37721.fb2 Der Alchimist von Krumau - читать онлайн бесплатно полную версию книги . Страница 2

Der Alchimist von Krumau - читать онлайн бесплатно полную версию книги . Страница 2

EINS - SUBLIMATIO

»Erhöht das Trockene durch Feuer im Tiegel, um die gröbsten Unreinheiten der prima materia zu entfernen.«

1

»Zum hundertsten Mal, Maître: Als ich zu mir komm, liegt sie neben mir in ihrem Blut, mehr weiß ich nicht.«

Mit knarrendem Achswerk holperte ihre Karosse durch Schlaglöcher, über Steinbrocken, Wurzelstrünke, dass Julius und d’Alembert wie Puppen hin und her geschaukelt wurden.

»Ich kenn dieses Mariandl ja gar nicht - eine Hur aus der Hollerschenke, warum sollt ich der ans Leben gehen?«

Maître d’Alembert lächelte ihn nur an, sein Gesicht wie immer eine weiße Maske mit wasserhellen Augen und gespitztem Tollkirschmund. Julius hatte ihn rufen lassen, und unverzüglich, den Schlaf noch in den Augenwinkeln, hatte d’Alembert begonnen, Vorkehrungen zu treffen und Befehle zu erteilen. Julius war ins Bad geschickt worden, und als er in seine Gemächer zurückkam, gesäubert und von seinem Kammerdiener Robert angekleidet, da waren vom Mariandl kein roter Spritzer und kein schwarzes Löckchen mehr zu sehen. Noch vor Sonnenaufgang hatten sie Prag verlassen, heimlich wie fliehende Diebe. Seither rumpelte ihre Kutsche moldauabwärts, die Fenster mit weißen Tüchern verhängt. Alles musste bei d’Alembert weiß sein, so weiß wie seine gepuderte Perücke, wie die Strumpfhosen, die sich um sehnige Fechterbeine spannten, wie die gelackte Weste oder das gedrechselte Stöcklein, mit dem er nun den Vorhang vorm Seitenfenster hob.

Ein greller Sonnenstrahl drang in die Kutschkabine, widerwillig schielte Julius hin. Ah, wie er die Sonne hasste, überhaupt diese fürchterliche Frühlingsheiterkeit! Seit Stunden schon holperten sie den Fluss entlang, auf schmalen Sträßchen, dem wie vor Wut sich windenden Wasserlauf folgend. Und in seinem Kopf immer noch diese Dumpfigkeit, darin die Stimmen Mariandls und des Sternenguckers hallten: »Nur ein paar Schritte noch - alles für Euch, herrliche Gnaden, aber nicht hier!« Am liebsten hätte er die Fäuste auf seine Ohren gedrückt, doch wenn er die Hände öffnete und schloss, war’s ihm immer noch, als fühlte er klebrig-feuchtes Rot. Mariandl, dachte Julius, wie kann’s nur sein, ich war’s nicht, und ich begreifs nicht.

»Alles wird sich weisen, nur ruhig Blut, Excellence. Das Mädchen wird außerhalb der Burgmauern gefunden werden, keine Sorge, dennoch müssen wir sichergehen.« Mit samtener Stimme sprach d’Alembert nun auf ihn ein, als gelte es, einen Tobsüchtigen einzulullen. »Sollte trotzdem ein Verdacht auf Euch fallen, so ist es besser, wenn Ihr fernab von Prag weilt. Wer würde den Grafen von Krumau mit einer solchen Affäre in Verbindung bringen?«

»Aber mein Platz ist in Prag!«, schrie Julius auf. »Bringt mich zurück, ich fleh Euch an, d’Alembert!«

»Ihr dürft Euch glücklich schätzen, Excellence, dass Eure Frau Mutter und ich seit Jahr und Tag alles vorbereitet haben.« Nur der Schweiß auf d’Alemberts Stirn und Wangen verriet, dass er seinen eignen Worten nicht vorbehaltlos traute. Dicke Tropfen, die seine Schminke zersetzten und die Falten offenbarten, die dreiundvierzig Lebensjahre eingegraben hatten, davon bald zwei Jahrzehnte als Erzieher des Kaisersohns. »Krumau wird Euch gefallen, wartet nur ab.«

D’Alembert zog sein Stöckchen zurück, und der Vorhang fiel herab.

Er glaubt mir kein Wort, dachte Julius, aber wie auch: Ich trau mir ja selbst nicht mehr übern Weg. Schon einmal war’s so brandrot über ihn gekommen, auch sie ein Hurenweib, um deren prallen Hals sich plötzlich seine Hände schlossen. Aber warum auch hatte sie ihr Frätzchen breit gezogen: »Ah, Herr Bastard, Ihr macht’s mir gut!« Wenn er eins ums Verrecken nicht vertrug, dann dieses Hohnwort: Bastard! Damals hatte der Maître ihn im allerletzten Moment von der Unseligen weggerissen, deren Augen schon wie weiße Kugeln aus der violetten Larve quollen. Aber da hatte er sich wenigstens erinnert, an ihren Hohn, ihr dreistes Lachen - und diesmal: nichts! Er hatte sich in ihr verströmt, dann nur noch Schwärze: als ob er wahrhaftig in ihrem Schoß ersoffen wär! Mariandl!

Von draußen drangen Rufe in die Kutschkabine, Julius fuhr aus seinen Grübeleien auf. Er schob den Vorhang zur Seite und spähte neuerlich hinaus. Knapp neben der Fahrspur ging es schroff hinunter, auf bewaldeter Böschung bis zum Bett der Moldau, wo eben in träger Fahrt ein Kahn vorübertrieb. Der dicke Mann auf dem Wasser zog grüßend die Mütze, starr sah Julius auf ihn hinab. Ah, Fischersmann sein, den Wanst auf den Bootsrand stützen und immerdar in die Wellen stieren wie dieser da! Oder Sautreiber, Bader, Schafhirt meinethalben, ein Leben ohne Ehrgeiz, Sehnsucht, Perspektive, im Hin und Her von Brunst und Tran vertan - alles lieber als verbannt nach Krumau, in die grauenvolle Grafengruft!

Das tote Hürchen kommt den beiden nur zu gelegen, dachte er mit einem Mal, und plötzlich wurde ihm kalt. Er kroch tiefer in seinen scharlachroten Umhang, ein Geschenk seiner Mutter Katharina, der kaiserlichen Mätresse. Seit Wochen lauern d’Alembert und die Mutter auf einen Vorwand, mich nach Krumau abzuschieben, dachte er - zu meinem Besten natürlich, was denn sonst! Wieder und wieder hatten sie auf ihn eingesäuselt: was für eine gewichtige Herrschaft dieses Krumau wär, was für eine Glanzleistung der beiden, dem Kaiser die Grafschaft abzuschmeicheln, und was für eine Gnade der väterlichen Majestät, mir die abgenagten Überreste der alten Rosenberger anzuvertrauen! Bis gestern hatte sich Julius geweigert, auch nur besuchsweise nach Krumau zu rumpeln, einen halben Kutschtag ab von Prag. Jetzt aber - jetzt hatten sie ihn dort, wo sie ihn anpflocken wollten: Julius Caesar Graf von Krumau, was für eine jämmerliche Farce! Wie können sie’s wagen, mich in den Wald zu verbannen, dachte er und spürte ein Brennen in der Kehle - mich, Rudolfs erstgeborenen Sohn?

Am liebsten hätte er ausgespuckt, in d’Alemberts mehlweiß gepudertes Antlitz mit den blitzenden Augen, dem ständig wie zum Spott verzogenen Tollkirschmund. Und doch werd ich niemals meine verborgensten und offenbarsten Hoffnungen begraben: Julius Caesar von Habsburg, Kaiser des Heiligen Römischen Reichs, oder zumindest, bei allen hussitischen Henkershuren, König von Böhmen, wenigstens das!

2

Um die Mittagsstunde passierten sie das Budweiser Tor und rollten in die Unterstadt von Krumau; niemand nahm von dem weißen Zweispänner mit den verhängten Fenstern Notiz. Man schrieb den 3. Mai 1607 A.D. einen Samstag. In den Gassen drängten sich Händler, Schaulustige und Käufer zu Fuß oder auf Pferdekarren, die zum Markt in der Oberstadt strebten. So kamen sie nur im Schritttempo vorwärts, aber d’Alembert machte keine Anstalten, ihnen den Weg freizukehren.

»Unter den obwaltenden Umständen«, erklärte er, »seid Ihr gut beraten, Excellence, inkognito einzuziehen.«

»Umstände, Maître?«

»Nun, mir kommt es beinahe so vor, als wärt Ihr schon gestern hier eingetroffen.« D’Alembert setzte sein berühmtes undurchdringliches Lächeln auf. »Bei Anbruch der Dunkelheit, wenn ich es mir recht überlege.«

»Aber wie oft soll ich’s noch beteuern«, fuhr Julius auf, »ich hab diesem Mariandl keinen Kratzer in den Balg gemacht, geschweige denn ...«

Der Maître hob sein Stöckchen. »Nie mehr diesen Namen, Euer Liebden, ich bitte Euch. Eine Person namens Mariandl habt Ihr in Eurem ganzen Leben nicht gesehen.«

Gemächlich schaukelten sie in die Oberstadt hinauf, eingekeilt zwischen Karren, Tier- und Menschenleibern. Wenn die Leute da draußen wüssten, wer hier in der Kutsche hockt, dachte Julius, wer weiß, ob sie uns nicht mit Flüchen und Üblerem überschütten würden. Der Maître hielt ihn immer noch für einen tumben Jüngling, der sich durch seine Schliche arglos lenken ließ. Aber er hatte schon mehr als einmal munkeln hören, dass die Leute von Krumau dem Kaiser grollten, weil der seiner Mätresse die Grafschaft in den Schoß geworfen habe als Spielwerk für ihren Bastardsohn. Jahrhundertelang hatten die mächtigen Rosenberger hier in Krumau geherrscht, der größten böhmischen Burg hinter Prag. Bis der Letzte ihres Geschlechtes, Graf Wilhelm, Vizekönig und Kanzler von Böhmen, im Herbst 1602 dahingerafft worden und die hoch verschuldete Herrschaft mitsamt allen Dörfern, Meilern, Untertanen in die Hände Ihrer Majestät gefallen war, des wunderlichen Weisen von Prag.

Aber ich spei drauf. Mein Platz ist bei Euch, allerherrlichster Herr, nicht hier draußen im Wald.

Der Marktplatz war ein Gebrodel aus Lachen und Wiehern, Rufen und Muhen, aus Grölen und Blöken, vermischt mit Gerüchen nach Bier und Pferdepisse, Schweiß und Kirschsaft, Schweinswurst und Kot. Durch einen Spalt im Vorhang spähend, erkannte Julius eine schwarze Pestsäule, die sich mit versteinerter Geilheit gen Himmel reckte, umgeben von einem Wirrwarr aus Marktständen, wimmelnden Ferkeln und Kindern, Bürgern in steifer Würde und Bauern in bunter Tracht. Der Kutscher ließ die Peitsche knallen, und schrittweise blieb das Durcheinander der Marktstände hinter ihnen zurück. In der Mittagssonne gleißte die Moldau wie ein riesiger Spiegelwurm, der selbst ihre Kutschkabine mit hellem Weiß erfüllte.

Da wurde Julius noch düsterer zumute - ah, er hasste sie aus tiefstem Herzen, die heuchlerische Maienheiterkeit. Und hatte es kaum gedacht, da blieben sie stehen, mit einem Ruck, der ihn fast von der Kutschbank warf. Ein Rumpeln und Holpern, als ob sie durch einen Erdwulst gefahren wären, jemand stieß plötzlich einen Schrei aus, der gleich schon in einem Gurgeln erstickte, die heisere Stimme eines alten Mannes. Es klang, als ob er aufgekrächzt und fast im selben Moment sich in hellem Schwall erbrochen hätte - Mariandls Sternengucker!, dachte Julius in jähem Erschrecken, aber es kann ja nicht sein. Ohne auf d’Alemberts Stöckchen zu achten, stieß er die Tür auf und rief, mit der Linken im Freien fuchtelnd: »Halt! Ich befehl’s.«

Dabei hielten sie ohnehin schon, und obwohl der Maître ihn zurückziehen wollte, beugte sich Julius mit dem Oberkörper aus der Tür heraus. Sie standen am Rand einer hölzernen Brücke, die offenbar ins Burgviertel hinüberführte. Sonnenstrahlen zitterten über der Moldau und ließen die Mauern und Dächer der ungeheuren Burgmasse über ihnen wie eine zweite Sonne erstrahlen.

Die Leute in der Gasse gafften zu ihm empor, ans Geländer gedrückt. »Don Julius«, hörte er, »der Bastardgraf«, aber das hatte er sich vielleicht nur eingebildet. Unmittelbar vor ihm stand, den Kopf im Nacken, ein fetter Mann in ausgeblichener Tracht. Neben ihm ein kleiner Knabe, die Augen weit aufgerissen, der Nasenrotz in der Sonne glitzernd, dann ein junges Weib, das ihm ungeniert in die Augen sah. Julius wollte sie eben genauer in den Blick fassen, da erklang ein Stöhnen. Unter dem Raunen der Leute zwängte er sich vollends aus der Kutsche und sprang auf die Straße hinaus.

Der Verletzte war tatsächlich ein alter Mann, wenngleich nicht annähernd so alt, wie Julius vermutet hatte, als der Schrei erklungen war. Von seinen grauen Haaren, dem spinnwebdünnen Bart abgesehen, hatte er keine Ähnlichkeit mit Mariandls Sternengucker, natürlich nicht. Er roch nach Fusel, als Julius sich über ihn beugte, und offenbar war er just auf die Gasse getorkelt, als ihre Kutsche vorüberfuhr. Eins der eisenbeschlagenen Räder musste zur Gänze über ihn hinweggegangen sein und hatte seinen Leib in Höhe des Gürtels nahezu zerteilt. Sein Blick war bereits gebrochen, seine Lippen theatralisch rot verfärbt.

