37691.fb2 Das Schiff der Hoffnung - читать онлайн бесплатно полную версию книги . Страница 13

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Kapitel 13

Am 12. September rollte ein fahrbares Bett lautlos auf Gummirädern über den Flur zum Aufzug und hinunter zum OP II der I. Chirurgischen Klinik in Heidelberg.

Im Vorraum warteten die Ärzte und Schwestern. Der Anästhesist hatte Claudia Torgiano schon auf dem Zimmer eine Beruhigungsinjektion gegeben. Im Halbschlaf merkte sie kaum, daß sie weggefahren wurde, daß Frank Hellberg bis zum Aufzug neben ihr herging und ihre schlaffe Hand hielt.

Die elektrische Uhr über dem OP zeigte 9.30 Uhr.

Das Operationsteam wartete auf Professor Dr. Seidler. Er nahm den Eingriff selbst vor, zusammen mit Dozent Dr. Battenberg.

Zehn Tage lang hatte man Claudia nach allen Regeln ärztlicher Kunst untersucht, beobachtet und auf die schwere Operation vorbereitet. Professor Dr. Seidler hatte etwas Erstaunliches zu Frank Hellberg gesagt:

»Ich bin ehrlich . von dem HTS halte ich gar nichts! Man kann mit einem solchen Mittel nicht einen manifesten Tumor auflösen! Das ist Quatsch! Aber ich gebe zu, daß sich, entgegen unseren Befürchtungen, keine sichtbaren Metastasen gebildet haben. Das ist bei Lungenkrebs verblüffend.«

»Das HTS, Herr Professor«, sagte Hellberg fest.

»Man muß sich einmal damit beschäftigen.« Professor Seidler sah Hellberg hinter blitzenden Brillengläsern an. »Sie haben mit diesem serbischen Arzt gesprochen. Wenn wir einmal länger Zeit haben, wäre es nett, wenn Sie mir von ihm erzählen könnten. Man soll an gewissen Zeichen nicht vorbeigehen ... vielleicht weisen sie wirklich einen noch unbekannten Weg.«

Nun war es soweit. Claudia lag im Vorbereitungsraum. Noch einmal wurden Herz und Blutdruck kontrolliert, zwei Schwestern entkleideten sie und hüllten sie in angewärmte, sterile Tücher. Im OP machte der Anästhesist den komplizierten Narkoseapparat einsatzfertig. Die OP-Oberschwester überblickte noch einmal das ausgelegte chirurgische Besteck auf dem Nebentisch.

9.37 Uhr. Professor Dr. Seidler betrat den OP-Trakt. Er hatte auf dem Flur kurz Hellberg die Hand gedrückt. »Kopf hoch!« hatte er gesagt. »Und stehen Sie nicht hier rum. Gehen Sie gegenüber ins Cafe. Ich lasse Sie rufen, wenn alles vorbei ist. Es kann drei Stunden dauern.«

»Alles klar?« fragte Seidler. Der II. Oberarzt nickte. Im OP I wurde der Boden geschrubbt. Dort war eine Gallenoperation schon beendet. Auf der schwarzen Tafel für OP I stand als nächstes eine eingeklemmte Hernie. Routine-Arbeit.

Professor Seidler betrat den Vorbereitungsraum von OP II. Claudia lag auf dem OP-Tisch, in Seitenlage, und wurde narkotisiert.

»Befinden?« fragte Seidler kurz und zog den Rock aus. Er trug ein Hemd mit kurzen Ärmeln. Eine Schwester kam von hinten, band ihm den sterilen OP-Kittel um, eine andere hielt die Gummischürze bereit. Seidler trat an sein Waschbecken und begann mit den Abschrubben seiner Hände und Unterarme. Dabei sah er durch das breite Fenster hinein in den OP.

»Befinden gut.« Dozent Dr. Battenberg war schon operationsbereit. Mit Kappe und Handschuhen, die Hände von sich gestreckt, stand er da. Den Mundschutz hatte er noch am Kinn baumeln.

»Machen Sie schon auf, Battenberg«, sagte Seidler. »Ich komme, wenn wir am Rippenfell sind.«

Dr. Battenberg betrat den OP. Der Anästhesist nickte zufrieden. Alles normal.

