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ZWEI - DESCENSIO

»Reinigt die Substanzen durch stetiges Befeuern auf dem Athanor.«

14

Die brünette Bronja kannte sie seit ihrer Kindheit, ebenso die schüchterne Lisetta mit dem weizenblonden Haar. Dass die beiden gleichaltrigen Mädchen hier droben in der Burg schon eine Stellung gefunden hatten, freute Markéta, auch wenn es sie im Stillen erstaunte: Schließlich war der neue Graf gerade erst eingetroffen, und sie selbst und ihr Vater hatten zu den ersten Bittstellern gezählt.

Aber sei’s drum, dachte sie, mit den beiden Gefährtinnen an ihrer Seite würde sie sich desto leichter eingewöhnen und sogleich zu hören bekommen, was von den Lakaien im Einzelnen erwartet wurde. Lächelnd ging sie auf Bronja zu, die sonderbar steif in der Tür stand. Eben wollte sie die rundliche junge Frau in die Arme schließen, da strich Bronja Slatava ihre blau bestickte Zofenschürze glatt und ging mit einem Knicks in die Knie.

»Was soll das?«, sagte die Baderstochter und musste gegen ihren Willen lachen. Ein Scherz, dachte sie, wenn auch zur Unzeit; in ihrem Rücken spürte sie noch den Blick des unerbittlichen Maître d’Alembert, der sie durch Gänge und Saalfluchten, treppab und wieder treppauf hierher geführt hatte, zur Eingangstür der Frauengemächer, wo Lisetta und Bronja schon auf sie warteten.

Auch Lisetta Kollek, mager und einen halben Kopf kleiner als Bronja, vollführte nun einen unbeholfenen Knicks, und Markéta wurde jählings bewusst, welchem Vorzug die beiden Mädchen wohl ihre Stellung verdankten: Ihre Brüder Mikesch und Vladislav dienten als Soldaten der gräflichen Salvaguardia. Mikesch Slatava hatte sie vorhin mit Jan Mular unten auf der Brücke gesehen.

»Diese Zofen werden für Eure Bequemlichkeit sorgen - Madame«, sagte hinter ihr der Obersthofmeister, vor der förmlichen Anrede gerade so lange zögernd, dass sie die Missbilligung spürte. »Ihr scheint die beiden schon zu kennen, umso besser, sie wurden instruiert, jeden Eurer Befehle auszuführen. A votre service, Madame.« Er deutete eine Verbeugung an und klemmte seinen Stock unter den Arm, dann wandte er sich um und ging mit raschen, tänzelnden Schritten davon.

Markéta wunderte sich über sein Gebaren, aber in ihrem Innern war sie noch immer mit der Szene im Spiegelsaal beschäftigt, mit Don Julius, Flor und dem Vater, die sie alle drei in Verwirrung gestürzt hatten, jeder auf seine Art. Zwischen den beiden Zofen, die abermals mit starren Mienen vor ihr knicksten, trat sie in die Frauengemächer, ein wahres Labyrinth ineinander verschachtelter Salons und Säle. Vom ersten Saal aus, der ganz und gar lachsfarben war - von den Seidentapeten über die Sessel bis zu den Brokatvorhängen - und offenkundig als Empfangsraum diente, zweigten Türen in alle Himmelsrichtungen ab. Hinter jeder offenen Tür erkannte sie weitere Zimmer in Violett und Rosa und hinter diesen neue Säle und Räume, weitere Türen, dahinter wieder kostbare Teppiche und Möbel, mit Gemälden und Gestellen bedeckte Wände, hohe Fenster, durch die in breitem Strahl die Sonne brach.

Von einer Art Schwindel erfasst, blieb Markéta mitten im Empfangszimmer stehen.

»Wenn Ihr die Güte hättet, uns zu folgen, Madame«, murmelte Lisetta.

»Aber wohin denn?«, rief die Baderstochter aus, die sich mehr und mehr fühlte wie im Traum. »Lasst doch den Unsinn, Mädchen, und sagt wie früher Markéta zu mir.«

»Das ist unmöglich«, erwiderte Bronja, »wir haben Anweisung, Euch als Herrin zu behandeln.«

Unbehaglich standen die beiden vor ihr, die Köpfe gesenkt, die Hände ineinander knetend.

»Das kann ja nur ein Missverständnis sein«, sagte Markéta, »was denn sonst? Gerade eben bin ich in den gräflichen Dienst eingetreten, nicht anders als ihr.«

Die beiden Zofen wechselten Blicke, und zu Markétas Verblüffung wurde die hellblonde Lisetta bis hinauf zum scharf gezogenen Scheitel rot.

»Ein wenig anders schon, Madame«, wagte Bronja endlich zu bemerken.

Hinter ihren Demutsmasken spürte Markéta plötzlich die Verachtung der beiden. Aber weshalb nur, überlegte sie und musste neuerlich an den Vater denken, wie er mit gepresster Stimme zu Don Julius sagte: »Es war der sehnlichste Wunsch ihrer verstorbenen Mutter, Markéta wieder in gräflicher Obhut zu sehen.«

Warum hatte er nicht erwähnt, dass sie auch seine Tochter war? Weil er voraussetzte, zu Recht oder nicht, dass der Regent die Verhältnisse von sich aus durchschauen würde? Ja, so wird’s gewesen sein, sagte sich Markéta, die den beiden Zofen gefolgt war, ohne es recht zu bemerken, in einen zartrosa Nachbarraum hinüber und von dort in ein schmaleres Gelass. Ein großer Badezuber stand darin, zur Hälfte gefüllt mit dampfendem Wasser, von dem ein Aroma nach Wildrosen aufstieg.

Bronja trat hinter sie und löste ihr ohne weiteres die Haare, die in ihrem Nacken zu einem dicken Busch gebunden waren. Währenddessen knüpfte ihr Lisetta das Gewand auf, und ehe Markéta sich versah, stand sie splitternackt vor den beiden Zofen. Plötzlich befangen - dabei war sie unter Nackten aufgewachsen -, sputete sie sich, in den Zuber zu steigen, und tauchte bis zum Nabel ins angenehm warme Wasser ein.

»Ihr glaubt, dass ich gedungen wurde, um Don Julius zu Willen zu sein.« In den Gesichtern der beiden las sie, dass sie richtig geraten hatte. Sie horchte ihren Worten nach und wunderte sich, dass der Gedanke sie nicht ärger empörte. Unversehens schien das Antlitz des jungen Regenten wieder vor ihr zu schweben, der gierige, zugleich unstete Blick seiner braunen Augen, die geschwungene Linie seiner Lippen, die zuweilen leise zuckten, wie vor Ekel oder Schmerz. Wäre sie imstande, diese Lippen zu küssen? Für einen Moment schloss Markéta die Augen, rasch sah sie wieder auf. »Hab ich Recht, Lisetta? So antwortet doch! Bronja!«

Die beiden Mädchen wechselten erneut Blicke, blieben aber stumm. Lisetta begann ihr den Rücken abzureiben, und ehe Markéta noch etwas sagen konnte, tauchte Bronja eine Schale in den Zuber und goss ihrer neuen Herrin einen Schwall Wasser übers Haupt.