Er ist tot, dachte Julius, dennoch richtete er sich auf und rief: »Holt einen Medikus, ich befehl’s.«

»Den braucht er nicht mehr«, sagte eine helle Stimme hinter ihm.

Schon bevor er sich umgewandt hatte, wusste Julius, dass es die Stimme der jungen Frau sein musste, die ihn eben so offen angesehen hatte, ohne Scheu oder gar Unterwürfigkeit.

»Wer sagt das«, fragte er dennoch, »und mit welcher Autorität?« Er drehte sich um, und da stand sie vor ihm, so dicht, dass er beinahe zurückgefahren wäre. Dabei sah sie keineswegs zum Entsetzen aus, im Gegenteil:    eine hochgewachsene Gestalt, mädchenhaft und hochbrüstig, schlank und doch kraftvoll, als ob sie’s gewohnt wäre, unzimperlich zuzupacken. Eine rossbraune Mähne rahmte ihr offenes Gesicht, aus dem ihn grüne Augen aufmerksam ansahen, sogar mit einer Beimischung von Spott, wie ihm schien.

»Markéta Pichlerovâ, Tochter des Baders Sigmund Pichler«, sagte sie. »Und dieser dort braucht keinen Medikus mehr, Euer Exzellenz. Sein Name ist Melchior Kurusch. Gott im Himmel sei seiner Seele gnädig.«

»Amen«, antwortete er unwillkürlich und fasste mit seiner Rechten nach Markéta Pichlerovâs schlanker brauner Hand, die wie anklagend auf den Leichnam wies.

Schon wieder ein Toter, dachte er, und da durchfuhr’s ihn: Aber sie beide sollen nicht umsonst dahingegangen sein! Das Mariandl nicht, das mich zum Sternengucker brachte, und hier der Alte nicht, der mich an das Horoskop erinnert hat: Die Sterne wollen’s so, drum musste ich hier heraus nach Krumau. Hier werd ich auf den Erleuchteten treffen, hier wird er Gold und künstliche Kreaturen erschaffen mit seiner alchymischen Magie. Und dann fahr ich im Triumph zurück nach Prag!

»Lasst mich los, ich bitt Euch«, sagte die Baderstochter, »Ihr zerquetscht mir ja die Hand.«

Da schrak er zusammen und ließ ihre Finger fahren; seine Unterlippe begann zu zucken, wie so oft, wenn ihn starke Erregung befiel.

»Der Mann soll in allen Ehren bestattet werden«, rief er so laut, dass die Gaffer ihn im weiten Umkreis hörten. »Ich, Don Julius, will’s so und komm für alles auf.«

»Das wird trotzdem nicht ganz leicht werden, Exzellenz«, gab die junge Frau zurück. Ihre grünen Augen blitzten, ungewiss, ob spöttisch oder im Zorn. »Melchior Kurusch war unser Totengräber.«

3

Im Morgendämmer des 5. Mai 1607 riss eine ältliche Männerstimme Markéta Pichlerovâ aus dem Schlaf. Zu verstehen war gar nichts, zumal fünf Schritte unterm Badehaus die Moldau vorübergurgelte. Vor Markétas innerem Auge bebte noch das Bildnis ihrer Mutter, die ihr wieder im Traum erschienen war, wie so häufig in den vier Jahren seit Mutter Biancas unbegreiflichem Tod.

Sie schlüpfte in ihre Holzpantinen und lief im Nachtgewand die knarrenden Stiegen hinab. Unten klapperte sie durch die Badestube und durchs morgengraue Durchhaus, wo sie leise fluchend das Guckfenster aufzog. Dahinter kamen zwei kugelrunde Glatzköpfe zum Vorschein, die nahezu halslos auf den Stehkragen ihrer moldaublauen Uniformen aufzuliegen schienen.

»Was in aller Welt .« Die Verwünschung zerfiel Markéta auf der Zunge. Zwischen den beiden Bütteln, nachlässig bei den Achseln untergefasst, hing eine Lumpengestalt, tropfnass und schlaff wie ein Bündel Binsen.

Die Wächter sahen die Verwunderung der schlaftrunkenen Maid und beeilten sich zu erklären: In der ersten Morgendämmerung hätten sie den jungen Fremdling aufgefunden, am Flussufer unter der Burg. Reglos habe er auf der Böschung gelegen, pudelnass zwischen Uferkraut und Kieseln, die Augen geschlossen wie in tiefem Schlaf. Und sei auch nicht aus seiner Ohnmacht aufgewacht, als sie ihn geschüttelt hätten und mit Backpfeifen traktiert, dabei sei er offenbar am Leben. Denn das Herz des Fremden schlage, auch wenn niemand wisse, für welchen Gott und welche Majestät.

Markéta hörte kaum auf ihre einfältigen Reden, gebannt sah sie den Jüngling an, der etwa in ihrem Alter sein mochte, zwanzig oder ein wenig drunter. Ein Fremder, kein Zweifel, jedenfalls sah hier in Krumau niemand aus wie er: von so zarter Gestalt, das Gesicht fein geschnitten und blass zwischen Haaren wie Goldgefädel.

Derweil schwadronierten die Büttel noch immer, dass ihnen der Kinnspeck in den Stehkragen bebte: Wenn der Teufel es wolle und das Bürschlein ihnen unter den Händen wegstürbe, stünden am Ende noch sie als Übeltäter da. Also hätten sie beschlossen, den Ohnmächtigen kurzerhand über die Brücke zu schleppen, da der Vater der löblichen Maid, Sigmund Pichler, ein Heiler von respektablem Ruf sei.

Der Ältere der beiden packte den Burschen beim Goldschopf und zog seinen Kopf empor. Da hoben sich die Lider des Fremden, und er sah Markéta an, aus zweierlei Augen.

»Bringt ihn herein. Aber Obacht!« Sie schob Riegel zurück, zog einen Torflügel auf und scheuchte die Büttel hindurch. Der Fremde hatte Augen in zwei verschiedenen Farben, das linke bernsteingelb, das rechte dunkelgrün wie Moos.

Was, wenn er ein Bote aus dem Jenseits ist, durchfuhr’s Markéta, von Mutter Bianca ausgesandt? Im Traum versuchte die Mutter immer wieder, ihr eine Botschaft zuzuschreien, aber wie sie sich auch mühte, Markéta vernahm stets nur ein Rauschen und Raunen, als ob Bianca durch ein dickes Vlies aus Nebel spräche. Unsinn, dachte sie gleich darauf, wie sollte der Bursche denn aus ihrer Geisterwelt herüberkrauchen, in der allem Anschein nach nur Seelen in einem Meer aus Nebel trieben?

Die Wächter trugen den Fremdling in die Badestube und setzten ihn auf die Bank vorm Kachelofen, wo er wie ein Lumpensack hocken blieb, den Goldschopf auf die Brust gesenkt.

»Ich ruf den Bader, Ihr passt auf ihn auf.« Das Nachtgewand überm Busen raffend, eilte Markéta mit polternden Pantinen die Stiege wieder hinauf und zur Schlafkammer der Eltern, wo der Vater seit vier Jahren allein im viel zu breiten Ehebett schlief.

»Du hast geträumt, Kind«, knurrte Sigmund Pichler, indem er sich mit flacher Hand über den Trommelbauch rieb, »und wegen solcher Hirngespinste weckst du mich auf?«

Keine fünf Minuten hatte es gedauert, bis Markéta wieder in der Badestube war, den brummigen Bader im Schlepptau. Doch die Wächter hatten die Frist genutzt, um sich davonzumachen, und auch von dem elfenhaften Fremden war nichts mehr zu sehen.

»Geträumt hab ich auch - aber von Mutter Bianca.« Sie lief von Zuber zu Zuber, die gedrängt auf dem stumpf gescheuerten Kachelboden standen, dazwischen Pfützen und Schatten, aber nicht der matteste Schimmer Gold. »Du weißt schon, Vater -wieder der alte Traum, in dem sie mir was zurufen will, aber ich versteh kein Wort. - Ah, da ist der Bursche ja.« Sie deutete auf die Nische neben dem Ofen, aus der es golden hervorglänzte wie ein Bündel Sonnenstrahlen.

Der Bader, plötzlich hellwach, befahl dem Fremden, hinterm Ofen hervorzukommen. »Wie heißt du, Kerl?«

Zögernd kroch der Goldhaarige aus seinem Winkel heraus. Tropfen fielen aus seinen Haaren und rollten ihm übers Gesicht. »Ha-heiße ... Flor.«

Eine Stimme, rau und schwankend wie ein Nebelhauch. Und ein Name wie für Uferkraut, dachte Markéta, der ein Schauer über den Rücken lief. Mitleid, Grauen, Anziehung - all das fühlte sie für den seltsamen Fremden und begriff sich selber kaum: Sie kannte ihn ja gar nicht, und mit seinen schmalen Schultern, den bunten Lumpen, dem wirren Haar, dem zweifarbigen Augenpaar sah er alles andere als anheimelnd aus. Ganz im Gegensatz zu dem hochgewachsenen jungen Herrn, der vor zwei Tagen ihre Hand gedrückt hatte, als ob er sie nie wieder loslassen wollte.

Wo er herkomme? Was er in Krumau verloren habe? Warum er so tropfnass sei? Durch ganze Salven von Fragen versuchte Sigmund Pichler den Fremden zum Sprechen zu bringen. Ob er sich erinnere, was ihm vor seiner Ohnmacht geschehen sei? »Du bist wohl mit einem Boot gekentert und in den Fluss gefallen?«

»Im Wa-wasser, ja ...«, stimmte Flor mit heiserem Flüstern zu, seine Augen zu Schlitzen verengt, einer bernsteingelb, einer grün wie dunkles Moos. Markéta konnte den Blick nicht von ihm wenden, und auch Flor schaute immer wieder verstohlen zu ihr her.

»Lass dich ansehen. Ob du dir auch nichts getan hast.« Der Bader machte einen Schritt nach vorn und packte ihn am Arm. »Keine Sorge, ich bin Heiler«, wollte er beschwichtigen, als Flor sich seinem Griff zu entwinden suchte. »So nimm doch Vernunft an«, keuchte der Vater, der in seinen Witwerjahren immer beleibter geworden war.

»Wir müssen dich verwahren, bis der Rat von Krumau beschlossen hat, was mit dir geschehen soll!«

Flor stieß kleine Schreie aus, presste sich plötzlich eine Hand vor den Bauch und sackte zu Boden.

»Was hast du gemacht, Vater?«, rief Markéta aus, über sich selbst kaum weniger erschrocken als über den zarten Fremdling, der schon wieder reglos vor ihr lag. Gewöhnlich galt sie als die Besonnenheit in Person. Mehr als einen Tumult in der Schwitzstube, bei dem die nackten Streithähne schon mit Fäusten und Holzprügeln aufeinander losgehen wollten, hatte sie durch kaltblütiges Eingreifen erstickt. Heute aber wurde sie sich selbst mit jedem Augenblick fremder.

Sie kauerte sich neben Flor auf den Boden, dann jedoch wagte sie kaum, auch nur seine Schulter zu berühren. Vater Sigmund, im Schlafgewand wie sie selbst, hatte sich unterdessen zu Flors linker Seite auf ein Knie niedergelassen und streifte dem Fremden, wie verbissen der sich auch wehrte, das Lumpenhemd vom mageren Leib.

Anstelle einer Bauchverletzung, wie der Bader es befürchtet haben mochte, kam etwas Unerhörtes zum Vorschein. Wie von einem fremden Willen angezogen, näherte sich Markétas Hand dem glatten Leib. Es war keine Augentäuschung und konnte doch gewiss nicht sein: Der Bauch des knäbischen Elfen war so muldenlos heil, als wäre Flor nicht von dieser Welt.

Nicht von dieser Welt ... Das Echo ihres eigenen Gedankens hallte in ihrem Kopf und vermengte sich mit ihrem Traum. Und wenn er wahrhaftig ein Bote der Mutter ist, gesandt aus jener Nebelwelt? Angespannt sah Markéta zum Vater hinüber, dabei mit einem Auge weiter auf den Fremden hinunterspähend, der zwischen ihnen am Boden lag, mit allzu glattem Bauch. Als Baderstochter hatte sie schon viele entstellte Leiber gesehen, Verwachsungen, Gebreste aller Art. Aber das hier - es war ärger, allerdings auch betörender als alles, was sie je gesehen und angerührt hatte. Sie konnte gar nicht hinschauen, ohne dass der Boden unter ihr zu schwanken, die Luft über Flor zu flimmern schien. Ein Bote, hallte es wieder in ihr, von der Mutter, nicht von dieser Welt. Wahrhaftig stellten sich ihr die Nackenhaare auf, wenn sie daran dachte, wie sie mit ihren Fingern über seine schaurig glatte Haut gefahren war.

Unfug!, schalt sie sich gleich darauf. Don Julius hat dir wohl den Kopf verdreht, Mädchen, oder wo sonst kommen die krausen Gedanken her? In ihrem Bauch begann es zu kribbeln, sehr beunruhigend und höchst angenehm.