Von den Wänden traten die Assistenten heran, die OP-Schwestern nahmen die Plätze ein.

Lobektomie stand draußen auf der schwarzen Tafel.

Im OP II keine Sensation. Nur für den Laien eine mystische Handlung, etwas Gottbegnadetes.

Dr. Battenberg sah auf den eingezeichneten Operationsraum auf dem Rücken Claudias. Er streckte die Hand aus. Das Skalpell wurde zwischen seine Finger geschoben.

Der erste Schnitt in die Haut.

Ein weiterer Bogenschnitt.

Der Kampf um das Leben Claudias begann. Die nächsten Stunden entschieden ihr Schicksal.

Die Operation dauerte bis gegen Mittag.

Frank Hellberg durchlebte in diesen Stunden alle Qualen der Hölle; wenigstens sagte er sich, daß sie nicht schlimmer sein könnten als diese langsam wegtropfenden Minuten, die unendlich waren, bis sie sich zu einer Stunde sammelten.

Im OP-Trakt rührte sich nichts. OP I war längst verlassen und stand leer, über den luftdicht schließenden Türen des OP II brannte die rote Lampe, die >Eintritt verboten< verkündete.

Hellberg hielt es nicht mehr in dem Warteraum. Er lief hinaus, fuhr mit dem Fahrstuhl herunter und wanderte unruhig durch den Klinikgarten. Wieviel Zigaretten er rauchte - er wußte es später nicht mehr. Halb geraucht, warf er sie weg und steckte sich die neue an. Mit zitternden Fingern wie ein Alkoholiker. Um 12 Uhr rannte er wieder hinauf zum OP-Trakt.

Stille.

Die rote Lampe brannte.

»Mein Gott!« sagte Hellberg und wischte sich über das schweißnasse Gesicht. »So lange kann das doch gar nicht dauern! Was machen sie bloß mit Claudia?«

Gegen 12.30 Uhr erlosch plötzlich die rote Lampe. Hellberg, der nach eingehenden Verhandlungen mit einem Assistenzarzt im kleinen Büro neben dem Verbandsraum I innerhalb des abgesperrten Flures warten durfte, von wo er die rotglimmende Lampe beobachten konnte, sprang auf.

Vorbei, durchzuckte es ihn. Vorbei die Operation . oder vorbei mit dem jungen Leben Claudias? Sein Herz verkrampfte sich, er mußte sich gegen die Wand lehnen und bekam keine Luft mehr.

So traf ihn Professor Seidler an, der als erster aus dem OP II kam, in einem sauberen, weißen Kittel, der noch die Knickfalten der Bügelmaschine hatte. Seidler sah etwas abgespannt aus, aber durchaus nicht erregt oder gar innerlich erschüttert.

»Sie sehen aus, als fielen Sie gleich um!« sagte er zu Frank Hellberg und schloß die Tür zum Flur. »Wer hat Sie überhaupt in den OP-Flur gelassen?«

»Ein junger Arzt.« Hellberg nagte an der Unterlippe. »Ich habe ihn angefleht, und ich glaube, er hat mich hier hereingelassen, nur um endlich Ruhe vor mir zu haben.«

»Setzen Sie sich hin. Ich gebe Ihnen ein Beruhigungsmittel.«

»Nein! Bitte, nein!« Hellberg hob beide Hände. »Wie geht es Claudia? Wie . wie war die Operation? Haben Sie Hoffnung? Wird sie weiterleben können?«

»Dr. Battenberg näht gerade die oberen Schichten. In fünfzehn Minuten ist Ihre Braut auf dem Zimmer.« Professor Seidler trat an das Fenster des kleinen Zimmers und sah hinaus in den Klinikgarten. »Wir mußten einen ganzen Lungenflügel entfernen.«

»Und Claudia wird leben?«

»Wir sollten Gott darum bitten.«

»So schlimm ist es?«

»Das nicht! Was wir Chirurgen tun konnte, haben wir getan. Aber wissen wir, wie sich der Krebs im Körper verhält? Wissen wir, ob nicht noch irgendwo winzige Metastasen sich angesiedelt haben, die eines Tages erschreckend schnell wachsen und inoperable Tumore bilden? Können wir Rezidive vorhersehen? Hier muß die innere Medizin etwas tun. Und die innere Medizin ist arm an prophylaktischen Medikamenten.«

»Das HTS.«, sagte Hellberg leise.

