüre seiner Tochter trat. Er pochte. Und pochte wieder, ganz leise, um sie nicht aufzuschrecken. Es kam keine Antwort. Er lächelte. Er verstand gut, dass sie noch schlief.
Vorsichtig schob er den Schlüssel ins Loch und drehte den Riegel, leise, ganz leise, bedacht, sie nicht zu wecken, begierig fast, sie noch im Schlaf vorzufinden, aus dem er sie wachküssen wollte, noch einmal, zum letzten Mal, ehe er sie einem ändern Mann geben musste.
Die Türe sprang auf, er trat ein, und das Sonnenlicht fiel ihm voll ins Gesicht. Die Kammer war wie von gleißendem Silber gefüllt, alles strahlte, und er musste vor Schmerz für einen Moment die Augen schließen.
Als er sie wieder öffnete, sah er Laure auf dem Bett liegen, nackt und tot und kahlrasiert und blendend weiß. Es war wie in dem Alptraum, den er vorvergangene Nacht in Grasse gehabt und wieder vergessen hatte, und dessen Inhalt ihm jetzt wie ein Blitzschlag ins Gedächtnisuhr. Alles war mit einem Mal haargenau wie in jenem Traum, nur sehr viel heller.
Die Nachricht vom Mord an Laure Richis verbreitete sich so schnell im Grasser Land, als hätte es geheißen »Der König ist tot!« oder »Es gibt Krieg!« oder »Die Piraten sind an der Küste gelandet!«, und ähnlichen, schlimmeren Schrecken löste sie aus. Mit einem Mal war die sorgfältig vergessene Angst wieder da, virulent wie im vergangenen Herbst, mit all ihren Begleiterscheinungen: der Panik, der Empörung, der Wut, den hysterischen Verdächtigungen, der Verzweiflung. Die Menschen blieben nachts in den Häusern, sperrten ihre Töchter ein, verbarrikadierten sich, misstrauten einander und schliefen nicht mehr. Jedermann dachte, es werde nun weitergehen wie damals, jede Woche ein Mord. Die Zeit schien um ein halbes Jahr zurückgesetzt.
Lähmender noch als vor einem halben Jahr war die Angst, denn die plötzliche Rückkunft der längst überwunden geglaubten Gefahr verbreitete ein Gefühl von Hilflosigkeit unter den Menschen. Wenn selbst des Bischofs Fluch versagte! Wenn Antoine Richis, der große Richis, der reichste Bürger der Stadt, der Zweite Konsul, ein mächtiger, besonnener Mann, dem alle Hilfsmittel zu Gebote standen, sein eigenes Kind nicht schützen konnte! Wenn des Mörders Hand nicht einmal vor der heiligen Schönheit Laures zurückschreckte – denn in der Tat wie eine Heilige erschien sie allen, die sie gekannt hatten, vor allem jetzt, hinterher, als sie tot war. Was gab es da noch für Hoffnung, dem Mörder zu entgehen? Er war grausamer als die Pest, denn vor der Pest konnte man fliehen, vor diesem Mörder aber nicht, wie das Beispiel Richis' bewies. Er besaß offenbar überirdische Fähigkeiten. Er stand ganz gewiss mit dem Teufel im Bund, wenn er nicht selbst der Teufel war. Und so wussten sich viele, vor allem die einfältigeren Gemüter, keinen anderen Rat, als in die Kirche zu gehen und zu beten, ein jeder Berufsstand zu seinem Patron, die Schlosser zum Heiligen Aloysius, die Weber zum Heiligen Krispinius, die Gärtner zum Heiligen Antonius, die Parfumeure zum Heiligen Josephus. Und sie nahmen ihre Frauen und Töchter mit, beteten gemeinsam, aßen und schliefen in der Kirche, verließen sie selbst am Tage nicht mehr, überzeugt, im Schutz der verzweifelten Gemeinschaft und im Angesicht der Madonna die einzig mögliche Sicherheit vor dem Ungeheuer zu finden, sofern es überhaupt noch Sicherheit gab.
Andere, gewitztere Köpfe, schlossen sich, da die Kirche bereits schon einmal versagt hatte, zu okkulten Gruppen zusammen, engagierten für viel Geld eine approbierte Hexe aus Gourdon, verkrochen sich in eine der vielen Kalksteingrotten des Grasser Untergrunds und veranstalteten Satansmessen, um sich den Leibhaftigen geneigt zu machen. Wieder andere, vornehmlich Mitglieder des gehobenen Bürgertums und des gebildeten Adels, setzten auf modernste wissenschaftliche Methoden, magnetisierten ihre Häuser, hypnotisierten ihre Töchter, bildeten fluidale Schweigekreise in ihren Salons und versuchten, mit gemeinschaftlich produzierten Gedankenemissionen den Geist des Mörders telepathisch zu bannen. Die Korporationen organisierten eine Bußprozession von Grasse nach Napoule und zurück. Die Mönche aus den fünf Klöstern der Stadt richteten einen permanenten Bittgottesdienst ein, mit Dauergesängen, so dass bald an dieser, bald an jener Ecke der Stadt ein ununterbrochenes Lamento zu hören war, bei Tag und bei Nacht. Gearbeitet wurde kaum noch.
So harrte das Volk von Grasse in fieberhafter Untätigkeit, beinahe mit Ungeduld, des nächsten Mordanschlags. Dass er bevorstand, bezweifelte niemand. Und insgeheim sehnte jeder die Schreckensnachricht herbei, in der einzigen Hoffnung, dass sie nicht ihn selbst, sondern einen anderen beträfe.
Die Obrigkeit allerdings in Stadt, Land und Provinz ließ sich diesmal nicht von der hysterischen Stimmung des Volkes anstecken. Zum ersten Mal, seitdem der Mädchenmörder aufgetreten war, kam es zu planvoller und ersprießlicher Zusammenarbeit zwischen den Vogteien von Grasse, Draguignan und Toulon, zwischen Magistraten, Polizei, Intendant, Parlament und Marine.
Der Grund für dieses solidarische Vorgehen der Mächtigen war einerseits die Befürchtung eines allgemeinen Volksaufstandes, andrerseits die Tatsache, dass man seit dem Mord an Laure Richis Anhaltspunkte hatte, die eine systematische Verfolgung des Mörders überhaupt erst ermöglichten. Der Mörder war gesehen worden. Offensichtlich handelte es sich um jenen ominösen Gerbergesellen, der sich in der Mordnacht im Stall des Gasthofs von Napoule aufgehalten hatte und am nächsten Morgen spurlos verschwunden war. Nach übereinstimmenden Angaben des Wirts, des Stallknechts und Richis' war er ein unscheinbarer, kleingewachsener Mann mit bräunlichem Rock und grobleinenem Reisesack. Obwohl ansonsten die Erinnerung der drei Zeugen seltsam vage blieb, sie etwa Gesicht, Haarfarbe oder Sprache des Mannes nicht hätten beschreiben können, wusste der Wirt doch noch zu sagen, dass ihm, wenn er sich nicht täusche, an Haltung und Gang des Fremden etwas Linkisches, Hinkendes aufgefallen sei, wie von einer Beinverletzung oder einem verkrüppelten Fuß.
