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NEUN - LAPIDIFICATIO

84

Beim sonntäglichen Messegeläut trafen hundertfünfzig Soldaten der kaiserlichen Garde in Krumau ein, angeführt von Oberst Alban Hoyos. Ihnen folgte eine zweispännige Kutsche, in der eine edle Dame ganz in Weiß und ein hübscher junger Bursche mit kohleschwarzen Augen saßen. Man schrieb den 31. Dezember 1607 A.D.

Die vornehme Dame nahm fürs Erste Logis im Gasthaus zum »Goldenen Fass«, dessen Wirtsleute noch immer Trauerflore am Ärmel trugen. Ihr kleiner Silvan war der Pestilenz zum Opfer gefallen, wie Stanislaus Brodner der Edlen erklärte, ihr älterer Sohn Franz aber diene bei der gräflichen Garde, ein ehrenvoller Posten, was den elterlichen Kummer ein wenig kühle.

Währenddessen ließ Oberst Hoyos die Burg umstellen, Don Julius’ Garde entwaffnen und die gräflichen Offiziere in den Hungerturm werfen, allen voran Kommandeur Jan Mular.

Nachdem auch Medikus von Rosert verhaftet worden war, fuhr die Kutsche abermals vor dem Gasthaus vor, der bronzefarbene Bursche mit den kohleschwarzen Augen sprang heraus und half der Dame galant beim Einstieg. Der Zweispänner ratterte die zweihundert Schritte zur Burg hinauf, und die kaiserlichen Gardisten, die an diesem Vormittag Dutzende Personen und Gefährte abgewiesen hatten, ließen die Kutsche anstandslos ein.

Von alledem erfuhr Markéta aus vielerlei Mündern. Burg und Stadt brodelten vor Gerüchten und wundersamen Geschichten, seit der Puppenmacher davongeflogen war, und mehr noch, seit die kaiserliche Garde die Krumauer Burg besetzt hatte. Und doch glaubte Markéta erst in dem Moment, als die Dame in Julius’ Salon trat, dass Katharina da Strada tatsächlich gekommen war, um ihrem Bastardsohn beizustehen.

Maître d’Alembert hatte es vorausgesagt, doch Markéta war sich nahezu sicher gewesen, dass auch die Stradovä sich von ihm abkehren würde, wenn sie hörte, was unter seiner Herrschaft hier in Krumau geschehen war.

»Madame, welch eine Freude, Euch wiederzusehen.« Markéta wollte das Knie vor ihr neigen, aber die mütterliche Mätresse machte einen raschen Schritt und schloss sie in eine zarte Umarmung.

»Um wie viel lieber hätte ich Euch in Prag begrüßt - Euch und meinen Sohn.« Ein Duft von betäubender Süße ging von ihr aus; unwillkürlich hielt Markéta den Atem an. Die Stradovä trug ein Kleid aus schimmernd weißer Seide, die Säume besetzt mit weißen Pelzen, die ihrerseits glitzernd weiße Perlen säumten. Sie musste weit in den Dreißigern sein und hatte dem Kaiser eine häupterreiche Kinderschar geboren, und doch strahlte sie noch immer eine mädchenhafte Schönheit aus, die heute allerdings von mütterlicher Sorge überflort war.

»Eure Nähe wird Julius aufrichten und seine Seele von ihrer Verdüsterung befreien.« Markéta beschwor sich, nicht in Tränen auszubrechen, nicht vor Katharina da Strada, deren meisterliche Selbstbeherrschung d’Alembert so oft vor ihr gerühmt und Julius noch häufiger verflucht hatte.

Seite an Seite gingen sie durch den gräflichen Salon zur Fensterwand, wo Julius im burgunderfarbenen Prunksessel saß. Er trug wieder sein scharlachrotes Habit und sogar die nachgebildete Ottonenkrone, die d’Alembert zu seinem Einzug in Krumau hatte schmieden lassen. Seit drei Tagen, seit Hezilow davongeflogen war, thronte Julius von früh bis spät auf diesem Sessel und weigerte sich, auch nur für einen Augenblick die gräflichen Insignien abzulegen. Vor ihm auf der Staffelei stand das farbenfrohe Porträt, das da Biondo nicht mehr hatte vollenden können. Es zeigte den jungen Grafen in stolzer Haltung auf seinem Thron, den Umhang umgeworfen, die Krone blitzend auf seinem Haupt. Anscheinend bemühte sich Julius, Stunde um Stunde in der genauen Haltung seines gemalten Abbildes auszuharren, auch wenn ihm die Krone schwer werden und die Muskeln schmerzen mussten, und auch wenn das Gemälde bloß ein leeres Antlitz zeigte, ohne Augen, Mund oder Nase, allerdings nach unten hin sich verjüngend zum berühmten Habsburger-Kinn.

»Madame«, sagte er, ohne den Blick von der Staffelei zu wenden, »Ihr steht vor dem König: Auf welche Weise wünscht Ihr uns zu dienen?«

Die Stradovä nahm seine Hände in die ihren. »Julius, mein lieber Sohn«, sagte sie leise, »ich bin es, Eure Mutter, bitte schaut mich an.«

»Wohin wir auch schauen, wir erblicken die Majestät: Uns selbst«, gab Julius in würdevollem Ton zurück. Weiterhin haftete sein Blick auf dem unfertigen Gemälde, und für einen Moment schien es Markéta, als ob er gleich wieder in Tränen ausbrechen würde.

Das war in den letzten Tagen mehrmals geschehen, wie ein Wildbach, wie der Schmerz eines kleinen Kindes, wie die Angst eines verstörten Tieres brachen die Tränen dann aus ihm hervor. Seine Trauer bereitete ihr selbst fast unerträgliche Qualen, dagegen erschien ihr die Verdunklung seines Geistes fast wie eine Gnade. Auch wenn er in seinem Königswahn nur noch mit sich selber umzugehen schien, litt er so zumindest weder Angst noch Schmerzen.

»Er erkennt Euch nicht, Madame«, sagte sie, »er erkennt niemanden. Aber wartet nur«, fuhr sie hastig fort, »lasst Eure Nähe nur ein wenig auf ihn wirken, dann wird sein Geist sich wieder lichten.«

Julius entzog der Stradovä seine Hände und rieb sie mehrfach gegeneinander, als ob er sie reinigen wollte. Dann nahm er seine frühere Haltung wieder ein, gerade aufgerichtet, auch das Haupt mit der Krone so stolz emporgereckt wie bei seinem leeren Ebenbild.

»Aber man muss das Werk wegnehmen!«, rief Katharina aus. Für einen Moment schien sie die Fassung zu verlieren. »Man muss das Werk wegnehmen, sonst büßt er tatsächlich noch den Verstand ein!«

Sie machte einen Schritt zur Staffelei hin, ihr Kleid rauschte und glitzerte wie eine Winterwolke, die am Himmel blendend hell vorüberzieht. Als sie ihre Hand hob, um das Bild von der Staffelei zu nehmen, begann Julius zu schreien.

»Die Finger von unserm Spiegel, Krötenweib! Scher sie sich weg, sonst lassen wir sie filetieren! Die Brüstchen gebraten, das Ärschlein gebacken, die Fotz mit Kastanienpaste gestopft!«

Katharina machte förmlich einen Satz zur Seite; im selben Moment verstummte Julius und kehrte zu seiner früheren Haltung zurück. Nun glitzerten tatsächlich Tränen in den Augen der mütterlichen Mätresse. Markéta warf ihr einen fragenden Blick zu und deutete zu den Fauteuils auf der anderen Seite des Salons.

»Wir sind der König«, sagte Julius auf seinem Thronsessel. »Auf welche Weise wünscht Ihr uns zu dienen?«

»Auf jede erdenkliche Weise, Majestät, die Euch und Eurem Reich von Nutzen ist.« Markéta lächelte ihn an, und obwohl er unverwandt auf das Gemälde starrte, schien es ihr, als ob über sein Gesicht ein schwaches Leuchten zöge.

Sie setzten sich auf die Sessel vor Julius’ Kamin, über dem riesenhaft das Rosenberger Wappen prangte. »So ist er seit drei Tagen«, sagte Markéta, die nun auch nicht mehr an sich halten konnte. Sie tupfte sich mit einem Tuch über die Augen, dann schniefte sie, jede Noblesse vergessend, kräftig hinein. »Seit Monsieur d’Alembert ihm berichtet hat, dass Magister Hezilow davongeflogen ist.«

»Geflohen, wolltet Ihr sagen.« Wie aufs Stichwort trat der baumlange Oberst Hoyos durch die Tür, gefolgt von Julius’ Kammerdiener Robert, der hinter seinem Rücken halbherzig buckelte. »Ihr schenkt doch den törichten Mären nicht etwa Glauben, Madame?«

»Maître d’Alembert hat mit eigenen Augen gesehen, wie er davongeflogen ist, und vor ihm auf dem Drachenvieh ... der arme Flor!«

Wieder zog sie das Tuch aus ihrem Ärmel und schniefte hinein.

Katharina schenkte ihr ein flüchtiges Lächeln, dann wandte sie sich dem Oberst zu. »Nehmt Platz, Hoyos, ich bitt Euch. Was hat die Untersuchung erbracht?«

Der kaiserliche Offizier, hager wie ein Winterbaum, verbeugte sich und setzte sich auf den Rand eines Sessels. Ein dünner grauer Bart rahmte sein längliches Gesicht, das wie geschnitzt aussah. »Der so genannte Drache«, meldete er mit unverkennbarem Widerwillen, »wurde von einem Katapult abgeschossen. Ein Dutzend starker Metallfedern, keinerlei Magie. Das reichte mit genauer Not, um die Last über die Burgmauern zu schießen, dahinter ist das plumpe Truc dann abgestürzt.«

»Und Flor?« Markéta schrie seinen Namen hinaus, ihre Angst, ihre Trauer, ihren Schmerz. »Bitte sprecht doch: Habt Ihr Nachricht von ihm?« Alles und jedes, was ihr lieb und teuer war, hatte der teuflische Magister zerstört, getötet, mit ins Verderben gerissen, das Leben des Baders und die Seele ihres Geliebten. Nach allem auch Flor noch zu verlieren, dachte sie, wäre mehr, als ich ertragen könnte.