»Wenn Sie daran glauben.« Professor Seidler sah noch immer in den Garten. So konnte man seinen Gesichtsausdruck nicht studieren. »Vielleicht hilft es, vielleicht ist es eine Illusion. Ich weiß es nicht. Ich bin Chirurg. Ich sehe einen Krebs und schneide ihn weg. Und ich lasse bestrahlen, weil ich glaube, daß diese Bestrahlungen zellwachstumshemmend sind. Unsere Erfolge geben uns recht. Aber mehr können wir nicht, wir sind keine Hellseher.«

»Was raten Sie mir, Herr Professor?« Hellberg kam langsam durch den Raum und stellte sich neben Professor Seidler. »Sollen wir nach Sarajewo zurückfahren, wenn Claudia wieder stark genug dazu ist?«

»Ich kann Ihnen diese Frage nicht beantworten.«

»Was können Sie hier für Claudia tun?«

»Sie beobachten.«

»Und weiter?«

»Weiter nichts. Abwarten, bis fünf Jahre vergangen sind.«

»Die berühmte FünfJahres-Grenze, ich weiß.« Hellberg nickte mehrmals. »Und medikamentös?«

»Ich sagte es Ihnen schon ... wenig. Bestimmte Diäten, einige Antizytostatika.«

»Dann fahren wir wieder zu Dr. Zeijnilagic nach Sarajewo. Ich glaube an das HTS!«

»Das muß man Ihnen überlassen, Herr Hellberg.«

»Was man hier für Claudia tun kann, ist auch in Sarajewo möglich.« Hellberg atmete tief auf. »Claudia wird gesund werden, Herr Professor.«

»Wollen Sie fünf Jahre in Sarajewo bleiben?«

»Nein, ein paar Wochen. Dr. Zeijnilagic braucht für die Behandlung vielleicht zwanzig Kapseln.«

Professor Seidler drehte sich um. Sein Blick war nachdenklich, fragend und doch voller Abwehr.

»Wenn so etwas möglich wäre.« Dann schwieg er und schüttelte den Kopf. »Ich wünsche Ihnen und Ihrer Braut viel Glück«, sagte er.

»Ich sehe es Ihnen an: Sie denken, das HTS sei ein Betrug.«

»Wenn man mit zwanzig Kapseln einen Krebs heilen oder Rezi-dive verhindern kann, wäre das eine völlige Revolution der Medizin!«

»Und wenn es das ist?« rief Hellberg.

»Dann wüßte man mehr davon, mein Bester.«

»Wie kann man etwas wissen, wenn sich die Schulmediziner vor diesen Forschungen verschließen? Wenn sie sich zumauern? Wenn sie mit einer Handbewegung, mit einem milden Lächeln, mit Spott oder sogar Verachtung diese kühnen Experimente auf ein totes Gleis schieben?«

»Das verstehen Sie nicht, Herr Hellberg.« Professor Seidler hob lauschend den Kopf. Aus dem OP II wurde das fahrbare Bett mit der Operierten gerollt. Die Tür des breiten Aufzuges klappte zu. Claudia war auf dem Weg in die Intensivstation, den gläsernen Krankenzimmern der Frischoperierten, die von einem Schwesternzimmer aus mit einem Blick übersehen werden konnten. »Es geht hier nicht um ein Mittel wie das HTS. Es geht um eine gesamte Wissenschaft. Denken Sie an Galilei: Daß sich die Erde um die Sonne dreht und nicht umgekehrt, war so ungeheuerlich, daß man ihn als Ketzer verbrennen wollte. Auch, wenn er recht hatte, was wir heute wissen, war es damals eine Zerstörung eines jahrhundertealten Weltbildes. Nicht anders ist es bei der Medizin. Ein Außenseiter ist immer ein Ketzer! Auch Ihr Dr. Zeijnilagic! In spätestens einem halben Jahr wird es still um ihn, um seine Forschungen sein, weil niemand sie zur Kenntnis nehmen wird.«