Mit diesen Indizien versehen nahmen schon gegen Mittag des Mordtags zwei Reiterabteilungen der Marechaussee die Verfolgung des Mörders in Richtung Marseille auf – eine an der Küste entlang, die andere über den Weg im Landesinnern. Die nähere Umgebung von Napoule ließ man von Freiwilligen durchkämmen. Zwei Kommissionäre des Grasser Landgerichts reisten nach Nizza, um dort Nachforschungen über den Gerbergesellen anzustellen. In den Häfen von Frejus, Cannes und Antibes wurden alle auslaufenden Schiffe kontrolliert, an der Grenze nach Savoyen jeder Weg gesperrt, Reisende hatten sich auszuweisen. Eine steckbriefliche Beschreibung des Täters erschien für die, die lesen konnten, an allen Stadttoren von Grasse, Vence, Gourdon und an den Kirchtüren der Dörfer. Dreimal täglich wurde sie ausgeschrieen. Die Sache mit dem vermuteten Klumpfuß bestärkte freilich die Ansicht, es handle sich bei dem Täter um den Teufel selbst, und schürte deshalb eher die Panik in der Bevölkerung, als dass man verwertbare Hinweise erhielt.
Erst nachdem der Grasser Gerichtspräsident im Auftrag Richis' eine Belohnung von nicht weniger als zweihundert Livres für Hinweise zur Ergreifung des Täters ausgeschrieben hatte, führten Denunziationen zur Festnahme einiger Gerbergesellen in Grasse, Opio und Gourdon, von denen einer tatsächlich das Unglück hatte, zu hinken. Diesen gedachte man schon trotz seinem durch mehrere Zeugen gefestigten Alibi der Folter zu unterziehen, als sich, am zehnten Tag nach geschehenem Mord, ein Mann der Stadtwache bei der Magistratur meldete und den Richtern folgende Aussage machte: Am Mittag jenes Tages sei er, Gabriel Tagliasco, Hauptmann der Wache, an der Porte du Cours wie gewöhnlich Dienst tuend, von einem Individuum, auf welches, wie er jetzt wisse, die steckbriefliche Beschreibung ziemlich passe, angesprochen und wiederholt und in dringlicher Weise nach dem Weg gefragt worden, auf welchem der Zweite Konsul mit seiner Karawane am Morgen die Stadt verlassen habe. Dem Vorfall selbst habe er weder damals noch später irgendeine Bedeutung beigemessen, und auch an das Individuum hätte er sich aus eigener Kraft mit Bestimmtheit nicht mehr erinnern können – es sei so durchaus unbemerkenswert gewesen – , wenn er es nicht gestern zufällig wieder gesehen hätte, und zwar hier in Grasse, in der Rue de la Louve, vor dem Atelier des Maitre Druot und der Madame Arnulfi, bei welcher Gelegenheit ihm auch aufgefallen sei, dass der Mensch, in die Werkstatt zurückkehrend, deutlich gehinkt habe. Eine Stunde später wurde Grenouille verhaftet. Der Wirt und sein Stallknecht aus Napoule, die sich wegen der Identifizierung der anderen Verdächtigen in Grasse aufhielten, erkannten ihn sofort als den Gerbergesellen wieder, der bei ihnen übernachtet hatte: Dieser sei's und kein anderer, dieser müsse der gesuchte Mörder sein.
Man untersuchte die Werkstatt, man untersuchte die Kabane im Olivengarten hinter dem Franziskanerkloster. In einer Ecke, kaum versteckt, lagen das zerschnittene Nachtgewand, das Unterhemd und die roten Haare der Laure Richis. Und als man den Boden aufgrub, kamen nach und nach die Kleider und Haare der anderen vierundzwanzig Mädchen zum Vorschein. Die Holzkeule fand sich, mit der die Opfer erschlagen worden waren, und der leinene Reisesack. Die Indizien waren überwältigend. Man ließ die Kirchenglocken läuten. Der Gerichtspräsident gab durch Ausruf und Anschlag bekannt, dass der berüchtigte Mädchenmörder, nach dem man fast ein Jahr lang gefahndet habe, endlich gefasst und in festem Gewahrsam sei.
Zunächst glaubten die Leute nicht an die Verlautbarung. Sie hielten sie für eine Finte, mit der die Behörden ihre eigene Unfähigkeit kaschieren und die gefährlich gereizte Stimmung des Volkes beruhigen wollten. Zu gut erinnerte man sich noch der Zeit, da es geheißen hatte, der Mörder sei nach Grenoble abgezogen. Zu fest hatte sich diesmal die Angst in die Seelen der Menschen gefressen.
Erst als am folgenden Tag auf dem Kirchplatz vor der Prévoté die Beweisstücke öffentlich ausgestellt wurden – es war ein schauerliches Bild, die fünfundzwanzig Gewänder mit den fünfundzwanzig Haarbüscheln, wie Vogelscheuchen an Stangen aufgezogen, an der Stirnseite des Platzes, der Kathedrale gegenüber, aufgereiht zu sehen – da wandelte sich die öffentliche Meinung.
Zu vielen Hunderten defilierten die Menschen an der makabren Galerie vorüber. Angehörige der Opfer, die die Kleider wiedererkannten, brachen schreiend zusammen. Die übrige Menge, teils aus Sensationslust, teils um völlig überzeugt zu sein, begehrte den Mörder zu sehen. Die Rufe nach ihm wurden bald so laut, die Unruhe auf dem kleinen, menschenwogenden Platz so bedrohlich, dass der Präsident sich entschloss, Grenouille aus seiner Zelle heraufbringen zu lassen und ihn an einem Fenster des ersten Stocks der Prévoté zu präsentieren.
Als Grenouille ans Fenster trat, verstummte das Gebrüll. Es war mit einem Mal so vollständig still wie an einem heißen Sommertag zur Mittagsstunde, wenn alles draußen auf den Feldern ist oder sich in den Schatten der Häuser verkriecht. Kein Tritt, kein Räuspern, kein Atmen war mehr zu hören. Die Menge war nur noch Auge und offener Mund, minutenlang. Kein Mensch konnte es fassen, dass der windige, kleine, geduckte Mann dort oben am Fenster, dieses Würstchen, dieses armselige Häuflein, dieses Nichts, über zwei Dutzend Morde begangen haben sollte. Er sah einem Mörder einfach nicht gleich. Niemand hätte zwar sagen können, wie er sich den Mörder, diesen Teufel, eigentlich vorgestellt hatte, aber alle waren sich einig: so nicht! Und dennoch – obwohl der Mörder den Vorstellungen der Leute so gar nicht entsprach und seine Präsentation daher, wie man würde meinen können, wenig überzeugend hätte wirken sollen, ging paradoxerweise allein von der Leibhaftigkeit dieses Menschen am Fenster und von der Tatsache, dass eben nur er und kein anderer als Mörder präsentiert wurde, eine überzeugende Wirkung aus. Sie dachten alle: Das kann doch nicht wahr sein! – und wussten im selben Moment, dass es wahr sein müsse.
Freilich, erst als die Wachen das Männlein wieder zurück ins Dunkel des Zimmers gezogen hatten, erst als es also nicht mehr gegenwärtig und sichtbar, sondern nur noch, wenn auch für kürzeste Zeit, als Erinnerung, fast möchte man sagen als Begriff in den Hirnen der Menschen existierte, als Begriff eines abscheulichen Mörders – da erst wich die Verblüffung der Menge und schaffte Raum für eine angemessene Reaktion: Die Münder klappten zu, die tausend Augen belebten sich wieder. Und dann erscholl es in einem einzigen donnernden Wut- und Racheschrei: »Wir wollen ihn haben!« Und sie schickten sich an, die Prévoté zu stürmen, um ihn mit eigenen Händen zu erwürgen, zu zerreißen und zu zerstückeln. Die Wachen hatten alle Mühe, das Tor zu verrammeln und den Mob zurückzudrängen. Grenouille wurde schleunigst in sein Verlies gebracht. Der Präsident trat ans Fenster und versprach ein schnelles und exemplarisch strenges Verfahren. Trotzdem dauerte es noch Stunden, ehe sich die Menge verlaufen, noch Tage, eh sich die Stadt leidlich beruhigt hatte.