Oberst Hoyos zog knorrige Augenbrauen zusammen. »Ihr meint den so genannten Nabellosen, nehme ich an.« Einen Moment lang sah er sie aus schwarzen Augen an, die ihr so rund und leer wie Astlöcher schienen. »Nein, Madame, von diesem Subjekt liegen mir keine Nachrichten vor.« Er drehte sich wieder zur Stradovä, wobei er im Sitzen leicht die Hacken zusammenschlug. »Madame da Strada, die Untersuchung also hat Folgendes erbracht. Der Magister hat sich über die Burgmauer katapultiert und ist aufs Steilufer über der Moldau geprallt. Dort jedenfalls fanden sich Spuren, die kaum einen anderen Schluss erlauben: schwarze Haarbüschel sowie Fetzen gegerbter Menschenhaut. Beides soll der Magister zum Bau seines Apparates verwendet haben.«

Der Oberst unterbrach sich und warf einen Blick zu Graf Julius hinüber. Seine Miene drückte Unschlüssigkeit und Unbehagen aus.

»Wäre der Apparat dort zerschellt«, sagte Markéta rasch, »am Fels über der Moldau, Herr Oberst, hätten Eure Leute dann nicht mehr finden müssen als die paar Fetzen Haut und Haar?«

Wieder bedachte Hoyos sie mit einem Blick aus leeren Astlochaugen. »Die Trümmer müssen den lotrechten Felsen hinabgerutscht und in den Fluss gefallen sein, ebenso der Körper des Magisters, lebend oder tot.«

»Aber die Moldau ist zugefroren!«

»Der Fluss wird noch abgesucht. Seid versichert, Madame, dass wir genügend Trümmer finden werden, um die einfältige Legende zu widerlegen.«

Markéta ahnte nur zu genau, welche »einfältige Legende« der Oberst meinte. Seit Tagen übertrumpften sich die Leute unten in der Stadt mit immer phantastischeren Mären vom Drachenflug des Teufelsmagisters und seiner nabellosen Kreatur. Die meisten Fürsprecher aber fand eine Geschichte, die auch in Markétas Ohren recht schlüssig klang.

»Die Leute erzählen«, sagte sie zur Stradovä, »dass der Magister auf seinem Drachen über die Moldau und die ganze Stadt hinweggeflogen wär. Drüben beim Budweiser Tor soll er im Wald gelandet sein - oder abgestürzt, wie manche sagen. Und dass niemand dort eine Spur von Hezilow oder von Flor gefunden hat, wär dann auch wirklich kein Wunder, Madame:

Vorm Stadttor haust ja der Scharfrichter Schatz zwischen Galgenplatz und Rabenacker, und Schatz kann ihm Kutsche oder Reitpferd besorgt und alle verräterischen Spuren beseitigt haben. Die Leute sagen jedenfalls, dass Hezilow und Flor wohl schon außer Landes waren, bevor der Syrakuser auch nur auf dem Weg nach Vargasz war.«

»Und die Spuren oben am Felsenufer?«, fragte Hoyos.

»Es kann ja sein«, legte sich Markéta ins Zeug, »dass der Drache dort aufgeschlagen ist, nachdem sie über die Mauer hinweg waren, aber dann sind sie weitergeflogen, bis rüber in den Wald.«

»Und besagter Schatz«, wollte die Stradovä wissen, »warum sollte der Scharfrichter so verbrecherische Händel mit dem Magister eingehen?«

»Das wiederum ließe sich ohne Magie und Aberglauben begreifen«, räumte der Oberst knarzend ein. »Auch den Scharfrichter hab ich inhaftieren lassen: Er soll dem Magister die zum Strang Verurteilten verschachert haben, und Hezilow hat sie dann in seinem Keller umständlich zu Tode gebracht.«

»Und von alledem hat hier in der Burg niemand gewusst?« Katharina da Strada sah Markéta argwöhnisch an. »Julius nicht, Ihr nicht, Madame, und nicht einmal der Maître? Ich versteh’s nicht, und umso weniger, je länger ich das Gespinst zu durchdringen versuche. Zumindest d’Alembert müsste doch .«

»D’Alembert?«, echote es da vom Fenster her. »Herbei mit ihm, Wir sind der König: Auf welche Weise wünscht Ihr uns zu dienen, d’Alembert?«

Die Stradovä und der Oberst wechselten betretene Blicke, Markéta aber erhob sich und nickte ihnen zu.

»Später will ich versuchen, alles zu erklären. Jetzt entschuldigt mich - ich muss zu Julius gehen.«

85

»Eure Verachtung schmerzt mich, Katharina, doch weit ärger trifft mich Euer Verdacht, dass ich Julius verraten hätte.«

»Wieso glaubt Ihr, dass ich Euch verdächtigte, Monsieur?«

Wenn Ihr keinen Argwohn gegen mich hegt, warum beteuert Ihr es nicht geradeheraus? D’Alembert war zu höflich, zu resigniert, vor allem aber viel zu erschöpft, um die mütterliche Mätresse mit dieser Gegenfrage herauszufordern. Er saß in Julius’ Salon, in demselben Fauteuil, in dem vor kurzem noch Markéta den Vorhaltungen der Stradovä gelauscht hatte. Als sie ihn zu sich rufen ließ, hatte er für einen Augenblick erwogen, sich zu verweigern, aber das kam nicht ernstlich in Betracht. Katharina hatte ein Recht darauf, dass er vor ihr Rechenschaft ablegte, ein letztes Mal.

»Ich habe versagt, Euer Vertrauen enttäuscht, Madame.« Er beugte sich vor und ließ sich gleich wieder in den Sessel zurücksinken.

»Aber verraten habe ich ihn nicht.«

Oder jedenfalls anders, als Ihr glaubt.

Er sah ihr ins Gesicht und hatte Mühe, sich in Erinnerung zu rufen, was ihn an dieser Frau so sehr verzaubert hatte. Eure listenreiche Liebenswürdigkeit und meisterliche Selbstbeherrschung, Katharina, und wofür all das? Ein Leben lang verlarvt - zu welchem Ende?

»Ihr hattet die Gewalt über die Burg, über Julius, über alle Geldtruhen und Schlüssel«, sagte sie heftig, »Ihr wart der eigentliche Graf von Krumau, Maître d’Alembert!« Ihr Seidenkleid gleißte wie ein ganzer Winterwaid. »Wie konnte es geschehen, dass Euch die Macht so sehr entglitten ist?«

»Ich war krank, Madame, ich bin es noch.« Er zwang sich, ihr ins Gesicht zu sehen, in ihre braunen Augen, die so viel Wärme, so viel Sympathie vorspiegeln konnten. »Der Löwe, der mir in der Brust saß, hat mein Innerstes zernagt«, fuhr er fort, »lang werde ich nicht mehr leben. Aber versteht mich recht. Katharina: Das Fieber entschuldigt nicht mein Versagen, es war nur der Vorschein meiner Unzulänglichkeit.«

In den letzten Nächten hatte er nur noch von Feuersbrünsten, berstenden Flussbetten, überkochenden Ozeanen geträumt. Der ganze Hradschin war in sich zusammengestürzt, all seine hundert Türme, Zinnen, Giebel knirschend und knackend zusammengesackt, während von der Stadt her eine dunkle Flut emporgequollen war, mit blutroten Schlieren marmoriert.

Doch von alledem berichtete er Katharina da Strada nichts.

Durch die Tapetentür neben dem Kamin trat Johanna von Waldstein ein, in funkelnd schwarzem Kleid, gefolgt von ihren Dominikanerinnen. D’Alembert ertappte sich bei der knäbischen Hoffnung, der Stradovä entschlüpfen zu können, wenn ihre Aufmerksamkeit durch die heiligen Weiber hinlänglich abgelenkt würde. Doch er blieb sitzen, wo er saß, so stumm wie Katharina sah er zur Waldstein und zu den Nonnen hinüber, die in feierlicher Prozession auf Don Julius zuwandelten und hinter seinem Sessel Aufstellung nahmen.

»Pater Miguel rät zu Dauergebeten«, verkündete Johanna, »um die gräfliche Seele dem Teufel zu entreißen.« Sie äugte zur Stradovä herüber, den Kopf vogelhaft schief gelegt, umfasste das Kruzifix, das sie an einer Perlenkette vor dem mageren Busen trug, und reckte es jählings empor. Die zwölf heiligen Weiber taten es ihr nach, alle dreizehn Münder klappten gleichzeitig auf und begannen in kreischendem Diskant zu singen:

»Der dunkle Weg, den er betrat, Geht in den Himmel aus, Und wer nur hört auf seinen Rat, Kommt auch in Vaters Haus!«

D’Alembert suchte Katharina da Stradas Blick zu erhaschen, aber die mütterliche Mätresse sah mit steinerner Miene zu ihrem Sohn hinüber, der von den frommen Fortissimi wenig zu bemerken schien. Wie eine lebensgroße Puppe saß Julius auf seinem Thron und starrte unverwandt auf das Porträt, das zwei Schritte vor ihm auf der Staffelei stand. Wenn er sich überhaupt einmal regte, dann einzig, um seinen Hals gerader zu recken oder seine Schultern wieder zu straffen, die unter der Last der Fürstenkrone zu erschlaffen drohten.

Puppenmacher, dachte d’Alembert mit einem Mal, so nennt sich der Magister ja mit fürchterlichem Recht: nicht weil er tote Puppen lehrt, sich zauberisch zu regen, sondern umgekehrt -weil er aus beseelten Menschen stumpfe Puppen macht, aus Flor, aus Julius, und gewiss aus tausend anderen.

