37695.fb2 Das Testament der G?tter - читать онлайн бесплатно полную версию книги . Страница 2

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Das Hohe Gericht hatte sich im Schatten einer Sykomore eingerichtet; den Vorsitz führte ein Richter von einundzwanzig Jahren, der das Vertrauen der Ältesten besaß. Für gewöhnlich ernannten die Oberen allerdings einen Mann reifen Alters, der mit gründlicher Erfahrung ausgestattet und für seine Entscheidungen bezüglich seiner Güter – sofern er reich war – und seiner Person – wenn er nichts besaß – vollends mündig war; daher auch herrschte an Anwärtern für dieses Amt, und sei es das eines niederen Landrichters, kein Überfluß. Jeder bei einem Vergehen ertappte Gerichtsbeamte wurde strenger bestraft als ein Mörder; eine gesetzestreue Ausübung der Rechtspflege verlangte dies. Paser hatte keine Wahl gehabt; aufgrund seiner entschiedenen Wesensart und seines ausgeprägten Sinns für Redlichkeit war er einstimmig vom Ältestenrat erwählt worden. Wenngleich er noch sehr jung war, legte der Richter sicheren Sachverstand an den Tag, indem er jeden Fall mit äußerster Sorgfalt bearbeitete. Recht groß und eher schmal, mit seinem dunkelblonden Haar, der breiten, hohen Stirn, seinen grünen, ins Kastanienbraune stechenden Augen und seinem wachen Blick beeindruckte Paser durch seine Ernsthaftigkeit; weder Zorn noch Tränen noch Verführung konnten ihn in die Irre führen. Er hörte zu, erforschte, suchte und faßte seinen Gedanken erst zum Ende langer und geduldiger Ermittlungen in Worte. Im Dorf verwunderte man sich manchmal angesichts solcher Strenge, doch man beglück­wünschte sich zu seiner Liebe zur Wahrheit und seinem Geschick, Streitfälle beizulegen. Viele fürchteten ihn, wußten sie doch, daß er Halbheiten ausschloß und sich zur Nachsicht wenig geneigt zeigte; doch keine seiner Entscheidungen war bisher in Frage gestellt worden. Zu Pasers Rechten und Linken saßen die Geschworenen, acht an der Zahl: der Bürgermeister, seine Gemahlin, zwei Landwirte, zwei Handwerker, eine betagte Witwe und der Vorsteher der Bewässerungen. Alle hatten die Fünfzig überschritten. Der Richter eröffnete die Versammlung, indem er Maat anrief, die Göttin, die die Weltordnung[8] verkörperte, nach der das Rechtswesen der Menschen sich zu richten versuchen mußte; dann brachte er die Anklageschrift gegen die junge Frau zur Verlesung, welche der Büttel dem hohen Gericht gegenüber mit entschiedener Hand festhielt. Eine ihrer Freundinnen bezichtigte sie, einen Spaten gestohlen zu haben, der ihrem Gatten gehört habe. Paser bat die Klägerin, ihre Anschuldigung mit lauter Stimme zu bestätigen, und forderte die Beklagte auf, ihre Verteidigung vorzutragen. Die erste äußerte sich mit Mäßigung, die zweite stritt heftig ab. Gemäß dem seit dem Anbeginn in Kraft befindlichen Gesetz stellte sich kein Fürsprecher zwischen den Richter und die von einer Verhandlung unmittelbar Betroffenen. Paser befahl der Beklagten, sich zu beruhigen. Die Klägerin bat ums Wort, um sich über die Nachlässigkeit der Gerichtsbehörden zu verwundern; hatte sie den Sachverhalt nicht bereits einen Monat zuvor dem Schreiber, der Paser beisaß, geschildert, ohne indes die Einberufung des Gerichts zu erwirken? Sie war gezwungen gewesen, ein zweites Gesuch einzureichen. Die Diebin hätte somit genügend Zeit gehabt, das Beweisstück verschwinden zu lassen. »Gibt es einen Zeugen für diesen Vorwurf?«

»Mich selbst«, antwortete die Klägerin. »Wo ist der Spaten versteckt worden?«

»Bei der Beschuldigten.«

Mit einem Ungestüm, das den Richter beeindruckte, stritt letztere erneut alles ab. Ihre Aufrichtigkeit schien offenkundig.