15

Wenn Julius irgendetwas noch ärger verabscheute als schönes Wetter, dann die schönen Künste, mit denen d’Alembert ihm seit Jahr und Tag in den Ohren lag. Erheiterung des Gemüts, Veredlung des Charakters, Verfeinerung der Seele und des Geistes - all diese und drei Schock weitere herzerwärmende Wirkungen pflegte der Maître seinen Beaux Arts nachzurühmen, offenbar ohne sich jemals einzugestehen, dass er, Don Julius, an keinem dieser Effekte auch nur das kärgste Interesse besaß.

Dennoch saß der junge Regent mit ergebener Miene auf einem Sessel im Fürstensalon, die nachgebildete Ottonenkrone abermals auf seinem Haupt, um die Schultern den scharlachroten Prunkmantel, den er vorhin im Spiegelsaal so gleichgültig abgeworfen hatte. Denn vier Schritte vor ihm stand Giacomo da Biondo, d’Alemberts venezianischer Lieblingsmaler, unablässig hin und her schielend zwischen ihm und dem gerahmten Leinwandfetzen, der schief auf seiner Staffelei lehnte.

D’Alemberts Erfindungsreichtum war unerschöpflich, wenn es galt, Gründe, Ausreden, Vorwände zu ersinnen, warum er, Don Julius, möglichst keine Minute lang allein sein durfte. Der frettchenhafte Giacomo da Biondo mit der Vorliebe für zitronenfarbene Schnabelschuhe war bloß der vorläufig letzte in einer langen Kette von Betreuern, Überwachern, Begleitern, die in d’Alemberts Auftrag ein Auge auf Julius hatten, seit der auch nur einen Finger aus eignem Antrieb regen konnte. Und die Baderstochter Markéta war nur die vorläufig letzte in einer ebenso langen Kette von Personen, die der Kaiserbastard an sich zu ziehen suchte, um nicht ganz allein gegen die Truppen des Maître zu stehen oder um sich für seine immerwährende Ohnmacht zu rächen, zumindest durch Subversion.

Auch das syrakusische Zwillingspärchen, das zu seinen Füßen auf dem Teppich lag und einander mit Zungen und Zehen liebkoste, hatte er hauptsächlich deshalb in sein Gefolge aufgenommen: weil er sofort gespürt hatte, wie sehr die beiden den Maître irritierten, d’Alemberts bemerkenswerter Selbstbeherrschung zum Trotz. Fabrio sogar mehr noch als Lenka, wie Julius nun dachte, denn Mädchen oder Frauen, ob halbnackt wie das schwarz gelockte Hürchen oder von fünf Röcken umschlossen wie Johanna von Waldstein, ließen den alten Charles ganz und gar kalt.

Johanna - für einen Moment sah er das hagere Vogelprofil seiner ewigen Verlobten vor sich, die im Hradschin zurückgeblieben war, glücklicherweise. Johanna, die Frömmlerin, möge sie in Prag verdorren, dachte er. Während da Biondo hingebungsvoll an seinem Gemälde tüpfelte, sprangen Julius’ Gedanken weiter, und auf einmal erblickte er sich selbst als Knaben von fünf oder sieben Jahren, wie er durch den Hradschin geschlichen war, auf der Fährte der väterlichen Majestät. Sein Platz war an der Seite des Kaisers, ja wo denn sonst? Schließlich war er der erstgeborene Sohn, und eines Tages würde er auf dem Thronsessel im Audienzsaal sitzen, umringt von murmelnden Ministern und buckelnden Lakaien. Und Julius sah sich selbst, wie er als kleiner Knabe durch Flure pirschte und sich in Erkernischen drückte, wie er seine Hand nach riesenhaften Klinken reckte und in Dämmersäle, Geisterkabinette spähte, immer auf der Hut vor dem Maître, der jeden Moment aus einer Tapetentür treten konnte, sein Stöckchen auf die Brust seines Schützlings richtend.

Ah, was für eine Lust, den unerbittlichen d’Alembert zu überlisten! Und wie flau er sich zugleich fühlte, wenn’s ihm wieder mal gelungen war. Der Maître würde ihn für sein Vergehen bestrafen, mit ausgesuchten Bußen, wie nur d’Alembert sie ersinnen konnte, und doch trieb es Julius immer wieder, seinem Bewacher zu entschlüpfen, aus den Infantengemächern in die obere Burg zu fliehen, wo sich die väterliche Majestät bei Tag und Nacht in den eigenartigsten Tätigkeiten erging.

Die Prager Hofburg war eine ganze Stadt, ja eine Welt für sich, mit hundert Häusern, zehntausend Kammern und Sälen, die allesamt durch ein Labyrinth aus Gängen, Treppen, Geheimtüren verbunden schienen. Überall huschten Diener in bunter Livree herum, schlurften Beamte, die gepuderten Perückenköpfe im Gehen über Schriftstücke beugend. In endlosen Fluren saßen Edle in spanischer Tracht, aufgereiht wie Trauervögel, und warteten seit Stunden oder Tagen auf eine Audienz bei Ihren Durchlauchtigsten Gnaden. Lakaien lächelten Julius zu, Kammerherren runzelten graue Stirnen, Bittsteller buckelten in Richtung des vorüberschreitenden Knaben, der sich mühte, nach dem väterlichen Vorbild durch sie alle hindurchzusehen.

Einmal dringt Julius bis in einen Bereich der Burg vor, wo er nie zuvor gewesen ist - in ein Kabinett am Ende eines nachtdunklen, nach Schweiß und Galle riechenden Ganges. Leise dreht er den Schlüssel, der auffordernd aus dem Türschloss lugt. Wie ein Schmerz durchzuckt ihn die Ahnung, dass er in diesem Kabinett die Antwort finden wird, auf die Frage nämlich, die seit langem an ihm frisst. Irgendetwas stimmt nicht mit ihm und mit der Welt, die ihn umgibt. Irgendetwas ist falsch und lügenhaft. Er spürt es an tausend geisterhaften Einzelheiten: am Lächeln der Diener und an den Blicken der Kammerherren, an den erkaltenden Zärtlichkeiten der mütterlichen Mätresse und dem Augenzucken, das die väterliche Majestät in seiner Gegenwart befällt. »Schsch, der Bastardsohn«, hat er einmal flüstern hören, als er ein kaiserliches Vorzimmer betrat, und wie er nachher den Maître fragt, wiegelt der auf eine Weise ab, dass Julius jahrelang nicht wagt, zu dieser Frage zurückzukehren. Bastardsohn, seither gaukelt das Rätselwort durch seinen Kopf und seine Träume. Was verbergen, was verschweigen sie nur allesamt vor ihm? Ein Lügengespinst, wahrhaftig wie Spinnweb: Man greift hinein und bekommt nur Fetzen zu fassen. Ich bin sein erstgeborener Sohn, und eines Tages werde ich das kaiserliche Zepter tragen, denkt Julius zum hundersten oder tausendsten Mal, hält den Atem an und schiebt die Tür zum Kabinett auf.