Der Gedanke erschreckte ihn, und er grübelte noch darüber, als die Stradovä ihn schon mit weiteren Vorwürfen beschoss, mit erhobener Stimme, um den heiligen Gesang zu übertönen: »Ihr hättet mir ein Zeichen senden müssen, Maître, einen Hilferuf! Ich hab mich auf Euch verlassen, zwanzig Jahre lang! Immer habt Ihr Euch mit mir beraten, wenn die Dämonen ihn wieder einmal plackten - warum diesmal nicht? Wieso habt Ihr zugelassen, dass der schreckliche Magister sich mit seinen schwärzesten Geistern verbündete, sie bestärkte und zum Ausbruch trieb? Warum nur habt Ihr mich diesmal nicht gerufen, weshalb habt Ihr mir keinen Boten geschickt - oder erst, als die Teufel schon Wochen und Wochen wüteten?«

D’Alembert senkte den Kopf. »Aus Angst und aus Stolz, Madame. Ihr seht, ich offenbare Euch mein Herz wie stets: Ich schwieg aus Angst, dass der väterliche Zorn ihn vollends vernichten müsste, wenn nach dem letzten Prager Zwischenfall noch weit ärgere Kabalen ruchbar würden. Und ich schwieg aus Hoffart, Katharina: Tatsächlich hoffte ich bis zuletzt, dass ich, ich allein die tausend Teufel bezwingen könnte, die Dämonen in Julius’ Seele und den Satan Hezilow dazu. Doch so viel Selbstgefälligkeit fordert den Spott der Götter heraus. Sie straften mich und rissen Euren Sohn mit ins Verderben.«

Er blickte auf und sah die Ungeduld in ihrem Blick. Sie glaubt mir kein Wort, dachte d’Alembert, und mit einem Mal war es ihm gleich. Haltet mich für einen Verräter, für einen eitlen Schwätzer, was immer Euch beliebt. Ich bin müde, Katharina. Das ganze bunte Maskenspiel, das Ihr noch immer Eure Welt nennt: vorbei.

Katharina da Strada beugte sich aufs Neue vor, um ihn mit einem weiteren Schwall wohlerwogener Vorwürfe zu übergießen. »Die Schatztruhen geplündert«, glaubte d’Alembert zu verstehen, »das gesamte gräfliche Vermögen an den russischen Betrüger vertan!« Doch Johanna und ihre Nonnen sangen nun so schallend, dabei die Kruzifixe rhythmisch gen Himmel reckend, dass er fast nur noch die Mundbewegungen der Stradovä wahrnahm, und während er auf ihre auf- und zuschnappenden Lippen sah, schien es ihm mit einem Mal, dass Katharina in den frommen Gesang eingestimmt hatte:

»Hinunter in das tiefe Meer Versank des Todes Graun, Und jeder kann nun leicht und hehr In seine Zukunft schaun!«

D’Alembert erhob sich aus seinem Sessel, verneigte sich vor der mütterlichen Mätresse und schritt aus dem Salon.

Ich wollte Puppenspieler sein, nicht nur Spielfigur, dachte er, und deshalb trifft mich Euer Verdacht so sehr, Madame, obwohl Ihr ihn ganz anders meintet. In gewisser Weise habe ich mich tatsächlich wie der Puppenmacher gebärdet, Julius und Markéta, Fabrio und Lenka und alle anderen wie Schachfiguren umhergeschoben, geopfert, geschlagen, verwandelt. Und aus welchem Grund, Madame? Weil es meiner Eitelkeit schmeichelte, Spieler statt Spielfigur zu sein, den Göttern zugehörig und nicht bloß ihren Kreaturen.

Langsam ging er den Flur voll altersdunkler Ahnenbilder entlang, fröstelnd vor Müdigkeit.

Aber das alles werde ich Euch nicht gestehen, Katharina, es wäre eine sinnlose Beichte, die Ihr nur missdeuten könntet. Mein Verrat an Julius war nicht ärger, nicht einmal anders als der Eure, den auch Ihr immer schon begingt an ihm, an Eurem Bastardsohn, der für Euch stets nur eine Puppe war. Euer teuerstes Besitztum, Katharina, eine goldene Marionette, durch deren Adern der kostbarste Saft dieser Welt fließt: Habsburgerblut.

D’Alembert trat in seinen Salon, ging zu seinem Hirschsofa und sank hinein. Alles, was er in den letzten Monaten, ja in den Jahrzehnten seines Aufstiegs und viel beneideten Lebens als Schutzherr des Kaiserbastards gedacht und geglaubt, erkämpft und verteidigt hatte, schien ihm mit einem Mal fremd, unsinnig, Narretei. Ein Labyrinth wirrer Irrtümer, in dem umhereilend er sein Leben versäumt hatte.

»Ich bin müde«, sagte er zu Fabrio. »Setz dich zu mir.«

Der Syrakuser schmiegte sich an seine Seite. »Die Lenka ist ganz außer sich«, plapperte er gleich los, »weil ihr Satansfratz nicht mehr im großen Saal steht.«

D’Alembert tat es mit einem Schulterzucken ab. Seine Gedanken waren weit von Lenka oder ihrem steinernen Knäblein in seiner Welt aus Spiritus entfernt. Auch dir, Geliebter, dachte er, werde ich nicht erzählen, was ich im Geheimen dachte, als ich dich nach Vargasz sandte: dass du der Bauer seist, den ich zur äußersten Linie des Gegners vorschieben müsste, damit er sich dort für die weiße Königin opfert.

Er legte seinen Arm um Fabrios Schultern, sah ihn von der Seite her an, und ein scharfer Schmerz fuhr durch seine Brust. Ich war bereit, dich zu opfern, Fabrio, unter entsetzlichen Schmerzen, und gerade diese Qualen hätten mir bewiesen, wie grandios ich bin, wie selbstlos, wie sehr über diese Puppenwelt erhaben.

Tatsächlich wäre ihm das Opfer fast gelungen - in d’Alemberts weißem Pelz, auf seinem Schimmelhengst hatte sich Fabrio auf den gefahrvollen Weg gemacht, kaum dass der Lumpenteufel ausgeflogen war. Schon die Stadt zu verlassen, hatte Kühnheit erfordert, denn auf Mulars Befehl waren Tore und Mauern bei Tag und Nacht bewacht worden. Doch Fabrio hatte traumwandlerisch zu einem der Gardisten gefunden, die seit langem nach dem schönen Syrakuser schmachteten, sich einen Kuss und wenig mehr ablisten lassen und war durchs Tor hindurch.

Bei scharfem Frost trug ihn der Hengst des Maître binnen zweier Stunden bis hinauf nach Vargasz, an die nördliche Grenze der Grafschaft, wo wiederum Gardisten standen. Argwohn schlug ihm im Dorf entgegen, allzu frisch die Wunden, die Unçerek und Fondor geschlagen hatten, niemand war bereit, ihm einen Pfad vorbei an den Grenzern zu weisen.

Im Abenddämmer versuchte er es auf eigne Faust. Ein schmaler Pfad zog sich vom Weiler zum Wachposten hinauf, spiegelnd vor Eis, durch winterkahlen Wald. Keine Deckung für Pferd und Reiter, keine Bahn, auf der sich notfalls fliehen ließe. Er stellte das Pferd bei einem Bauern unter, bleichte sein Gesicht mit Talg, den er vorsorglich mitgenommen hatte, band ein weißes Tuch um seinen Schopf und kroch bei sinkender Sonne den Wald hinauf. Schneewehen, umgestürzte Bäume gaben dürftige Deckung, Raben krahrahten in den kahlen Wipfeln Alarm, einmal krachte ein Schuss, keine dreißig Schritte voraus: Einer der Grenzsoldaten hatte blindlings die Pistole abgefeuert, verängstigt oder gelangweilt, Fabrio jedenfalls blieb so lange hinter seinem Baumstamm liegen, bis er auf dem Eis fast angefroren war.

In dunkler Nacht war er endlich bis auf drei Schritte heran. Ein Feuer mitten auf dem Pfad, daneben eine Hütte, eine Gestalt, die schwarz und katzenhaft reglos bei den Flammen hockte. Dahinter wieder Wald, und der dunkle Würfel zwanzig Schritte weiter, das musste schon die Poststation sein, wo der Bote der Stradovä saß.

Sich den Weg wiederum freizukaufen, durch erduldete Küsse und Ärgeres, schien selbst dem Syrakuser zu gefährlich. Nicht jeder Gardist war bereit, für ein paar Augenblicke saftigen Gerangels sein Leben hinzugeben. Also zog Fabrio das Messer hervor, das er auf d’Alemberts Geheiß aus dem gräflichen Schlachthaus entwendet hatte, schlich noch näher an den Wachposten heran, stürzte sich auf ihn und hatte seine Kehle schon durchgeschnitten, ehe der Kater auch nur Auweh miauen konnte.

Fabrio ließ ihn zu Boden gleiten, schob das Messer mit zitternder Hand zurück in d’Alemberts Umhang und rannte, so schnell er konnte, auf spiegelglattem Pfad weiter, bis zur Poststation, wo er gegen das verrammelte Tor schlug und nach langem Fluchen und Flehen herausfand, dass der kaiserliche Bote einen sieben Krüge tiefen Schnapsrausch ausschlief.

Nachdem der Syrakuser in die Schlafkammer des Ungetreuen vorgedrungen war, den brummigen Boten wachgerüttelt, das blutige Messer vorgezeigt, d’Alemberts Brief ausgehändigt, den Kerl in seine Stiefel geflucht und ihm alle Seuchen dieser Welt an den Hals gezetert hatte, für den Fall nämlich, dass er nicht stracks nach Prag reiten und der Stradovä den Brief des Maître aushändigen würde, warf Fabrio den Winterumhang d’Alemberts ab und sich selbst ins Bett des Boten, wo er so lange verkrochen blieb, bis Oberst Hoyos ihn wecken ließ und die Dame in Weiß ihm befahl, in ihre Kutsche einzusteigen.

Und rätselhaft, dachte nun d’Alembert, indem er sich von Fabrio auf die Beine helfen ließ - unbegreiflich bei alledem ist ja nur, warum ich vor drei Tagen noch glaubte, ihn durchaus dorthin schicken zu müssen, in tödliche Gefahr. Wieder und wieder hatte er geträumt, wie Hezilow und er selbst einander in zwei Eichkronen gegenübersaßen, droben im Schlosspark, und unter ihnen standen oder hockten ihre Figuren, schwarze und weiße, hier die Lumpenkerle, dort die Maler, Musiker, Syrakuser, hintersinnig verteilt im Gras. Und d’Alembert hatte den Bauern Fabrio zur äußersten gegnerischen Linie gesandt, und die weiße Dame Katharina war tatsächlich erschienen; und gleichwohl war es ein ganz und gar sinnloser Zug, dachte der Maître, aus mindestens zwei Gründen.