»Teufelsbrut«, hörte sie den Vater murmeln - »den Kerl hat der Satan geschickt!« Und er zog einen Dolch unter der Ofenbank hervor, um den Nabellosen in Schach zu halten. »Geh, Markéta, hol die Wächter zurück«, ordnete er an. »Sie sollen den Wechselbalg zusammenschnüren und in den Stadtkerker werfen. Mag der Rat von Krumau entscheiden, was mit der Bestie geschehen soll.«

»Be-bestie!«

In Markétas Kopf begannen die Gedanken zu wirbeln. »Und wenn er« - sie musste sich erst die Kehle freiräuspern - »wenn er dem neuen Grafen gehört?« Das Kribbeln in ihrem Bauch wurde stärker, und die Hitze kroch ihr ins Gesicht. »Sollten wir Flor nicht besser raufbringen zur Burg?«

Argwöhnisch sah der Vater sie an, sonderbar schuldbewusst, wie Markéta auf einmal dachte, aber auch das konnte ja nicht sein. »Ein kluger Gedanke, Kind«, murmelte er und wich ihrem Blick aus, »die großen Herren vergnügen sich mit sonderbarem Spielwerk, wie es heißt. Ja, du hast wohl Recht, Markéta: Don Julius wird sich dankbar zeigen, wenn er sein Besitztum von mir zurückerhält.«

Warum nur drückte der Vater sich auf einmal so gestelzt aus? Und wieso um alles in der Welt vermied er’s immer noch, ihr ins Gesicht zu sehen? Das wirkte ja fast so, als ob er sich schämte, aber weshalb nur? Dabei müsste höchstens ich mich schämen, dachte Markéta, weil ich seit zwei Tagen immer nur ihn vor mir seh, den jungen Herrn Grafen, seine braunen Augen, den zuckenden Mund! Der Vater dagegen wollte ja nur das alte Versprechen erfüllen, wie er’s der Mutter zu ihren Lebzeiten wohl hundertmal gelobt hatte und noch einmal an ihrem Grab: Alles würde er daransetzen, um Markéta eine ehrbare Stellung auf der Burg zu ertrotzen, so wie es ihnen schon einmal geglückt war, vor beinahe sechs Jahren. Doch kaum hatte sie damals den Blaukittel einer gräflichen Kuchelmagd übergestreift, da war Wilhelm von Rosenberg, der alte Graf, ins Paradies gefahren. Nun aber witterte der Vater wohl eine neue Chance, und sein schlechtes Gewissen musste von den Gerüchten herrühren, die überall in Krumau umherschwirrten. Aber wie konnte Don Julius ein grausamer Tyrann und unwürdiger Nachfolger des alten Wilhelm sein, wie so viele boshafte Zungen behaupteten? Schließlich hatte sie selbst miterlebt, wie sehr der Unfalltod des unseligen Totengräbers den jungen Grafen bekümmerte.

»Also auf«, entschied der Bader, »zieh dein Sonntagskleid an und wirf dem Burschen einen Umhang über, dann bringen wir ihn geschwind zur Burg hinauf.« Noch ehe Markéta auch nur nicken konnte, erklangen Schritte draußen im Durchhaus. »Die Büttel!«, flüsterte der Vater, riss mit unheimlicher Behändigkeit die Falltür zu seinen Füßen auf und stieß Flor in den Keller unter der Badestube.

Einen Atemzug später traten nicht etwa die Wächter, sondern der Russe Jurij Hezilow ein, zweifellos der zwielichtigste unter den vielen Fremden, dachte Markéta, die sich seit Wochen in Krumau herumtrieben und wie Kröten im Herbst zu vermehren schienen.

Gütiger Gott, betete sie im Stillen, bitte mach, dass Flor nicht zu diesem da gehört.

4

»Nun, Mäjster Bottich, will er mir heute nicht geheerig einhäjzen?«

Jurij Hezilow, Moskowiter Puppenmacher zweifelhaften Geblütes, bediente sich eines absonderlich schnurrenden Idioms. Meister klang bei ihm wie Mäjster, statt gehörig sagte er geheerrrich, und ohnehin rollte er jedes unschuldige R so lange hin und her, als ob er’s in seine spitze, überbewegliche Zunge einwickeln wollte. »Dabei wäjß er doch, wie sehr Hezilow und seine Puppen die Hellenhitz lieben?«

Pichler richtete sich auf, verneigte sich mit der gleichen Bewegung und drückte mit der Fußspitze die Falltür in ihren Rahmen zurück. Derweil zog Markéta einen Putzlumpen hinterm Ofen hervor, ging neben dem Vater in die Knie und begann den Kachelboden abzureiben, ohne einen Blick oder gar einen Gruß für Hezilow.

»Oder glaubt er womeeglich, der Anblick seiner hibschen Tochter tät geniegen, um Hezilow den Frost aus dem Läjb zu träjben?«

»Nur einen winzigen Moment noch, Hochwohlgeboren«, brummte der Vater und sputete sich, den frühen Gast zu seinem angestammten Zuber zu geleiten, »Allerhöchstens ein klitzekleines Augenblickchen, edler Herr.« Noch immer im Nachtgewand, begann er Bottiche heißen Wassers herbeizuschleppen, wobei ihm der Schweiß über Stirn und Wangen perlte und seinem Mund ein Strom beschwichtigender Silben entquoll.

Die Arme vor der schmalen Brust verschränkt, lehnte der Puppenmacher an der Wand neben dem Zuber, den Pichler mit siedendem Wasser füllte, und sah sich ein ums andere Mal in der Badestube um. Sein Gebaren wirkte auf Markéta so verdruckst wie herausfordernd, aber als sie sich mit dem Vater durch einen raschen Blick verständigen wollte, schüttelte der nur den Kopf und wandte sich ab.

Im Unterschied zu ihr schätzte Sigmund Pichler den kleinen Russen - oder zumindest die Silberstücke, die Hezilow so leicht aus dem Beutel rollten wie die hinterfotzigen Reden aus seinem weibisch geformten Mund.

Im Augenwinkel beobachtete Markéta, wie Hezilow seinen Gürtel mit dem lachhaft großen Schwert abschnallte und zu Boden gleiten ließ, ehe er sich aus seiner schmierigen Tracht zu nesteln begann. Mit dem engen schwarzen Wams nach spanischer Mode, den gleichfalls tintenschwarzen, knapp geschnittenen Hosen und dem unförmigen Umhang, der ihm bis weit über den Gürtel reichte, ähnelte das schmächtige Männchen wahrhaftig einer Fledermaus.

»Endlich in Krumau ... der neue Herr Graf«, hörte sie den Vater murmeln, worauf der Puppenmacher jedoch nur mit einigen Grunzlauten antwortete.

Überhaupt wusste man bei ihm selten, wie seine Bekundungen letzten Endes aufzufassen waren. »Käjserlicher Puppenmacher, untertän ’chster Diener«, so pflegte er sich bei jeder Gelegenheit vorzustellen. Doch sein absonderlicher Akzent brachte es mit sich, dass man nie sicher sein konnte, ob er sich tatsächlich als »untertänigster Diener« oder im Gegenteil als »unverschämter Schlawiner« bezeichnet hatte, was der Wahrheit zweifellos näher käme.

Und wieso eigentlich »Puppenmacher«?, dachte Markéta. In ganz Krumau hatte nie irgendwer gesehen, wie er aus Stöcklein, Zwirn und Lumpen auch nur eine einzige Fadenpuppe schuf. Aber vielleicht war die Rede von den »Pippchen«, die er zu machen verstehe, auch viel hintersinniger gemeint. Ständig schien Hezilows Miene anzudeuten, dass er allein wisse, wie sich die Dinge in Wirklichkeit verhielten, während sich alle andern von Irrtümern und Vorspiegelungen täuschen ließen - ob hier drinnen im Badehaus, draußen in den Straßen von Krumau oder selbst im fernen Prag, wo er angeblich monatelang seine »kihnen Kinste« ausgeübt hatte, auf Befehl »Ihrer Kajserlichen Majestät«.

Anders als dem Vater war ihr der Russe sofort herzlich zuwider gewesen, als er vor acht Tagen, gleichfalls zu früher Morgenstunde, zum ersten Mal bei ihnen erschienen war. Seither hatte sich ihre Abneigung gegen den verzwergten Mann nur noch weiter verfestigt. Alles an ihm ekelte sie an: Hezilows unauslotbar hintersinnige Reden und das weibische Maul im schwarzen Bartgestrüpp, die höckrige Verwachsung in seinem Nacken und die schüttere Haarwolle, die seines Leibes Dürftigkeit wie mit schwarzem Draht überzog; selbst seine weißen, feingliedrigen, überbeweglichen Hände, die zuweilen mit geiler Tücke nach ihr schnappten, wenn sie seinem Zuber zu nahe kam. Seit einer Woche hatte Jurij Hezilow fast jede Vormittagsstunde in der Pichler’schen Badestube verbracht.

Heute aber schien Markéta sein Gebaren nicht nur dreist, sondern regelrecht feindselig. Wonach nur verrenkte er sich wieder und wieder den Hals? Obwohl er endlich in seinen Zuber gestiegen und bis zu den Schultern ins dampfende Wasser getaucht war, ließ er weiterhin seine Blicke in Nischen und Winkel, vom Kamin zur Schwitzstubentür und von der Stiege zurück zum schwitzenden Bader schweifen. Beinahe so, dachte sie, als ob der Russe etwas suchte, das der Vater oder sie vor ihm versteckt hätten und auf das allein er ein Anrecht besäße.

Etwas - oder jemanden? Hastig senkte sie den Blick und beeilte sich, den Fleck neben der Bodentür vollends trockenzureiben, bis von den Umrissen des liegenden Flor nichts mehr zu erkennen war. Unsinn, dachte sie dabei, was sollte der Puppenmacher denn gerade mit Flor zu tun haben? Seit Wochen trieben sich Dutzende zwielichtiger Fremder in der Stadt herum, aber zwischen den Gesellen vom Schlage Hezilows und dem elfenhaften Flor konnte es ja keine Gemeinsamkeit geben.

Einen Augenblick lang lauschte sie noch in die Tiefe, aus dem Gewölbe unter der Falltür drang kein Laut empor. Als kleines Mädchen hatte sie sich manchmal dort unten versteckt, zum Schrecken ihrer Mutter, der schon damals die geringfügigsten Vorfälle albenschwer aufs Gemüt gesunken waren. Wie lange das her war - ihre kindliche Neugier, der Schimmelgeruch unten im Keller, das vor Sorge verzerrte Lächeln der Mutter -, und wie nah es ihr gleichwohl auf einmal schien. Gewaltsam zwang sie ihre Gedanken von der lieben Mutter wieder fort, deren verzweifelte Miene, geweitete Augen, unablässig auf- und zuschnappende Lippen schon wieder aus Traumestiefe zu ihr emporsteigen wollten. Das Gewölbe unter der Badestube jedenfalls, das wusste Markéta seit ihrer Kindheit, war so niedrig, dass ein Erwachsener sich nur gebückt drin bewegen konnte, aber auch so geräumig, dass man sich dort unten für Stunden oder Tage verbergen konnte, ohne dass die Atemluft knapp wurde.

»Ob das Pippchen wohl so gietig wär, Mäjster Hezilow einen Kratzer zu reichen? Mäjn ich Rückenkratzer natürlich, denn Schenkelkratzer hat Hezilow selbst.«

Markéta hob den Kopf und sah direkt in Hezilows Frätzlein voller Bartgestrüpp und Warzen, das ihr, von Dampfschwaden umwabert, über dem Zuberrand entgegenfeixte. Sie sprang auf und wollte ihn eben mit einer patzigen Antwort in die Schranken weisen, da fing sie einen Blick ihres Vaters auf, der mit dem Kinn zur Stiege wies.

Hinter der massigen Gestalt des Baders trottete sie abermals das Dutzend abgetretener Stufen hinauf und folgte ihm in die Wohnstube. Wie trostlos es hier aussieht, dachte sie auf einmal, nicht schmutzig oder gar verwahrlost, denn sie selbst und Vater Sigmund achteten peinlich auf Ordnung und Sauberkeit. Aber früher hatte die Mutter an jedem Tag frische Blumen auf dem Boden ausgestreut und die Zimmer ihrer kleinen Wohnung einfach durch ihre Gegenwart mit Wärme und Liebe erfüllt. Seit der Vater jedoch an jenem schrecklichen Morgen erwacht war und seine schlaftrunkene Hand eine totenkalte Schulter ertastet hatte - seitdem war nichts mehr wie früher, auch wenn sie beide, Vater und Tochter, noch immer so weiterzuleben versuchten, als ob Bianca bei ihnen wäre.

»Lass den Puppenmacher in Ruh!«, zischte der Bader, indem er mit der Schulter die Tür schloss. »Wie oft soll ich’s dir noch sagen: Der Russe bringt uns Münzen und Kundschaft ins Haus!«

Münzen und Kundschaft? Markéta holte Luft, um dem Vater gehörig herauszugeben, aber sein Gesicht sah auf einmal so angespannt aus, dass sie alle Empörung vergaß.

»Kleide dich an, Kind, mach rasch!« Sein gewaltiger Schnauzbart bebte, ebenso wie der Bauch unterm Nachtgewand, das von Schweiß und Badewasser gedunkelt war. »Du musst den Wächtern hinterher - schnell, bevor sie im Rathaus den Nabellosen melden!«

Markéta sah ihn an, die Brauen zusammengezogen, und wieder empfand sie, dass der Vater sich anders als gewöhnlich benahm. Warum war er nur so sehr drauf erpicht, den Fremdling zur Burg hinaufzubringen? Und wieso um alles in der Welt schaute er dabei wie ein ertappter Sünder drein? Fieberhaft dachte Markéta nach, während der Vater die Hände ineinander knetete. Endlich sagte sie, mit gedämpfter Stimme wegen des Puppenmachers, der unten im Zuber die Ohren spitzen mochte: »Ich werd ihnen schon klarmachen, dass wir den Fremden zur Burg raufbringen - und dass sie besser ihre Mäuler halten und sich nicht einmischen sollen. Wie stünden sie schließlich da, wenn herauskäme, dass sie sich einfach davongestohlen haben? Sie werden schon den Mund halten, wenn .«

». sie nicht längst geschwätzt haben!«, fiel ihr der Bader beinahe schreiend ins Wort.