»Nehmen wir auf der Stelle eine Durchsuchung vor«, verlangte Paser.

Ein Richter mußte sich zum Ermittler wandeln, die Behauptungen und die Hinweise an den Tatorten in eigener Person nachprüfen.

»Ihr habt nicht das Recht, mein Haus zu betreten«, schrie die Beklagte auf.

»Gesteht Ihr?«

»Nein! Ich bin unschuldig!«

»Vor diesem Gericht zu lügen, ist ein schlimmes Vergehen.«

»Sie ist es, die gelogen hat!«

»In diesem Fall wird ihre Strafe streng ausfallen. Bekräftigt Ihr Eure Anschuldigungen?« fragte Paser, wobei er der Klägerin fest in die Augen schaute.

Sie bejahte.

Vom Büttel geführt, begab sich das Gericht vor Ort. Der Richter nahm höchstselbst die Hausdurchsuchung vor. Er entdeckte den Spaten im Keller, in Lappen eingewickelt und hinter irdenen Ölkrügen verborgen. Die Schuldige brach zusammen. Dem Gesetz gemäß verurteilten sie die Geschworenen dazu, der Geschädigten das Zweifache ihres Diebesguts, also zwei neue Spaten, zu entrichten. Darüber hinaus war die Lüge unter Eid mit lebenslanger Zwangsarbeit zu ahnden, der Höchststrafe bei einer Strafsache. Die Frau würde gezwungen sein, viele Jahre ohne eigenen Gewinn auf den Feldern des örtlichen Tempels zu arbeiten.

Bevor er die Geschworenen entließ, die es eilig hatten, wieder ihren Tätigkeiten nachzugehen, fällte Paser einen unerwarteten Spruch: Fünf Stockschläge für den beisitzenden Schreiber, der schuldig war, eine Gerichtssache verschleppt zu haben. Da den Weisen zufolge das Ohr des Menschen auf dessen Rücken saß, würde er der Stimme des Stocks lauschen und sich in Zukunft weniger nachlässig zeigen. »Würde der Richter mir Gehör schenken?« Stutzig wandte Paser sich um. Diese Stimme … War es möglich? »Ihr!« Branir und Paser umarmten sich herzlich.

»Ihr, hier im Dorf!«

»Eine Rückkehr zu den Ursprüngen.«

»Treten wir unter die Sykomore.« Die beiden Männer ließen sich auf zwei tiefen Sitzen unter der großen Sykomore nieder, wo die angesehenen Einwohner üblicherweise den Schatten genossen. An einem der Hauptäste war ein Schlauch voll kühlen Wassers aufgehängt. »Entsinnst du dich, Paser? Genau hier habe ich dir nach dem Tode deiner Eltern deinen geheimen Namen offenbart. Paser, ›der Seher, der in der Ferne erkennt‹ … Als der Ältestenrat ihn dir zuteilte, hat er sich nicht geirrt. Was kann man von einem Richter mehr verlangen?«

»Ich bin damals gerade beschnitten worden, das Dorf hat mir meinen ersten Würdenschurz geschenkt, ich habe mein Spielzeug weggeworfen, gebratene Ente gegessen und roten Wein getrunken. Welch ein schönes Fest!«

»Der Heranwachsende ist rasch zum Manne geworden.«

»Zu rasch?«

»Jedem sein Maß. Du, du bist Jugendlichkeit und Reife im selben Herzen.«

»Ihr wart es, der mich erzogen hat.«

»Du weißt, daß das nicht stimmt; du hast dich allein geschmiedet.«

»Ihr habt mich lesen und schreiben gelehrt, Ihr habt mir ermöglicht, das Gesetz zu entdecken und mich ihm zu widmen. Ohne Euch wäre ich ein Bauer geworden und hätte mein Land mit Liebe beackert.«

»Du bist von anderem Wesen; die Größe und das Glück eines Landes fußen auf den Fähigkeiten seiner Richter.«

»Gerecht zu sein … das ist ein tagtäglicher Kampf. Wer könnte sich brüsten, stets als Sieger daraus hervorzugehen?«

»Du hast den Wunsch dazu; das ist die Hauptsache.«

»Das Dorf ist ein Hort des Friedens; diese traurige Angelegenheit ist außergewöhnlich.«