Der Anblick im Innern ist so unerwartet, so sehr aus seinen eignen Schreckensträumen geboren, dass er beinahe aufgeschrien hätte. Im nächsten Moment wird ihm klar, dass die zierliche Gestalt mit dem wächsernen Antlitz über blauer Seidenweste, die in der Kammer vor ihm steht, niemand als er selbst ist, vielmehr sein von Kerzen beschienenes Abbild in der Spiegelwand vis-à-vis. Zu seiner Rechten aber hockt ein kleiner Bursche am Boden, von Kopf bis Fuß braun befeilt, die überlangen Gliedmaßen um den klobigen Rumpf gelegt.

»Ah, mein Bascardbruder«, nuschelt der Kerl, springt Julius aus dem Spiegel entgegen und packt mit pelziger Pratze seine Rechte, um sie kraft- und endlos zu schütteln.

Diesmal kann Julius den Schrei nicht unterdrücken. Er reißt seine Finger aus der Tierpfote heraus, stößt den »Bastardbruder«, der ihm hinterherstürzen will, ins Kabinett zurück, zieht mit schlotternder Hand die Tür zu und dreht den Schlüssel, während der pelzige Schelm drinnen am Riegel zerrt. »Bruder«, hört er, »Bastard -Julius, wie du!«

Er presst sich die Fäuste auf die Ohren und rennt davon, durch den nachtfinstern Flur zurück, Treppen hinauf und hinab, durch Gänge, Dämmersäle, Geistergemächer. Er ist viel zu durcheinander, um auf seinen Weg zu achten oder auf die Diener und Kammerherren, die Blicke wechseln, während er an ihnen vorüberjagt. So hat der Maître diesmal leichtes Spiel, doch auch das ist Julius gleich, ja mehr noch, es scheint ihm nur allzu richtig, dass d’Alembert ihn grausamer als je zuvor bestraft.

Niemals erwähnt Julius vor irgendwem, wen er in jenem Kabinett gesehen hat, und niemals versucht er dorthin zurückzukehren. Noch während er an jenem Tag vor d’Alembert kniet - halbnackt, zitternd vor Kälte, einen schweren Lederfolianten auf dem Kopf balancierend -, sagt er, mehr zu sich selbst als zum Maître: »Und doch werd ich eines Tages das väterliche Zepter tragen, wartet nur.«

»Schweig, Knabe!«, befiehlt d’Alembert mit einer Miene, in der sich Strenge und Erschrecken aufs Wunderlichste mischen.

Nicht lange danach begann sich Julius zu fragen, ob er dem pelzigen Burschen vielleicht bloß im Traum begegnet war. Aber ob in Wahn oder Wirklichkeit, der befeilte Kerl hatte jedenfalls wahr gesprochen: Am Morgen seines achten Geburtstags erklärte ihm d’Alembert, dass er niemals eines der väterlichen Reiche erringen könne, weder das Zepter des Kaisers noch die böhmische Wenzelskrone, da er »bloß in tierischen Begriffen Rudolfs Sohn« sei.

16

Die Gemächer des Regenten lagen jenseits des Spiegelsaals, im äußersten Westflügel der Burg. Diesmal waren es Bronja und Lisetta, die Markéta durch Flure und Zimmerfluchten führten, Treppen hinab und Stiegen wieder hinauf. Angestrengt versuchte sie, sich den winkelreichen Weg einzuprägen. Da hatte sie bald zwei Jahrzehnte im Schatten der Burg gelebt und doch nie geahnt, wie ausgedehnt der Herrschersitz auf dem Moldauhügel war. Vor bald sechs Jahren, als sie, fast ein Kind noch, kurzzeitig in den gräflichen Küchengewölben Dienst getan hatte, war sie niemals über den alleruntersten Burghof hinausgekommen, der sich unmittelbar hinter dem Zugtor über der Stadt erstreckte und damals eher einem Bauernhof ähnelte -erfüllt von den Gerüchen und Geräuschen des Viehs in den Ställen, von den Rufen und Flüchen der Meier und Müller, Bäcker und Schlächter, die im Schatten des alten Hungerturms werkten.

Das Herz zog sich ihr zusammen. Flor, dachte sie, wie mochte es dem Fremdling in seinem Turmverlies ergehen? Wie oft hatte sie damals, als niederste Hilfsmagd der gräflichen Kuchelpartei, zu den Fensterluken emporgespäht und sich schaudernd vorgestellt, in einer dieser Zellen gefangen zu sein. Wilhelm von Rosenberg hatte die Turmfassade prachtvoll bemalen lassen, doch die unteren Etagen, so hatte sie damals die Kuchelmägde munkeln gehört, dienten noch immer als Kerker, hinter dessen Mauern manch ein Unglücklicher lebendig begraben war.

Sie stieg eine Wendeltreppe empor, Stockwerk um Stockwerk hinter Bronja und Lisetta, die in Holzpantinen voranklapperten, und gelangte endlich in einen breiten Gang. Ausgeblichene Teppiche bedeckten den Boden, altersdunkle Ölgemälde jede Handbreit freier Wand. Wohlgeborene Herren blickten unwirsch auf die Baderstochter herab, die meisten von ihnen machten den Eindruck, als ob sie sich in ihren engen Gewändern, kinnhohen Stehkragen, aufgetürmten Perücken unbehaglich fühlten.

Markéta selbst hatte das schwere, burgunderrote Kleid mit dem eckigen Dekollete, das die Zofen im Ankleideraum bereitgelegt hatten, nicht einmal anprobiert, wie sehr Lisetta auch geschmollt und Bronja sie beschworen hatte. Stattdessen war sie die vier Dutzend Kleider durchgegangen, die sich in den Schränken neben dem Badegelass bauschten, und hatte sich rasch für ein hellbraunes, streng geschnittenes Exemplar entschieden, das an gewissen Stellen zwar ein wenig eng saß, jedoch die beiden entgegengesetzten Übertreibungen der restlichen Modelle vermied: Weder reichte sein Kragen bis zu den Ohren hinauf, noch entblößte sein Dekollete den Busen bis knapp über dem Nabel. Anstelle der bequemen Pantinen, die sie zu Hause zu tragen pflegte, wenn sie nicht gleich barfüßig umherlief, hatte sie allerdings ein Paar türkisfarbener Chopinen wählen müssen, sieben Zoll hohe Stelzschuhe, die als Einzige ihren Füßen genügend Raum boten.