»Psst, Vater!« Markéta deutete zur Tür. Als sie den Schrecken in seinem Gesicht sah, trat sie so nah an ihn heran, dass sie mit der Schläfe seine Schulter berührte. »Sorg dich nicht«, wiederholte sie flüsternd, »ich bringe draußen alles in Ordnung - kümmer du dich hier drinnen um Hezilow.«

Und um Flor!, ergänzte sie in Gedanken, eilte in ihre Schlafkammer und streifte sich noch im Laufen das Nachtgewand über den Kopf. Gedämpft hörte sie, wie draußen die Tür aufgezogen und wieder geschlossen wurde, dann die schweren Schritte des Vaters auf der Stiege und gleich darauf Hezilows pfeifende Stimme, auf die der Bader mit dunklem Brummen antwortete.

5

Mitten auf der Brücke vorm Badehaus wurden ihre Schritte langsamer, sie selbst spürte es und wunderte sich darüber: als ob eine unsichtbare Kraft sie zurückhielte.

Sie stemmte sich gegen die magische Hemmung und lief weiter, ein wenig vorgebeugt, als kämpfte sie gegen starken Wind. Flor, dachte sie, und es war weniger ein Gedanke als ein inneres Bild, ein Gewirr zarter Nebelfarben. Und doch schien es ihr plötzlich, als säße der Fremde nicht im Gewölbe unter den Zubern, sondern wäre hier bei ihr, neben ihr schwebend, auf der Brücke im Vormittagslicht, zehn Schritte vor den beiden Wächtern, die ihr mit erwartungsvollem Grinsen entgegensahen.

Durch ihn, Flor, hat sich alles geändert, von einem Augenblick zum nächsten, mein Leben, die ganze Welt, dachte sie und musste lächeln über so viel mädchenhafte Schwärmerei. In ihrer Verwirrung war sie weitergegangen, fast ohne es zu bemerken. Als sie aufsah, standen vor ihr die beiden Wächter, deren Mienen unter ihrem Blick mit einem Mal gefroren.

Vergesst den Burschen, hatte sie sagen wollen, den ihr vorhin gebracht habt. Stattdessen stand sie nur dumm und stumm vor den Bütteln, die ihre Helme weit aus der Stirn geschoben und ihre Fäuste auf die Hüften gestemmt hatten, wo Messer und Knüppel unterm Schweinsledergurt staken.

Markéta schüttelte den Kopf, verwundert, wie wenn man aus Traumes Täuschung erwacht. Diese Wächter - sie kannte die beiden jungen Männer; Jan Mular hieß der Kleinere, Rundliche, Mikesch Slatava der fuchshaarige Schlacks. Vor vielen Jahren hatten sie gemeinsam die Bibelstunden bei Pater Hasek besucht, in der ehrwürdigen St.-Jost-Kirche auf der anderen Flussseite, just gegenüber ihrem Elternhaus. Aber wie war es nur möglich? Eben noch hatte sie genau an dieser Stelle, am südlichen Ende der Holzbrücke, die beiden ältlichen Wächter gesehen, die in der Frühe den Fremden zum Badehaus gebracht hatten - und nun standen, wie aus dem Boden gewachsen, diese Gefährten aus frühen Jahren vor ihr!

Ratlos sah sie von Jan zu Mikesch, die ihrerseits betretene Blicke wechselten.

»Gott und dem Kaiser zum Gruß, Markéta«, bemerkte endlich Mikesch, »lange Zeit waren wir fern der Heimat, Jan Mular, ich und etliche andere Burschen aus Krumau.« Anstelle einer Antwort nickte Markéta nur, während in ihr das nebelzarte Bildnis zerfiel.

»Bestimmt erinnerst du dich auch an Vladislav Kollek«, fuhr Mikesch mit eifriger Miene fort, »der hinter dem Rücken des Herrn Pater immer Fratzen geschnitten hat? Oder an Franz Brodner, den Sohn des Wirts >Zum Goldenen Fass<? Wir alle wurden letzten Herbst nach Prag gebracht, in eine Kaserne am Rand der Neustadt. Dort mussten wir exerzieren und schießen, bewachen und belagern lernen, alles für Don Julius, dessen erster Wachkompanie wir beide - Mular und ich - seit dem letzten Weihnachtsfest angehören.«

»Du redest zu viel, Slatava«, warf Jan Mular ein, in warnendem Ton und mit angespannter Miene, die zu seiner rundlichen Gestalt nicht recht passte. »Wenn du mich fragst, hat Markéta sowieso weder dich noch mich gesucht. Wahrscheinlich wollte sie zu den beiden Alten, die bis vorhin hier an der Brücke Wache standen. Hab ich nicht Recht, Baderstöchterlein?«

Mit der unvermittelten Frage kehrte auch das Grinsen der Burschen zurück und mit diesem ihre wehrknechtische Dreistigkeit. Jan Mular ließ seinen Blick über die Brüste der Baderstochter gleiten, die sich unter dem groben Sackleinenkleid allerdings nur undeutlich abzeichneten, und der lange Mikesch hob sogar eine Hand, wie um ihr vertraulich übers Haar zu streichen.

»Dazu braucht’s wenig Scharfsinn«, gab Markéta zurück. »Natürlich hab ich nicht erwartet, grad euch hier zu sehen.« Das plumpe Gebaren der beiden machte es ihr leichter, ihre Fassung wiederzugewinnen. Wieso nur hatte sie auf einmal allerorten wunderbare Fügungen gesehen? Plötzlich verstand sie sich selbst nicht mehr. Wie oft hatte sie sich schon geärgert, wenn die Leute vorschnell von Zauberbann und Engelsfäden redeten, während sie doch nur von ihren eigenen Ängsten oder Hoffnungen gefoppt worden waren. So wie eben auch ich selbst, sagte sich Markéta. Aber so war es ihr schon an manchem Morgen ergangen, wenn ihr zuvor im Traum die Mutter erschienen war.

Nur noch mit einem Ohr hörte sie auf die prahlerischen Phrasen, mit denen Mular und Slatava sich vor ihr in die Brust warfen, währenddessen schaute sie an Mikeschs Schulter vorbei, die Seilergasse hinab. Normalerweise konnte man von hier aus bis zur Pestsäule sehen, die sich in der Mitte des Marktes, wenigstens zweihundert Schritte entfernt, wie eine riesige steinerne Nadel in den Himmel bohrte. Heute aber schien der ganze Platz von Kutschen übersät, die in unabsehbar langem Zug den Berg hinaufkrochen.

»Was ist mit den Wächtern von heute früh«, fragte sie in beiläufigem Ton und zwang sich, ihren Blick abermals auf Mikesch und Jan zu richten. »Warum sind sie abgelöst worden?«

»Warum, fragst du?« Mikeschs Wangen blähten sich vor Stolz.

»Na, weil wir jetzt die Stadt übernommen haben - wir, die Salvaguardia des neuen Herrschers Don Julius!«

»So halt doch endlich dein Maul, Slatava«, versuchte ihn der andere abermals zu bremsen, aber sein Kamerad achtete nicht auf ihn.

»Ihr Leute hier in Krumau«, erklärte er eifrig, »glaubt wahrscheinlich immer noch, dass in eurer Stadt alles im alten Trott weitergeht. Aber mit Don Julius’ Ankunft wird sich hier alles von Grund auf ändern! Bis gestern Mittag haben wir Gardisten ja auch noch von nichts gewusst, aber dann bekamen wir holterdiepolter den Befehl, auf Krumau zu marschieren.«

Markéta mochte Jan Mulars Blick, der immer dreister über ihre Brüste strich, und Mikeschs prahlerische Miene nicht länger ertragen. Aber eine letzte Antwort musste sie den beiden doch noch entlocken:

»Also bleibt Don Julius für länger droben in der Burg?«

»Ob er hier bleibt?«, wiederholte diesmal Jan Mular, vor Begeisterung beinahe kreischend. »Da kommt ja sein ganzer Hofstaat aus Prag herbeigerollt - sieh nur hin, Badersmaid!«

Unter dem Vorwand, ihr die Richtung weisen zu wollen, packte er nach ihrem Arm, den er wie zufällig zwei Fingerbreit verfehlte. Markéta spürte die harte Hand, die sich in ihre linke Brust grub, und als hätte der Wachsoldat seinen Irrtum nicht bemerkt, griff er nur noch fester zu und wollte sie an sich heranziehen.

Derlei Rüderien abzuwehren hatte die Baderstochter schon als kleines Kind gelernt. Ihre Rechte fuhr empor, und der Soldat zuckte zurück, mit fiependem Schrei. Von seiner Wange, die er, die Augen weit aufgerissen, mit spitzen Fingern befühlte, troff aus vier Zickzackstriemen Blut.

Im gleichen Augenblick erschallte eine Fanfare, von Westen her, weit entfernt noch und doch gewaltig wie der Ruf eines riesigen Greifs.

»Das büßt du mir, Hürchen«, knurrte der Soldat, die Blutstropfen auf seinen Fingerspitzen inspizierend. Um dann noch hervorzustoßen, mit tückischer Hellsicht, wie sie von jähem Schmerz manchmal entfacht wird: »Was du von den alten Bütteln wolltest - ich find’s heraus! War was Heimliches, hinterm Rücken der Herrschaft - das riech ich doch!«

Aber Jan Mulars Verwünschung drang kaum mehr an Markétas Ohr. Mit einem Mal flatterte ihr Herz wie eine aufgestörte Nachtigall, und während sie zurück ins Badehaus lief, schwirrte ihr unablässig nur ein Gedanke durch den Kopf: Don Julius bleibt in Krumau!

6

»Das Badehaus schließen wollt Ihr, Mäjster Bottich? Ist Euer Schädel leck wie altes Fass dort drieben? Habt Ihr ja vor winzigem Stindchen erst aufgesperrt!«

Dumpf drangen die Laute herab in Flors Verlies. Dielenhölzer knarrten unter schweren Schritten, immer wieder schwappte Wasser in Kübeln, untermalt vom Malmen des Flusses. Dazwischen erklangen die Stimmen der beiden Männer, die sich offenbar nicht einig wurden.

»Bitte untertänigst um Vergebung, Herr. Heut ist ein besonderer Tag für unsere Stadt.« Des Baders Bassstimme verriet Ungeduld und wachsenden Groll. Im Dunkel seines Kerkers sah Flor den bauchigen Glatzkopf mit dem gewaltigen Schnauzbart wieder vor sich, den das Mädchen vorhin Vater genannt hatte.

»Wieso besonderer Tag?«, ereiferte sich der zweite Mann, wobei er die Silben absonderlich zerdehnte. »Ist sich geweehnlicher Sonnabend im Mäj!«

»Nun zeigt doch ein Einsehen, Hochwohlgeboren! Euch wird ja nicht entgangen sein, dass Graf Julius endlich in Krumau eingezogen ist. Da will ich wie jeder andere brave Bürger hinauf zur Burg, um dem neuen Herrn meine Ergebenheit zu bezeigen.«

»Dem Käjserbastard, wäj, wäj! Könnt ich Euch manches Spottlied aus den Prager Gassen singen, Mäjster Bottich: Den Herren hackt Julius bloß den Kopf ab, den Wäjbern die Brüstchen dazu ...«

»Hütet Eure Zunge, Hezilow!«

Hezilow! Beim Klang dieses Namens fuhr Flor zusammen. Ein Frösteln überlief ihn, er schob sich noch tiefer in seinen Winkel und drückte den Rücken gegen die klamme Kellerwand. Nicht nur der Name, auch die schnurrende Stimme kam ihm mit einem Mal bekannt vor - übel bekannt, auf ganz und gar unheimliche Weise vertraut. Er lauschte in sich hinein und spürte ein Grauen, wie jedes Mal, wenn er an sein Gedächtnis zu rühren wagte. Flüchtig sah er eine gewaltige Halle vor sich, erfüllt von Finsternis und Stille, und weit droben schwebend den riesigen Vogel der Nacht ...

Flor biss die Zähne zusammen und starrte vor sich in die Dunkelheit. Hezilow, dachte er - wenn er sich nur besinnen, endlich besinnen könnte, wo er diesen Namen und diese Stimme schon einmal gehört hatte. Ja wenn überhaupt der Nebel in seinem Innern sich endlich lichten würde! Oder nein, noch nicht, lie-lieber noch nicht ...

»Packt Euch jetzt aus freien Stücken, Hezilow - oder ich kipp Euch mitsamt dem Badewasser aus!« Die helle Stimme des Mädchens, das der Bader vorhin Markéta genannt hatte. Flor hatte sich sofort zu ihr hingezogen gefühlt, schon als er, eingeklemmt zwischen den beiden Bütteln, auf der Torschwelle vor ihr gestanden hatte.

»Ah, das hibsche Dächderläjn! Immer räjn in den Bottich, Jungfer Markéta. Ist mein Schenkelkratzer schon für sie beräjt!«

Ein Poltern und Rumpeln erschallte, gefolgt von Schwappen und Zetern.

»Das hätt’ sie besser nicht getan!«, kreischte Hezilow. »Bin ich Jurij Hezilow, käjserlicher Puppenmacher, geachtet und gefürchtet von Britannien bis Prag!«

»Ein Missgeschick, Euer Wohlgeboren. Markéta ist versehentlich gegen Euren Bottich gestoßen, seht nur, wie erschrocken sie Euch anstarrt.«

»Entschuldigen soll sie sich«, keifte der Puppenmacher. »Und zum Zäjchen ihrer Reue einen Kuss - in allen Ehren, wie sich versteht!«

Abermals erzitterten die Bohlen über Flor, wie unter heftigem Stampfen. »Eher hack ich mir die Hand ab«, rief Markéta aus, »als Eure Warzenfratz’ zu herzen. Und nun schert Euch raus!«

»Wer bist du? Woher kommst du, Flor?«

Kaum war Hezilow aus dem Tor und das Badehaus hinter ihm verrammelt, da hatte Markéta die Bodentür aufgezogen und Flor zurück ans Licht geholt. Seite an Seite saßen sie seither auf der Ofenbank, ängstlich beäugt vom Bader, der zwischen seinen Bottichen umherschlich.