Weil weder Weiß noch Schwarz jemals dieses Spiel gewinnen konnten, in dem es nur einen König gab. Und weil wir das Spiel unsres Lebens schon verloren haben, wenn wir bereit sind, unsere Geliebten zu opfern für einen wie auch immer ausgeklügelten Plan.

Einige Augenblicke grübelte d’Alembert diesen Gedanken noch hinterher, aber sie zerfaserten schon wie Nebelschwaden in der Morgensonne.

Der Syrakuser half ihm, sich auf sein Lager zu betten, und nachdem er die Phiole geöffnet und die dunklen Tropfen in Champagner gelöst hatte, schlüpfte Fabrio unter die Hermelindecke d’Alemberts.

»Vergiss nie, was du mir versprochen hast.«

»Keine Tränen, keine Trauer«, krächzte Fabrio, »ich gelob’s.«

D’Alembert leerte den Schierlingskelch, wie er es sich seit langem ausgemalt hatte: in gelassener Stimmung, nach stiller Rückschau, den Geliebten in seinen Armen.

86

Die Stallburschen lauerten linkerhand hinter den Fenstern, die Kuchelmägde zur Rechten, doch es war ihr gleich. Vom Butterhaus her erklang gedämpftes Prusten, aus der Schmiede ein gepresster Ausruf:

»Meiner Lieb, der närrische Graf!«

Julius hört es ja nicht, sagte sich Markéta, er lebt in seiner eignen Welt, in der niemand seine Majestät bezweifelt oder gar verlacht.

Tatsächlich schritt der junge Graf in so stolzer Haltung neben ihr durch den Burghof, als ob zu seiner Rechten sämtliche Reichsfürsten knieten und zu seiner Linken alle Potentaten des Morgenlandes. Wie immer in den letzten Wochen trug er seinen scharlachroten Krönungsmantel und die achteckige Silberkrone, allerdings war es nicht ganz leicht gewesen, ihn auch zu Hemd, Wams und Hosen zu bereden. In seinen Gemächern duldete Julius keine Kleidung mehr an seinem Körper, ausgenommen den gräflichen Habit.

Huldvoll neigte er nun sein Haupt in Richtung der Schweineställe, die Kuchelmaiden kicherten in ihrem Rücken, und doch fühlte Markéta zum ersten Mal nach Wochen voller Kummer wieder etwas Zuversicht. Die Sonne schien vom wolkenlosen Himmel, und obwohl die Moldau immer noch zugefroren war, lag bereits ein Hauch von Frühling in der Luft. Man schrieb den 11. Februar 1608, und was sie insgeheim befürchtet hatte, war tatsächlich eingetreten: Die mütterliche Mätresse übte einen üblen Einfluss auf Julius’ Befinden aus.

Aber die Stradovä würde es sowieso nicht mehr lange hier in Krumau aushalten, sagte sich Markéta, immer schmerzlicher schien sie den Glanz der Prager Burg zu vermissen, die Nähe der kaiserlichen Majestät.

Tatsächlich war es seit Neujahr immer schwieriger mit Julius geworden, sogar sie selbst hatte sich zuweilen bei dem Gedanken ertappt, dass sein Geist womöglich für immer verdunkelt bleiben würde. Den ganzen Januar über hatte sie die verschiedensten Finten erprobt, um Julius zumindest stundenweise aus seinem Gemach zu locken, hinüber in den großen Saal oder hinaus in die klare Winterluft. Sie hatte ihm vorgeschlagen, Sargenfalt in seiner Turmstube zu besuchen oder nach den Bären im Graben zu schauen, in d’Alemberts Wundersammlung zu stöbern oder das Schauspiel anzusehen, das die wenigen Künstler, die noch auf der Burg geblieben waren, zur Monatsmitte aufführen wollten. Doch jeder dieser Versuche, ihn aus dem Bannkreis des unseligen Porträts zu locken, hatte Julius nur in fürchterlichen Zorn, ja in schiere Raserei versetzt.

Heute Morgen aber war Markéta auf eine Lösung verfallen, so nahe liegend, dass sie kaum mehr begriff, warum sie nicht längst schon daran gedacht hatte. Wenn Julius drauf bestand, das Bildnis ständig vor Augen zu haben, dann würden sie es eben vor ihm hertragen, durch Säle und Gänge, über Treppen und Höfe, wohin auch immer er lustwandeln würde.

Und so geschah es nun, zur Belustigung der Dienerschaft, die hinter Tür- und Fensterspalten kaum an sich halten konnte vor boshafter Freude über den Narren im Grafenhabit. Wie an Schnüren gezogen trabte der junge Herr hinter dem Bildnis her, das auf dem Rücken des Gardisten Brodner schaukelte. Anstelle seines Gesichtes wies es nur ein leeres Oval auf, gleichwohl behielt Don Julius das Gemälde scharf im Blick, so als ob er jeden Moment damit rechnete, dass der ölige Spiegel endlich seine eignen Züge zeigen würde. Und um die närrische Szene komplett zu machen, hing an seinem Arm die einstige Baderstochter, die sich nun Markéta da Ludanice nannte und von ihrem Kaiserbastard offenbar nicht lassen wollte, auch wenn dessen Seele vom Teufelsmagister entführt worden und das Lichtlein seines Geistes darob erloschen war.

Ah, sie kannte all die Spottreden, die man sich hinter ihrem Rücken zuraunte! Aber heute war es ihr wahrhaftig und von Herzen gleich: Eine Ahnung von Frühlingsmilde streichelte ihre Wangen, und so wie es in der Natur mit jedem Tag ein wenig heller und wärmer wurde, so würde es auch mit Julius’ Gesundheit nun Schritt für Schritt aufwärts gehen.

Von weitem winkte sie Lisetta zu, die kleine Zofe trat eben aus der Tür zum einstigen gräflichen Hospiz. Ihre Bewegungen wirkten emsig und abwesend zugleich, sie war ein wenig wunderlich geworden, seit sie in Hezilows Hölle hinabgesprungen und, vor allem, seit ihr geliebter Flor entschwunden war. In jeder freien Stunde tappte Lisetta treppauf, treppab, durch leere Gemächer, modrige Säle, verwaiste Gänge, auf rastloser Suche nach dem Nabellosen - »er hält sich versteckt, zu Tode verschreckt, Madame, hier irgendwo in der Burg«, wie sie immer wieder beteuerte.

Behutsam lenkte Markéta Julius’ Schritte dem Hungerturm entgegen, dessen Fassadenpracht von den Schrecknissen in seinem Innern so wenig erahnen ließ. Aber es war kaum nötig, Julius zu steuern, da er wie ein Schlafwandler hinter dem Bildnis herlief.

In stiller Prozession stiegen sie die Wendeltreppe hinauf, vorbei an dem dunklen Flur zur Kerkerzelle, in der einst der kaiserliche Bote mit dem Ritterbrief gesessen hatte, nach ihm der Medikus nebst Mular und vor ihnen allen Flor.

Wann immer ihre Gedanken zu Flor abirrten, machte ihr Herz einen holpernden Satz. Im Grunde erging es ihr wie Lisetta, noch immer, nach so vielen Wochen, mochte auch sie selbst kaum glauben, dass Flor nicht mehr bei ihr war. Aber er ist noch am Leben, dachte sie, ich spür’s ja genau. Im Übrigen hatten Oberst Hoyos’ Suchtrupps nirgendwo Trümmer eines abgestürzten Drachenapparats gefunden, weder auf der zugefrorenen Moldau noch draußen am Rabenacker, keine Trümmerstücke und auch keine Leichname, weder von Flor noch von Hezilow.

Der Puppenmacher und der Nabellose blieben spurlos verschwunden und gerade dadurch in die Erinnerung der Leute von Krumau eingebrannt. Nach wie vor wurden in Burg und Stadt haarsträubende Geschichten über jenen Tag erzählt, an dem der Teufelsmagister und seine Kreatur auf dem Drachen davongeflogen waren.

Oben vor der Turmstube verbreiterte sich die Treppe zu einer kleinen Plattform. Franz Brodner blieb stehen und wandte sich zu Markéta um.

»Dreh er seinen Arsch wieder her, Soldat«, hob Julius zu schreien an, »sonst lass ich ihm den Schwanz als Jausenwurst servieren!«

Markéta erhaschte einen entgeisterten Blick des flachsblonden Wirtssohns, dann fuhr Brodner wieder herum, seine Kehrseite nebst Porträt präsentierend.

»Klopf halt an, Franz«, sagte Markéta. Es erstaunte sie jedes Mal aufs Neue, wenn die Leute vor Julius’ Flüchen und Drohungen erschraken. Es sind Zeichen seiner Krankheit, dachte sie, nicht er selbst stößt diese Verwünschungen aus, sondern der Lumpenteufel, der seine Seele gefangen hält.

Der Gardist pochte an die Tür und stieß sie im gleichen Moment auf. Offenbar hatte er es eilig, den Abstand zwischen Don Julius und sich selbst wieder zu vergrößern.

Die Sternguckerstube war hierfür indessen nicht der rechte Ort:    Franz Brodner machte einen Schritt ins winzige Rundgemach, zwängte sich zwischen Bett und Pult hindurch und verharrte wie eine Steinsäule, seine Nase zwei Zoll vor der Wand. Julius folgte ihm eilends, wobei er noch immer teuflische Verwünschungen murmelte.

Notgedrungen blieb Markéta auf der Türschwelle stehen. »Gott und dem Kaiser zum Gruß, Herr Astrolog«, rief sie mit erhobener Stimme zum Bett hinüber, wo Sargenfalt auf seiner Sternendecke saß. Sie hatte seit langem vorgehabt, den unglücklichen Alten einmal zu besuchen, aber wie sie sich nun sagte, hätte sie wohl besser dran getan, allein zu kommen. »Wie geht es denn immer so, werter Herr?«

Sie beugte sich zur Seite, um an Julius vorbei zum Astrologen zu spähen.