»Und wenn ich Ihnen in ein oder zwei Jahren Claudia wieder vorführe und Ihnen beweise, daß sie gesund ist?«

»Dann wird es ein Triumph der modernen Chirurgie sein«, sagte Professor Seidler hart. »Denn ich habe sie operiert.«

Bedrückt blieb Hellberg zurück, nachdem Seidler gegangen war. Erst, als Dozent Dr. Battenberg in den Raum kam, erwachte er wie aus einer Erstarrung. Battenberg hatte ein offenes, ja fast fröhliches Gesicht.

»Ihre Braut ist jetzt auf Station W 1/5. Sie können sie vom Schwesternstand aus sehen.« »Danke, danke.« Hellberg wischte sich mit den beiden Händen über das zuckende Gesicht. »Haben Sie Hoffnungen, Doktor?«

»Aber ja! Auch mit einem Lungenflügel kann ein Mensch glücklich sein. Und die Narbe auf dem Rücken ... na ja, nur Sie sehen sie ja.«

»Sie ist also gerettet?«

»Nach menschlichem Ermessen, ja! Eine gute, glatte Operation. Ich würde an Ihrer Stelle keinerlei Sorgen mehr haben.«

Hellberg nickte und reichte Dr. Battenberg die Hand. »Ich danke Ihnen«, sagte er heiser. »Ich danke Ihnen herzlich. Ich wünschte, ich könnte so optimistisch sein wie Sie.«

Später saß er neben der Wachschwester in dem gläsernen, runden Zimmer, von dem aus man die Frischoperierten übersehen konnte.

Claudia lag in Zimmer 5, ein schmaler, bleicher Kopf mit schwarzen, nun kurzgeschnittenen Haaren, der fast in dem Kissen verschwand. Sie lag noch in der Narkose, und eine OP-Schwester saß neben dem Bett und wartete auf ihr Erwachen.

»Sie ist gleich da«, sagte die junge Schwester neben Hellberg. Sie wunderte sich im stillen, wieso der sonst so strenge Chef es erlaubt hatte, daß ein Angehöriger in der Intensivstation sitzen durfte. »Sie bewegt schon die Hände.«

Hellberg nickte stumm. Er starrte auf Claudia. Ihre Finger tasteten über das Bett-Tuch, ihre Beine zuckten, der Kopf drehte sich langsam.

Sie kam ins Leben zurück.

Und Frank Hellberg schwor sich in diesem Augenblick, alles vorzubereiten: Wenn Claudia aus der Klinik entlassen wurde, würden sie nicht wegfahren aus Heidelberg, sondern von der Tür der Klinik aus würde ein Wagen sie zum Standesamt fahren, und er würde sein Leben für immer mit dem Claudias verbinden.

Ich liebe dich, dachte Hellberg stumm und faltete die Hände, als Claudia die Augen aufschlug und die OP-Schwester - das sah er, aber hörte er nicht - mit ihr sprach. O Gott, ich liebe dich.

Und ich weiß, daß du gesund bist, daß wir den Tod in dir besiegt haben.

Ob es Professor Seidler war oder Dr. Zeijnilagic - das ist im Augenblick nicht wichtig.

Du lebst.

Und ich danke Gott dafür.

Durch den Sand des Lido von Venedig liefen zwei glückliche Menschen um die Wette, balgten sich wie übermütige Kinder, jagten sich gegenseitig in das aufspritzende Meer, warfen sich einen großen Luftball zu und spielten Federball.

Die Sonne und das Wasser bräunten ihre Haut. Und manchmal setzte sich der Mann in den Sand, hob die Arme hoch empor und rief:»Ich kapituliere! Ich ergebe mich! Rika, hab Mitleid; ich bin ein alter Mann!«

Dann lachte sie, bewarf ihn mit Sand, kugelte ihn zum Ufer und stieß ihn ins Wasser, und dann prustete er wie ein Seehund und lachte und hätte schreien können vor Glück.

