37695.fb2 Das Testament der G?tter - читать онлайн бесплатно полную версию книги . Страница 1

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Sehet, was die Ahnen vorausgesagt haben, ist

eingetreten: Das Verbrechen hat sich ausgebreitet,

Gewalt ist in die Herzen eingezogen, das Unheil

zieht durch das Land, Blut fließt, der Dieb

bereichert sich, das Lächeln ist erloschen, die

Geheimnisse sind allen preisgegeben, die Bäume

sind entwurzelt, die Pyramide ist geschändet

worden, die Welt ist so tief gesunken, daß eine

kleine Zahl von Toren sich des Königtums

bemächtigt hat und die Richter davongejagt wurden.

Doch entsinne dich der Achtung der Maat, der

rechten Folge der Tage, der glücklichen Zeit, in der

die Menschen Pyramiden bauten und Haine für die

Götter gedeihen ließen, jener gesegneten Zeit, in

der eine einfache Matte die Bedürfnisse eines jeden

befriedigte und ihn glücklich machte.

Mahnworte des Weisen Ipu-we

Eine mondlose Nacht umhüllte die Große Pyramide mit einem Mantel aus Finsternis. Verstohlen schlich sich ein Sandfuchs in den Friedhof der Vornehmen, die auch im Jenseits noch fortführen, PHARAO zu verehren. Wachen behüteten das prachtvolle Baudenkmal, das allein Ramses der Große einmal im Jahr betrat, um Cheops, seinem glorreichen Ahn, die Ehre zu erweisen; es wurde geraunt, die Mumie des Schöpfers der höchsten Pyramide wäre von einem Sarkophag aus Gold geschützt, welcher selbst von unglaublichen Reichtümern bedeckt wäre. Doch wer hätte es je gewagt, sich an einem derart gut bewachten Schatz zu vergreifen? Niemand, mit Ausnahme des herrschenden Regenten, konnte die steinerne Schwelle überschreiten und sich im Labyrinth des gewaltigen Bauwerks zurechtfinden. Der zu seinem Schutz abgestellte Sonderverband der Streitkräfte schoß ohne Vorwarnung mit dem Bogen; mehrere Pfeile hätten den Unvorsichtigen oder den Neugierigen augenblicklich durchbohrt. Ramses’ Reich war vom Glück gesegnet; reich und friedlich strahlte Ägypten auf die Welt. PHARAO erschien als der Bote des Lichts, die Höflinge dienten ihm mit Ehrfurcht, das Volk pries seinen Namen. Die fünf Verschwörer traten zugleich aus einer Arbeiterhütte, in der sie sich den Tag über versteckt hatten; hundertmal waren sie ihren Plan mit der Gewißheit durchgegangen, nichts dem Zufall überlassen zu haben. Sollten sie Erfolg haben, würden sie früher oder später Herren des Landes werden und ihm ihr Siegel aufdrücken.

Mit Obergewändern aus grobem Leinen bekleidet, gingen sie, fiebrige Blicke hinüber zur großen Pyramide werfend, die Hochebene von Gizeh entlang. Die Wache unmittelbar anzugreifen, wäre Irrsinn gewesen; wenn auch andere vor ihnen daran gedacht hatten, sich des Schatzes zu bemächtigen, bisher war es keinem gelungen.

Einen Monat zuvor war der Große Sphinx aus einem durch mehrere Stürme aufgetürmten Sandbett befreit worden. Der Riese mit seinen gen Himmel erhobenen Augen wurde nicht sonderlich bewacht. Sein Name, »lebendes Abbild«, und der Schrecken, den er einflößte, genügten durchaus, das gemeine Volk fernzuhalten. Als vor urdenklichen Zeiten aus dem Kalkgestein gehauener Pharao mit Löwenkörper ließ der Sphinx die Sonne aufgehen und wußte um die Geheimnisse der Welt. Fünf Altgediente bildeten seine Ehrenwache. Zwei von ihnen, die rücklings an der äußeren Umfriedungsmauer gegenüber den Pyramiden lehnten, schliefen den Schlaf der Gerechten. Sie würden nichts sehen und nichts hören. Der schmalste der Verschwörer erklomm die Umfriedungsmauer; behende und lautlos erdrosselte er den Soldaten, der nahe der rechten Flanke des steinernen Raubtiers schlief, beseitigte dann dessen neben der linken Schulter in Stellung gegangenen Waffenbruder.