»War ... im Flu-fluss!« Stammelnd versuchte Flor zu erklären, was er selbst ja längst noch nicht begriff. Im Morgengrauen war er zu sich gekommen, draußen vor der Stadt im Uferkraut, sein Geist so nebelgrau, als ob er Tage und Nächte durchfiebert hätte. Und dabei tropfnass vom Lockenschopf bis zu den bunten Lumpenhosen, die ihm fremd, so fremd erschienen wie sein löchriges Hemd.

»Wa-weiß nicht ... wer und wo.« Beschämt senkte Flor den Kopf. Er fühlte Markétas Blick auf seiner Seite und wagte nicht, sie seinerseits anzusehen. Wie unbeholfen die Wörter aus seinem Mund kollerten! War er nicht früher - gestern noch - ein leidlicher Redner gewesen, ein geachteter junger Herr? Junger Herr?, wiederholte er im Stillen und lauschte wieder in sich hinein. Wer um Himmels willen bin ich - war ich, eh’ ich zum nabellosen Lumpenkerl verwunschen wurde?

Da sprang in seinem Innern spaltbreit ein Tor auf, und Flor blinzelte in eine lichte Welt hinein. Ein herrschaftliches Haus, die Mauern hell, der weite Saal vor Musik und Lachen erstrahlend. Und mitten drin, in leuchtend blauem Seidenwams - er, Flor . Dann verblasste das Bild, wurde durchscheinend wie ein Theatervorhang, und dahinter kam eine andere, ganz andere Welt zum Vorschein: eine leere, riesenhafte Halle, erfüllt von Moderluft, von Dunkelheit und Stille, und unter der Gewölbedecke schwebend, auf lederhäutigen Flügeln, der grässliche Riesenvogel .

»Denk nicht mehr dran, nicht jetzt. Alles wird gut, mein armer Flor.«

Wie sanft ihre Stimme auf einmal klang. Und wie nah bei ihm sie auf der Ofenbank saß. Und nun legte sie auch noch ihren Arm um seine Schultern und zog ihn an sich. Wie eine Schwester, dachte Flor. Hatte ich eine Schwester - dort, in jener hellen Welt? Aufs Neue spähte er in sich hinein. Doch ehe sich abermals ein inneres Tor öffnen konnte, erschallte der Bass des Baders, der ihnen von der Tür her zurief: »Los jetzt, wir müssen uns sputen, sonst kommen uns die Büttel doch noch zuvor -oder gar Hezilow!«, fügte er hinzu und sah erschrocken zu ihnen herüber.

»Pah, was soll das bucklige Scheusal schon ausrichten!«, gab Markéta zurück, sprang aber gleichwohl auf und zog Flor mit sich empor.

»Was der Puppenmacher ausrichten kann, weiß ich auch nicht«, sagte der Vater, »aber eins steht fest, Markéta: Du hast dir Hezilow zum Feind gemacht, und fortan wird er versuchen, dir und mir zu schaden.«

7

Den verhüllten Fremdling in ihrer Mitte, liefen Markéta und der Bader die Herrengasse empor, auf der sich die herrschaftlichen Kutschen drängten. Markétas Herz klopfte, ihre Wangen brannten. Wieso diese Aufregung, Mädchen, stellte sie sich zur Rede - doch nicht wegen dem schmalen Burschen an deiner Seite, der andauernd zu dir herüberschielt?

Noch im Durchhaus, als sie ihm den schlammfarbenen Kapuzenmantel überstreifte, hatte sie Flor ins Ohr geflüstert: »Keine Angst, ich pass auf dich auf.« Vom ersten Moment an hatte sie sich zu ihm hingezogen gefühlt, wie zu einem jüngeren Bruder, einem Traumgeschwister aus halb versunkener Kinderzeit. Aber wie sonderbar er aussah - mit seinen goldenen Locken, dem braun-grünen Augenpaar, dem nabellosen Leib! Nein, nicht wegen Flor flatterte ihr Herz wie eine Nachtigall.

Hin und wieder wurden sie mit einem Kopfnicken oder einem Zuruf gegrüßt, und der Bader verneigte sich eifrig nach links und rechts. Wie unterwürfig er sich verhielt, dachte Markéta, selbst gegenüber einfachen Leuten wie den beiden Küfergesellen dort drüben, vor denen er sich mit vernehmlichem Schnaufen verbeugte. Auch zu Haus in der Badestube troffen dem Vater die schmeichlerischen Reden unaufhörlich von den Lippen. Wer ihm auch nur ein Kupferstück in die Hand zählte, konnte gewiss sein, vom Bader Pichler für alle Zeit gepriesen zu werden. Ach, sei nicht ungerecht, schalt sie sich gleich darauf. Er hat sich verändert seit dem schrecklichen Morgen, als er neben der toten Mutter aufgewacht ist. Aber hatte es nicht schon Mutter Bianca verdrossen, wie der Bader die Eitelkeit jedes Tölpels tätschelte, der nur bereit war, seinen Beutel für ihn aufzutun? Ah, die Mutter hat das Badehaus verabscheut, dachte Markéta, auch wenn sie immer versucht hat, ihren Ekel vor all dem nackten Getümmel und den gebresthaften Leibern zu verbergen, die von morgens bis abends ihre Stube füllten.

Aber warum musste sie gerade jetzt wieder an Mutter Bianca denken? Nur ruhig Blut, Mädchen, ihn wirst du sowieso nicht wiedersehen, jedenfalls nicht heute - Don Julius, der ihr nicht mehr aus dem Sinn ging, seit er vor zwei Tagen ihre Hand in der seinen gehalten hatte. Törichte Maid!, tadelte sie sich, glaubst du denn wirklich, dass Don Julius persönlich den Bader von Krumau und seine Tochter empfangen wird - nur weil die ihm einen sonderbaren Burschen ohne Nabel übergeben wollen, für den Herr Julius doch weder Interesse noch Verwendung haben kann? Als ob der junge Graf nichts Gescheiteres zu schaffen hätte! Allenfalls würde man sie zu einem steifnackigen Burgvogt vorlassen, dem sie ihr Begehr vorstottern dürften, und ehe sie sich recht versähen, stünden sie schon wieder draußen vorm Tor.

»Rasch, links hinauf!«, flüsterte da der Bader, »wir kürzen durch die Töpfergasse ab!« Er packte Markéta und Flor bei den Armen und zog sie linkerhand eine schmale Treppe hinauf.

In ihrem Rücken erklangen nun trappelnde Schritte und Keuchen wie von beschleunigtem Atem. Flor wollte sich umwenden, aber Markéta umklammerte seinen Arm fester und murmelte: »Nicht!« Ihre Lippen an seinem rechten Ohr ließen ihn heftig erschauern. »Wawarum?«, wisperte er zurück, doch Markéta zog ihn schweigend weiter voran, so schwindelnd schnell, dass sie alle drei den Blick nicht von den tanzenden Stufen zu heben wagten.

Erst als sie oben angekommen waren, sah Flor auf und prallte förmlich zurück vor den hohen Mauern der Burg und dem schlanken, bunt bemalten Turm, der sich über ihren Köpfen erhob. »Mäjster Bottich!«, kreischte eine übel vertraute Stimme hinter ihnen. »So wart er doch auf Mäjster Hezilow!«

Der Bader fuhr herum, Markéta und den Fremdling mit sich reißend. Weit unter ihnen, fast noch am Fuß der Treppe, stand der Puppenmacher, und Markéta spürte, wie Flor bei seinem Anblick erstarrte. Hinter der zwergischen Gestalt drängte sich ein halbes Dutzend vierschrötiger Gesellen, gleichfalls in schwarzen Lumpen, die Bärte wirr, die Fratzen gedunsen und fahl.

»Bitte sehr um Nachsicht, Hochwohlgeboren«, rief Sigmund Pichler, »um Schlag zwölfe ist das Badehaus wieder offen!«

Eine Hand auf dem Geländer, sah Hezilow starr zu ihnen herauf. Im nächsten Moment aber hob er den Arm und deutete mit seinem schwarzen Stöckchen zu ihnen empor. »Rölflein, hungrig Wölflein!«, kreischte er. »Was rennst du denn vor deinem Herrn davon?« Und er stieß ein helles, belferndes Lachen aus, raffte mit der Linken sein Gewand und schickte sich an, taumelnden Schritts die Stufen emporzusteigen.

»Wenn er nur widerlich wär, wär’s arg genug«, sagte Markéta.

»Aber ich fürchte, Vater, dein Püppchenmacher ist verrückter als ein tollwütiger Fuchs. Schnell, in die Burg!« Und sie zog Flor im Halbkreis herum und über den steilen Vorplatz auf das Burgtor zu, während hinter ihnen Hezilows atemloses Lachen und die Flüche seiner zerlumpten Kumpane erschallten.

Vor dem Tor stand ein Soldat der gräflichen Garde aufgepflanzt. Der Bader trat vor ihn, die Fäuste auf den Hüften und einige Augenblicke lang heftig schnaufend. »Melde mich Don Julius«, verlangte er dann in unerwartet forschem Ton. »Mein Name ist Sigmund Pichler, ich bin der Bader von Krumau.«

»Und wie lautet sein Begehr?«

Der Bader legte seine Hände auf die Schultern von Flor und Markéta. »Dem Herrn Grafen zurückzubringen, was ihm zugehört.«

8

Der tönerne Kerl taumelte durch den Wald, und der Stern wirbelte über seinem Kopf im Kreis. Es war der sonderbarste Stern, den Julius je gesehen hatte: ein schädel dickes Knäuel ineinander verfilzter Ochsenseile, mit einem halben Dutzend schenkellanger Enden, die in Knoten so klobig wie Fäuste ausliefen, und aus jedem dieser Knoten glotzte ein schwarzes Auge hervor! Der tönerne Geselle hatte die Arme über seinen Kopf gelegt, der so grob geformt und jämmerlich nackt wie die ganze Gestalt war, nackt und rissig rot, denn er war ja von Kopf bis Fuß aus Lehm gebacken, und bloß die Ochsenseile bläuten ihm ein wenig Leben ein. Brummend wankte der kalte Kerl durch Tann und Tal, der Knotenstern wirbelte über seinem Schädel und peitschte unaufhörlich auf ihn ein, und immer im Niedersausen zogen sich die Augen in den Knoten zu blitzenden Schlitzen zusammen. Ein schwefelgelber Gewitterhimmel spannte sich über der Kreatur, die plötzlich in die Knie brach und die Augen himmelwärts verdrehte.

Da schreckte Julius aus dem Schlaf - der Lehmkerl sah ja aus wie ich, von der Stirn bis zum Kinn, durchfuhr’s ihn im Erwachen, und doch hab ich ihn mit den Augen des Knotensterns gesehen! Das Herz klopfte ihm zum Zerspringen. Starr saß er auf seinem Bett und sah immer wieder den tönernen Gesellen vor sich, wie er über Wurzeln und Steinbrocken stolperte, ächzend und brummend, vom Knotenstern vorangepeitscht.

So langsam, wie vor dem Fenster der Morgen heraufzog, dämmerte Julius, wo er sich befand. Er war nicht in Prag, nicht in seinen Gemächern im Hradschin - sie hatten ihn nach Krumau abgeschoben wegen ... Mariandl, o mein Gott.

Er stöhnte auf und vergrub sein Gesicht in den Händen. Rasch zog er sie wieder fort: dies klebrige Nass, es war nur Schweiß, natürlich nur Schweiß! Noch immer pochte ihm das Herz bis hinauf in die Kehle. Was hatte der Traum nur zu bedeuten, der wankende Lehmkerl, der peitschende Stern? Gleich nachher würde er seinen Astrolog von Sargenfalt fragen, der unterdessen auch aus Prag angelangt sein musste; seit gestern rumpelten von morgens bis abends Kutschen und Karren über die Burghöfe, beladen mit Künstlern und Schranzen, Verwaltern und Gesinde, mit Wäsche, Geschirren und was noch alles d’Alembert vorgesehen hatte, »für Eure würdevolle Installation in Krumau, Excellence«.

Ah, du wirst Augen machen, Meisterlein! Und Sargenfalt - er kann mir gestohlen bleiben, dachte Julius, was weiß der ewig hustende Astrolog schon von dem Geheimnis, das mir Mariandls Sternengucker aus dem All gelesen hat! »Ein Erleuchteter wird Euch aufsuchen, in seinem Gefolge eine künstliche Figur - doch nicht in Prag ...« Aber ja, jetzt fiel’s ihm wie Schnuppen von den Sternen: Der Lehmkerl und der äugende Knotenstern - sie bedeuteten nichts anderes als die Kreatur und ihren magischen Magister aus dem Horoskop! Hatte Mariandls Seher nicht vorausgesagt, dass der Alchimist und sein Geschöpf in allernächster Zukunft auf ihn stoßen würden, weitab von Prag? Was sonst sollte der Traum ihm also annoncieren, wenn nicht die Ankunft der beiden, die gerade jetzt durchs Stadttor stolpern, sich die Gassen hinaufschleppen mochten zur Burg!

Julius schwang die Beine aus dem Grafenbett, dass die Messingglocke am blauen Samthimmel bimmelte. Den ganzen gestrigen Sonntag über war er in seinen Gemächern geblieben, vielmehr im Appartement des alten Wilhelm, wie der Maître ihn auch gelockt und umschmeichelt hatte; er hatte sich geweigert, den Audienzsaal oder das kaiserliche Appartement, den Maskensaal oder das Dutzend Salons anzusehen, die d’Alembert seit Anfang des Jahres her- und eingerichtet hatte, mit lachhaftem Eifer und Truhen voller Silber aus dem kaiserlichen Schatz.