In der Tat ging der Prozess gegen Grenouille äußerst zügig vonstatten, da nicht nur die Beweismittel erdrückend waren, sondern der Angeklagte selbst bei den Vernehmungen ohne Umschweife die ihm zur Last gelegten Morde gestand.
Allein nach seinen Motiven befragt, wusste er keine befriedigende Antwort zu geben. Er wiederholte immer nur, er habe die Mädchen gebraucht und sie deshalb erschlagen. Wozu er sie gebraucht habe und was das überhaupt bedeuten sollte, »er habe sie gebraucht« – dazu schwieg er. Man überantwortete ihn daraufhin der Folter, hängte ihn stundenlang an den Füßen auf, pumpte ihm sieben Finten Wasser ein, setzte Fußzwingen – ohne den geringsten Erfolg. Der Mensch schien gegen körperliche Schmerzen unempfindlich, gab keinen Laut von sich und sagte, wenn er abermals befragt wurde, nichts als: »Ich habe sie gebraucht. « Die Richter hielten ihn für geisteskrank. Sie setzten die Folter ab und beschlossen, das Verfahren ohne weitere Vernehmungen zu Ende zu bringen.
Die einzige Verzögerung, die sich noch ergab, war ein juristisches Geplänkel mit dem Magistrat von Draguignan, in dessen Vogtei La Napoule gelegen war, und dem Parlament in Aix, welche beide den Prozess an sich bringen wollten. Aber die Grasser Richter ließen sich die Sache nicht mehr entwinden. Sie waren es gewesen, die den Täter gefasst hatten, in ihrem Zuständigkeitsbereich war die überwiegende Anzahl der Morde begangen worden, und ihnen drohte der geballte Volkszorn, wenn sie den Mörder einem anderen Gericht überließen. Sein Blut musste in Grasse fließen.
Am 15. April 1766 wurde das Urteil gefällt und dem Angeklagten in seiner Zelle verlesen: »Der Parfumeurgeselle Jean-Baptiste Grenouille«, so hieß es da, »soll binnen achtundvierzig Stunden auf den Cours vor die Tore der Stadt geführt, dort, das Gesicht zum Himmel, auf ein Holzkreuz gebunden werden, bei lebendigem Leib zwölf Schläge mit einer eisernen Stange erhalten, die ihm die Gelenke der Arme, Beine, Hüften und Schultern zerschmettern, und danach auf dem Kreuze angeflochten aufgestellt werden bis zu seinem Tode.« Die übliche Gnadenpraxis, den Delinquenten nach dem Zerschmettern mittels eines Fadens zu erwürgen, wurde dem Scharfrichter ausdrücklich untersagt, auch wenn der Todeskampf sich über Tage hinziehen sollte. Die Leiche sei nächtens auf dem Schindanger zu vergraben, der Ort nicht zu kennzeichnen.
Grenouille nahm den Spruch ohne Regung entgegen. Der Gerichtsdiener fragte ihn nach seinem letzten Wunsch. »Nichts«, sagte Grenouille; er habe alles, was er brauche.
Ein Priester ging in die Zelle, um ihm die Beichte abzunehmen, kam aber schon nach einer Viertelstunde unverrichteter Dinge wieder heraus. Der Verurteilte habe ihn bei der Erwähnung des Namens Gottes so absolut verständnislos angeschaut, als höre er diesen Namen soeben zum ersten Mal, sich dann auf seiner Pritsche ausgestreckt, um sofort in tiefsten Schlaf zu versinken. Jedes weitere Wort sei sinnlos gewesen.
In den folgenden zwei Tagen kamen viele Menschen, um den berühmten Mörder aus der Nähe zu sehen. Die Wärter ließen sie durch die Klappe an der Zellentüre einen Blick tun und verlangten sechs Sol pro Blick. Ein Kupferstecher, der eine Skizze anfertigen wollte, musste zwei Franc bezahlen. Das Motiv war aber eher enttäuschend. Der Gefangene, an Fuß- und Handgelenken angekettet, lag die ganze Zeit auf der Pritsche und schlief. Das Gesicht hatte er zur Wand gekehrt, und er reagierte weder auf Klopfzeichen noch auf Zurufe. Der Zutritt zur Zelle war Besuchern strikt verwehrt, und die Wärter wagten es trotz verlockender Angebote nicht, sich über dies Verbot hinwegzusetzen. Man fürchtete, der Gefangene könne von einem Angehörigen seiner Opfer zur Unzeit ermordet werden. Aus dem gleichen Grund durfte ihm auch kein Essen zugeschoben werden. Es hätte vergiftet sein können. Während der ganzen Gefangenschaft erhielt Grenouille sein Essen aus der Gesindeküche des bischöflichen Palastes, welches der Gefängnisoberaufseher vorzukosten hatte. Die letzten beiden Tage aß er freilich gar nichts. Er lag und schlief. Gelegentlich klirrten seine Ketten, und wenn der Wärter an die Türklappe eilte, konnte er ihn einen Schluck aus der Wasserflasche nehmen, sich wieder aufs Lager werfen und weiterschlafen sehen. Es schien, als sei dieser Mensch seines Lebens derart müde, dass er nicht einmal mehr die letzten Stunden davon in wachem Zustand miterleben wollte.
Unterdessen wurde der Cours für die Hinrichtung vorbereitet. Zimmerleute bauten ein Schafott, drei mal drei Meter groß und zwei Meter hoch, mit Geländer und einer soliden Treppe – ein so prächtiges hatte man in Grasse noch nie gehabt. Dazu eine Holztribüne für die Honoratioren und einen Zaun gegen das gemeine Volk, das in gewisser Distanz gehalten werden sollte. Die Fensterplätze in den Häusern links und rechts der Porte du Cours und im Gebäude der Wache waren längst zu exorbitanten Preisen vermietet. Sogar in der etwas seitwärts gelegenen Charité hatte der Gehilfe des Scharfrichters den Kranken ihre Zimmer abgehandelt und mit hohem Gewinn an Schaulustige weitervermietet. Die Limonadenverkäufer mischten kannenweise Lakritzenwasser auf Vorrat, der Kupferstecher druckte seine im Gefängnis genommene und aus der Phantasie noch ein wenig rasanter gestaltete Skizze des Mörders in vielen hundert Exemplaren, fliegende Händler strömten zu Dutzenden in die Stadt, die Bäcker buken Gedenkplätzchen.
Der Scharfrichter, Monsieur Papon, der schon seit Jahren keinen Delinquenten mehr zu zerbrechen gehabt hatte, ließ sich eine schwere vierkantige Eisenstange schmieden und ging damit in den Schlachthof, um an Tierkadavern seine Hiebe zu üben. Zwölf Schläge durfte er nur führen, und mit diesen mussten die zwölf Gelenke sicher zerbrochen werden, ohne dass wertvolle Teile des Körpers, wie etwa Brust oder Kopf, beschädigt würden – ein diffiziles Geschäft, das größtes Fingerspitzengefühl erforderte.
Die Bürger bereiteten sich auf das Ereignis wie auf einen hohen Festtag vor. Dass nicht gearbeitet werden würde, verstand sich von selbst. Die Frauen bügelten ihr Feiertagshabit, die Männer staubten ihre Röcke aus und ließen sich die Stiefel glänzend putzen. Wer eine Militärcharge oder ein Amt besaß, wer Gildenmeister war, Advokat, Notar, Direktor einer Bruderschaft oder sonst etwas Bedeutendes, der legte Uniform und offizielle Tracht an, mit Orden, Schärpen, Ketten und mit kreideweiß gepuderter Perücke. Die Gläubigen gedachten sich post festum zum Gottesdienst zu versammeln, die Satansjünger zu einer deftigen luziferischen Dankmesse, die gebildete Noblesse zur magnetischen Seance in den Hotels der Cabris', Villeneuves und Fontmichels. In den Küchen wurde schon gebacken und gebraten, aus den Kellern Wein geholt und vom Markt der Blumenschmuck, in der Kathedrale probten Organist und Kirchenchor.