Die übrigen Verschwörer stießen hinzu. Den dritten Altgedienten aus dem Weg zu räumen, würde nicht so leicht sein. Der Oberaufseher befand sich vor der Stele von Thutmosis IV[1], die zwischen den Pranken des Sphinx aufgestellt war, um daran zu erinnern, daß jener Pharao ihm sein Reich verdankte. Mit einer Lanze und einem Dolch bewaffnet, würde der Soldat sich zu wehren wissen. Einer der Verschwörer streifte sein Obergewand ab. Nackt trat sie auf den Wachsoldaten zu. Verdutzt starrte er die Erscheinung an. War diese Frau nicht einer der Geister der Nacht, die um die Pyramiden umherschweiften, um die Seelen zu stehlen? Lächelnd näherte sie sich ihm. Entsetzt sprang der Altgediente auf und hob drohend seine Lanze; sein Arm zitterte. Sie blieb stehen. »Weiche zurück, Gespenst, entferne dich!«

»Ich werde dir kein Leid antun. Laß mich dich mit Zärtlichkeit liebkosen.«

Der Blick des Oberaufsehers blieb auf den nackten Körper, diesen weißen Fleck in der Dunkelheit, geheftet. Wie gebannt trat er einen Schritt auf sie zu. Als der Strick sich um seinen Hals legte, ließ der Krieger seine Lanze los, fiel auf die Knie, versuchte vergebens zu schreien und sank zu Boden. »Der Weg ist frei.«

»Ich richte die Lampen her.«

Der Stele gegenüber zogen die fünf Verschwörer ein letztes Mal ihren Lageplan zu Rate und machten dann einander Mut für die nächsten Schritte, trotz der sie peinigenden Angst. Sie rückten die Stele zur Seite und erblickten staunend das gesiegelte Tongefäß, das die Stelle des Höllenschlunds, die Pforte zu den Eingeweiden der Erde, anzeigte. »Es war keine Mär!«

»Laßt uns nachsehen, ob es tatsächlich einen Zugang gibt.« Unter dem Tongefäß fand sich eine mit einem Ring versehene Steinplatte. Zu viert gelang es, sie abzuheben.

Ein schmaler, sehr niedriger Gang mit starkem Gefälle bohrte sich in die Tiefe. »Rasch, die Lampen!«

In Schalen aus Dolerit[2] gossen sie sehr fettes, leicht entflammbares Erdöl. PHARAO verbot dessen Gebrauch und den Handel damit, da der schwarze Rauch, der beim Verbrennen entstand, die mit der Ausschmückung der Tempel und Gräber betrauten Handwerker krank machte und Decken sowie Wände verschmutzte. Die Weisen behaupteten, dieses »Steinöl«[3] , wie es die Barbaren nannten, sei ein schädlicher und gefährlicher Stoff, eine bösartige, mit Miasmen befrachtete Ausschwitzung der Gesteine. Die Verschwörer scherten sich nicht darum. Tief gebückt, wobei ihre Schädel oft gegen die kalksteinerne Decke stießen, drangen sie mit hastigen Schritten durch den engen Stollen dem unterirdischen Teil der Großen Pyramide entgegen. Niemand sprach ein Wort; allen ging die düstere Überlieferung durch den Kopf, der zufolge ein Geist jedem, der des Cheops’ Grab zu schänden versuchte, das Genick bräche. Woher sollte man wissen, ob dieser Herrscher sie nicht von ihrem Ziel abbrächte? Falsche Pläne waren in Umlauf gewesen, um etwaige Diebe in die Irre zu führen; war der, den sie in Händen hatten, der richtige?

Sie stießen auf eine Steinwand, die sie mit dem Meißel angingen; glücklicherweise ließen sich die nicht sonderlich dicken Quader leicht drehen. Die Verschwörer glitten ins Innere einer weiten Kammer mit gestampftem Lehmboden von drei Meter fünfzig in der Höhe, vierzehn in der Länge und acht in der Breite. In der Mitte war ein Brunnen. »Die Niedrige Kammer … Wir sind in der Großen Pyramide!«

Es war ihnen gelungen.