Ihr werdet staunen, Maître, ihr alle werdet Augen machen! Er sprang auf, da fielen ihm die Augenknoten wieder ein, und er erschauerte. Riss sich das klamme Nachthemd über den Kopf und schrie zur gleichen Zeit nach seinem Kammerdiener: »Berti, her mit dir! Bring er Gewand und Hosen, aber hoppsa! Und einen Hunger hab ich, Kerl!«

Der Diener stolperte ins Zimmer, die Augen traumverquollen, die blonden Haare schlafzerzaust. Julius schrie unablässig weiter, kommandierte und ordnete an. Ließ Haushofmeister von Breuner mitsamt seinen Lakaien aufmarschieren und befahl endlich auch Maître d’Alembert herbeizuschaffen, damit der ihn zum gräflichen Audienzsaal führe, wie es seiner Pflicht als Obersthofmeister entsprach.

9

Der Bote stand noch vor ihm in der Antekamera, die Mütze in der Hand. Charles d’Alembert überflog ein zweites Mal den Brief, verfasst in der zierlichen Schrift der Katharina da Strada. »Vollkommene Ruhe in Krumau, ich beschwöre Euch, mon cher maître«, so die mütterliche Mätresse zum Abschluss, »oder der kaiserliche Zorn wird uns alle verderben.«

D’Alembert faltete den Bogen zusammen und schob ihn in seine Weste. »Es ist gut«, sagte er zum Boten, »du kannst gehen.«

»Und Eure Antwort für Prag, gnädiger Herr?«

D’Alembert zeigte ein dünnes Lächeln. »Heute nicht.«

Heute nicht und hoffentlich niemals mehr, dachte er, während er den Kurier mit einer Handbewegung entließ. »Vollkommene Ruhe in Krumau«, das schrieb sich so leicht mit der Adlerfeder auf parfümierte Bütte, aber habt Ihr Euch jemals die Mühe gemacht, Madame, Euren fürchterlichen Sohn vor sich selbst zu behüten, für ein paar Tage oder Stunden nur? Ihm die Waffe aus der Hand gewunden, Dolch oder Degen, derweil Euer Bastard Euch anglotzt mit blutig geäderten Augen, Laute ausstoßend wie eine verzauberte Kreatur? Und dennoch, Madame, liebe ich ihn wie meinen Sohn.

In den letzten Monaten schien es besser zu werden, dachte er dann, in der Morgendämmerung seinen Salon durchmessend, der ganz in Weiß und Silbertönen eingerichtet war, ja, seit der Jahreswende hatte es den Anschein, als ob der Dämon endlich von ihm gewichen wäre. Aber dann vorgestern Nacht dieses Mariandl, das irgendetwas zu ihm gesagt haben musste, oder gelacht auf eine Weise, die jene Saite in ihm zerreißen ließ -worauf er das Beil hervorzog und auf sie einhieb, weiß der Himmel, wo er die Axt überhaupt hergenommen hatte!

Nur ruhig Blut bewahren, mahnte sich der Maître, indem er vor seinem Fenster stehen blieb, bereits vollständig angekleidet, das Gesicht weiß geschminkt, die Perücke gepudert, obwohl eben erst die Sonne über Krurnau emporstieg. Ein guter Dompteur unterwirft jede Bestie seinem Willen, memorierte er seine Lebensmaxime. Und es gibt nur gute Bändiger, jedenfalls unter den Lebenden.

Abermals zog er den Brief der mütterlichen Mätresse hervor.

Den 5. Mai 1607 A.D. im Hradschin zu Prag

Mon cher maître, es ist tief in der Nacht, und doch muss ich diese Zeilen noch eilends aufs Papier werfen. Ein anonymer Denunziant hat Ihrer Majestät ein Hetzschreiben zugespielt: Er will beobachtet haben, wie unser junger Freund gestern in aller Frühe blutbespritzt aus seinen Gemächern gestürzt sei, aus denen gewisse Helfershelfer kurz darauf eine verschandelte Mädchenleiche davongetragen hätten. Tatsächlich wurde heut Mittag am bezeichneten Ort ein Korpus gefunden, im Gestrüpp weitab am Moldauufer. Dass unser junger Freund vor Morgengrauen die Stadt verlassen hat, verleiht der Tirade des Anonymus einen Anschein von Wahrheit, jedenfalls in den Augen Rudolfs, der sich seither Stunde um Stunde in heiligen Zornreden erging.

Am Kaiser nagen Zweifel, mon cher maître, ob er weise gehandelt habe, als er Euch damals unseren jungen Schützling anvertraute. Mehrmals fragten Ihre Majestät sich lauthals, ob sie nicht besser täten, ihn für alle Zeiten auf ein mährisches Landgut zu verbannen. Dort könne unser Freund allenfalls ein paar altersschwache Ochsen abschlachten, aber keine Menschenkinder, rief der Kaiser noch aus, ehe er erschöpft auf sein Ruhelager fiel.

Mein lieber d’Alembert, sicher könnt Ihr Euch denken, wie sehr mich diese Worte erschüttert haben. Ah, wie Recht Ihr hattet, mein Vertrauter, auf baldige Abreise nach Krumau zu drängen! Wie strahlend muss ihm nun die alte Rosenberger Herrschaft erscheinen. Ach, wäre er nur früher Eurem Ratschlag gefolgt!

Seid gewiss, dass ich alles tun werde, um den kaiserlichen Zorn wieder einzuschläfern, doch bis dahin darf Euer Schützling keinesfalls nach Prag zurückkehren. Vollkommene Ruhe in Krumau, ich beschwöre Euch, mon cher maître, oder der kaiserliche Zorn wird uns alle verderben!

Mit bestürzten, vertrauensvollen etc. etc. Katharina da Strada

Ein Pochen an der Tür, ein höfliches Hüsteln - auch ohne sich umzuwenden, wusste d’Alembert, dass Pavel eingetreten war, sein ältlicher Sekretär.

»Was gibt es, mon ami?« Langsam steckte er den Brief wieder in seine Westentasche und drehte sich mit dem Rücken zum Fenster.

»Verzeiht, Maître, Don Julius lässt Euch rufen.«

»Ausgezeichnet, ich wollte ohnehin zu ihm.« Aber wieso ist er um diese Zeit schon auf?, fragte sich d’Alembert. Er konnte sich überhaupt nicht erinnern, wann sich Julius jemals zu so früher Stunde erhoben hatte, ausgenommen nur das halbe Jahr im Kloster zu Gaming, wo er von schmallippigen Kartäusermönchen in Theologie unterrichtet worden war.

Es kann nichts Gutes bedeuten, dachte der Maître, indem er Pavel zunickte und hinaus auf den Gang trat. Wahrscheinlich steht Julius in Hut und Mantel auf dem Hof und verlangt seine sofortige Rückkehr nach Prag. Aber daraus wird nichts, Exzellenz. Vollkommene Ruhe in Krumau!

D’Alembert ließ sein Stöckchen durch die Luft wirbeln und eilte durch dämmrige Gänge hinüber zum gräflichen Appartement, wo er Don Julius in größter Erregung antraf, seine braunen Augen von jenem Glanz erfüllt, den er seit vielen Jahren fürchtete.

»Ah, da seid Ihr, Maître«, rief ihm Julius entgegen, »bringt mich eilends in den Thronsaal. Gleich werden ja die Leute aus der Stadt heraufkommen, Ratsherren, Ritter, Zunftvorsteher, um sich vor ihrem neuen Herrn zu verbeugen.«

»Vortreffliche Vorsätze, Excellence«, lobte d’Alembert, »aber um sieben Uhr in der Frühe .«

»Gehen wir, Maître, Ihr werdet schon sehen!«

D’Alembert fand sich am Ellbogen gefasst und aus dem Salon gezogen, auch das war nie zuvor geschehen. Seit Jahr und Tag war er derjenige, der den Kaiserbastard antrieb, immer darauf gefasst, dass sich Julius mit der Wildheit eines Raubtiers zu entwinden suchte.

Schon nach wenigen Schritten war der Maître in seine Rolle zurückgeglitten. Er winkte einen Lakaien herbei und ordnete an, im Großen Saal für zwei Dutzend Personen aufzudecken, das engere gräfliche Gefolge aus den Betten zu scheuchen sowie im Audienzsaal die Fenster aufzureißen. Schließlich war er mit jeder Laune seines Schützlings seit bald zwei Jahrzehnten vertraut - nun, mit fast jeder; aber wieso Julius plötzlich danach lechzte, im Morgengrauen auf dem bisher so verabscheuten Grafenthron Platz zu nehmen, würde sich zweifellos sehr bald zeigen.

Während der Diener davoneilte, führte er den Kaisersohn durch die Flucht prachtvoller Salons, die sie seit Jahresanfang allesamt mit neuen Tapeten und Lüstern ausgestattet hatten, das Kristall nicht von den allerersten Glasschleifmeistern, aber doch aus böhmischen Manufakturen von untadeligem Ruf. Von sich aus würde Julius den Unterschied ohnehin nicht bemerken, sagte sich der Maître, wenn nur niemand aus seinem Gefolge, der spitzzüngige Maler da Biondo oder der allzu redselige Medikus von Rosert, auf die Idee kam, sich vor Julius’ Ohren nach dem Namen des Schleifmeisters zu erkundigen. Aber das galt mehr oder minder für alle Gegenstände, die er in Auftrag gegeben oder erhandelt hatte. Die erstklassigen Adressen, bei denen die Prager kaiserlichen Hofmeister einzukaufen pflegten, kamen für Burg Krumau schlichtweg nicht in Betracht, auch wenn er selbst und Katharina da Strada Ihrer Kaiserlichen Majestät eine stattliche Apanage abgelistet hatten: dreißigtausend Gulden aufs Jahr, dazu ein einmaliges Handgeld von zwanzigtausend Talern rheinischen Goldes. Ohnehin war der allergrößte Teil der riesenhaften Burg noch immer jämmerlich verwahrlost.

Kein Grund zu verzagen, munterte sich der Maître auf. Zumindest waren sie nun endlich in Krumau eingezogen, bald zwei Jahre, nachdem er und Katharina den Plan gefasst hatten, Rudolf die alte Rosenberger Herrschaft für seinen Bastardsohn abzuschmeicheln. Und kaum hatte er heute die Nachricht von der mütterlichen Mätresse erhalten, da schien Julius mit dem eben noch verhassten »Verbannungsort« auch schon auf wundersame Weise versöhnt. Doch diesem Stimmungsumschwung war keineswegs zu trauen.

»Seht dort, die Goldtapisserien, und da drüben, Excellence, eine Pariser Rarität ...« Während sie eilends voranschritten, deutete d’Alembert mit seinem Stöckchen immer wieder auf Gemälde, Wandbehänge, Möbelstücke, die er in den letzten Monaten erhandelt hatte, dazu murmelte er Erläuterungen und ließ Julius keinen Moment lang aus den Augen.

Denn der Maître glaubte an Einbildungs- und Willenskraft, nicht an wundersame Wendungen. Und dass den seelischen Aufschwüngen seines Schützlings ebenso jähe Abstürze zu folgen pflegten, wusste er aus mannigfaltiger Erfahrung. Aber warum auch immer Julius sich so plötzlich mit Krumau zu arrangieren schien - er würde ihn mit aller Kraft in seinen Plänen bestärken, damit der kaiserliche Zorn sie nicht beide elendiglich verdarb.

10

Der Große Saal war ein Mirakel der Grotesken- und Trompe-l’œil-Malerei. Hinter Säulen und Hecken tummelten sich Satyrn und Nymphen in blankem Ergötzen, bronzene Jünglinge umschlangen einander zu attischem Wettstreit, Musikanten mit Lauten und Harfen spielten auf einer Lichtung für sinnenfrohe Dämonen zum Tanz auf.

Und dies alles war Illusion und Täuschung, getupft und gepinselt mit Ölen und Farben, dachte d’Alembert, aber wie meisterlich gemalt, wie wahrhaft göttlich vorgetäuscht. Er war auf der Schwelle stehen geblieben, eine Hand in der Armbeuge seines um anderthalb Häupter höher gewachsenen Schützlings, dem nichts anderes übrig blieb als gleichfalls in der Tür zu verharren. »Ein Ort der Glückseligkeit«, sagte d’Alembert und bemühte sich, seiner Stimme Wärme zu verleihen, »un paradis pour Vous, Excellence!«

Er sah Julius von der Seite her an, und für einen Moment schien es ihm, als wäre auch der Kaisersohn von diesem Saal beeindruckt, in dem einige der besten Maler Europas gearbeitet hatten. Denn Wilhelm von Rosenberg war nicht nur ein hoch angesehener Alchimist, sondern auch ein Mäzen und Kunstfreund von weithin leuchtendem Glanz gewesen, berühmt überdies als großzügiger, ja als großartiger Zahler.

Doch Julius sah sich nur flüchtig nach all den Wundern um, dann entzog er dem Maître seinen Arm. Er machte einen Schritt in den Saal hinein und fuhr herum, dass sein Umhang wallte. »Vorspiegelungen, mon cher maître«, sagte er, »Trug und Täuschung, alles schön und gut! Haben wir nicht bis zum Überdruss drüber debattiert? Derlei Gleisnerei verändert diese Welt so wenig wie Traumgefasel, sie verzerrt sie nur und äfft sie auf närrische Weise nach. Die geheime Wissenschaft der Alchemie dagegen .«

Seine Augen nahmen abermals jenen unguten Glanz an, und d’Alembert beeilte sich, seinem Schützling mit weicher Stimme ins Wort zu fallen: »Alles zu seiner Zeit, Euer Liebden, ich bitte Euch, lasst uns erst einmal Euren Einzug und den neuen Akt im Theater des Lebens feiern, der für Euch und für uns alle, Eure ergebenen Diener, an diesem Tag beginnt. - Musik!«, befahl er, und ehe Julius etwas einwenden konnte, traten in der Tiefe des Saals ein Dutzend verschlafener Musikanten hinter einem Vorhang hervor.