Alle, die zuschauten, freuten sich mit ihnen. Sie ahnten nicht, was sechs Wochen vor diesen übermütigen Tagen noch geschehen war, und sie sahen auch nicht die hellrote Narbe auf dem Leib der jungen, schönen Frau; der Badeanzug verbarg sie allen Blicken. Sie beneideten nur den Mann um diese temperamentvolle, schlanke Frau mit den kastanienfarbenen Haaren, die in der Sonne leuchten konnten wie rotglühendes Gold.

Wenn Karl Haußmann fortging, Eis holen oder eine Limonade, umlagerten Papagalli den Liegestuhl Rikas und riefen Komplimente. Betraten sie den Saal des Hotels zum Abendessen, bekam Hauß-mann ein steifes Kreuz vor Stolz, denn er sah die Blicke der anderen Männer, die seiner Frau folgten. Wie ein Pfau ging er neben ihr, und um zu zeigen, wie sinnlos alle anderen Männergedanken waren, legte er beim Gehen seinen Arm um ihre Hüften und sie spielte mit, bog sich zurück und lachte schallend.

In der Nacht lagen sie jetzt wach und sahen in den mondhellen Himmel.

Vor dem Fenster plätscherte das Meer. Aus der Bar klang leise Tanzmusik zu ihnen herauf. Irgendwo, vielleicht in dem Cafe auf der Piazza St. Giulio, sang eine helle Männerstimme von Amore. Es war heiß im Zimmer, und sie lagen auf den Bettdecken, bekleidet mit dem Mondschein.

»Du.«, sagte Erika leise und legte ihre Hand auf Haußmanns Brust.

»Ja, Rikchen?«

»Wann ist das Paradies zu Ende?«

»Nie!«

»Wie lange bleiben wir noch in Venedig?«

»Noch eine Woche.« Haußmann drehte sich auf die Seite. Der nackte, braune Körper seine Frau glänzte im Mondlicht. Unterhalb des Nabels war die lange, rote Narbe . eine Straße, die aus der Todesangst herausgeführt hatte.

Karl Haußmann beugte sich vor, legte seinen Kopf auf Erikas Leib und küßte die Narbe. Mit beiden Händen umgriff sie seinen Kopf und drückte ihn an sich.

»Wenn du willst . ich bleibe so lange hier, bis du sagst: Nun laß uns fahren«, sagte Haußmann.

»Wir haben noch zwei Kinder, Karl.«

»Die sind erwachsen! Wir sollten endlich unser eigenes, unser ganz alleiniges Leben genießen.«

»Deine Fabrik.«

»Ich habe einen guten Prokuristen!« Haußmann umarmte den Leib Erikas. »Überhaupt das Geldverdienen . der Satan ist da drin. Was hat die Jagd nach dem Geld aus uns gemacht, Rika!«

»Zwei moderne Menschen, Karl.«

»Ich möchte lieber unmodern sein, aber glücklich mit dir!«

»Dann laß uns fahren, Karl.«

»Fahren?« Haußmann richtete sich auf und legte seine Hände auf ihre Brüste. Er spürte, wie sie zitterten. »Wann?«

»Morgen schon.« »Wohin denn, Rika?«

»Zurück nach Gelsenkirchen. In unser Haus . in meine Heimat . zu uns. Karl.«

»Weg von Venedig, Rika?«

Sie nickte und lächelte. Und plötzlich sah er, wie sie weinte, wie lautlos die Tränen aus ihren großen, schönen Augen rollten.

»Wir haben ein so schönes Haus, Karl.«

»Aber die Gegend ist staubig, rußig, es regnet immer, und die Sonne schwimmt hinter den Rauchwolken der Fabriken.«

»Trotzdem.« Sie ergriff seine Hände und zog sie an ihre Lippen. »Laß uns morgen schon fahren, Karl. Ich ... ich habe Sehnsucht nach den Kindern . nach unserer Terrasse, nach dem Wohnzimmer mit dem indischen Teppich - weißt du noch, zum 40. Geburtstag hast du ihn mir gekauft -, nach dem Blick aus meinem Schlafzimmer, der auf die Blutbuche im Garten fällt ... ich habe Sehnsucht nach unserer kleinen, eigenen Welt, die wir beide uns gemeinsam geschaffen haben.«

Karl Haußmann nickte und zog sie an sich.