Im Hause Richis an der Rue Drohe blieb es still. Richis hatte sich jede Zurüstung für den »Tag der Befreiung«, als welchen das Volk den Hinrichtungstag des Mörders bezeichnete, verbeten. Ihm war alles ein Ekel. Die plötzlich wiederaufbrechende Furcht der Menschen war ihm ein Ekel gewesen, ihre fiebrige Vorfreude war ihm ein Ekel. Sie selbst, die Menschen, alle miteinander, waren ihm ein Ekel. Er hatte sich nicht an der Präsentation des Täters und seiner Opfer auf dem Platz vor der Kathedrale beteiligt, nicht am Prozess, nicht am widerwärtigen Defilee der Sensationslüsternen vor der Zelle des Verurteilten. Zur Identifikation der Haare und Kleider seiner Tochter hatte er das Gericht zu sich nach Hause bestellt, kurz und gefasst seine Aussage gemacht und gebeten, man möge ihm die Dinge als Reliquien überlassen, was auch geschah. Er trug sie in Laures Kammer, legte das zerschnittene Nachthemd und das Leibchen auf ihr Bett, breitete die roten Haare übers Kissen und setzte sich davor und verließ die Kammer Tag und Nacht nicht mehr, als wolle er durch diese sinnlose Wache gutmachen, was er in der Nacht von La Napoule versäumt hatte. Er war so erfüllt von Ekel, Ekel vor der Welt und vor sich selbst, dass er nicht weinen konnte.
Auch vor dem Mörder empfand er Ekel. Er wollte ihn nicht mehr als Menschen sehen, nur noch als Opfer, das geschlachtet würde. Erst bei der Hinrichtung wollte er ihn sehen, wenn er auf dem Kreuz lag und die zwölf Schläge auf ihn niederkrachten, dann wollte er ihn sehen, ganz nah wollte er ihn dann sehen, er hatte sich einen Platz in vorderster Reihe reservieren lassen. Und wenn sich das Volk verlaufen hätte, nach ein paar Stunden, dann wollte er hinaufsteigen zu ihm aufs Blutgerüst und sich neben ihn setzen und Wache halten, nächtelang, tagelang, wenn es sein musste, und ihm dabei in die Augen schauen, dem Mörder seiner Tochter, und ihm den ganzen Ekel in die Augen träufeln, der in ihm war, den ganzen Ekel in seinen Todeskampf hineinschütten wie eine brennende Säure, so lange, bis das Ding verreckt war…
Danach? Was er danach tun würde? Er wusste es nicht. Vielleicht wieder sein gewohntes Leben aufnehmen, vielleicht heiraten, vielleicht einen Sohn zeugen, vielleicht nichts tun, vielleicht sterben. Es war ihm völlig gleichgültig. Darüber nachzudenken erschien ihm so sinnlos, als dächte er darüber nach, was er nach seinem eigenen Tode tun sollte: nichts natürlich. Nichts, was er jetzt schon wissen könnte.
Die Hinrichtung war auf fünf Uhr nachmittags angesetzt. Schon am Morgen kamen die ersten Schaulustigen und sicherten sich Plätze. Sie brachten Stühle und Trittbänkchen mit, Sitzkissen, Verpflegung, Wein und ihre Kinder. Als gegen Mittag die Landbevölkerung aus allen Himmelsrichtungen in Massen herbeiströmte, war der Cours schon so dicht besetzt, dass die Neuankömmlinge auf den terrassenförmig ansteigenden Gärten und Feldern jenseits des Platzes und auf der Straße nach Grenoble lagern mussten. Die Händler machten bereits gute Geschäfte, man aß, man trank, es summte und brodelte wie bei einem Jahrmarkt. Bald waren wohl an die zehntausend Menschen zusammengekommen, mehr als zum Fest der Jasminkönigin, mehr als zur größten Prozession, mehr als jemals zuvor in Grasse. Bis weit die Hänge hinauf standen sie. Sie hingen in den Bäumen, sie hockten auf den Mauern und Dächern, sie drängten sich zu zehnt, zu zwölft in den Fensteröffnungen. Nur im Zentrum des Cours, geschützt vom Barrikadenzaun, wie herausgestochen aus dem Teig der Menschenmenge, blieb noch ein freier Platz für die Tribüne und für das Schafott, das sich plötzlich ganz klein ausmachte, wie ein Spielzeug oder wie die Bühne eines Puppentheaters. Und eine Gasse wurde freigehalten, vom Richtplatz zur Porte du Cours und in die Rue Droite hinein.
Kurz nach drei erschienen Monsieur Papon und seine Gehilfen. Beifall rauschte auf. Sie trugen das aus Holzbalken gefügte Andreaskreuz zum Schafott und brachten es auf die geeignete Arbeitshöhe, indem sie es mit vier schweren Tischlerböcken unterstützten. Ein Tischlergeselle nagelte es fest. Jeder Handgriff der Henkersknechte und des Tischlers wurde von der Menge mit Applaus bedacht. Als dann Papon mit der Eisenstange herbeitrat, das Kreuz umging, seine Schritte ausmaß, bald von dieser, bald von jener Seite einen imaginierten Schlag führte, brach regelrechter Jubel aus.
Um vier begann sich die Tribüne zu füllen. Es gab viel feine Leute zu bestaunen, reiche Herren mit Lakaien und guten Manieren, schöne Damen, große Hüte, glitzernde Kleider. Der gesamte Adel aus Stadt und Land war zugegen. Die Herren des Rats erschienen in geschlossenem Zug, angeführt von den beiden Konsuln. Richis trug schwarze Kleider, schwarze Strümpfe, schwarzen Hut. Hinter dem Rat marschierte der Magistrat ein, unter Leitung des Gerichtspräsidenten. Als letzter kam der Bischof im offenen Tragstuhl, in leuchtend violettem Ornat und grünem Hütchen. Wer noch bedeckt war, nahm spätestens jetzt die Mütze ab. Es wurde feierlich.
Dann geschah etwa zehn Minuten lang nichts. Die Herrschaften hatten Platz genommen, das Volk harrte reglos, niemand aß mehr, alles wartete. Papon und seine Knechte standen auf der Bühne des Schafotts wie angeschraubt. Die Sonne hing groß und gelb über dem Esterei. Aus dem Grasser Becken kam ein lauer Wind und trug den Duft der Orangenblüten herauf. Es war sehr warm und geradezu unwahrscheinlich still.
Endlich, als man schon meinte, die Spannung könne nicht länger andauern, ohne in einen tausendfachen Schrei, einen Tumult, eine Raserei oder ein sonstiges Massenereignis zu zerplatzen, hörte man in der Stille Pferdegetrappel und das Knirschen von Rädern.
Die Rue Droite herunter kam ein geschlossener zweispänniger Wagen gefahren, der Wagen des Polizeilieutenants. Er passierte das Stadttor und erschien, nun für jedermann sichtbar, in der schmalen Gasse, die zum Richtplatz führte. Der Polizeilieutenant hatte auf diese Art der Vorführung bestanden, da er anders die Sicherheit des Delinquenten nicht garantieren zu können glaubte. Üblich war sie durchaus nicht. Das Gefängnis lag kaum fünf Minuten vom Richtplatz entfernt, und wenn ein Verurteilter diese kurze Strecke, aus welchem Grunde immer, zu Fuß nicht mehr bewältigte, so hätte es ein offner Eselskarren auch getan. Dass einer zur eigenen Hinrichtung in der Karosse vorfuhr, mit Kutscher, livrierten Dienern und Reiterbegleitung, das hatte man noch nicht erlebt.