Der seit so vielen Menschenaltern vergessene Gang[4]führte tatsächlich vom Sphinx zu Cheops’ gigantischem Bauwerk, dessen erste Kammer ungefähr dreißig Meter unterhalb der Erdoberfläche lag. Hier, in dieser Gebärmutter, der Beschwörung des Schoßes der Mutter Erde, waren die ersten Auferstehungsriten vollzogen worden.

Nun jedoch mußten sie einen Brunnenschacht überwinden, der durch das Innere des steinernen Kolosses hinaufstieg und auf den Gang traf, der hinter den drei granitenen Verschlußblöcken begann. Der leichteste von ihnen erklomm ihn, indem er sich an die Unebenheiten des Gesteins klammerte und sich mit den Füßen daran abstemmte; oben angekommen, ließ er den um seinen Leib gewickelten Strick hinunter. Aus jähem Luftmangel wäre einer der Verschwörer fast ohnmächtig geworden; seine Gefährten schleiften ihn bis zur Großen Galerie, wo er wieder zu Atem kam.

Die Erhabenheit der Stätte betörte sie. Welcher Baumeister war aberwitzig genug gewesen, ein solches, aus sieben Steinlagen bestehendes Gefüge zu errichten? Siebenundvierzig Meter lang und acht Meter fünfzig breit, trotzte diese große Halle, dieses wegen seiner Ausmaße und seiner Lage im Herzen einer Pyramide einzigartige Werk, den Jahrhunderten. Kein Baukünstler würde – wie Ramses’ Baumeister bekundeten – jemals wieder eine derartige Großtat verwirklichen.

Eingeschüchtert dachte einer der Verschwörer ans Aufgeben; der Anführer der Unternehmung stieß ihm heftig in den Rücken und nötigte ihn weiterzugehen. So kurz vor dem Ziel aufzugeben wäre töricht gewesen; zumal sie sich zu der Genauigkeit ihres gezeichneten Plans nur beglückwünschen konnten. Ein Zweifel blieb jedoch bestehen: Waren die steinernen Fallgatter zwischen dem oberen Ende der Großen Galerie und dem eigentlichen Zugang zur Kammer des Königs heruntergelassen worden? Wenn dem so war, würde es ihnen nicht gelingen, dieses Hindernis zu umgehen, und sie müßten unverrichteterdinge umkehren.

»Der Durchgang ist frei.«

Bedrohlich leer schienen die Hohlräume, die dazu bestimmt waren, die ungeheuren Blöcke aufzunehmen. Die fünf Verschwörer bückten sich, um in die Kammer des Königs einzudringen, deren Decke von neun Granitmonolithen gebildet wurde, die mehr als vierhundert Tonnen schwer waren. Der annähernd sechs Meter hohe Saal barg das Herz des Reiches, den Sarkophag des Pharaos, welcher auf einem Silberboden ruhte, der die Reinheit der Stätte bewahrte. Sie zögerten.

Bis zu diesem Moment waren sie wie Forscher auf der Suche nach einem unbekannten Land gewesen. Gewiß, sie hatten drei Verbrechen begangen, für die sie sich vor dem Gericht der anderen Welt würden rechtfertigen müssen, doch hatten sie nicht für das Wohl des Landes und des Volkes gehandelt, indem sie die Vertreibung eines Gewaltherrschers vorbereiteten? Wenn sie jedoch den Sarkophag öffneten, wenn sie ihn seiner Schätze beraubten, würden sie die Ewigkeit und nicht etwa die eines mumifizierten Menschen, sondern die eines in seinem Leib aus Licht gegenwärtigen Gottes schänden. Sie würden ihr letztes Band mit einer jahrtausendealten Zivilisation zertrennen, um eine neue Welt erstehen zu lassen, die Ramses niemals zulassen würde. Auch wenn sie gegen das Verlangen ankämpfen mußten, sich davonzumachen, empfanden sie doch ein Gefühl des Wohlbehagens. Durch zwei in die Nord- und die Südwand der Pyramide gehauene Schächte drang Luft herein, von den Steinplatten stieg eine unsichtbare Strahlung auf, die ihnen eine ungekannte Kraft einflößte.