Von Sargenfalts furchiges Gesicht hatte einen fragenden Ausdruck angenommen. Sein klapperdürrer Greisenleib war in einen schwarzen Mantel gehüllt, die dünnen weißen Haare standen wie Strahlen von seinem Schädel ab. »Ludovica da Ludanice, gewiss«, nuschelte er und starrte auf die Decke, über die seine Hände unentwegt strichen, als schiebe er ein Gewimmel winziger Tiere zu sich her. »Tag und Nacht such ich Eure Anverwandte, so viele Seelen im Nebelmeer, Madame.«

»Wir sind der König«, sagte Julius, »auf welche Weise wünscht Ihr uns zu dienen?«

Der Astrolog fuhr zusammen, doch sein Blick blieb auf die gestickten Sterne gerichtet. »Der König«, wiederholte er in einem Tonfall, als ob das Wort eine fast vergessene Melodie in ihm erklingen ließe. Unablässig waren seine Hände in Bewegung, immer wieder bog er seinen Oberkörper mit verblüffender Geschmeidigkeit zur Seite, um unsichtbare Glühwürmchen von den entferntesten Gegenden seines Bettes herbeizuziehen.

»Wir wollten nur einmal rasch vorbeischauen, Herr Astrolog«, sagte Markéta in munterem Tonfall. »Jetzt müssen wir schon weiter, nicht wahr, Julius? - Du zuerst, Franz«, fügte sie leiser hinzu.

Julius warf einen raschen Blick über seine Schulter, dann wandte er sich hastig wieder nach vorn, um das Bildnis nicht aus den Augen zu verlieren. »Wir sind der König, Madame«, sagte er in einem Ton, der Unruhe verriet. »Auf welche Weise wünscht Ihr uns zu dienen?«

»Auf jede erdenkliche Weise, Majestät.«

Sie hatte die Floskel wohl schon tausendmal gebraucht, doch diesmal blieb die besänftigende Wirkung aus. Franz Brodner hatte sich umgewandt, um sich wieder aus der winzigen Stube hinauszuschieben, wie Markéta es angeordnet hatte, damit aber geriet das Bildnis aus Julius’ Blick.

»Dreh er sich um, Arschgardist!«, kreischte der Graf. »Herum mit ihm, aber hoppsa, oder wir schneiden ihm die Schwarte runter und kochen seinen Schinken auf dem Athanor!«

»Mach schon, Franz«, sagte Markéta leise. »Und jetzt rückwärts - ganz langsam, ja?«

Der Gardist tat wie geheißen, das Bildnis, das er an einer Schnur um den Hals gebunden trug, bebte auf seinem Rücken wie eine Vogelscheuche im Herbstwind. Behutsam legte Markéta ihre Hände auf Julius’ Schultern und zog ihn rückwärts aus der Turmstube. Franz Brodner folgte ihnen, gleichfalls rückwärts wandelnd, wobei er mit dem klobigen Bilderrahmen erst an das Bett zu seiner Rechten, dann ans Stehpult und schließlich ans Fernrohr stieß, das wie ein metallener Frosch auf seinem Schemel hockte.

»So viele Seelen, so viele Lichterfäden, Madame«, hörte Markéta den Astrologen murmeln. Währenddessen presste sich der Gardist vor der Sternguckerstube an Don Julius vorbei, mit der Nase buchstäblich über die Wand schleifend, und stolperte endlich die Stufen hinunter, gefolgt von Julius, der in seine würdevolle Haltung zurückgeglitten war.

In Flors Fuchsstiefeln stapfte Markéta hinter den beiden her, der Schrecken saß ihr noch in den Gliedern, und doch musste sie sich ein Lächeln verbeißen. Die unflätigen Flüche, die manchmal aus Julius hervorbrachen, das war bloß der Lumpenteufel, der seine Seele gefangen hielt. Aber daneben wohnte auch ein Kind in diesem Körper eines kraftvollen jungen Mannes, ein Knabe von träumerischer Sanftheit, der immer mehr ihrem lieben kleinen Flor zu ähneln schien.

87

»Der Kaiser hat entschieden: Julius bleibt bis auf weiteres hier in der Burg, protegiert von Oberst Hoyos und hundert Mann der kaiserlichen Garde.«

Bewacht, dachte Markéta, wär wohl das ehrlichere Wort. »Und ich, Madame - wie hat die väterliche Majestät über mich entschieden?«

»Über Euch?«, echote die Stradovä mit einem milden Lächeln.

»Alors, ma chère ...« Von Kopf bis Fuß in blendendes Weiß gekleidet, glich sie mehr denn je einer Winterwolke, die mit eleganter Leichtigkeit über den Himmel gleitet. »Johanna von Waldstein jedenfalls hat beschlossen, den Schleier zu nehmen, nachdem Julius ...«

»Sie geht ins Kloster?«, fiel ihr Markéta ins Wort. Aber das ist ja wunderbar!, wollte sie hinzufügen, verbiss sich den Jubelruf indes im letzten Moment.

Die Stradovä nickte mit einem Lächeln, das Markéta fast verständnisinnig schien, dann schweifte ihr Blick zu Julius hinüber, und ihre Miene gefror.

»Und Ihr, Madame«, wagte sie endlich zu fragen, »Ihr verlasst Don Julius auch?«

Die mütterliche Mätresse ließ ihrem Mund einen melodischen Seufzer entgleiten. »Was gäb ich drum, wenn ich noch länger bleiben könnte«, sprach sie. »Aber der Kaiser bedarf meiner, und Ihr wisst ja, ma chère - oder nicht?« In gespielter Verwirrung sah sie zur Mätresse ihres Bastardsohns hinüber, die ihr vor dem gräflichen Kamin gegenübersaß, in demselben Herbstzeitlosenkleid, das sie bei ihrer ersten Begegnung getragen hatte, im Burghof vor Hezilows Unterwelt. »Nun, wahrscheinlich kennt Ihr die Redensart nicht«, sagte sie in abschließendem Ton. »Im Hradschin würdet Ihr sie von morgens bis abends hören: Wenn der Kaiser ruft, hat das Herz zu schweigen.«

Sie erhob sich, knisternd und gleißend, lieblich und kalt wie ein überfrorener Kirschblütenbaum. »Ah, nicht dass ich’s vergesse und Ihr die Kinder noch vermisst, ma chère. Johanna und ich sind übereingekommen, alle Waisen, die der selige Maître um sich geschart hatte, kirchlicher Obhut anzuvertrauen.«

»Waisen, Madame?«

»Na, die halbwüchsigen Bengel und Mädelchen, die zu seinem Künstlervolk gehörten. Die Künstler selbst werden allesamt weiterziehen - einige kommen nach Prag, andere versuchen ihr Glück in Wien oder München. Die Kinder aber, die syrakusischen Zwillinge und was es da noch so alles geben mag, bringen Johannas Nonnen ins Waisenhaus.«

»Die syrakusischen Zwillinge?« Markéta selbst kam sich täppisch vor, wie sie vor der blendend eleganten Stradovä saß, mit aufgerissenen Augen lauschte und nur ab und an ein paar ihrer Worte wiederholte, stumpf wie ein Waldecho. »Lenka und Fabrio lasst bei mir, ich bitt Euch«, fügte sie hinzu, »Julius hat sie immer so gern um sich gesehen. Außerdem bin ich’s dem Maître schuldig.«

Die Stradovä hob strichdünne Augenbrauen. »Trop tard, ma chère, zu spät, die Kutsche mit den Kindern ist heute früh nach Budweis abgefahren.«

»Aber Julius hat’s nicht ...«

Katharina trat auf sie zu, winkte Markéta empor und schloss sie in eine schneeflockenzarte Umarmung. »Den Bedauernswerten zu fragen hätte keinen Sinn mehr, ma chère«, raunte sie, »machen wir uns nichts vor. Ihr habt doch sicher von der so genannten Habsburger Umnachtung gehört?« Sie löste sich von ihr und schaute unternehmungslustig in Richtung Tür.

»Nun, er ist nicht der Erste dieses großartigen Herrscherhauses«, sagte sie, »auf den sich das dunkle Tuch hinabsenkt. Den meisten seiner Ahnen waren allerdings - und sind, d’ailleurs -lange Jahrzehnte ungetrübter Geistesklarheit vergönnt, mehr oder weniger ungetrübter, um genau zu sein.«

Flüchtig sah sie noch einmal zu Don Julius hinüber, der auf seinem Prunksessel saß, im scharlachroten Umhang, die Krone auf dem Haupt, und mit gesammelter Miene das Porträt betrachtete. »Aber mir ist kein einziger Fall von Heilung bekannt«, fuhr die Stradovä fort, »kein Onkel oder sonstiger Ahn des armen Julius, der, einmal vom Familienwahn betroffen, die Umnachtung wieder abgeworfen hätte - kein einziger«, wiederholte sie, und ein schmerzlicher Ausdruck trat in ihr Gesicht. »Seid vorsichtig, ma chère, Ihr liebt ihn, seid dennoch auf der Hut! Schon seit Jahren mehren sich die Zeichen, und erst im letzten Frühjahr, wenige Tage bevor d’Alembert ihn hierhergebracht hat ...«

»Das war nicht er!«, fiel Markéta ihr wieder ins Wort. Sie stemmte die Hände in die Hüften. »Glaubt Ihr wirklich, Madame, dass Euer Sohn ein Mörder wär?«

»Mörder?«, wiederholte Julius von der anderen Seite des Salons her.

»Wir sind der König: Wie wünscht Ihr uns zu dienen, Mörder?«

»Ich jedenfalls glaub’s nicht«, fuhr Markéta leiser fort, »Julius hat mir von der armen Maid erzählt, von diesem Mariandl, das tot in seinen Armen lag, wie er damals aufgewacht ist in Prag.«

Einen Moment lang sah die Stradovä sie wortlos an, und nur ein schwaches Flattern ihrer Lider verriet, dass ihre Fassung erschüttert war. »Aber neben ihm lag ja das blutverschmierte Beil!«, rief sie aus.