Trotzdem kam in der Menge nicht Unruhe oder Unmut auf, im Gegenteil. Man war zufrieden, dass überhaupt etwas geschah, hielt die Sache mit der Kutsche für einen gelungenen Einfall, ähnlich wie im Theater, wo man es schätzt, wenn ein bekanntes Stück auf überraschend neue Weise präsentiert wird. Viele fanden sogar, der Auftritt sei angemessen. Einem so außergewöhnlich abscheulichen Verbrecher gebührte eine außerordentliche Behandlung. Man konnte ihn nicht wie einen ordinären Straßenräuber in Ketten auf den Platz zerren und erschlagen. Daran wäre nichts Sensationelles gewesen. Ihn vom Equipagenpolster weg auf das Andreaskreuz zu führen – das war von ungleich einfallsreicherer Grausamkeit.
Die Kutsche hielt zwischen Schafott und Tribüne. Die Lakaien sprangen ab, öffneten den Schlag und klappten das Treppchen herunter. Der Polizeilieutenant stieg aus, nach ihm ein Offizier der Wache und endlich Grenouille. Er trug einen blauen Rock, ein weißes Hemd, weiße Seidenstrümpfe und schwarze Schnallenschuhe. Er war nicht gefesselt. Niemand führte ihn am Arm. Er entstieg der Kutsche wie ein freier Mann.
Und dann geschah ein Wunder. Oder so etwas Ähnliches wie ein Wunder, nämlich etwas dermaßen Unbegreifliches, Unerhörtes und Unglaubliches, dass alle Zeugen es im nachhinein als Wunder bezeichnet haben würden, wenn sie überhaupt noch jemals darauf zu sprechen gekommen wären, was nicht der Fall war, da sie sich später allesamt schämten, überhaupt daran beteiligt gewesen zu sein.
Es war nämlich so, dass die zehntausend Menschen auf dem Cours und auf den umliegenden Hängen sich von einem Moment zum anderen von dem unerschütterlichen Glauben durchtränkt fühlten, der kleine Mann im blauen Rock, der soeben aus der Kutsche gestiegen war, könne unmöglich ein Mörder sein. Nicht dass sie an seiner Identität zweifelten! Da stand derselbe Mensch, den sie vor wenigen Tagen auf dem Kirchplatz am Fenster der Prévoté gesehen hatten und den sie, wären sie damals seiner habhaft geworden, in wütendem Hass gelyncht hätten. Derselbe, der zwei Tage zuvor aufgrund erdrückender Beweise und eigenen Geständnisses rechtskräftig verurteilt worden war. Derselbe, dessen Erschlagung durch den Scharfrichter sie noch vor einer Minute gierig ersehnt hatten. Er war's, unzweifelhaft! Und doch – er war es auch nicht, er konnte es nicht sein, er konnte kein Mörder sein. Der Mann, der auf dem Richtplatz stand, war die Unschuld in Person. Das wussten in diesem Moment alle vom Bischof bis zum Limonadenverkäufer, von der Marquise bis zur kleinen Wäscherin, vom Präsidenten des Gerichts bis zum Gassenjungen.
Auch Papon wusste es. Und seine Fäuste, die den Eisenstab umklammert hielten, zitterten. Ihm war mit einem Mal so schwach in seinen starken Armen, so weich in den Knien, so bang im Herzen wie einem Kind. Er würde diesen Stab nicht heben können, niemals im Leben würde er die Kraft aufbringen, ihn gegen den kleinen unschuldigen Mann zu erheben, ach, er fürchtete den Moment, da er heraufgeführt würde, er schlotterte, er musste sich auf seinen mörderischen Stab stützen, um nicht vor Schwäche in die Knie zu sinken, der große, starke Papon!
Nicht anders erging es den zehntausend Männern und Frauen und Kindern und Greisen, die versammelt waren: Sie wurden schwach wie kleine Mädchen, die dem Charme ihres Liebhabers erliegen. Es überkam sie ein mächtiges Gefühl von Zuneigung, von Zärtlichkeit, von toller kindischer Verliebtheit, ja, weiß Gott, von Liebe zu dem kleinen Mördermann, und sie konnten, sie wollten nichts dagegen tun. Es war wie ein Weinen, gegen das man sich nicht wehren kann, wie ein lange zurückgehaltenes Weinen, das aus dem Bauch aufsteigt und alles Widerständliche wunderbar zersetzt, alles verflüssigt und ausschwemmt. Nur noch liquide waren die Menschen, innerlich in Geist und Seele aufgelöst, nur noch von amorpher Flüssigkeit, und einzig ihr Herz spürten sie als haltlosen Klumpen in ihrem Innern schwanken und legten es, eine jede, ein jeder, in die Hand des kleinen Mannes im blauen Rock, auf Gedeih und Verderb: Sie liebten ihn.
Grenouille stand nun wohl schon mehrere Minuten lang am geöffneten Schlag der Kutsche und rührte sich nicht. Der Lakai neben ihm war in die Knie gesunken und sank noch immer weiter bis hin zu jener völlig prostrativen Haltung, wie sie im Orient vor dem Sultan und vor Allah üblich ist. Und selbst in dieser Haltung zitterte und schwankte er noch und wollte weitersinken, sich flach auf die Erde legen, in sie hinein, unter sie. Bis ans andre Ende der Welt wollte er sinken vor lauter Ergebenheit. Der Offizier der Wache und der Polizeilieutenant, beides trutzige Männer, deren Aufgabe es gewesen wäre, den Verurteilten jetzt aufs Blutgerüst zu führen und seinem Henker auszuliefern, konnten keine koordinierten Handlungen mehr zustande bringen. Sie weinten und nahmen ihre Hüte ab, setzten sie wieder auf, warfen sie zu Boden, fielen sich gegenseitig in die Arme, lösten sich, fuchtelten unsinnig mit den Armen in der Luft herum, rangen die Hände, zuckten und grimassierten wie vom Veitstanz Befallene.
Die weiter entfernt befindlichen Honoratioren gaben sich ihrer Ergriffenheit auf kaum diskretere Weise hin. Ein jeder ließ dem Drang seines Herzens freien Lauf. Da waren Damen, die sich beim Anblick Grenouilles die Fäuste in den Schoß stemmten und seufzten vor Wonne; und andere, die vor sehnsüchtigem Verlangen nach dem herrlichen Jüngling – denn so erschien er ihnen – sang- und klanglos in Ohnmacht versanken. Da waren Herren, die in einem fort von ihren Sitzen aufspritzten und sich wieder niederließen und wieder aufsprangen, mächtig schnaufend und die Fäuste um die Degengriffe ballend, als wollten sie ziehen, und, indem sie schon zogen, den Stahl wieder zurückstießen, dass es in den Scheiden nur so klapperte und knackte; und andere, die die Augen stumm zum Himmel richteten und ihre Hände zum Gebet verkrampften; und Monseigneur, der Bischof, der, als sei ihm übel, mit dem Oberkörper vornüberklappte und die Stirn auf seine Knie schlug, bis ihm das grüne Hütchen vom Kopfe kollerte; und dabei war ihm gar nicht übel, sondern er schwelgte nur zum ersten Mal in seinem Leben in religiösem Entzücken, denn ein Wunder war geschehen vor aller Augen, der Herrgott höchstpersönlich war dem Henker in den Arm gefallen, indem er den als Engel offenbarte, der vor der Welt ein Mörder schien – o dass dergleichen noch geschah im 18. Jahrhundert. Wie groß war der Herr! Und wie klein und windig war man selbst, der man einen Bannfluch gesprochen hatte, ohne daran zu glauben, bloß zur Beruhigung des Volkes! O welche Anmaßung, o welche Kleingläubigkeit! Und nun tat der Herr ein Wunder! O welch herrliche Demütigung, welch süße Erniedrigung, welche Gnade, als Bischof von Gott so gezüchtigt zu werden.