Unsicher schwankte sie auf den Chopinen voran, und bei jedem Schritt kniff das Kleid sie in der Taille. Von ihrem Kampf gegen Stehkragen und Dekolletes ermattet, hatte sie unter halbherzigen Protesten geduldet, dass Bronja ihr die Haarspitzen bleichte und Lisetta ihr rosa Schminkpuder auf die Wangen tupfte. Und mit jedem Duftspritzer, jedem Pinselstrich hatte sie sich ängstlicher gefragt, ob sie nicht wahrhaftig zu jenem Zweck gedungen worden war, den sie vorhin in den Gesichtern der beiden Zofen entziffert hatte: als gräfliche Liebesdienerin oder allenfalls als seine Mätresse, falls es ihr gelänge, die Zuneigung des jungen Herrn zu erringen, über erste Glut und Brunst hinaus.

Die Hitze stieg Markéta in die Schläfen, vor Empörung und Scham, aus keinem anderen Grund, auch wenn sie nun aufs Neue jene ziehende, keineswegs geheure Erwartung in ihrem Innern spürte. Der Blick seiner braunen Augen, dachte sie wieder, das leise Zucken seiner Lippen, das darum zu flehen schien, durch einen Kuss gestillt zu werden, die Moschussüße seiner Haut ...

Bronja und Lisetta blieben so unvermittelt stehen, dass Markéta beinahe gegen sie lief. Die blonde Zofe klopfte an eine Tür, beide lauschten, dann drückte Bronja die Klinke und sank, noch während die Tür aufging, zu einem Knicks zusammen.

»Euer Gnaden - Madame Markéta!«

17

»Hier bin ich, Exzellenz«, sagte die Baderstochter mit ihrer klaren, ein wenig spröde klingenden Stimme und trat ohne weiteres an der knicksenden Zofe vorbei ein.

Julius war aus seinen Grübeleien aufgeschreckt und sah ihr entgegen, wie sie mit störrischer Miene auf ihn zukam, Rücken und Hals hoch aufgerichtet, obwohl sie ihm geradewegs ins Antlitz sah, ihm, Don Julius Caesar, Graf von Krumau, ihrem durchlauchtigsten Herrn. Auch Giacomo da Biondo hatte sich halb zur Baderstochter umgewendet, mit verdrießlicher Miene, doch Markéta nickte ihm nur zu und ging langsam weiter ins Zimmer, dabei ihren Blick aufs Fenster heftend.

Na meinethalben, dachte Julius, vor sich selbst konnte er’s ja eingestehen: Was ihm an dieser Bürgersmaid gefiel, war nicht nur ihre Verwendbarkeit in dem flauen Spiel, das er seit Jahr und Tag gegen seinen Maître spielte. Er brauchte sie nur anzusehen, da begann sich sein Gemüt wie durch einen Zauber aufzuheitern. So etwas war ihm noch nie geschehen, schon gar nicht bei einem einfachen Mädchen aus dem Volk oder bei einem der Hürchen in den Schänken, die sich unterm Hradschin duckten. Mariandl!, durchfuhr’s ihn. Gewaltsam riss er seine Gedanken von ihr los.

»Das berühmte Moldau-Panorama der Rosenberger«, sagte er stattdessen, da Markéta immer noch zum Fenster schaute, »nur dem Pinselknecht zuliebe sind die Vorhänge aufgeblieben.« Mit dem ebenso berühmten Habsburger-Kinn deutete er auf da Biondo, ohne die Baderstochter aus dem Blick zu lassen. »Wenn du mich erst besser kennst, wirst du wissen, dass ich schöne Aussichten genauso hasse wie Sonnenschein, ob nun vom Himmel brennend oder in Öl gebannt.«

»Ich glaub, das ahnte ich schon, als ich Euch vorgestern das erste Mal zu sehen bekam«, antwortete sie mit einem kleinen Lächeln, das jedoch gleich darauf erstarb: Ihr Blick war von seinem Antlitz abwärts geglitten, an der schillernden Fläche des Prunkmantels hinunter bis zum Boden, wo die schamlosen Zwillinge ineinander verklammert lagen.

In seinem Gefolge, dachte Julius, wurden seit Wochen immer waghalsigere Wetten veranstaltet, wer die kleine Helena als Erstes schwängern würde, und die höchsten Einsätze galten ihrem Bruder Fabrio. Voller Verblüffung musterte er die Baderstochter, in deren Wangen wahrhaftig Röte aufstieg, wie in einem Kelch, den der Mundschenk mit Tokaier füllte. Sein Erstaunen wich der Rührung. Sie ist tatsächlich so unschuldig, wie ich’s vermutet hatte.

Noch immer ohne seinen Blick von ihrem Gesicht zu lösen, das nun bis zur Stirn hinauf entflammt war, stieß er mit beiden Füßen blindlings nach den Syrakusern: »Lenka, Fabrio - ab mit euch, ihr belästigt Madame durch eure Lutscherei.«

Die Zwillinge rappelten sich auf und waren im Nu durch eine Tapetentür verschwunden. Auf Julius’ Wink hin ließ auch da Biondo den Pinsel sinken, klemmte seine Staffelei unter den Arm und machte sich rückwärts buckelnd auf zitrusgelben Schnabel schuhen davon. Schon waren sie allein im Fürstensalon, dessen prachtvolle Einrichtung - scharlachrote Seidentapeten und schwere Sofas von der gleichen Farbe - die Baderstochter nun erst wahrzunehmen schien. Ihr Blick schweifte umher, doch die plötzliche Stille und ihre Zweisamkeit mochten ihr Unbehagen bereiten - ihre Wangen, eben noch von feuriger Röte, wurden mit einem Mal fahl.

»Ich hatte befohlen, dir das venezianische Kleid mit dem eckigen Dekollete umzuschnüren«, sagte Julius. Er beugte sich vor und machte Anstalten, mit der Rechten nach ihrem Kleid zu haschen. Markéta wich zurück und geriet auf ihren Stelzschuhen ins Schwanken. »Nimm Platz, wo du willst«, fuhr er in gleichmütigem Ton fort, »oder bleib auf diesen albernen Schuhen stehen, wenn’s dir lieber ist. Du machst sowieso, was du willst, das hab ich gleich gespürt, als du auf der Brücke vor mir standest. Und was mich betrifft: Momentan hab ich andres im Sinn als dein Kleid und was es vorläufig vor mir verbirgt.«

Er unterbrach sich und krauste die Stirn, seine Unterlippe zuckte.