»Und es war ja auch nicht der erste ... Zwischenfall, hat Julius Euch auch das gebeichtet?«

»Madame? Wir sind der König: Wie wünscht Ihr uns zu dienen, Madame?«

»Auf jede erdenkliche Weise, Majestät!« Markéta rief es zu Julius hinüber und nickte der Stradovä zur gleichen Zeit zu. »In jener Nacht im letzten Mai«, sagte sie, »als das Mariandl bei ihm im Hradschin war, da ist Johanna vor seiner Tür herumgeschlichen - wusstet Ihr das, Madame? Einmal hat er was poltern gehört, auf dem Flur vor seinem Gemach, da ist er rasch nach draußen, und vor ihm stand die Waldstein.«

Katharina da Strada hob die Anne, um ihr strahlend weißes Häubchen zu richten. »Sie wandelt im Schlaf, das ist bekannt«, sagte sie, »aber Johanna ist friedlich wie ein Lamm. Wollt Ihr wirklich behaupten, die Mondsüchtige wäre mit der Axt herbeigetaumelt und hätte das Hürchen erschlagen, während Julius neben ihr seinen Rausch ausschlief?«

Markéta wollte bejahen, doch der lauernde Ausdruck in Katharinas Augen ließ sie zögern. Die Waldstein hat mir ja gedroht, dachte sie, und klang ihr Verdacht nicht auch in den Worten der Stradovä eigentümlich einleuchtend? »Ich war nicht dabei, Madame«, sagte sie schließlich nur. »Doch ich weiß, dass ich von Don Julius nichts zu fürchten hab. Er liebt mich, auch wenn .«

». auch wenn er Euch nicht mehr erkennt?«, schlug die mütterliche Mätresse vor. »Gott behüte Euch, mein Kind, nun muss ich aber wirklich gehen: Der Kaiser ruft!«

88

Er zog sie an sich und küsste sie, zärtlich wie seit langer Zeit nicht mehr. In seinen Augen ein Glanz, als ob die Nacht in ihm sich endlich wieder lichten wollte.

»Julius?«

Forschend sah er sie an, oder durch sie hindurch, so als ob er aufmerksam in unbestimmte Ferne horchte.

Mehr als zwei Monate lang hatte er puppenstarr auf seinem Prunkstuhl gesessen und von morgens bis abends immer nur das leere Bildnis fixiert. Nun aber war er aus eigener Willenskraft aufgesprungen und hatte sie in seine Arme gezogen, zum ersten Mal, zum allerersten Mal!

»O Julius, mein geliebter Herr! Wie ich mich freu - für Euch und für mich selbst!«

Er nahm ihren Kopf in seine Hände, schaute sie innig an und küsste sie aufs Neue.

War es wahrhaftig so, dass seine Seele sich den Teufelskrallen zu entwinden suchte? Aber ja, aber ja, jubelte ihr Herz, ich hab’s immer geahnt, niemals hab ich aufgehört, an seine Heilung zu glauben!

Nur verschwommen sah sie vor sich, wie sie jetzt weiter vorgehen sollte, um ihn gänzlich aus der Gewalt des Lumpenteufels zu befreien. Als Erstes ihn aus dem Bannkreis des Bildes entfernen, dachte Markéta, alles Weitere würde sich ergeben. Hauptsache, sie blieb behutsam, damit seine Seele nicht erschrak.

»Kommt mit mir, mein lieber Herr, ich bringe Euch zu Bett.«

Er nickte ihr zu und ließ seine Hände sinken, so langsam wie im Traum. Eine flirrende Freude breitete sich in ihr aus, ihr Innerstes aufwirbelnd nach den langen Wochen frostiger Starre.

Ihr versteht meine Worte, lieber Herr, dachte sie, Ihr erkennt mich endlich wieder!

Sie nahm ihn bei der Hand und führte ihn langsam auf die Tür zu seinem Schlafgemach zu, dabei lächelte sie unentwegt zu ihm empor. Bei Tag und Nacht brannte das Feuer in seinem Kamin, denn noch immer duldete Julius keinen Kleiderfetzen auf seinem Leib, ausgenommen den Krönungsmantel. Fügsam ließ er sich von ihr führen, ein jugendlicher Hüne, nackt bis auf den zerschlissenen Habit um seine Schultern, die Silberkrone schief auf dem verworrenen Haar. Sein Anblick rührte Markéta fast zu Tränen und versetzte sie zugleich in fieberhafte Erregung - an mir, nur an mir liegt’s jetzt, ob die Umnachtung sich lichtet und Julius wieder der wird, der er einmal war.

Vor seinem Schlafgemach sah er über die Schulter zurück zu da Biondos Bild und stockte. Behutsam zog ihn Markéta weiter, über die Schwelle hinweg, und drückte die Tür hinter ihnen zu.

Auch in seinem Schlafraum herrschte stickige Hitze, der Kamin glühte fast wie einst der Athanor in Hezilows Unterwelt. Sie führte ihn zu seinem Bett, unter dessen moldaublauem Himmel sie so viele zärtliche Stunden verbracht hatten.

Sie stellte sich vor, wie Julius’ Seele, ein leuchtend bunter Schmetterling, halb noch verpuppt in der Hand des Puppenmachers zuckte. Wenn irgendeine Macht dem majestätisch rot und schwarz gefleckten Seelenfalter helfen kann, sich gänzlich aus dem Bann zu lösen, dann muss dies unsre Liebe sein. Unter dem samtenen Himmel wird mir Julius’ Leidenschaft auch sein Gedächtnis wieder regsam werden, dachte Markéta, indem sie Mantel und Krone von ihm nahm und seinen nackten Leib unter damastene Decken bettete.

Das Kaminfeuer erfüllte den Raum mit zuckend goldenem Dämmerlicht. Markéta zündete Kerzen an und verteilte sie auf Tisch und Schemeln. Ich will ihn sehen, dachte sie, sein Gesicht, den Glanz in seinen Augen, wenn seine Seele wiederkehrt.

Julius lag unter den Decken, wie sie ihn gebettet hatte, und sah mit angespannter Miene zum Samthimmel auf, wo das Messingglöckchen schaukelte.

Rasch warf Markéta ihr Gewand ab, löste ihre Haare und glitt zu ihm unter den Pfuhl. Erschauernd spürte sie die heiße Härte seines Leibes, der sich an den ihren drängte.

»Mein lieber Herr«, flüsterte sie, »so leidenschaftlich wart Ihr lange nicht mit mir. Entsinnt Ihr Euch: wie ich einmal erwachte und Ihr mich ansaht voll inniger Zärtlichkeit? Wie Ihr mich küsstet und Eure Augen wie von Tränen glänzten? Wie wir uns liebten, so zart, so einig, als ob wir ein einziger Mensch wären, mit zwei Leibern, aber einer Seele nur?«

Julius war auf sie geglitten, rhythmisch bewegte sich die blasse Scheibe seines Gesichtes über ihr. Sein Mund war halb geöffnet, sein Atem ging keuchend, seine Augen funkelten im Kerzenlicht.

»O mein Herr, mein lieber Herr, Ihr weint ja!«, flüsterte Markéta.

»Hat Euch die Erinnerung so sehr angerührt? Ach Julius, wie töricht, dass ich davon geredet hab!«

Immer wilder bewegte er sich auf ihr, immer heißer tropften seine Tränen auf sie herab. Markétas Beine umschlangen seine Mitte, ihre Hände krallten sich in seine Schultern. Auch ihre Augen brannten, es war die absonderlichste Vermischung von Leidenschaft und Schmerz. Sie jauchzten und weinten, der burgunderrote Glockenstrang tanzte im Rhythmus ihrer Leiber, und noch immer hatte Julius kein Wort gesagt.

Und Markéta schaute in sein Gesicht, das über ihr auf und nieder schwebte, und sah auf einmal, wie ein gewaltiger Sturm aufkam, durch Wälder und Täler wirbelte und den majestätischen Schmetterling mit sich riss. Im tosenden Wind flog der rot und schwarz gefleckte Seelenfalter hoch und immer höher in den Himmel empor, die Larve fiel ab von ihm und trudelte zur Erde zurück, wo der Puppenmacher stand und dem Schmetterling hinterhersah, den Kopf weit in den Nacken gelegt.

»O mein Herr, geliebter Herr«, stammelte Markéta, »seid Ihr zu mir zurückgekehrt?«

Julius sah forschend auf sie herab, die Augenbrauen zusammengezogen. Er öffnete den Mund, und Markéta wartete mit angehaltenem Atem, ob er ihren Namen flüstern, auf irgendeine Weise zeigen würde, dass er sich erinnerte, wer sie war und wo er sich befand. Aber dann schüttelte er nur den Kopf, mit trauriger Miene, und ließ sich neben sie auf den Rücken fallen.

»Schsch«, machte Markéta. Sie beugte sich über ihn und küsste ihm Träne um Träne aus den Augenwinkeln, bis sein Atem endlich wieder ruhig ging. »Alles wird gut, mein Geliebter.«

Die Kerzen waren heruntergebrannt, das Feuer zusammengesunken zu einem Häuflein funkelnder Glut. An seine Brust geschmiegt, schlief Markéta ein.

89

Als sie zu sich kam, lag er nicht mehr bei ihr, und vor dem Fenster starb die Nacht. Sie zündete eine Kerze an, ihr Blick glitt zum Schemel neben der Tür: Sein Mantel und die Krone lagen nicht mehr dort. Und doch dachte sie sich nichts Arges.

Gestern Abend hatte seine Seele begonnen, sich dem Griff der Satanskrallen zu entwinden. Selbst wenn sie ihn gleich wieder auf seinem Thronsessel vorfinden würde, sagte sich Markéta, im zerschlissenen Krönungsmantel, die Krone auf dem Haupt, die Augen starr auf das vermaledeite Porträt gerichtet, so blieb es doch wahr, dass die Macht des Lumpenteufels gestern erschüttert worden war.