Das Volk jenseits der Barrikade gab sich unterdessen immer schamloser dem unheimlichen Gefühlsrausch hin, den Grenouilles Erscheinen ausgelöst hatte. Wer zu Beginn bei seinem Anblick nur Mitgefühl und Rührung verspürt hatte, der war nun von nackter Begehrlichkeit erfüllt, wer zunächst bewundert und begehrt hatte, den trieb es zur Ekstase. Alle hielten den Mann im blauen Rock für das schönste, attraktivste und vollkommenste Wesen, das sie sich denken konnten: Den Nonnen erschien er als der Heiland in Person, den Satansgläubigen als strahlender Herr der Finsternis, den Aufgeklärten als das Höchste Wesen, den jungen Mädchen als ein Märchenprinz, den Männern als ein ideales Abbild ihrer selbst. Und alle fühlten sie sich von ihm an ihrer empfindlichsten Stelle erkannt und gepackt, er hatte sie im erotischen Zentrum getroffen. Es war, als besitze der Mann zehntausend unsichtbare Hände und als habe er jedem der zehntausend Menschen, die ihn umgaben, die Hand aufs Geschlecht gelegt und liebkose es auf just jene Weise, die jeder einzelne, ob Mann oder Frau, in seinen geheimsten Phantasien am stärksten begehrte.
Die Folge war, dass die geplante Hinrichtung eines der verabscheuungswürdigsten Verbrechers seiner Zeit zum größten Bacchanal ausartete, das die Welt seit dem zweiten vorchristlichen Jahrhundert gesehen hatte: Sittsame Frauen rissen sich die Blusen auf, entblößten unter hysterischen Schreien ihre Brüste, warfen sich mit hochgezogenen Röcken auf die Erde. Männer stolperten mit irren Blicken durch das Feld von geilem aufgespreiztem Fleisch, zerrten mit zitternden Fingern ihre wie von unsichtbaren Frösten steifgefrorenen Glieder aus der Hose, fielen ächzend irgendwohin, kopulierten in unmöglichster Stellung und Paarung, Greis mit Jungfrau, Taglöhner mit Advokatengattin, Lehrbub mit Nonne, Jesuit mit Freimaurerin, alles durcheinander, wie's gerade kam. Die Luft war schwer vom süßen Schweißgeruch der Lust und laut vom Geschrei, Gegrunze und Gestöhn der zehntausend Menschentiere. Es war infernalisch.
Grenouille stand und lächelte. Vielmehr erschien es den Menschen, die ihn sahen, als lächle er mit dem unschuldigsten, liebevollsten, bezauberndsten und zugleich verführerischsten Lächeln der Welt. Aber es war in Wirklichkeit kein Lächeln, sondern ein häßliches, zynisches Grinsen, das auf seinen Lippen lag und das seinen ganzen Triumph und seine ganze Verachtung widerspiegelte. Er, Jean-Baptiste Grenouille, geboren ohne Geruch am stinkendsten Ort der Welt, stammend aus Abfall, Kot und Verwesung, aufgewachsen ohne Liebe, lebend ohne warme menschliche Seele einzig aus Widerborstigkeit und der Kraft des Ekels, klein, gebuckelt, hinkend, häßlich, gemieden, ein Scheusal innen wie außen – er hatte es erreicht, sich vor der Welt beliebt zu machen. Was heißt beliebt! Geliebt! Verehrt! Vergöttert! Er hatte die prometheische Tat vollbracht. Den göttlichen Funken, den andre Menschen mir nichts, dir nichts in die Wiege gelegt bekommen und der ihm als einzigem vorenthalten worden war, hatte er sich durch unendliches Raffinement ertrotzt. Mehr noch! Er hatte ihn sich recht eigentlich selbst in seinem Innern geschlagen. Er war noch größer als Prometheus. Er hatte sich eine Aura erschaffen, strahlender und wirkungsvoller, als sie je ein Mensch vor ihm besaß. Und er verdankte sie niemandem – keinem Vater, keiner Mutter und am allerwenigsten einem gnädigen Gott – als einzig sich selbst. Er war in der Tat sein eigener Gott, und ein herrlicherer Gott als jener weihrauchstinkende Gott, der in den Kirchen hauste. Vor ihm lag ein leibhaftiger Bischof auf den Knien und winselte vor Vergnügen. Die Reichen und Mächtigen, die stolzen Herren und Damen erstarben in Bewunderung, indes das Volk im weiten Rund, darunter Väter, Mütter, Brüder, Schwestern seiner Opfer, ihm zu Ehren und in seinem Namen Orgien feierten. Ein Wink von ihm, und alle würden ihrem Gott abschwören und ihn, den Großen Grenouille anbeten.
Ja, er war der Große Grenouille! Jetzt trat's zutage. Er war's, wie einst in seinen selbstverliebten Phantasien, so jetzt in Wirklichkeit. Er erlebte in diesem Augenblick den größten Triumph seines Lebens.
Und er wurde ihm fürchterlich. Er wurde ihm fürchterlich, denn er konnte keine Sekunde davon genießen. In dem Moment, da er aus der Kutsche auf den sonnenhellen Platz getreten war, angetan mit dem Parfum, das vor den Menschen beliebt macht, mit dem Parfum, an dem er zwei Jahre lang gearbeitet hatte, dem Parfum, das zu besitzen er sein Leben lang gedürstet hatte… in diesem Moment, da er sah und roch, wie unwiderstehlich es wirkte und wie mit Windeseile sich verbreitend es die Menschen um ihn her gefangennahm, – in diesem Moment stieg der ganze Ekel vor den Menschen wieder in ihm auf und vergällte ihm seinen Triumph so gründlich, dass er nicht nur keine Freude, sondern nicht einmal das geringste Gefühl von Genugtuung verspürte. Was er sich immer ersehnt hatte, dass nämlich die ändern Menschen ihn liebten, wurde ihm im Augenblick seines Erfolges unerträglich, denn er selbst liebte sie nicht, er hasste sie. Und plötzlich wusste er, dass er nie in der Liebe, sondern immer nur im Hass Befriedigung fände, im Hassen und Gehasstwerden.
Aber der Hass, den er für die Menschen empfand, blieb von den Menschen ohne Echo. Je mehr er sie in diesem Augenblick hasste, desto mehr vergötterten sie ihn, denn sie nahmen von ihm nichts wahr als seine angemaßte Aura, seine Duftmaske, sein geraubtes Parfum, und dies in der Tat war zum Vergöttern gut.
Er hätte sie jetzt am liebsten alle vom Erdboden vertilgt, die stupiden, stinkenden, erotisierten Menschen, genauso wie er damals im Land seiner rabenschwarzen Seele die fremden Gerüche vertilgt hatte. Und er wünschte sich, dass sie merkten, wie sehr er sie hasste, und dass sie ihn darum, um dieses seines einzigen jemals wahrhaft empfundenen Gefühls willen widerhassten und ihn ihrerseits vertilgten, wie sie es ja ursprünglich vorgehabt hatten. Er wollte sich ein Mal im Leben entäußern. Er wollte ein Mal im Leben sein wie andere Menschen auch und sich seines Innern entäußern: wie sie ihrer Liebe und ihrer dummen Verehrung, so er seines Hasses. Er wollte ein Mal, nur ein einziges Mal, in seiner wahren Existenz zur Kenntnis genommen werden und von einem anderen Menschen eine Antwort erhalten auf sein einziges wahres Gefühl, den Hass.