»Bist du nicht zum Aufseher des Kornspeichers benannt worden?«

»Der Bürgermeister möchte, daß mir die Stellung des Verwalters von PHARAOS Feld zuerkannt wird, um die Streitigkeiten während der Ernten zu vermeiden. Die Aufgabe reizt mich nicht; ich hoffe, er wird damit scheitern.«

»Dessen bin ich gewiß.«

»Weshalb?«

»Weil du für eine andere Zukunft auserkoren bist.«

»Ihr macht mich neugierig.«

»Man hat mir einen Auftrag anvertraut, Paser.«

»Der Palast?«

»Der Gerichtshof von Memphis.«

»Sollte ich einen Fehler begangen haben?«

»Im Gegenteil. Seit zwei Jahren verfassen die Aufsichtsbeamten der Landrichter nichts als schmeichelhafte Berichte über dein Verhalten. Du bist gerade in den Gau von Gizeh zum Nachfolger eines verstorbenen Gerichtsbeamten berufen worden.«

»Gizeh ist so weit weg von hier!«

»Einige Tagesreisen zu Schiff. Du wirst in Memphis deinen Wohnsitz beziehen.«

Gizeh, die unter allen erlauchte Stätte; Gizeh, wo sich Cheops’ Große Pyramide erhob, der rätselhafte Kraftquell, von dem der innere Friede des Landes abhing, jenes ungeheure Bauwerk, das allein der herrschende Pharao betreten durfte. »Ich bin glücklich in meinem Dorf; ich bin hier geboren, ich bin hier aufgewachsen, ich arbeite hier. Es zu verlassen, wäre eine große Prüfung.«

»Ich habe deine Ernennung unterstützt, da ich glaube, daß Ägypten dich braucht. Du bist nicht der Mann, der seine Eigenliebe über alles stellt.«

»Ein unwiderruflicher Beschluß?«

»Du kannst ablehnen.«

»Ich muß darüber nachdenken.«

»Des Menschen Körper ist weiträumiger als ein Kornspeicher; er ist mit unzähligen Antworten angefüllt. Wähle die gute; möge die schlechte darin verschlossen bleiben.« Paser ging auf die Böschung zu; sein Leben stand in diesem Augenblick auf dem Spiel. Er hatte nicht die mindeste Lust, seine Gewohnheiten, die friedlichen Augenblicke des Glücks in seinem Dorf und der thebanischen Landschaft aufzugeben, um sich in einer großen Stadt zu verlieren. Doch wie konnte er Branir, dem Mann, den er vor allen anderen verehrte, eine Weigerung entgegensetzen? Er hatte sich geschworen, seinem Ruf zu folgen, unter welchen Umständen auch immer.

Am Ufer des Flusses schritt erhaben ein großer, weißer Ibis einher, dessen Kopf, Schwanz und Flügelspitzen schwarz gefärbt waren. Der prächtige Vogel hielt inne, tauchte seinen langen Schnabel in den Morast und wandte seinen Blick dem Richter zu. »Das Tier des Thot hat dich ausgewählt«, verkündete der im Schilf ausgestreckte Schäfer Pepi mit seiner rauhen Stimme. »Du hast keine Wahl.« Der siebzigjährige Pepi war ein alter Murrkopf, der sich nicht binden mochte. Mit den Tieren allein zu sein, schien ihm der Gipfel der Glückseligkeit. Er weigerte sich beharrlich, jedweden Befehlen zu gehorchen, wußte seinen Knotenstock gewandt zu handhaben und sich in den Papyruswäldern zu verbergen, wann immer die Steuerbeamten wie ein Schwarm Sperlinge über das Dorf herfielen. Paser hatte es aufgegeben, ihn vor das Gericht zu laden. Der Greis duldete nicht, daß man eine Kuh oder einen Hund mißhandelte, und übernahm es selbst, den Quäler zu züchtigen; in dieser Eigenschaft betrachtete der Richter ihn als einen Gehilfen der Ordnungskräfte. »Betrachte den Ibis genau«, beharrte Pepi. »Die Weite seines Schritts beträgt eine Elle, das Sinnbild der Gerechtigkeit. Möge dein Gang so geradlinig und genau sein wie der von Thots Vogel. Du wirst fortgehen, nicht wahr?«

»Woher weißt du das?«