»Was wisst Ihr von dem Nabellosen, den Ihr mir heute gebracht habt - von diesem Flor? Lasst hören, Madame.«

»Mit Vergnügen, Exzellenz«, gab sie zurück, »wenn Ihr mir gelobt, dass ihm in Eurer Burg kein Leid geschieht.«

Julius wollte schon aufbrausen, was erlaubte sie sich, ihm, ihrem Herrn, Bedingungen zu stellen? Doch auf einmal kitzelte ihn ein Lachreiz in der Kehle. Er erhob sich von seinem Sessel und warf abermals den albernen Prunkmantel ab, nahm die Ottonenkrone von seinem Kopf und ließ sie zum Umhang auf den Sessel gleiten. Unter dem Scharlachtuch trug er schwarze Strumpfhosen nach spanischer Mode, dazu Stulpenstiefel und schwarze Weste, eng anliegend in der Manier der väterlichen Majestät. Nur zu dem hohen Stehkragen, dessen Krause andauernd an Hals und Ohren kratzte, hatte er sich nie verstehen können. »Ich gelob’s, Madame«, sagte er und musste noch stärker grinsen, als er ihren argwöhnischen Blick sah. »Euer Nabelloser und Ihr selbst steht unter meiner persönlichen Obhut.«

18

»Den Kaiser zum Vater zu haben, das ist fast wie Gottes Sohn zu sein, verstehst du? Aber ein verstoßener Sohn, soweit es mich betrifft: eher Satan als Jesus Christus.«

Eigentlich hatte er doch sie zum Sprechen bringen wollen, wunderte sich Julius, für einen Moment innehaltend. Aber sie hatte nur die Schultern gehoben und einen halblauten Halbsatz gemurmelt, und seither redete er mit immer hitzigerer Inbrunst auf sie ein.

»Durch mein väterliches Erbteil bin ich von den Himmelsmächten zum Kaiser des Heiligen Römischen Reichs bestimmt, von der Mutterseite dagegen zum Kunsthändler wie Großvater Jacopo - begreifst du, was das heißt? Das matte Blut der seit Generationen Gemälde verhökernden da Stradas - in meinen Adern mit den heiligsten Habsburger Säften vermengt! Ahnst du nun, welcher Riss durch meine Seele geht, Markéta, wie der abscheuliche Bilderhändler in meinem Innern immer wieder meine edelsten Regungen verhöhnt? - Ah, wie könntest du’s verstehen, Baderstochter!«, fiel er sich selbst ins Wort, als er ihre Miene sah, in der sich Mitleid mit Erschrecken mischte. »Oder gar, was es für mich bedeutet, hierher verbannt zu sein!«

»Verbannt, Exzellenz?«, wiederholte sie und sah ihn so bekümmert an, als ob der kaiserliche Stoß sie selbst getroffen hätte.

Wie brachte sie ihn nur dazu, ihr seine geheimsten Gefühle zu offenbaren? Das war ja gerade so, als ob sie ihn verzaubert hätte! Er machte eine wegwerfende Armbewegung. »Zurück zum Nabellosen. Du weißt nicht, woher er kam? Dann lass es dir vom Kaiserbastard sagen, kleine Maid.«

Er trat auf sie zu, und Markéta setzte wieder ihr störrisches Gesicht auf. »Ihr seid ihm schon mal begegnet, Exzellenz?«, fragte sie. »Aber warum wart Ihr dann so verwundert, als der Vater Euch zeigte, was es mit Flor auf sich hat?«

»Die Exzellenz steck dir einmal sonst wohin«, gab Julius zurück, »meinethalben in deinen Busen oder auch weiter südlich.« Er weidete sich an ihrem Schrecken, der die störrische Maske wieder brüchig werden ließ. »Nenn mich gefälligst Don Julius oder, besser noch, einfach Julius. Ich befehl’s.«

Er bot ihr den Arm, und nach kurzem Zögern hängte sich Markéta bei ihm ein. Sie hat just die richtige Größe, dachte Julius, er verabscheute Frauen, die ihn körperlich überragten, was allerdings nur wenigen glückte, sogar mit Hilfe der modischen Stelzschuhe, doch ebenso wenig vertrug er’s, neben einer Frau zu schreiten, die weit kleiner war als er. Beides schien ihm unwürdig, Sinnbilder seiner widrigen Lage: Die Riesin drohte ihn in Bastardtiefe niederzuhalten, die Zwergin verhöhnte sein Streben als Überhebung. Mit Markéta indessen, deren Scheitel ihm bis über die Schulter reichte, fühlte er sich gleich behaglich und vertraut.

»Gehen wir zum Turm«, sagte er, »da wird sich zeigen, ob dein Flor wirklich jener ist, der mir verheißen wurde.«

»Verheißen?«, wiederholte sie und machte große Augen, während Julius sie zur Tür hin mit sich zog.

»Na, durch den Kometen«, erklärte er, nun doch wieder befremdet über ihre Begriffsstutzigkeit. »Letzte Woche stand der Schweifstern über der Prager Burg, brandrot und von der Gestalt eines Drachen, und ein gewisser Astrolog hat ihm abgelesen, dass mich weitab von Prag eine künstliche Figur aufsuchen werde, erschaffen durch alchymische Magie. Et voilà!«

Von der Seite her lachte er ihr ins Gesicht, dabei die widerstrebende Markéta, die sich nur mühsam auf ihren Chopinen hielt, immer weiter mit sich ziehend, den Gang mit den altersdunklen Krumauer Ahnen entlang und die breite Haupttreppe hinab in den innersten Burghof, dessen Wände Wilhelm von Rosenberg vor vierzig Jahren mit illusionistischen Plastiken hatte bemalen lassen, mit Pilastern und Scheinnischen, Fenstern, Friesen und Reliefs.

»Der alte Rosenberg«, bemerkte Julius, »hätte besser getan, die mürben Mauern niederreißen zu lassen, statt sie mit Lüge und Täuschung zu bepinseln.« Er zog Markéta, die staunend um sich sah, immer weiter, den abschüssigen Platz hinunter und auf den Durchgang zum zweiten Burghof zu. »Wilhelm war ein unverbesserlicher Kunstnarr - einerseits«, fügte er hinzu, »andererseits ein weiser Mann und bedeutender Adept. Weißt du übrigens, dass ich schon als Junge ein paarmal hier in Krumau war?« Unvermittelt blieb er stehen. »Einmal war ich dabei, im Gefolge meines Vaters, als der alte Wilhelm droben in seinem Garten Goldtaler pflanzen ließ.« Er lachte laut auf, als er Markétas entgeistertes Gesicht sah, beugte sich plötzlich über sie und drückte ihr einen Kuss auf die Lippen. Dann zog er sie weiter mit sich, in den tieferen Burghof hinab, ohne sich um die Röte zu bekümmern, die ihr Antlitz in Flammen setzte.

Wie wundersam vertraut er sich mit ihr fühlte, vielleicht gar nicht viel anders, als die väterliche Majestät sich an der Seite der mütterlichen Mätresse empfand? Der zweite Burghof war weit belebter als die obere Burg, in der sie bloß ein paar Domestiken begegnet waren. Hier auf dem weiten Platz, der von den Strahlen der Abendsonne beschienen wurde, tummelten sich die Künstler und ihr lärmendes Gefolge, die syrakusischen Zwillinge wie immer mittendrin. Die einen musizierten mit Harfen und Flöten, andere brüteten mit wichtigen Mienen über ihren halbfertigen Bildern oder warfen mit fliegenden Fingern Kohlerisse auf Papierbögen, die sich im leichten Wind bauschten. So häupterreich sein Gefolge auch sein mochte, dachte Julius, in dieser Riesenburg war es doch nur ein kümmerliches Häuflein, das sich in den labyrinthischen Gemäuern fast verlor. Aber das würde sich ändern, wie Mariandls Astrolog vorausgesehen hatte. Sehr bald schon.