Ich muss Geduld haben, beschwor sich Markéta, warf die Decken zur Seite und sprang aus dem Bett. Fröstelnd wollte sie nach ihrem Kleid greifen, da hörte sie einen scharfen, ratschenden Klang vom Salon her, warf mit fliegenden Fingern bloß ihr Nachtgewand über und zog die Tür auf.

Leer lag der Salon im grauen Morgenlicht. Unten in der Stadt wurde eben die Stunde geschlagen, mit angehaltenem Atem zählte sie mit, während sie barfüßig über die Schwelle tappte: vier dumpfe und zwei dünnere Schläge, halb fünf.

»Julius?«

Keine Antwort. Sie zog das Hemd über ihrer Brust zusammen, schlaftrunken ging sie auf den Prunksessel zu und versuchte zu begreifen, was passiert war. Offenbar hatte er seine Gemächer verlassen, allein, aus eigenem Antrieb, zum ersten Mal seit jenem Dezembertag, als der Puppenmacher mit Flor davongeflogen war.

Da sollte sie sich doch freuen, dass seine Gesundung so ungestüm voranzuschreiten schien? Markéta sah sich nach allen Seiten um. Irgendetwas war anders, als es sein sollte.

Ihr Blick glitt über den Thronsessel und das Porträt, dann hinüber zu den Fauteuils, wo sie mit der Stradovä gesessen hatte, und zurück zur Staffelei.

Der Atem stockte ihr. Das Bildnis! Wie ist das nur möglich? Was hat es zu bedeuten? Das leere Gesichtsoval aus der Leinwand herausgeschnitten, weshalb um Himmels willen hat er das gemacht? Mit einem Mal begann ihr Herz zu rasen.

Und womit zerschnitten?, flüsterte eine Stimme in ihrem Innern. Mit einem Messer? Wo hat er’s her? Da war sie schon aus der Tür, rannte durch den Flur voller Ahnenbilder und tappte die eiskalten Stufen hinab.

Unten im Hof blieb sie stehen, mit fliegendem Atem, und sah sich wieder nach allen Seiten um. Noch immer war es beinahe Nacht, der Himmel von der Farbe schmelzenden Bleis. Da hörte sie Schritte, fuhr herum, und dort unten lief er, Julius, auf den Durchgang zum zweiten Burghof zu.

Sie öffnete schon den Mund, um nach ihm zu rufen, doch dann ging’s ihr durch den Sinn: Besser, er merkt nicht, dass ich ihm hinterherschleich. Im wehenden Scharlachmantel, in der Hand etwas Dunkles, Unförmiges tragend, seine Krone tatsächlich wieder auf dem schlafzerzausten Haarschopf, lief er mit raschen Schritten über den Hof.

Die Kälte kroch aus dem Boden in Markétas Beine, der frostige Märzwind fuhr unter ihr Gewand und ließ sie am ganzen Leib erschauern. Mit beiden Händen raffte sie das Hemd über dem Busen zusammen und hastete hinter Julius her.

Tu’s nicht, schrie die Stimme in ihrem Innern, denk dran, was die mütterliche Mätresse gesagt hat: Er ist wahnsinnig, er hat Mariandl mit dem Beil erschlagen!

Ist er nicht, hat er nicht!, hielt sie dagegen, während sie sich in den gemauerten Durchgang zum zweiten Burghof drückte. Atemlos sah sie zu, wie Julius zu einer Wandnische trat und die brennende Fackel an sich nahm. Er selbst hat mir ja erzählt, was damals wirklich passiert ist: Die mondsüchtige Waldstein ist vor seiner Tür herumgeschlichen. Bestimmt hat sie das Mariandl umgebracht!

Aber was schleppt er bloß in seiner Linken mit sich? Markéta bemühte sich, ihren keuchenden Atem zu dämpfen, während sie Schritt um Schritt näher heranschlich, in den Mauerschatten gedrückt.

Unterdessen hatte Julius das gedrungene, schwärzliche Ding bis vor sein Gesicht emporgehoben, und Markéta sah sie beide im Profil: Julius’ Haupt mit der achteckigen Krone und Lenkas verschrumpften Lederknaben, dessen Auge im Fackellicht zu ihr herüberglänzte.

Also hat Julius das Büblein im Glas entwendet? Im ersten Moment fühlte sie nur Verblüffung: Was will er bloß damit? Schon Anfang des Jahres war das Steinkind mitsamt Spiritusballon verschwunden. Sie hatte angenommen, dass die Waldstein oder ihre Nonnen den »Satansbalg« beseitigt hatten, und die Angelegenheit im Wirrwarr der traurigen Ereignisse bald wieder vergessen.

In diesem Augenblick erst, als ihre Gedanken bis hierher gekommen waren, durchfuhr Markéta eisiges Entsetzen. Unverwandt sah sie zu Julius und dem Satansfratz hinüber, dessen schwärzlicher Lederleib vor Feuchtigkeit glänzte. Als er den Fetus vor acht Wochen entwendet und versteckt hat, dachte sie, stand seine Seele noch ganz unterm Bann des Puppenmachers. Wenn er aber nun zu seinem Versteck geschlichen war und die Mumie aus ihrem Spiritusbad gezogen hatte, dann hieß das doch, dass seine Seele immer noch - oder aufs Neue - in der Gewalt des Lumpenteufels war.

Was bei allen Heiligen hatte Julius vor?

Wieder wollte sie seinen Namen rufen, wieder zögerte sie -nicht aus Angst um ihn, wie sie sich sagte, sondern aus Sorge, ihn endgültig an den Teufelsmagister zu verlieren. Wenn er entdeckt, dass ich ihm voller Argwohn folge, wird er mir nie wieder vertrauen, und seine Seele kann sich nie mehr aus der Verpuppung befreien.

Noch immer klopfte ihr das Herz bis in die Kehle. Julius ging nun quer über den Hof aufs Gewölbetor zu, in der einen Hand das Steinkind, in der andern die brennende Fackel. Markéta folgte ihm auf weichen Knien, zitternd vor Kälte, sich in den Mauerschatten drückend, der bei grauendem Morgen immer dürftiger wurde, fadenscheinig wie der zerschlissene Seidenmantel auf Julius’ nacktem Leib.

Jetzt setzte er das Satansbalg auf seine Schulter, sodass es sich mit Knien und Händlein anzuklammern und zu Markéta hin ins Dämmerlicht zu spähen schien. Sein gekröntes Haupt reckte sich empor, als er den Riegel beiseite stieß, dann schwang mit einem dumpfen Stöhnen das Gewölbetor auf.

Julius legte seine rechte Hand auf den Rücken des hockenden Balgs und lief mit hastigen Schritten in Hezilows Unterwelt hinab.

90

Das Doppel-Ei des Athanor glühte, geschäftig ging Julius vor dem Ofen hin und her. Er füllte Wasser in einen Kristallballon und setzte ihn auf den Herd, gab Tropfen aus Flaschen und sämige Spritzer aus Phiolen hinzu.

Hinter einer Säule verborgen, sah Markéta ihm zu, überwältigt von Mitleid mit ihrem Geliebten. Etwas Schreckliches war mit Julius geschehen. Sein Gesicht war gänzlich verändert, und sie wusste nun, dass die Umnachtung nicht mehr von ihm weichen würde. Seine Augen von roten Schlieren durchzogen, mit milchigem Glanz überdeckt, seine Züge zerflossen, die Unterlippe unablässig zitternd, so als ob Schmerz oder Ekel, die seinen Mund früher zuweilen zucken ließen, nun unentwegt an ihm fräßen.

Auf der Tischplatte vor ihm hockte der versteinerte Knabe, zu seiner Rechten die Silberkrone, zur Linken das akkurat aus der Leinwand geschnittene Oval.

Seinen Krönungsmantel hatte Julius in den Athanor gestopft und dann, vor dem Ofenfenster kauernd, lange zugesehen, wie der Umhang von den Flammen verzehrt wurde. Splitternackt lief er hin und her, und als es in der Kristallkugel zu brodeln begann, nahm er seine Silberkrone und warf sie hinein.

Sein Gesicht, seine Bewegungen, alles an ihm glich nun dem Raubtier, an das er sie von Anfang an erinnert hatte. Ein junger Wolf von glatter Schönheit, doch obwohl sie auch die Gefahr, die von ihm ausging, niemals stärker empfunden hatte, verspürte sie keinerlei Angst. Er tat ihr nur Leid, so furchtbar Leid, dass es ihr fast das Herz zerdrückte.

Mit einem hölzernen Löffel rührte er die kochende Brühe um, in der die Silberkrone blitzte, dann wandte er sich um, sah forschend in Markétas Richtung und zog mit einer schnellen Bewegung das Steinkind zu sich heran.

Er drückte es mit dem Rücken auf die Tischplatte, nahm den fleischfarbenen Leinwandfetzen und presste ihn auf das schwärzlich verschrumpfte Gesicht. Auch der Grunzlaut, den er nun ausstieß und der unverkennbar Befriedigung ausdrückte, erinnerte Markéta an ein wildes Tier. Tatsächlich entsprachen Größe und Umriss des leeren Ovals so genau dem Lederfrätzlein, als ob der Satansbalg und nicht er selbst dem Maler Modell gesessen hätte.

Offenbar hatte er den Leinwandfetzen vorher mit Leim bestrichen; als er den Fetus hochhob, blieb die Gesichts scheibe auf dem Frätzlein kleben. Wieder hielt Julius den Satansbalg vor seine Augen, wie vorhin im Burghof, diesmal aber redete er mit fiebriger Eile auf ihn ein:

»Nihil meherde vita est aliud, nisi mummia quaedam balsamita, conservans mortale corpus a mortalibus vermibus et aestphara, cum impressa liquoris sallium commistura.«

Er schwenkte das Knäblein hin und her und drückte ein Ohr an seine Brust. Dann schüttelte er den Kopf, seine Miene blieb unverändert, und doch spürte Markéta, dass ihn Unruhe befiel.

