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Sie waren fünfzehn an der Zahl; der Richter sonderte sie so voneinander ab, daß sie sich nicht besprechen konnten, und verhörte sie einen nach dem anderen.
»Ich habe Euren Dieb«, verkündete er Qadasch endlich.
»Sein Name?«
»Kani.«
»Ich verlange die augenblickliche Einberufung eines Gerichts.«
Paser willigte ein. Er wählte einen Kuhtreiber, einen Ziegenhirten, den Schreiber der Herden und einen der Wächter des Gutes zu Geschworenen. Kani, der keineswegs zu fliehen beabsichtigt hatte, stellte sich aus freien Stücken vor dem Gericht ein und hielt dem zornigen Blick Qadaschs stand, der sich etwas abseits hielt. Der Beschuldigte war ein stämmiger, vierschrötiger Mann mit brauner, von tiefen Falten zerfurchter Haut. »Gesteht Ihr Eure Schuld ein?« fragte der Richter. »Nein.«
Qadasch schlug mit seinem Stab auf den Boden. »Dieser Räuber ist unverschämt! Er soll auf der Stelle gezüchtigt werden!«
»Schweigt!« befahl der Richter. »Wenn Ihr die Sitzung stört, unterbreche ich die Verhandlung sofort.« Erregt wandte der Zahnheilkundige sich ab. »Habt Ihr einen Ochsen auf den Namen Qadasch gekennzeichnet?« fragte Paser. »Ja«, antwortete Kani. »Dieses Tier ist verschwunden.«
»Er ist mir entlaufen. Ihr werdet ihn auf dem Nachbarfeld finden.«
»Wie erklärt sich diese Nachlässigkeit?«
»Ich bin kein Kuhhirte, ich bin Gärtner. Meine eigentliche Arbeit besteht darin, kleine Stücke Land zu bewässern; den ganzen Tag über schleppe ich ein Tragejoch auf den Schultern und schütte den Inhalt schwerer Krüge auf den Äckern aus. Am Abend gönne ich mir keine Ruhe; dann muß ich die empfindlichsten Pflanzen gießen, die Bewässerungsrinnen unterhalten, die Erddämme verstärken. Falls Ihr einen Beweis wünscht, untersucht meinen Nacken; er trägt die Spuren zweier Geschwüre. Das ist die Krankheit des Gärtners, nicht die eines Kuhtreibers.«
»Weshalb habt Ihr den Beruf gewechselt?«
»Weil Herrn Qadaschs Verwalter sich meiner bemächtigt hat, als ich Gemüse auslieferte. Ich bin gezwungen worden, mich um die Ochsen zu kümmern und meinen Garten im Stich zu lassen.« Paser lud die Zeugen vor; die Richtigkeit von Kanis Äußerungen wurde bestätigt. Das Gericht sprach ihn frei; als Entschädigung befahl der Richter, daß der entflohene Ochse sein Eigentum und ihm zum Ausgleich für die entgangenen Arbeitstage eine beachtliche Menge Nahrung von Qadasch geschenkt werde.
Der Gärtner verneigte sich vor dem Richter; in seinen Augen las Paser tiefe Dankbarkeit. »Die Entführung eines Bauern ist ein schlimmes Vergehen«, erinnerte er den Gebieter des Anwesens. Dem Zahnheilkundler stieg das Blut zu Kopf. »Ich bin nicht dafür verantwortlich! Ich wußte darüber nicht Bescheid; mein Verwalter möge bestraft werden, wie er es verdient.«
»Ihr kennt den Umfang der Züchtigung: fünfzig Stockschläge und Verlust des Standes, um wieder zum einfachen Bauern zu werden.«
»Gesetz ist Gesetz.«
Vor das Gericht gebracht, stritt der Verwalter nichts ab; er wurde verurteilt und der Spruch unverzüglich vollstreckt.
Als Richter Paser das Gut verließ, erschien Qadasch nicht, um ihn zu verabschieden.