Er war so glücklich, daß er tief atmen mußte, denn großes Glück macht das Herz schwer, wie mit Blei gefüllt.

Am nächsten Morgen fuhren sie ab. Zurück nach Deutschland.

Das >Schiff der Hoffnung< fuhr auch weiterhin.

Von Bari nach Dubrovnik.

Von Dubrovnik nach Bari.

Täglich hin und her, mit einem Leib voller Autos, mit fröhlichen, urlaubsübermütigen Menschen auf den Decks.

Die Kranken waren verschwunden. Nur wenige, die von Bekannten oder aus alten Zeitungen von dem HTS hörten, begaben sich auf die weite Reise nach Sarajewo. Aber nichts Sensationelles war mehr an ihnen, keiner beachtete sie mehr, kein Reporter schrieb über sie, kein Fotograf schickt ihre Bilder in alle Welt.

Das Neue, das Außergewöhnliche, der große >Knüller<, wie es die Presse nannte, war vorüber. Auch vor dem Haus des Dr. Zeijnila-gic standen sie nicht mehr Schlange, bettelten die Kranken nicht um die helfenden Kapseln, entfalteten sich keine Tragödien auf den Stufen der abgetretenen Treppe des Hauses Obala-Straße 40. Das alles war vorbei.

Die Kapseln wurden fabrikmäßig hergestellt und unentgeltlich verteilt. Der jugoslawische Staat wollte nicht daran verdienen, Dr. Zeijnilagic hatte nie daran verdient, sondern nur sein eigenes Vermögen dafür geopfert. Wie Drops wurden sie ausgegeben, und wie saure Drops werden die Kapsel HTS seitdem auch von der schnell beleidigten Schulmedizin betrachtet.

Wer prüft heute das HTS? Wo finden Versuchsreihen statt? Wo entwickelt man Statistiken des Heilens oder auch nur Helfens? Welche Kliniken setzen sich heute dafür ein? Wer hält den Namen Dr. Zeijnilagic im Gespräch?

Denn es geht doch um den Krebs!

Die Geißel der modernen Menschheit.

Jeder fünfte stirbt heute an einem Karzinom.

Millionen hoffen auf ein Heilmittel. Millionen Kranke hoffen auf die Kunst der Ärzte, auf die Entdeckungsgabe der Wissenschaften, auf den Genieblitz eines Außenseiters.

Oder dürfen diese Blitze nicht sein?

Ein häßlicher Verdacht taucht auf:Noch ist der Krebs ein großes Geschäft. Solange Menschen sterben, leben ganze Industrien von ihrem Tod.

Und die Berechnungen der Anthropologen und Bevölkerungsbiologen liegen auch schon vor: Durch den Fortschritt der Medizin leben die Menschen heute zwanzig Jahre länger. Gelingt es, den Krebs zu besiegen und noch einige andere infektiöse Krankheiten, gelingt es, die Menschheit zu Hundertjährigen zu machen, dann wird im Jahre 2200 nach Christi Geburt die Erde auseinanderplatzen, und wir werden untergehen wie Saurier, weil die Erde für die wimmelnden Menschen keinen Platz und keine Nahrung mehr hat.

Ist Krebs, die Geißel der Menschheit, bloß eine natürliche Bremse für die Übervölkerung?

Müssen wir in einem vernünftigen Alter sterben, um den nach-folgenden Generationen Lebensraum zu geben?

Muß es heißen: Medizin stopp!

Die Welt der Hundertjährigen ist das Ende der Menschheit, schlimmer als jetzt der Krebs?!

Wer gibt darauf eine Antwort? Wer wagt das überhaupt.

In Sarajewo entdeckte ein kleiner, unbekannter Arzt das HTS.

Wer kennt ihn noch!

Irgendwo wird vielleicht auch etwas gegen den Krebs entdeckt ... wer weiß es?

Aber die >Schiffe der Hoffnung< werden immer fahren, ob zwischen Bari und Dubrovnik oder einmal zwischen Erde und Mars - kein Weg wird zu weit sein, keine Anstrengung zu groß.

Denn was wären wir Menschen ohne die Hoffnung.