Die Lauten- und Harfenspieler waren ebenso jung und kunstvoll entkleidet wie ihre Vorbilder auf dem Wandgemälde, und als sie vor und zwischen den gemalten Musikanten Aufstellung nahmen, hätte tatsächlich niemand sagen können, welche dieser singenden Nymphen und musizierenden Satyrn nun aus Öl und Leinwand erschaffen waren und welche aus Fleisch und Blut.

Weiterhin behielt d’Alembert seinen Schützling scharf im Auge. Wie sehr hatte er seit Monaten darauf gedrängt, dass sie die Prager Burg hinter sich ließen, nun endlich waren sie am Ziel, wenn auch möglicherweise zu spät. Der Hradschin war nichts anderes als ein riesenhaftes Narrenhaus, sagte sich der Maître, das durch die kaiserlichen Verderbt- und Verschrobenheiten mehr und mehr verzaubert wurde. In hellen Mondnächten konnte es dort geschehen, dass Ihre Majestät höchstderoselbst im silbern gesäumten Nachtgewand durch Flure und Kammern tappte, die Augen zu rot marmorierten Schneekugeln verdreht, während Schreie von hündischer Verzweiflung oder auch von wölfischer Begierde aus der kaiserlichen Kehle drangen. Immer offener wurde in den Prager Antekameras gemunkelt, dass der viel beschriene Habsburger Wahnsinn auch den Geist Rudolfs II. zu verdunkeln beginne, und Don Julius war sein ältester Nachkomme, der zumindest auf dieses Erbteil unabweisbare Ansprüche erhob. Während ihm alle glanzvollen Facetten der väterlichen Hinterlassenschaft auf alle Zeiten verwehrt waren, das Zepter des Kaiserreichs ohnehin und die böhmische Wenzelskrone ebenso; schon dass Rudolf seinem Bastardsohn die ausgezehrte Rosenberger Herrschaft zugeschlagen hatte, war mit heller Empörung aufgenommen worden, in der Krumauer Bürgerschaft und an den Höfen des halben Abendlandes.

Aber ich werde Julius aus jeder Bedrängnis retten, schwor sich d’Alembert wie nahezu täglich, dabei hinter dem jungen Burgherrn hereilend, der nun mit raschen Schritten auf die Musikanten zustrebte, alles werde ich tun, um ihn vor Schmerz und Schande zu bewahren. Und uns beide vor dem Sturz.

Hinter ihnen segelte jetzt auch die gräfliche Gefolgschaft in den ehemaligen Wappensaal der Rosenberger: der hoch aufragende Oberstkämmerer von Hasslach und der rundliche Oberststallmeister Skraliçek, fünf Kammerherren und dreimal so viele Edelknaben, Maler und Bildhauer, Schauspieler und sonstige junge Leute von allenfalls halbgewisser Herkunft, die sich als Künstler ausgaben, obwohl jeder wusste, dass sie hauptsächlich das Schmarotzertum und die Schamlosigkeit zur Kunst entwickelt hatten. Ein Glück nur, dachte d’Alembert, dass Johanna von Waldstein vorerst in Prag zurückgeblieben war, Julius’ gottfromme Verlobte, deren Nähe den Kaisersohn noch ärger verdross als eitel Sonnenschein.

Er winkte von Hasslach zu sich. »Eine heikle Mission, mon ami«, sagte er mit gedämpfter Stimme, »Don Julius wünscht die Oberen von Krumau im Audienzsaal zu sehen - jetzt gleich.«

Der hagere Oberstkämmerer riss die Augen unter grauen Brauenbüscheln auf. »Davon rat ich schlankweg ab, Maître. Die Ratsherren werden sich weigern, das lässt sich leicht voraussehen. Ein Affront, wird’s gleich wieder heißen - und warum auch just heut und in Herrgottsfrühe? Bald zwei Jahre sind vergangen, seit Ihre Majestät ihm die Grafschaft zugeschlagen hat. Nicht ein einziges Mal ist Don Julius seither hier in Krumau gewesen - und da sollen sie gerade jetzt herbeieilen und ihm die Hände küssen?«

»Ich weiß, ich weiß, mon ami.« D’Alembert sah mit einem dünnen Lächeln zu ihm auf. »Aber nun ist Don Julius eben hier, und die stolzen Bürger von Krumau werden wohl oder übel das Knie vor ihm neigen müssen.« Im Hintergrund bemerkte er einen Gardisten in blauer Uniform, der offenbar versuchte, ihre Aufmerksamkeit auf sich zu ziehen. »Also sendet jemanden zum Rat von Krumau oder begebt Euch am besten selbst zum Rathaus hinunter.« Er nickte von Hasslach zu und winkte zugleich den Soldaten herbei.

»Gardist Jan Mular!« Inmitten des ganzen Wirrwarrs aus Musikanten, schwatzenden Künstlern und umherschwirrenden Höflingen knallte er die Hacken zusammen.

»Was gibt es?« Zu seinem Ärger bemerkte d’Alembert vier blutige Zickzacklinien auf der Wange des dicklichen Gardisten. Vor einem halben Jahr hatte er vier Hundertschaften junger Männer aus der Grafschaft ausheben lassen, um sie in einer Kaserne am Stadtrand von Prag zu Wachsoldaten auszubilden, und noch am gestrigen Sonntag hatte er die gesamte gräfliche Salvaguardia nach Krumau abkommandiert. Aber dieser zerkratzte Bauerntölpel schien den sechsmonatigen Drill im Schweinekoben verschlafen zu haben.

»Melde gehorsamst, Herr Obersthofmeister - am untern Burgtor stehen Krumauer Bürger und begehren den Herrn Grafen zu sprechen.«

»Ah bon?«, machte d’Alembert, verblüfft über die Promptheit, mit der sich Julius’ Voraussage zu bewahrheiten schien. »Und um wen handelt es sich?«

»Um einen gewissen Pichler, Bader von Krumau, Herr Obersthofmeister, sowie seine Tochter und ein ... Subjekt. Der Bader will was zurückgeben, das dem Herrn Grafen gehört, wie er angibt.«

D’Alembert wechselte einen Blick mit von Hasslach. »Lasst sie ein«, befahl er Mular, »sie müssen allerdings noch in der Kammer neben dem Thronsaal warten. Sag ihnen, die Audienz beginnt um Schlag neun.«

Eigentlich hatte er dem Soldaten noch einen Rüffel erteilen wollen: Wusste dieser Mular denn nicht, dass den gräflichen Gardisten Raufereien untersagt waren? Doch der Maître beließ es bei einer knappen Handbewegung, die den Gardisten aus dem Saal scheuchte, in diesem Moment nämlich spazierte das syrakusische Zwillingspaar Arm in Arm an ihm vorbei. Vor drei Wochen waren die beiden, Fabrio und Helena, mit einer fahrenden Theatertruppe nach Prag gekommen, und Don Julius hatte sich in die bronzehäutige Hübschheit der halbwüchsigen Geschwister vergafft und sie für ein paar Silbermünzen freigekauft. Seither hatte Fabrios Brombeerlächeln auch d’Alembert manche schlaflose Nacht bereitet - im Moment allerdings gab es Wichtigeres zu bedenken, rief er sich selbst zur Ordnung und wandte seinen Blick von dem jungen Syrakuser ab.

Unterdessen hatte Julius an der Tafel Platz genommen, umgeben von Nymphchen und Satyrn. D’Alembert machte Freiherr von Breuner ein Zeichen; sein ältlicher Haushofmeister stand am anderen Ende des Saals, neben der geschlossenen Doppeltür, hinter der zweifellos schon die Kuchelmägde mit Silbertabletts voll hastig zubereiteter Speisen warteten: kalter Kapaun und Schwanenpastete, dazu weißes Brot und Tokaier. Als von Breuner die Geste des Maître bemerkte, nestelte er den Silberschlegel aus seinem Gürtel und schlug auf den mondgesichtigen Gong, den d’Alemberts Gesandte für ein Spottgeld im Hafen von Amsterdam erstanden hatten.

11

Der Tokaier schwappte ihm unter der Schädeldecke, und die gläsernen Klänge des Klavichord gellten ihm noch in den Ohren. Von d’Alembert in den Audienzsaal geführt, blieb Julius vor dem Marmorsockel mit dem alten Rosenberger Thronsessel stehen. Auf einmal war er sich gar nicht mehr so sicher, ob er das Horoskop und seinen Traum richtig gedeutet hatte. Und wenn Mariandls Sternengucker doch bloß ein Scharlatan war?

»Die Leute aus der Stadt«, sagte er, »sind denn welche gekommen?«

In die Hölle mit allen Betrügern, auch die väterliche Majestät hatte er mehr als einmal über hinterlistige Sternengaukler wettern hören. Doch auch der Kaiser machte seit langem keinen Schritt mehr, ohne zuvor seine Astrologen zu befragen.

»Alles, wie Ihr befohlen habt, Excellence.« Der Maître bedachte ihn mit dem starren, kalkweißen Lächeln, das Julius früher bis in seine Träume verfolgt hatte, Schreckensträume von Steinmasken, die sich unversehens verzerrten, und von Gesichtern, die sich als steinkalt erwiesen, wenn er mit dem Finger darüberfuhr. »Doch gestattet mir, Euch erst noch mit den gräflichen Insignien zu versehen.« Vom herbeieilenden Oberstkämmerer nahm er einen scharlachroten Prunkmantel entgegen, den er Julius mit einer schwungvollen Bewegung überwarf. »Nun seid so gütig und nehmt Platz.«

Fügsam erklomm Julius die drei Sockelstufen und ließ sich in den Sessel sinken. Soweit er zurückdenken konnte, hatte d’Alembert ihn immer gegängelt und dirigiert, gelockt und belogen, bedroht und umschmeichelt, und weder er noch seine Mutter Katharina hatten sich jemals drum geschert, ob er selbst in die Richtung gehen wollte, in die sie ihn so gebieterisch drängten. Schließlich war er nur ein Bastard des Kaisers, da musste er sich doch glücklich schätzen, dass die väterliche Majestät ihm ein paar Häppchen ihrer allerhöchsten Gunst zukommen ließ! Und wem verdankte er diese Gnadenbrocken -natürlich nur der mütterlichen Mätresse und dem unermüdlichen d’Alembert. Aber damit würde es bald vorbei sein, sagte sich Julius. Künftig würde er bestimmen, wo es entlangging - nicht auf hinterwäldlerische Grafenburgen, sondern im Triumph zurück nach Prag! Ich hab dem Mariandl das Licht nicht ausgeblasen, dachte er wieder. Jemand muss mir das tote Hürchen untergeschoben haben - aber wer nur und zu welchem hinterfotzigen Zweck?

Der Audienzsaal war ein Labyrinth aus Spiegelwänden, die sein dürftiges Gefolge zur häupterstarken Schar anschwellen ließen. Auch die Musikanten waren aus dem Großen Saal herübergekommen. Zwischen Satyrn und Nymphen stand der hünenhafte Medikus von Rosert, sein haarloser Kopf leuchtend wie ein Lampion. Auf gelben Schnabelschuhen glitt Gabriele da Biondo herbei, d’Alemberts venezianischer Lieblingsmaler, unter dem Arm seine Staffelei, die er zwei Schritte neben dem Thron aufstellte. Obwohl die Fenster immer noch geöffnet waren, hing ein leichter Modergeruch im Saal. Mit einem Mal wurde Julius bewusst, dass seine Finger vor Anspannung zitterten.

Aus von Breuners Händen nahm d’Alembert nun eine achteckige Krone aus getriebenem Silber entgegen, klomm zwischen den Syrakusern, die wie Sphingen auf dem Sockel hockten, die Stufen empor und setzte die Haube auf Julius’ Schopf. Wie geschmacklos, dachte der Gekrönte. Tatsächlich hatte d’Alembert die Ottonenhaube nachbilden lassen, ein Krönungsinsignium des Heiligen Römischen Reichs. Doch als er um sich blickte und sich in Prunkmantel und Krone dutzendfach gespiegelt sah, war er gegen seinen Willen beeindruckt. Auch wenn’s nur ein Vorschein ist, dachte er rasch, bloß eine Theaterprobe.

»Euer Herrlichkeit, Graf von Krumau«, sprach Maître d’Alembert, »als Euer ergebenster Diener flehe ich Euch an: Regiert weise und nachsichtig, seid Euren Untertanen ein milder und gerechter Herr.«

Ehe Julius etwas erwidern konnte, wandte sich d’Alembert dem Oberststallmeister zu, nahm das mächtige Rosenberger Schwert, das Skraliçek ihm auf vorgestreckten Händen darbot, und legte es mit einer feierlichen Bewegung in Julius’ Arm.

Just da wurde an die Tür gepoltert, deren Flügel im gleichen Augenblick aufflogen, und auf der Schwelle erschien eine Person, die Julius in diesem Moment am wenigstens erwartet hätte. Dabei hatte er seit vorgestern mehr als einmal an sie gedacht und sie just so vor sich gesehen, wie sie nun in der Tür stand:    barfüßig,    im    hellen    Leinenkleid,    die    rossbraune Haarmähne im Nacken gebändigt. Über zwei Dutzend wirkliche und zweihundert gespiegelte Glatz- und Perückenköpfe blickte sie zu ihm herüber, mit einem warmen Glanz in den Augen und glühenden Wangen, die auch ihm die Hitze unter Krone und Gürtel trieben. Hinter Markéta - denn so hieß sie, Markéta Pichlerovâ, jetzt fiel’s ihm wieder ein - stand ein glatzköpfiger Mann in fortgeschrittenen Jahren, mit ausladendem Bauch und ebenso gewaltigem Schnauzbart. An ihrer Seite aber ein schmaler Jüngling, der aus einer gewaltigen Kapuze wie aus einer Fuchshöhle hervorlugte.