Ohne die Zurufe, Demutsgesten seiner Schranzen und Schmarotzer zu beachten, schritt Julius weiter abwärts, hinein in den finsteren Gewölbegang, der in steilem Gefalle hinunter zum ersten Burghof führte. Als sie den grabeskalten Tunnel hinter sich ließen, ragte vor ihnen, auf der andern Seite des lang gestreckten Platzes, auf dem Pferde, Kutschen und Kaleschen in buntem Durcheinander standen, der Hungerturm empor, himmelhoch und von Wilhelms Meistern mit venezianischen Lügen bemalt.

»Die Alchemie ist die wahre Mutter aller Künste und Wissenschaften«, sagte Julius, während sie an dem salutierenden Wächterduo vorbei in den Hungerturm traten, »und bald schon wird sie auch die neue Mutter und Amme der Menschheit sein: durch mich.«

Einer der beiden Wächter, ein fuchsroter Schlacks in der Uniform der gräflichen Salvaguardia, sah ihnen mit entgeisterter Miene hinterher. Er mochte Markéta aus früheren Tagen kennen, wie Julius sich sagte, vielleicht hatte sich der Tölpel gar in die wohlgestalte Baderstochter vergafft? Von dieser Vorstellung angeregt, entzog er Markéta seinen Arm und legte ihn stattdessen um ihre Taille. Schlank und fest fühlte sie sich an unter dem schlichten, hellbraunen Kleid. Und starr wie eine Steinsäule, als sie seine Umschlingung spürte, aber er lachte ihr nur leise ins Ohr und schob sie die enge Wendeltreppe hinauf.

»Wenns erst so weit ist«, sagte er, »habt ihr Weiber als Gebärerinnen ausgedient, was aber nicht heißen will, dass eure Brüstchen und Fötzchen nicht mehr gebraucht würden.« Er blieb unvermittelt stehen, zog sie an sich und drückte seine Lippen auf die ihren. Mit der Zunge zwängte er ihren Mund auf. Überraschend leicht gab sie nach, aber nur für einen Moment der Überrumpelung, dann stieß sie ihn mit beiden Händen von sich.

»Dankt Eurem Namen und Rang, durchlauchtigster Herr«, sagte sie so betont, wie ihr keuchender Atem es zuließ, »dankt dem Respekt, den ich vor Euch als dem Grafen von Krumau empfinde, oder meinetwegen auch nur meiner Angst, wie der arme Flor in diesen Kerkerturm geworfen zu werden. Einem andern hätt ich das Knie zwischen die Schenkel gestoßen, Euch ruf ich nur zu: Schande dem Mann, der einem Weib Gewalt antut!«

Ihre grünen Augen blitzten ihn an. So nah vor ihm schwebte noch immer ihr Antlitz, dass er an sich halten musste, um sie nicht abermals auf ihren kirschroten Mund zu küssen. »Gewalt?«, wiederholte er in ehrlichem Erstaunen. »Ich räum ja ein, dass ich mir schon manche Frucht gepflückt hab, ohne den Baum lang um Erlaubnis zu fragen. Aber da ging’s ein wenig anders zu, Madame.« Aufmerksam sah er sie an. Wie töricht sie sich verhielt, dachte er, und wie seltsam, dass es bei ihr gar nicht lachhaft wirkte, eher wie ein Ausfluss natürlicher Würde.

Sein Blick glitt an ihr hinab, von den blitzenden Augen über den störrisch zusammengekniffenen Mund bis zu ihrem Busen, der unter dem hochgeschlossenen Kleid vor Aufregung bebte. Was ihn selbst anging, seine Ekstase war fürs Erste perdu. Er richtete seine Beinkleider, bot ihr aufs Neue den Arm und zog sie weiter die Treppe hinauf.

Auf der ersten Plattform zweigte ein Gang ab, schmal und düster. Weiter hinten waren Seufzer zu hören. »Der Komet«, sagte Julius, tief in Gedanken, »hatte nicht die Gestalt irgendeines Drachen. Es war Ouroboros, verstehst du: der Drache der geheimen Künste, der sich in den eignen Schwanz beißt.«

Markéta warf ihm von der Seite einen Blick zu, als wollte sie sagen: Das solltet Ihr auch erwägen, Exzellenz, aber Julius nahm es allenfalls am Rande wahr. Eilends zog er die Baderstochter in den Gang hinein, der nur von einigen Wandfackeln erleuchtet wurde und nach einem Dutzend Schritten vor einem rostigen Gitter endete.

Dahinter hockte der schmale Bursche am Boden, in bunter Lumpenhose, vom Gürtel aufwärts noch immer entblößt. Sein verworrenes Haar glitzerte selbst im Dunkeln. Mit dem nabellosen Rumpf und dem funkelnden Schopf schien der knäbische Elf beide Verheißungen der Alchemie zu verkörpern: die Erzeugung von Gold und die Erschaffung menschlichen Lebens. Beiden Geheimnissen ließ auch die väterliche Majestät von den besten Alchimisten des Abendlandes mit fiebriger Eile nachspüren, von Edward Kelley und Bavor Radowsky, John Dee oder Vaclav Lanvin. Denn die kaiserlichen Schatzkammern waren ebenso leer wie die Kasernen des von Seuchen und Glaubensschlachten verheerten Reiches, und nur durch das zwiefache Mirakel, nur wenn Goldklumpen und Wehrknechtsbälger zu Hunderten aus der alchimistischen Retorte quollen, konnte die väterliche Majestät hoffen, Thron und Kaiserwürde zu wahren.

»Ich werd das Wunder erzwingen«, sagte Julius, indem er dicht vor die Gittertür trat und zwei Stäbe mit den Händen umfasste, »das zwiefache Mirakel, so wie’s mir verheißen worden ist und in Gestalt dieses künstlich Geschaffenen schon anhebt, sich zu erfüllen.« Und wer will mich dann noch hindern, nach Prag zurückzukehren, setzte er in Gedanken hinzu, ja wer könnte mir dann noch das väterliche Zepter streitig machen: mir, dem Retter des heiligen Habsburgerreichs?

Flor, der eben noch wie ohnmächtig im Stroh gehockt hatte, hob langsam den Kopf. »Kü-künstlich geschaffen!«, wiederholte er, und diesmal klang sein Echo nicht klagend, sondern eifrig, ja begeistert, als stimme er der Rede des Regenten aus tiefstem Herzen zu.