Aber daraus wurde nichts. Daraus konnte nichts werden. Und heute schon gar nicht. Denn er war ja maskiert mit dem besten Parfum der Welt, und er trug unter dieser Maske kein Gesicht, sondern nichts als seine totale Geruchlosigkeit. Da wurde ihm plötzlich übel, denn er fühlte, dass die Nebel wieder stiegen.
Wie damals in der Höhle im Traum im Schlaf im Herzen in seiner Phantasie stiegen mit einem Mal die Nebel, die entsetzlichen Nebel seines eigenen Geruchs, den er nicht riechen konnte, weil er geruchlos war. Und wie damals wurde ihm unendlich bang und angst, und er glaubte, ersticken zu müssen. Anders als damals aber war dies kein Traum und kein Schlaf, sondern die blanke Wirklichkeit. Und anders als damals lag er nicht allein in einer Höhle, sondern stand auf einem Platz im Angesicht von zehntausend Menschen. Und anders als damals half hier kein Schrei, der ihn erwachen ließe und befreite, und half keine Flucht zurück in die gute, warme, rettende Welt. Denn dies, hier und jetzt, war die Welt, und dies, hier und jetzt, war sein verwirklichter Traum. Und er selbst hatte es so gewollt.
Die fürchterlichen stickigen Nebel stiegen weiter aus dem Morast seiner Seele, indes um ihn das Volk in orgiastischen und orgastischen Verzückungen ächzte. Ein Mann kam auf ihn zugelaufen. Von der vordersten Reihe der Honoratiorentribüne war er aufgesprungen, so heftig, dass ihm sein schwarzer Hut vom Kopf gefallen war, und flatterte nun mit wehendem schwarzem Rock über den Richtplatz wie ein Rabe oder wie ein rächender Engel. Es ar Richis.
Er wird mich töten, dachte Grenouille. Er ist der einzige, der sich nicht von meiner Maske täuschen lässt. Er kann sich nicht täuschen lassen. Der Duft seiner Tochter klebt an mir, so verräterisch deutlich wie Blut. Er muss mich erkennen und töten. Er muss es tun.
Und er breitete seine Arme aus, um den heranstürzenden Engel zu empfangen. Schon glaubte er, den Dolch- oder Degenstoß als herrlich prickelnden Schlag gegen die Brust zu spüren und die Klinge, die durch alle Duftpanzer und stickigen Nebel hindurchging, mitten in sein kaltes Herz hinein – endlich, endlich etwas in seinem Herzen, etwas anderes als er selbst! Er fühlte sich fast schon erlöst.
Doch dann lag mit einem Mal Richis an seiner Brust, kein rächender Engel, sondern ein erschütterter, kläglich schluchzender Richis, und umfing ihn mit den Armen, krallte sich regelrecht fest an ihm, als fände er sonst keinen Halt in einem Meer von Glückseligkeit. Kein befreiender Dolchstoß, kein Stich ins Herz, nicht einmal in Fluch oder nur ein Schrei des Hasses. Statt dessen Richis' tränennasse Wange an der seinen klebend und ein zitternder Mund, der ihm zuwinselte: »Vergib mir, mein Sohn, mein lieber Sohn, vergib mir!«
Da wurde es ihm von innen her weiß vor Augen, und die äußere Welt wurde rabenschwarz. Die gefangenen Nebel gerannen zu einer tobenden Flüssigkeit wie kochende, schäumende Milch. Sie überfluteten ihn, pressten mit unerträglichem Druck gegen die innere Schalenwand seines Körpers, ohne Auslass zu finden. Er wollte fliehen, um Himmels willen fliehen, aber wohin… Er wollte zerplatzen, explodieren wollte er, um nicht an sich selbst zu ersticken. Endlich sank er nieder und verlor das Bewusstsein.
Als er wieder zu sich kam, lag er im Bett der Laure Richis. Ihre Reliquien, Kleider und ihr Haar, waren weggeräumt worden. Eine Kerze brannte auf dem Nachttisch. Durch das angelehnte Fenster hörte er von Ferne den Jubel der feiernden Stadt. Antoine Richis saß auf einem Schemel neben dem Bett und wachte. Er hatte Grenouilles Hand in die seine gelegt und streichelte sie.
Noch bevor er die Augen aufschlug, prüfte Grenouille die Atmosphäre. Im Innern war sie still. Nichts brodelte und presste mehr. Es herrschte wieder die gewohnte kalte Nacht in seiner Seele, die er brauchte, um sein Bewusstsein frostig und klar zu machen und nach außen zu lenken: Dort roch er sein Parfum. Es hatte sich verändert. Die Spitzen waren etwas schwächer geworden, so dass nun die Herznote von Laures Geruch noch herrlicher hervortrat, ein mildes, dunkles, funkelndes Feuer. Er fühlte sich sicher. Er wusste, dass er noch für Stunden unangreifbar war, und öffnete die Augen.
Richis' Blick ruhte auf ihm. Unendliches Wohlwollen lag in diesem Blick, Zärtlichkeit, Rührung und die hohle, dümmliche Tiefe des Liebenden.
Er lächelte und drückte Grenouilles Hand fester und sagte: »Es wird jetzt alles gut werden. Der Magistrat hat dein Urteil kassiert. Alle Zeugen haben abgeschworen. Du bist frei. Du kannst tun, was du willst. Aber ich will, dass du bei mir bleibst. Ich habe eine Tochter verloren, ich will dich als meinen Sohn gewinnen. Du bist ihr ähnlich. Du bist schön wie sie, deine Haare, dein Mund, deine Hand… Ich habe die ganze Zeit deine Hand gehalten, deine Hand ist wie die ihre. Und wenn ich in deine Augen sehe, so ist mir, als schaue sie mich an. Du bist ihr Bruder, und ich will, dass du mein Sohn wirst, meine Freude, mein Stolz, mein Erbe. Leben deine Eltern noch?«
Grenouille schüttelte den Kopf, und Richis' Gesicht wurde puterrot vor Glück. »Dann wirst du mein Sohn werden?« stammelte er und fuhr von seinem Schemel hoch, um sich auf den Rand des Bettes zu setzen und auch Grenouilles zweite Hand zu pressen. »Wirst du? Wirst du? Willst du mich zu deinem Vater haben? Sage nichts! Sprich nicht! Du bist noch zu schwach, um zu sprechen. Nicke nur!«
Grenouille nickte. Da brach Richis das Glück wie roter Schweiß aus allen Poren, und er beugte sich zu Grenouille herab und küsste ihn auf den Mund.
»Schlaf jetzt, mein lieber Sohn!« sagte er, als er sich wieder aufgerichtet hatte. »Ich werde bei dir wachen, solange bis du eingeschlafen bist.« Und nachdem er ihn eine lange Zeit in stummer Seligkeit betrachtet hatte: »Du machst mich sehr, sehr glücklich.«
Grenouille zog die Mundwinkel leicht auseinander, wie er es den Menschen abgeschaut hatte, die lächeln. Dann schloss er die Augen. Er wartete eine Weile, ehe er seinen Atem ruhiger und tiefer gehen ließ, wie es die Schläfer tun. Er spürte Richis' liebenden Blick auf seinem Gesicht. Einmal spürte er, wie Richis sich abermals vorbeugte, um ihn zu küssen, es dann aber unterließ, aus Scheu, ihn zu wecken. Endlich wurde die Kerze ausgeblasen, und Richis schlich sich auf Zehenspitzen aus der Kammer.