Auf diese Art und Weise also verjüngte sich PHARAO, indem er die aus dem Stein und der Form des Bauwerks hervorgehende Ausstrahlung in sich aufsog!

»Die Zeit drängt.«

»Laßt uns gehen.«

»Das kommt nicht in Frage.« Zwei traten näher, dann der dritte, schließlich die beiden letzten. Gemeinsam hoben sie den Deckel des Sarkophags an und stellten ihn auf den Bodenplatten ab.

Eine lichtstrahlende Mumie … eine mit Gold, Silber und Lapislazuli bedeckte Mumie, die so erhaben war, daß die Plünderer ihren Blick nicht ertragen konnten. Mit jähzorniger Bewegung riß der Anführer der Verschwörer die Goldmaske herunter; seine Helfershelfer bemächtigten sich des Halsschmucks und des Skarabäus aus demselben Metall, welcher auf die Stelle des Herzens gelegt war, der Amulette aus Lapislazuli und des Dächsels aus himmlischem Eisen, jenes Schreinerbeitels, der zur Öffnung von Mund und Augen in der anderen Welt diente. Diese Wunderwerke schienen ihnen beinahe nichtig beim Anblick des goldenen Krummstabs, welcher das ewige Gesetz versinnbildlichte, dessen alleiniger Bürge PHARAO war, vor allem aber angesichts eines kleinen Futterals in Form eines Schwalbenschwanzes. Im Innern: das Testament der Götter. Durch diesen Text empfing PHARAO das Reich zum Erbe und sollte es glücklich und gedeihend bewahren. Wenn er sein Sed-Fest, sein Verjüngungsfest, begehen würde, wäre er genötigt, diesen als Beweis der Rechtmäßigkeit seiner Herrschaft dem Hof und dem Volke vorzuzeigen. Wäre er außerstande, dieses Schriftstück zu erbringen, würde er früher oder später zur Abdankung gezwungen sein. Unglück, Not und Plagen würden bald über das Land hereinbrechen. Indem sie das Allerheiligste der Pyramide entweihten, störten die Verschwörer den wichtigsten Kraftquell des Reiches und beeinträchtigten das Ausströmen des Ka, der körperlosen Kraft, die jede Form von Leben beseelte.

Die Diebe bemächtigten sich noch einer Kiste mit Barren himmlischen Eisens – ein so seltenes und kostbares Metall wie Gold. Es würde ihnen dazu dienen, ihre Pläne zu vollenden. Nach und nach würde das Unrecht sich in den Gauen[5] ausbreiten, Murren sich gegen PHARAO erheben und eine zerstörerische Flutwelle auslösen. Nun blieb ihnen nur noch, aus der Großen Pyramide wieder hinauszugelangen, ihre Beute zu verbergen und ihr Netz zu spinnen.

Bevor sie auseinandergingen, leisteten sie einen Eid: Wer auch immer sich ihnen in den Weg stellte, würde beseitigt werden. Die Eroberung der Macht forderte diesen Preis.

1. Kapitel

Nach einer langen, der Kunst des Heilens gewidmeten Laufbahn genoß Branir einen friedlichen Ruhestand in seinem Hause in Memphis. Kräftig gebaut und mit stattlicher Brust, trug der alte Arzt eine erhabene silbrige Haarpracht zur Schau, die sein Ehrfurcht gebietendes Gesicht krönte, aus dem Güte und Aufopferung sprachen. Seine natürliche Würde hatte die Großen wie die Gemeinen bezwungen, und man entsann sich keiner Begebenheit, bei der irgendjemand es ihm gegenüber an Achtung hätte fehlen lassen.