Er rappelte sich auf, ohne Julius aus den Augen zu lassen; für Markéta hatte er kaum einen Blick. Mit tapsenden Schritten trat er auch seinerseits ans Gitter, dicht vor Julius, und legte seine Hände um dieselben Gitterstäbe wie dieser, knapp unter den weit wuchtigeren Fäusten seines Herrn. »Kü-künstlich geschaffen«, sagte er erneut, und seine heisere Stimme hallte von den Turmwänden wider, »eignen Schwa-wanz beißt!«

Aufmerksam sah Julius den Burschen an, seine verschiedenfarbigen Augen - eines wölfisch gelb, dabei ins Braune spielend wie die meinen, dachte er, das andere grün wie die Augen Markétas. Er fasste durchs Gitter und packte Flor am Arm.

Der Nabellose wand sich und begann aufs Neue zu seufzen und zu klagen, doch Julius hielt ihn nur umso fester. »Wo hast du deinen Meister gelassen?«, fragte er mit einer Stimme, die vor tückischer Sanftheit vibrierte. »Denn du bist doch deinem Herrn entfleucht? - Das weiß ich mit Gewissheit«, erklärte er Markéta, die starr und stumm zusah. »Mariandls Astrolog hat’s mir gleichfalls prophezeit: Der künstlich Geschaffene wird mit seinem Schöpfer hier erscheinen. Da kann er uns gleich eine weitere Probe seiner Meisterschaft geben - in den Gewölben droben am dritten Burghof, wo Wilhelms Laboratorien nur auf ihre Wiedererweckung warten.«

Auch seine Linke schob Julius nun zwischen die Stäbe, umfasste Flors Nacken und zog ihn so nah zu sich heran, wie das rostige Gitter es zuließ. Dann beugte er sich zu dem um Haupteslänge Kleineren hinab, drückte seine Lippen auf Flors und schob ihm die Zunge in den Mund, wie er’s vorhin bei Markéta erprobt hatte.

Als der Kaiserbastard sich wieder aufrichtete und seine Hände aus dem Käfig zog, taumelte Flor von der Gittertür zurück, mit kummervollem Schrei.

»Er schmeckt nach ... Melisse und Mondkraut«, verkündete Julius nach einigem Sinnen, »nach Gold und dem Samen Saturns.«

»Mu-mumia und Melisse«, murmelte es aus dem Halbdunkel des Kerkers, »Homunkel und . He-hezilow!«

»Hezilow?«, rief die Baderstochter und trat zu Julius’ Verblüffung nun ihrerseits dicht an die Gittertür heran. »Bist du wirklich mit ihm gekommen? Flor, hörst du mich - mit Hezilow?«

»He-hezilow!«, wiederholte der Goldschopfige und richtete seinen zwiefarbigen Blick auf Markéta. »Hö-hörst du mich?«

19

Stumm und starr sah Markéta zu, wie Julius abermals ans Gitter trat und den Nabellosen ins Verhör nahm. Sie kam sich vor wie im Traum.

»Dann ist also jener Hezilow dein Meister, der dich erschaffen hat durch seine alchymische Magie?«

»Mei-meister, ja!«

Wie unheimlich diese Worte in ihren Ohren klangen, und wie sehr sie gleichwohl hoffte, dass Julius weiter und weiter fragen möge, damit sie neben ihm stehen bleiben und ihn unverwandt ansehen könnte: seine schlanke, kraftvolle Hünengestalt, sein kühnes Profil mit dem spitzen Kinn und dem düsteren Zug um seine Lippen, die schon wieder vor Schmerz oder Erregung zuckten.

Er ist voller Bitterkeit und Finsternis, dachte sie. Oft genug hatte sie gesehen, wie selbst starke Männer erblassten, wenn nur der Name dieses Kaisersohns fiel: Don Julius Caesar d’Austria. Ihr aber flößte er nicht Furcht ein, sondern den höchst beunruhigenden Drang, das Zucken seines Mundes mit ihren Lippen zu stillen.

»Also noch einmal, du elende Kreatur: Wo ist der Magister -so red schon, wo hält er sich auf?«

»Kre-kreatur!«

Sie richtete ihren Blick auf Flor, der sich im hintersten Winkel seiner Zelle zusammengekauert hatte, den Goldschopf auf die Brust gesenkt. Julius stand noch immer dicht vorm Gitter, zwei Stangen so fest umfassend, dass die Knöchel kalkweiß aus dem Braun seiner Hände hervorstachen.

»Ich kenne Hezilow«, sagte sie leise. Julius wandte sich um zu ihr, auch Flor in seinem Winkel hob den Kopf und spähte zu ihr herüber.

»Ein Puppenmacher aus Moskau - das behauptet er jedenfalls«, fuhr sie fort. »Seit einer Woche hockt er an jedem Vormittag bei uns im Zuber.«

»Ein Puppenmacher?«, wiederholte Julius. »Aber ja, das muss er sein - der Erleuchtete, der mir prophezeit worden ist, ein Alchimist, der aus Erde und Licht lebendige Puppen erschafft.« Er ließ die Gitterstäbe los, drehte sich vollends herum und war mit einem einzigen raubtierhaften Satz bei ihr. »Erzählt mir von diesem Hezilow, Madame - wo wohnt er, was wisst Ihr noch von ihm?«

»Wo er haust, weiß ich nicht«, sagte sie rasch. Tatsächlich wusste sie überhaupt nichts mehr, zumindest nicht in diesem Augenblick, so schwindlig machten sie Julius’ Nähe und die ganz und gar fremde Welt, in die sie geraten war. Hezilow ein erleuchteter Magister? Und der Nabellose seine Kreatur, von dem verrückten kleinen Russen erschaffen aus Sonnenlicht und Dreck? Und jetzt legte Julius auch noch seine Hände um ihre Mitte und zog sie mit einer raschen Bewegung an sich heran. »Nach meiner Erfahrung, Exzellenz«, fuhr sie atemlos fort und versuchte ihn zum Gitter hin wegzuschieben, »taucht der Kerl immer dann auf, wenn man ihn am wenigsten gebrauchen kann.«

»Dann zwingen wir ihn so unfehlbar herbei.« Er zog sie noch enger an sich, und sein heißer Atem strich ihr übers Gesicht. »Denn im Moment, ich gesteh’s, wünsch ich den Puppenmacher wahrhaftig zum Teufel.« Er presste sie an sich.

»Lasst mich los, Don Julius - oder ich schrei!«

Die Drohung schien ihn zu erheitern, jedenfalls ließ er ein leises Glucksen hören, während seine Hände sich wie Klammern um ihre Mitte schlossen. Markéta wurde angehoben und verlor buchstäblich den Boden unter den Füßen. Zugleich näherten sich Julius’ Lippen energisch ihrem Mund. Für einen Moment wurde ihr so schwindlig, dass sie nur noch tanzende Schatten vor Augen hatte. Irgendwo hinter ihnen stieß der Nabellose kurze, hohe Schreie aus, die wie die Laute eines verstörten Vogels klangen. Wenn Flor wirklich von Hezilow erschaffen wurde, dachte sie benommen, muss er doch aus jener Nebelwelt kommen? Aber dann müsste er ja wahrhaftig wissen, worunter Mutter Bianca dort so sehr leidet und wie ich ihre Qualen lindern kann.