Hinter ihm kochte noch immer die Silberkrone im Glasballon, Julius aber hielt das Knäblein in die Höhe, als ob er es den himmlischen Mächten übereignen wollte, und begann in fiebrigem Singsang zu leiern: »Sei gegrüßt, Geist, der vom Himmel bis auf die Erde dringt und von der Erde bis zu den Grenzen des Abgrundes. Sei gegrüßt, väterlicher Geist, der in mich dringt und mich erfasst und von mir scheidet nach Gottes Willen in Güte. Sei gegrüßt, des Sonnenstrahles Dienst, Beglänzung der Welt. Sei gegrüßt, des nächtlich scheinenden Mondes ungleich leuchtender Kreis! O großes, größtes, kreisförmiges, unbegreifliches Gebilde der Welt! Himmlischer Vater, im Himmel befindliche, ätherische, im Äther befindliche, wassergestaltige, erdgestaltige, feuergestaltige, windgestaltige, lichtgestaltige, dunkelgestaltige, wie Sterne glänzende, feuchtfeurig-kalte väterliche Majestät: Ich preise dich, du Gott der Götter, der die Welt gegliedert hat, der donnert, der blitzt, der regnet, der erschüttert, der lebendige Wesen erzeugt. Ich beschwöre dich, Gott der Äonen, Herrscher des Alls, nimm diesen Sohn und blas ihm deinen Lebensodem ein! Et iste filius servabit te in domo tua ab initio in hoc mundo et in alio.«

Schon bei der Beschwörung von »Gottes Willen in Güte« hatte Julius zu schreien begonnen, mit fremder, pfeifender Stimme, und nun schüttelte er das Kindlein, dass die leere Leinwandlarve bebte, und warf es mit wütendem Schwung auf den Tisch zurück.

»Etwas fehlt, etwas fehlt!«, kreischte es aus ihm heraus. »Der Aquaster, o herrlicher Vater, ein Spritzer vom Stirnodem fehlt!«

Er bückte sich unter den Tisch und schnellte gleich wieder empor, eine kurzstielige Axt in der Hand. »Kommt dort heraus, Katharina!«

Mit wölfischer Raschheit glitt er um den Tisch herum, war mit drei Schritten bei ihr und zog sie hinter der Säule hervor. »Euren Stirnodem, ich befehl’s!« Er schwang die Axt empor.

»Julius, mein geliebter Herr!« Noch immer empfand sie mehr Erbarmen als Angst. Dabei ließen der milchige Glanz seiner Augen, die zuckende Lippe, das pfeifende Kreischen keinen Zweifel, dass er nun ganz und gar in der Gewalt des Lumpenteufels war. »Seht mich doch an, Julius: Vor Euch steht Markéta!«

Für einen winzigen Moment zögerte er, dann krachte die Axt herab und schleifte kreischend über den Stein der Säule, vor der sie einen Wimpernschlag zuvor gestanden hatte. Julius fuhr herum. »Hierher, ich befehl’s!« Die Axt vor seine Brust gedrückt, sprang er mit tierhaft geschmeidigen Sprüngen durch den Felsensaal, hinter Säulen, in Winkel spähend.

Mit angehaltenem Atem sah Markéta zu, wie er sich ihrem Versteck näherte, einer gemauerten Nische, die sich im nächsten Moment als tödliche Falle erwies.

»Ah, Madame! Euren Aquaster, aber hoppsa!«

Sie trat aus der Nische und ging langsam auf ihn zu, mit ausgebreiteten Armen. Wie furchtbar traurig, dachte sie, von seiner Hand zu sterben, aber er ist’s ja nicht, es ist nur sein Körper, vom Lumpenteufel gelenkt.

Abermals hob Julius die Axt, da erklangen klappernde Schritte vom Gewölbetor her. Sein Blick irrte den Weg hinauf, wo gleich darauf eine schmale Gestalt erschien, mit dünnen blonden Haaren, in blauer Zofentracht.

»Madame - o mein Gott!«

»Lisetta.« Sie versuchte vergebens, das Beben in ihrer Stimme zu dämpfen. »Was machst du hier? Bitte erklär Don Julius, wer vor ihm steht!«

»Flor such ich, das Tor war auf, und da dacht ich ... Wer vo-vor ihm steht?« Mit einem Mal begann sie so sehr zu zittern, dass ihre Zähne klapperten und sie an der Mauer Halt suchen musste. »Na, Ihr seid Ma-madame Ma-markéta, denk ich?«

»Ma-ma-ma-ma!«, äffte Julius sie mit kreischender Stimme nach.

»Den Odem von Maman für die gläserne Mutter, das dünkt mich nur gerecht, Madame!« Seine Blicke flogen von der Zofe zurück zu Markéta, dann sauste die Axt abermals herab.

Sie spürte einen zerreißenden Schmerz in ihrer Schulter. Mit aller Kraft trat sie ihr Knie nach vorn, Julius stieß einen Schrei aus und taumelte zurück.

»Lauf, Lisetta!« Sie rannte auf die Zofe zu, die wie versteinert auf der Schwelle zum Felsensaal stand. Hinter sich hörte sie Julius’ keuchenden Atem, die Axt fuhr kreischend über Stein, schon trommelten wieder seine Schritte hinter ihr. »Hol den Oberst, Lisetta!«

Der Schmerz hackte und fraß in ihrer linken Schulter, Blut floss aus der Wunde und lief in warmen Schwallen an ihrem Arm herab.

Der Gewölbegang drehte sich vor ihren Augen, die Fackeln tanzten, die Mauern neigten sich ihr entgegen und mit ihnen Lisetta, die auf einmal vor ihren Füßen lag.

Mit ihrer allerletzten Kraft sprang Markéta über die kleine Zofe hinweg, machte zwei letzte strauchelnde Schritte und fiel der Länge nach zu Boden. Der Schmerz kochte in ihrer Schulter, schon wollten ihr die Sinne schwinden. Ergeben hob sie den Kopf, blickte über die Schulter zurück und sah eben noch, wie Julius’ starker, nackter Leib unter dem verwunschenen Tiergesicht sich im Sprung über ihr streckte, die Axt hoch über seinen Kopf erhoben. Dann jagte die Klinge hernieder, ein grässliches Knacken ertönte, ein allerletzter, schon sterbensmatter Schrei.

Ihr Kopf war immer noch krampfhaft zurückgedreht, dennoch dauerte es ein halbes Hundert holpernder Herzschläge, bis ihr Geist verstand, was vor ihren Augen geschehen war.

Das Blut toste in ihren Ohren und floss aus ihrer Schulterwunde, doch Julius’ Klinge hatte nicht nochmals in ihren Leib gebissen. Die Axt war in Lisettas Stirn gefahren, und Julius kauerte über ihr und ließ in die Höhlung seiner Hände tropfen, was aus ihrem Schädel rann.

»Aquaster, Ma-ma-ma-dame«, hörte sie ihn murmeln, »ein Spritzer vom Stirnodem für den herrlichen Vater, damit der Homunkel munter wird!«

Sie versuchte von ihm fortzukriechen, den steilen Gang hinauf, dem Halbkreis aus Morgenlicht entgegen, der in weiter Ferne über ihr glänzte. Ihre Hände scharrten über den Steinboden, doch es war nur ein krampfhaftes Zucken auf der Stelle.

Julius, mein geliebter Herr .

Ihr Kopf war zurück auf den Boden gesunken, hinter sich hörte sie schmatzende Laute, wie wenn dort jemand einen Teig oder Brei in den Händen wälzte. Den Kristallballon, in dem die Silberkrone kochte, sah sie auf einmal wieder vor sich, den scharlachroten Krönungsmantel, den die blauen Flammen des Athanor verzehrten, das Steinkind, wie’s auf dem Alchimistentisch hockte, die leere Königslarve vor der schwarzen Satansfratz. Wie ein wundersamer Traum erschien ihr dies alles, und die Sinne wollten ihr schon vollends schwinden, als stampfende Schritte vom Burghof her ertönten und ein Dutzend kaiserlicher Gardistenstiefel in die Unterwelt hinabgetrampelt kam.

Mühevoll hob sie abermals den Kopf, sah an der baumlangen Gestalt empor und erblickte endlich das hölzerne Antlitz von Oberst Hoyos, schwindelnd hoch über ihr.

»Erhebt Euch, Don Julius, ich muss Euch fortbringen.« Seine Stimme knarzte ärger denn je.

»Herr Oberst«, murmelte Markéta, »bitt sehr, ich ...« Schatten tanzten, Sterne wirbelten vor ihren Augen. Mit äußerster Anstrengung drehte sie noch einmal den Kopf über ihre Schulter, aus der Blutfontänen sprangen, grellrot wie im Fiebertraum. »Bitt sehr, ich verreck!«

Für einen winzigen Moment traf sie der Blick unter borkegrauen Augenbrauen, die wie geschnitzt aussahen. »Holt den Brodner«, befahl Hoyos, »der schleicht sowieso immer hinter der Senorita her.«

»Um Gottes ... schnell ... ich verblut!«

Einer der Gardisten rannte los, zum Gewölbetor zurück, schon von weitem nach Franz Brodner schreiend. Währenddessen stiegen die anderen Soldaten über Markéta hinweg und umringten Julius, der sich fügsam erhoben hatte, Hände, Stirn und Brust mit Blut verschmiert.

Wieder sank Markétas Kopf auf den Boden zurück. Verschwommen sah sie Mutter Bianca vor sich, ein Lichtfaden im Nebelmeer, umhüllt von einem Leib so durchscheinend wie Glas.

»Markéta?«

»Wer ... wer?«

»Ich bin’s, der Brodner Franz.« Die eifrige Stimme zitterte vor Besorgnis. »Ich versteh nichts davon, Markéta, dein Vater war Heiler: Was um Himmels willen soll ich tun?«

»Abbinden ... überm ... Loch«, flüsterte sie.

»Abführen - in den Turm!«, knarzte der Oberst.

»Bitte nicht, Maître!«, rief auf einmal Julius, mit überkippender Stimme wie ein verängstigtes Kind.

Ein Fetzen wurde um Markétas Schulter gewunden. Wieder stiegen Stiefelpaare über sie hinweg, dazwischen zwei nackte, verzweifelt sich sträubende Füße, scharlachrot betupft.

»Ab in den Kerker, Exzellenz - die väterliche Majestät befiehlt’s.«