Julius spürte, dass seine Unterlippe zu zucken begann, wie beinahe immer bei starker Erregung, und wie vor zwei Tagen erst, dachte er, als ich ihre warmen, schlanken Finger in meiner Hand hielt. Markéta!

»Gnädiger Herr Graf«, sprach der dicke Mann, »mein Name ist Sigmund Pichler, ich bin der Bader von Krumau und gekommen, um dem Herrn sein Besitztum zurückzubringen.« Unter diesen Worten, die er mit dröhnender Bassstimme, wenngleich einigermaßen kurzatmig hervorstieß, schritt er langsam in den Saal, Markéta und den Jüngling vor sich herschiebend. »Dieser künstliche Knabe wurde mir von den Bütteln übergeben«, sprach er weiter, »und ich nehm doch an, dass er Euch entlaufen ist, durchlauchtigste Gnaden?«

Julius sprang von seinem Sessel auf, scheppernd fiel das Rosenberger Schwert zu Boden. »Künstlicher Knabe?«, wiederholte er, nun am ganzen Leib heftig zitternd. Vor seinem geistigen Auge sah er wieder den tönernen Kerl aus seinem Traum, unter den Knotenstern geduckt, während Mariandls Sternengucker in seinem Innern krächzte: »Ein Erleuchteter wird zu Euch kommen, mit einer künstlichen Figur, aber nicht in Prag!«

»Sehr wohl, Herr Graf«, brummte der Bader und brachte das Mädchen und den Burschen vor dem Grafenthron zum Stehen.

12

Markéta spürte die Anspannung in Flors Körper, der sich zitternd an ihre rechte Seite drückte. Aber sie war entschlossen, sich den Verstand nicht verwirren zu lassen, auch wenn die fremdartige Umgebung all ihre Sinne überreizte. Gerüche, die ihre Nasenflügel erbeben ließen - indische Moschussüße, dachte sie, sich an einen Liedvers erinnernd -, ein Tuscheln und Wispern in fremden Zungen - spanisch und französisch, wie sie annahm, jedenfalls verstand sie kaum eine Silbe -, dazu das Rascheln von Seide, die schreiend bunte Kleidung der Damen und Herren und, greller noch, die bronzene Nacktheit der beiden Schwarzgelockten, Knabe und Mädchen, die zu Füßen des Grafen hingekauert saßen.

Don Julius war auf seinen Sessel zurückgesunken, das riesenhafte Schwert lag unbeachtet neben ihm am Boden. Er sieht traurig aus, dachte Markéta, gefährlich, aber mehr noch trübselig wie ein gefangener Wolf. Freimütig erwiderte sie seinen Blick, wie vorgestern früh auf der Brücke. Aber warum nur schaute er sie unablässig an, während der Vater doch die ganze Zeit von Flor sprach?

». wurde mir dieser Bursche heute früh von den städtischen Bütteln ausgehändigt, durchlauchtigster Herr«, rapportierte der Bader, »da sie ihn ohne Bewusstsein aufgefunden hatten und annahmen, dass er verletzt sei.« Seine heilkünstlerische Untersuchung, fuhr er fort, habe keine Wunde zutage gefördert, sondern - wie solle er sagen - das blanke Gegenteil. Seine Linke krampfte sich in Markétas Schulter, jählings beugte er sich nach vorn, packte Flors Umhang und riss ihn bis zum Hals des Überrumpelten empor.

Die Wirkung war ungeheuerlich. Alle fünf Dutzend Personen, die im Saal zusammengedrängt waren, begannen fast gleichzeitig durcheinander zu schreien. Dabei hatte kaum jemand »das blanke Gegenteil« wirklich gesehen.

»Ein Affenfell!«, rief einer und hätte schwerlich ärger danebenzielen können.

»Ein Hermaphrodit!«, trumpfte ein anderer auf, wurde jedoch gleich niedergeschrien von einem wohlgenährten Edlen, der mit rotem Kopf und donnernder Bassstimme ausrief: »Ja, habt ihr keine Schlitze im Schädel, ihr böhmischen Knödelbarone - der Bursche ist ein Kunstmensch aus Rädern und Metall!«

»Affen-fe-fell«, repetierte Flor in bekümmertem Tonfall, dabei heftig mit dem Bader rangelnd, »Rä-räder und Metall!« Da ging mit lautem Ratsch der Umhang samt Lumpenhemd zuschanden. Bis zum Gürtel entblößt stand Flor vor dem Grafenthron, am ganzen Leib zitternd und den Tränen nah.

»Aufhören, ich befehl’s!« Don Julius sprang abermals von seinem Prunksessel auf, so heftig, dass ihm die Silberkrone fast vom Haupt fiel. Mit einer Hand drückte er sie auf seinen Schopf zurück, mit der andern deutete er in die Menge. »Raus, ihr alle, auf der Stelle, schert euch weg!« Seine Stimme überschlug, sein Gesicht verzerrte sich, alles Geschrei erstarb so jählings wie unter der Fliegenpatsche.

Erstaunt beobachtete Markéta, wie die edlen Herrschaften ihre gepuderten Köpfe einzogen und ohne ein Widerwort aus dem Saal liefen. Hinter ihnen schlugen die Türflügel in den Rahmen, kaum mehr als einen Herzschlag, nachdem Don Julius seinen Befehl hervorgestoßen hatte, war er mit dem Bader, Flor und Markéta allein.

Abgesehen von dem sehnigen Herrn in mehlfarbener Perücke und weiß gelackter Weste, der mit seinem Stöckchen wie mit einem Fechterdegen auf den nabellosen Knaben deutete: »Ich verstehe sehr gut, Euer Liebden, dass seine spécialité Euch faszinieren muss. Mais croyez-moi, Excellence, sie bedeutet sicher nicht, dass er von einer gläsernen Mutter geboren wurde.«

Mit offenem Mund sah Markéta von dem eleganten Sprecher zu Don Julius auf seinem Thronsockel und von diesem zu Flor, der eine Hand vor seinen Magen presste und mit trübsinniger Miene echote:

»Gläserne Mu-mutter! Croyez-moi!«

13

Der Vater hielt ihre Schultern mit beiden Armen umschlungen. Stumm kämpfte Markéta gegen seinen Griff an und wusste doch, dass ihr Leben verwirkt wäre, wenn sie sich ernstlich einzumischen wagte. Flor lag rücklings am Boden, die Arme gespreizt wie auf dem Rad. Durch eine Tapetentür waren die schwarzgelockten Zwillinge herbeigesprungen, um sich mit Knien und Fäusten auf Flors Arme zu hocken, still und geschwind wie Katzen, einer links, eine rechts. Flor kämpfte noch immer, keuchend, mit hitzefleckigen Wangen, die Augen verdreht. Dabei konnte er kein Glied mehr regen, denn auf seinen Schenkeln saß Don Julius, wie ein Wolf über der Beute, dutzendweise vervielfacht in den Spiegeln ringsum.

»Wie erklärt Ihr das hier, cher maître«, hörte Markéta ihn atemlos ausrufen, »diesen kieselglatten Balg, der mit keinem Weiberwanst je verbandelt war?« Während er wie im Fieber redete, fuhren seine Hände wieder und wieder über den mageren Bauch des Burschen, der sich unter ihm bäumte und wand. »Wollt Ihr mir nicht verraten, d’Alembert, wie das Mirakel geschehen sein soll - wenn nicht im Pelikan, auf schwarzkünstlerische Manier?«

Dem zierlichen Herrn im gelackten Wams hatte es anscheinend die Sprache verschlagen. Sein weißes Stöckchen zielte auf die Kämpfenden am Boden, doch aus seinem strichdünnen Mund drang kein Wort hervor. Der junge Hüne im brandroten Mantel beugte sich tiefer über seine Beute, seine Hände stützten sich schwer auf Flors Brust.

»Ihr quetscht ihn ja zu Tode, edler Herr!« Markéta hatte sich nicht länger bezähmen können. Wenn der Vater sie schon hinderte, sich dazwischenzuwerfen, so hielt er ihr doch zumindest nicht den Mund zu. »Lasst ihn los, Euer Gnaden, ich fleh Euch an!«

Wahrhaftig richtete sich Don Julius wieder auf und wandte sich um zu ihr. Auch sein Gesicht war vom Kampf erhitzt, das lange braune Haar zerzaust, vergessen lag die Silberkrone droben auf dem Thron. »Mein Besitztum - das waren doch seine Worte, Bader?«

Seine Frage galt dem Vater, aber sein Blick haftete auf Markéta, deren Mund mit einem Mal staubtrocken wurde. Sie spürte, wie der Vater hinter ihr nickte, und hörte sein Räuspern dicht an ihrem Ohr. Doch ehe er etwas erwidern konnte, sprach Don Julius schon weiter:

»Und meinte er mit diesen Worten nur die Ausgeburt der Retorte?«

Er erhob sich und deutete nach hinten, auf den liegenden Flor. »Oder auch die dreiste Maid in seinem Arm?«

Hinter Markéta erstarrte der Vater. Vor Angst, dachte sie, und da erst stieg Furcht auch in ihr empor. Mit federnden Schritten kam Don Julius auf sie zu; als wären sie nur ein entzweiter Schatten ihres Herrschers, waren mit ihm auch die Zwillinge aufgesprungen und tappten nacktfüßig hinter ihm her.

Don Julius trat so nahe vor Markéta, dass sie den Geruch seines Körpers atmete, herb und schwer, dachte sie, ein wenig wie das Unterholz droben im Wald. In den Augenwinkeln sah sie, wie Flor sich zum Sitzen aufrichtete und mit bekümmerter Miene um sich sah. »Ausgeburt«, hörte sie ihn leise klagen, »Pe-pelikan!«

»Sie heißt Markéta, durchlauchtigste Exzellenz«, sagte derweil der Vater mit gepresster Stimme, »und es war der sehnlichste Wunsch ihrer verstorbenen Mutter, sie so bald wie möglich wieder in gräflicher Obhut zu sehen.«

Seine Worte stürzten Markéta in einen Bottich voll widerstreitender Gefühle: Freude, da sie in Flors Nähe bleiben konnte, falls Don Julius der Bitte entsprach. Rührung über den Vater, der so mutig für Mutter Biancas letzten Willen focht. Dazu eine ziehende, keineswegs geheure Erwartung, befeuert vom Blick des jungen Regenten, der unverwandt auf ihr haftete, und von dem schweren, ein wenig modrigen Geruch seiner Haut.

Dann erst fiel ihr auf, was der Bader nicht erwähnt hatte: dass er selbst ihr Vater sei. Es hat ja nichts zu besagen, dachte sie rasch, während seine Arme sich von ihr lösten und Sigmund Pichler hinter ihr zur Tür hin zurücktrat.

»Diesem Wunsch kann mit Leichtigkeit entsprochen werden«, sagte Don Julius, und sein Blick bohrte sich noch tiefer in Markétas Augen. »Es soll der Maid an nichts fehlen, sie wird mir persönlich zu Diensten sein.« Er sah über die Schulter nach hinten. »So verhält es sich doch, Obersthofmeister d’Alembert?«

Der zierliche Herr mit der mehlfarbenen Perücke trat sichtbar widerstrebend näher. Mit seinem Stöckchen versuchte er vergeblich, die halbnackten Zwillinge zu verscheuchen, die nun als Engelspaar neben Don Julius posierten, mit holdem Lächeln und die Ellenflügel seitlich weggespreizt. »Alles wird genau so eingerichtet, wie Ihr es wünscht, Excellence.«

»Dann ruft die Wache herbei«, befahl Don Julius, ohne seinen Blick von Markéta zu wenden, »sie sollen den Nabellosen in den Turm werfen. Mich aber geleitet in meine Gemächer, Maître, die Reise hat mich ermüdet, und von all dem Trubel und Tokaier schmerzt mir das Haupt.«

Er streifte seinen Prunkmantel ab und ließ ihn zu Boden gleiten. Der Maître zuckte zusammen, doch er hatte sich gleich wieder in der Gewalt, bückte sich und hob den Umhang auf. Mit tänzelnden Schritten ging er zum Thronsockel, legte den Mantel darauf und zog unter dem Goldbrokat, der bis zu den Füßen des Sessels herabhing, eine Kupferglocke hervor.

Selbst als ihr scheppernder Klang den Spiegelsaal erfüllte, fuhr Flor nicht zusammen. Der Goldschöpfige hockte noch immer vor dem Sockel am Boden, den Kopf auf die bloße Brust gesenkt. Ein Bote aus der Welt jenseits des Nebels, dachte Markéta wieder, ich muss bei ihm bleiben, was auch geschieht.

Zwei Soldaten von der gräflichen Salvaguardia traten ein; erst als sie seinen funkelnden Blick auf sich fühlte, erkannte Markéta, dass der kleinere der beiden Jan Mular war, seine Wange von ihren Nägeln gestrählt.

»Diese da lasst säubern und parfümieren.« Don Julius griff Markéta ins Haar und zog sie zu sich heran, wie man ein ungebärdiges Pferd bei der Mähne packt. Für einen kurzen Moment stand sie so eng an ihn gepresst, dass sie seinen Herzschlag spürte, dann schob er sie mit einer nachlässigen Bewegung zu d’Alembert hinüber. »Steckt sie in ein venezianisches Gewand, dann schickt sie in mein Gemach.«