Als Sohn eines Perückenmachers hatte Branir den Schoß der Familie verlassen, um Bildhauer, Maler und Zeichner zu werden; einer von PHARAOS Baumeistern hatte ihn in den Tempel von Karnak berufen. Im Verlauf eines Festmahls der Zunft dann hatte sich einer der Steinmetze unwohl gefühlt; ohne längeres Nachdenken und einem inneren Antrieb folgend, hatte Branir ihn durch Handauflegen hypnotisiert und so dem sicheren Tod entrissen. Die für die Gesundheitsfürsorge Zuständigen des Tempels hatten eine so kostbare Gabe nicht brachliegen lassen und Branir die Möglichkeit gegeben, sich im Umgang mit Lehrmeistern auszubilden, bevor er schließlich selbst Heiler wurde. Für die Ersuchen des Hofes unempfänglich und Ehrungen gegenüber gleichgültig, hatte er allein für die Heilkunst gelebt. Indes, wenn er die große Stadt im Norden verlassen hatte, um sich in eine kleine Ortschaft des thebanischen Bezirks zu begeben, so war dies nicht seines Berufes wegen geschehen. Er hatte eine andere, eine derart heikle Aufgabe zu erfüllen, daß sie zum Scheitern verurteilt zu sein schien; doch er würde nicht aufgeben, bevor er nicht alles versucht hätte. Bewegt fand er sein inmitten eines Palmenhains verstecktes Dorf wieder. Branir ließ die Sänfte neben einer Gruppe dicht ineinander stehender Tamarisken anhalten, deren Äste bis zum Boden reichten. Die Luft und die Sonne waren mild; er bemerkte die Bauern, die der Weise einer Flöte lauschten. Mit der Hacke zerkleinerten ein Alter und zwei Junge die Erdschollen auf dem Hochfeld, das sie gerade bewässert hatten; Branir dachte an die Jahreszeit, in welcher der von der Nilschwelle zurückgelassene Schlamm die Saat aufnahm, die Schweine- und Schafherden dann eintraten. Die Natur bot Ägypten unschätzbare Reichtümer, welche die Menschen mit ihrer Arbeit bewahrten; Tag für Tag verstrich in den Gefilden dieses von den Göttern geliebten Landes eine glückselige Ewigkeit.

Branir setzte seinen Weg fort. Am Eingang des Dorfes begegnete er einem Ochsengespann; eines der Tiere war schwarz, das andere weiß mit braunen Flecken. Unter das hölzerne Joch gezwungen, das auf dem Stirnbein an den Hörnern auflag, schritten sie gemächlich vorwärts.

Vor einem der Lehmhäuser molk ein kauernder Mann eine Kuh, deren Hinterbeinen er Fesseln angelegt hatte. Sein Gehilfe, ein junger Knabe, goß die Milch in einen irdenen Krug.

Branir entsann sich gerührt der Kuhherde, die er einst gehütet hatte; sie hatten »guter Rat«, »Taube«, »Wasser der Sonne« oder »glückliche Überschwemmung« geheißen. Ein Segen für den, der sie besaß, verkörperte die Kuh Schönheit und Sanftheit. In den Augen eines Ägypters gab es kein begehrenswerteres Tier; mit seinen großen Ohren vernahm es die Musik der Sterne, die, wie es selbst, unter den Schutz der Göttin Hathor gestellt waren. »Welch ein herrlicher Tag«, sang oftmals der Kuhhirte, »der Himmel ist mir gewogen und meine Pflicht süß wie der Honig.«[6] Gewiß, der Aufseher der Felder hatte ihn des öfteren zur Ordnung gerufen und ihn aufgefordert, sich zu sputen und das Vieh anzutreiben, statt herumzutrödeln. Und wie gewöhnlich hatten die Kühe ihren Weg gewählt, ohne ihren Gang zu beschleunigen. Der alte Heilkundige hatte beinahe all diese schlichten Begebenheiten vergessen, dieses Dasein ohne Überraschungen und den heiteren Frieden des Alltags, in dem der Mensch nur ein Anblick unter vielen war; die Gesten wiederholten sich Jahrhundert um Jahrhundert, die Nilschwelle und die Ebbe bildeten das stete Ebenmaß von Menschengeschlechtern … Plötzlich brach eine mächtige Stimme die Ruhe der Ortschaft. Der öffentliche Ankläger rief die Bevölkerung zu Gericht, während der Büttel[7], der die Sicherheit gewährleisten und der Ordnung Achtung verschaffen sollte, eine Frau packte, die entschieden ihre Unschuld beteuerte.