Grenouille blieb liegen, bis er in Haus und Stadt kein Geräusch mehr hörte. Als er dann aufstand, dämmerte es schon. Er kleidete sich an und machte sich davon, leise über den Flur, leise die Stiege hinab und durch den Salon hinaus auf die Terrasse. Von hier aus konnte man über die Stadtmauersehen, über die Schüssel des Grasser Landes, bei klarem Wetter wohl auch bis zum Meer. Jetzt hing ein dünner Nebel, ein Dunst eher, über den Feldern, und die Düfte, die von dorther kamen, Gras, Ginster und Rose, waren wie gewaschen, rein, simpel, tröstlich einfach. Grenouille durchquerte den Garten und stieg über die Mauer.
Oben am Cours musste er sich noch einmal durch Menschendünste kämpfen, ehe er das freie Land gewann. Der ganze Platz und die Hänge glichen einem riesigen verlotterten Heerlager. Zu Tausenden lagen die betrunkenen, von den Ausschweifungen des nächtlichen Festes erschöpften Gestalten herum, manche nackt, manche halb entblößt und halb bedeckt von Kleidern, unter die sie sich wie unter ein Stück Decke verkrochen hatten. Es stank nach saurem Wein, nach Schnaps, nach Schweiß und Pisse, nach Kinderscheiße und nach verkohltem Fleisch. Da und dort qualmten noch die Feuerstellen, an denen sie gebraten, gesoffen und getanzt hatten. Hie und da gluckste noch aus dem tausendfachen Geschnarche ein Lallen oder ein Gelächter auf. Es mag auch sein, dass manch einer noch wachte und sich die letzten Fetzen von Bewusstsein aus dem Gehirn zechte. Aber niemand sah Grenouille, der über die verstreuten Leiber stieg, vorsichtig und rasch zugleich, wie durch Morast. Und wer ihn sah, der erkannte ihn nicht. Er duftete nicht mehr. Das Wunder war vorbei.
Am Ende des Cours angelangt, nahm er nicht die Straße nach Grenoble, nicht die nach Cabris, sondern er ging querfeldein in westliche Richtung davon, ohne sich noch ein einziges Mal umzuschauen. Als die Sonne aufstieg, fett und gelb und stechendheiß, war er längst verschwunden.
Die Grasser erwachten mit einem entsetzlichen Kater. Selbst denen, die nicht getrunken hatten, war bleischwer im Kopf und speiübel in Magen und Gemüt. Auf dem Cours, in hellstem Sonnenlicht, suchten biedere Bauern nach den Kleidern, die sie im Exzess der Orgie von sich geschleudert hatten, suchten sittsame Frauen nach ihren Männern und Kindern, schälten sich wildfremde Menschen entsetzt aus intimster Umarmung, standen sich Bekannte, Nachbarn, Gatten plötzlich in peinlichster öffentlicher Nacktheit gegenüber.
Vielen erschien dieses Erlebnis so grauenvoll, so vollständig unerklärlich und unvereinbar mit ihren eigentlichen moralischen Vorstellungen, dass sie es buchstäblich im Augenblick seines Stattfindens aus ihrem Gedächtnis löschten und sich infolgedessen auch später wahrhaftig nicht mehr daran zurückerinnern konnten. Andere, die ihren Wahrnehmungsapparat nicht so souverän beherrschten, versuchten, wegzuschauen und wegzuhören und wegzudenken was nicht ganz einfach war, denn die Schande war zu offensichtlich und zu allgemein. Wer seine Habseligkeiten und seine Angehörigen gefunden hatte, machte sich so rasch und so unauffällig wie möglich davon. Gegen Mittag war der Platz wie leergefegt.
Die Leute in der Stadt kamen, wenn überhaupt, erst gegen Abend aus den Häusern, um die dringendsten Besorgungen zu erledigen. Man grüßte sich nur flüchtig beim Begegnen, sprach nur über das Belangloseste. Über die Ereignisse des Vortags und der vergangenen Nacht fiel kein Wort. So hemmungslos und frisch heraus man sich gestern noch gegeben hatte, so schamhaft war man jetzt. Und alle waren so, denn alle waren schuldig. Nie schien das Einvernehmen unter den Grasser Bürgern besser als in jener Zeit. Man lebte wie in Watte.
Manche freilich mussten sich allein kraft ihres Amtes direkter mit dem befassen, was geschehen war. Die Kontinuität des öffentlichen Lebens, die Unverbrüchlichkeit von Recht und Ordnung erforderten rasche Maßnahmen. Schon am Nachmittag tagte der Stadtrat. Die Herren, darunter auch der Zweite Konsul, umarmten sich stumm, als gelte es, das Gremium durch diese verschwörerische Geste neu zu konstituieren. Dann beschloss man una anima und ohne dass der Vorkommnisse oder gar des Namens Grenouille auch nur Erwähnung getan worden wäre, »die Tribüne und das Schafott auf dem Cours unverzüglich abreißen zu lassen und den Platz und die umliegenden zertrampelten Felder wieder in ihren vormaligen ordentlichen Zustand versetzen zu lassen«. Hierfür wurden hundertsechzig Livre bewilligt.
Gleichzeitig tagte das Gericht in der Prévoté. Der Magistrat kam ohne Aussprache überein, den »Fall G.« als erledigt zu betrachten, die Akten zu schließen und ohne Registratur zu archivieren und ein neues Verfahren gegen einen bislang unbekannten Mörder von fünfundzwanzig Jungfrauen im Grasser Raum zu eröffnen. An den Polizeilieutenant erging der Befehl, die Untersuchungen unverzüglich aufzunehmen.
Schon am nächsten Tag wurde er fündig. Aufgrund eindeutiger Verdachtsmomente verhaftete man Dominique Druot, Maitre Parfumeur in der Rue de la Louve, in dessen Kabane ja schließlich die Kleider und Haare sämtlicher Opfer gefunden worden waren. Von seinem anfänglichen Leugnen ließen sich die Richter nicht täuschen. Nach vierzehnstündiger Folter gestand er alles und bat sogar um eine möglichst baldige Hinrichtung, die ihm schon für den folgenden Tag gewährt wurde. Man knüpfte ihn im Morgengrauen auf, ohne großes Tamtam, ohne Schafott und Tribünen, im Beisein lediglich des Henkers, einiger Mitglieder des Magistrats, eines Arztes und eines Priesters. Die Leiche ließ man, nachdem der Tod eingetreten, festgestellt und protokollarisch niedergelegt war, unverzüglich beisetzen. Damit war der Fall erledigt.
Die Stadt hatte ihn ohnehin schon vergessen, und zwar so vollständig, dass Reisende, die in den folgenden Tagen eintrafen und sich beiläufig nach dem berüchtigten Grasser Mädchenmörder erkundigten, nicht einen einzigen vernünftigen Menschen fanden, der ihnen Auskunft hätte erteilen können. Nur ein paar Narren aus der Charité, notorische Geisteskranke, plapperten noch irgend etwas daher von einem großen Fest auf der Place du Cours, dessentwegen sie hätten ihre Zimmer räumen müssen.
Und bald hatte sich das Leben gänzlich normalisiert. Die Leute arbeiteten fleißig und schliefen gut und gingen ihren Geschäften nach und hielten sich rechtschaffen. Das Wasser sprudelte wie eh und je aus den vielen Quellen und Brunnen und schwemmte den Schlamm durch die Gassen. Die Stadt stand wieder schäbig und stolz an den Hängen über dem fruchtbaren Becken. Die Sonne schien warm. Bald war es Mai. Man erntete Rosen.