Brav schlief zu Füßen seines Herrn und träumte von einem Festschmaus, während Wind des Nordens, mit frischem Futter belohnt, vor der Tür der Amtsstube als Wächter diente, in der Paser seit der Morgendämmerung die laufenden Vorgänge bearbeitet hatte. Die Menge schwieriger Fälle entmutigte ihn nicht; im Gegenteil, er hatte beschlossen, den Rückstand aufzuholen und nichts beiseite zu schieben. Gerichtsschreiber Iarrot kam mit aufgelöster Miene in der Mitte des Morgens. »Ihr scheint niedergeschlagen«, bemerkte Paser. »Ein Streit. Meine Frau ist unerträglich; ich hatte sie geheiratet, damit sie mir köstliche Gerichte zubereitet, und sie weigert sich zu kochen! Das Dasein wird mir unerträglich.«
»Sinnt Ihr über Scheidung nach?«
»Nein, wegen meiner Tochter; ich möchte, daß sie Tänzerin wird. Meine Frau hat andere Vorhaben mit ihr, die ich nicht dulde. Weder sie noch ich sind bereit nachzugeben.«
»Eine unentwirrbare Lage, so fürchte ich.«
»Ich auch. Eure Untersuchung bei Qadasch ist gut verlaufen?«
»Ich lege gerade letzte Hand an meinen Bericht: Der Ochse wurde aufgefunden, der Gärtner freigesprochen und der Verwalter bestraft. Meiner Meinung nach ist die Verantwortlichkeit des Zahnheilkundlers dabei berührt, doch ich kann es nicht beweisen.«
»Wagt Euch an den nicht heran; er hat Verbindungen.«
»Wohlhabende Kundschaft?«
»Er hat die hochrühmlichsten Münder behandelt; die bösen Zungen behaupten, daß er seine Geschicklichkeit verloren hätte und es besser wäre, ihn zu meiden, wenn man gesunde Zähne behalten möchte.« Brav knurrte plötzlich; mit einem Streicheln besänftigte ihn sein Herr. Sein Verhalten deutete auf eine gemäßigte Feindseligkeit hin. Auf den ersten Blick schien er den Gerichtsdiener nicht sonderlich zu mögen.
Paser setzte sein Petschaft unter den Papyrus, auf dem er seine Schlußbemerkungen über den Fall des gestohlenen Ochsen festgehalten hatte. Iarrot bewunderte die feine und gleichmäßige Schrift; der Richter zog die Hieroglyphen ohne das geringste Zögern, zeichnete seine Gedanken mit Entschlossenheit auf. »Ihr habt doch trotz alledem Qadasch nicht mit hineingezogen?«
»Aber gewiß doch.«
»Das ist gefährlich.«
»Was befürchtet Ihr?«
»Ich … ich weiß nicht.«
»Werdet deutlicher, Iarrot.«
»Die Gerechtigkeit ist derart vielschichtig …«
»Der Meinung bin ich nicht: auf der einen Seite die Wahrheit, auf der anderen die Lüge. Wenn man letzterer nachgibt, und wäre es auch nur um die Breite eines Fingernagels, wird die Gerechtigkeit nicht länger herrschen.«
»Ihr redet so, weil Ihr jung seid; wenn Ihr Erfahrung gesammelt habt, werden Eure Ansichten weniger entschieden sein.«
»Ich hoffe nicht. Im Dorf haben viele mir Euren Einwand entgegengehalten; er erschien mir nie stichhaltig.«
»Ihr möchtet das Gewicht der Hierarchie außer acht lassen.«
»Sollte Qadasch über dem Gesetz stehen?« Iarrot stieß einen Seufzer aus. »Ihr scheint klug und mutig, Richter Paser; täuscht nicht vor, Ihr verstündet nicht, was ich meine.«
»Wenn die Führung ungerecht ist, eilt das Land seinem Untergang zu.«
»Sie wird Euch zermalmen wie die anderen; begnügt Euch damit, die Fragen und Fälle zu lösen, die Euch unterliegen, und vertraut die heiklen Angelegenheiten Euren Oberen an. Euer Vorgänger war ein verständiger Mann, der die Fallen zu meiden wußte. Man hat Euch eine hübsche Beförderung gewährt; verscherzt sie nicht.«
»Wenn ich hierher berufen wurde, dann geschah dies wegen meiner Vorgehensweisen; weshalb sollte ich davon abrücken?«
»Greift nach Eurem Glück, ohne die festgefügte Ordnung zu stören.«
»Ich kenne keine andere Ordnung als die der Maat.«
Aufs höchste verdrossen, schlug der Gerichtsschreiber sich an die Brust.
»Ihr rennt einem Abgrund entgegen! Ich habe Euch vorgewarnt.«
»Morgen werdet Ihr meinen Rechenschaftsbericht zum Haus des Gaufürsten bringen.«
»Wie es Euch beliebt.«
»Eine Sache befremdet mich; ich zweifele nicht an Eurem Eifer, aber solltet Ihr allein meine gesamte Amtsdienerschaft darstellen?« Iarrot wirkte betreten. »Auf gewisse Weise ja.«