Sie selbst fühlte sich wie im Nebel. Endlich wurde ihr Blick wieder klarer, und da fand sie sich in Julius’ Armen eher liegend als stehend, seine Lippen zwei Zoll vor ihrem Mund. Was bildet er sich ein?, dachte sie erschrocken. Ich bin doch nicht seine Hur!

»Euer eigner Vater hat Euch verbannt?«, stieß sie hervor, in dem verzweifelten Versuch, seine Leidenschaft abzukühlen. »Aber warum denn?« Kaum hatte sie es in gepresstem Ton gefragt, als seine Gestalt schlaff wie eine Lumpenpuppe wurde. Seine Hände sanken herab, und er wich zurück von ihr. »Eine Intrige«, murmelte er. »Ich soll ein . eine Maid gemeuchelt haben - das Mariandl. Aber es ist nicht wahr!«

Eben schien Julius zu weiteren Eröffnungen anzuheben, als von der Treppe her schnelle Schritte erklangen. Drei hastige Herzschläge später stand ein Soldat der gräflichen Salvaguardia vor ihnen.

»Melde gehorsamst, Euer Gnaden - am untern Burgtor wartet ein Subjekt, das Euch dringend zu sprechen begehrt.«

»Wie heißt der Mann?«, fragte Julius, dessen Schultern sich bei diesen Worten bereits wieder strafften.

»Er nennt sich Jurij Hezilow, Exzellenz, und gibt vor, ein kaiserlicher Puppenmacher zu sein.«

Julius warf Markéta einen strahlenden Blick zu. »Ausgezeichnet«, sagte er. »Geleite Madame zurück in die Frauengemächer - deine Herrin. Ich selbst werde den Magister am Tor empfangen.«

»Aber ich will nicht in die Frauengemächer«, protestierte Markéta, »Ihr könnt mich nicht einfach .«

Julius’ helles Lachen brachte sie zum Verstummen. »Warte nur, Badersmaid.« Er beugte sich zu ihr hinab und führte seine Lippen dicht vor ihr linkes Ohr. »Du wirst staunen, was ich alles kann!«

Immer noch lachend, richtete er sich wieder auf, zwinkerte ihr jungenhaft zu und lief schon die Treppe hinab, so rasch, dass seine Schritte den Turm mit polternden Echos füllten.

Dreister Aufschneider, dachte Markéta, doch das Herz klopfte ihr bis zum Hals. Im Grunde fand sie es lächerlich, wenn Männer sich so imposant betrugen wie die Hirsche im Wald. Bisher hatte sie erst ein einziges Mal die Küsse und Umarmungen eines Burschen geduldet, zwei Jahre war das her. Und damals war sie es gewesen, die den jungen Freier draußen am Moldauaufer überrumpelt hatte: Auf geht’s, Brodner Franz, leg dich her zu mir und küss mich! Bei Don Julius aber verhielt es sich anders. Wenn er sich so herrisch betrug, spürte sie immer den Schmerz und die Bitterkeit, seine Scheu und Einsamkeit, die er hinter anmaßenden Gebärden verbarg.

»Bitte folgt mir, Madame, Ihr habt gehört, was der Herr Graf befohlen hat.«

Die seltsam vertraute Stimme riss Markéta aus ihren Grübeleien. Als sie aufblickte, stand vor ihr just der Bursche aus verliebten Jugendtagen, an den sie eben gedacht hatte: mit denselben semmelblonden Haaren und wasserhellen Augen wie vor zwei Jahren, nur dass seine Gestalt ungemein kräftig geworden und vom moldaublauen Drillich der gräflichen Gardistenuniform umschlossen war.

»Franz?«, sagte sie. »Bist du’s wirklich?« Sein Grinsen, halb erfreut und halb verlegen, bewies, dass er’s tatsächlich war.

»Der Brodner Franz?«, rief Markéta aus. »Mikesch hat mir ja schon erzählt, dass du auch zu Don Julius’ Garde gehörst. Aber wie du dich verändert hast, Kerl! Und redest mich hier an mit >Befehl< und >Madame<, ohne ein Zeichen, dass du mich erkennst? Heda, Franz, hat dir jemand’s Maul zugenäht?«

»Klar hab ich dich erkannt«, sagte der Gardist und wagte anscheinend nicht die Stimme zu heben. Auch blieb er starr vor ihr stehen wie eine Ritterrüstung, nur seine Augen huschten unruhig hin und her. »Aber mir als Soldat steht’s ja nicht zu, mit dir zu reden - mit Euch, Madame«, fügte er hinzu und richtete auch die Augen wieder starr geradeaus.

»Ach, Franz«, sagte Markéta mit einem Seufzen, denn auf einmal war ihr alles wieder eingefallen: wie langweilig der Brodner Franz sein konnte, ergeben, gewissenhaft und von einschläfernder Einfallslosigkeit. »Na, dann bring mich halt in die Frauengemächer«, sagte sie, »Befehl ist Befehl, oder?«

Gardist Brodner schlug die Hacken zusammen. »So ist es, Madame!«

20

Maître d’Alembert lief auf den dritten Burghof hinaus und vergaß für Momente sein Unbehagen, versunken in den Anblick der wundervollen Wandgemälde, für die Wilhelm von Rosenberg den legendären Gabriele gewonnen hatte. Andere Fürsten des letzten Jahrhunderts, dachte er, ließen ihre Burgen niederreißen und antikische Säulenhallen mit Plastiken, Reliefs und Fresken nach neuem Geschmack errichten. Der große Wilhelm aber, Ritter vom Goldenen Vlies, ließ sich, weit kühner und genialischer, Kapitelle und Skulpturen auf die alten Mauern malen.

Don Julius, durchfuhr es ihn gleich darauf, er musste seinem Schützling ins Gewissen reden, unverzüglich. Katharina da Stradas Brief bedrückte ihn immer stärker, je länger er über ihn nachdachte:

»Vollkommene Ruhe in Krumau, oder der kaiserliche Zorn wird uns alle verderben.« Er würde offen mit seinem Schützling reden, dachte er, so offen jedenfalls, wie es irgend ratsam schien. Don Julius einschüchtern, das hatte bisher immer noch gewirkt, selbst wenn alle anderen Mittel versagten. Er muss mir schwören, sagte sich der Maître, dass er sich an Recht und Gesetz halten wird, zumindest bis das Jahr sich neigt. Schaudernd sah er die Umrisse eines mährischen Bauerngehöfts vor sich, Julius und er selbst zwischen windschiefen Scheunen und schlammverkrusteten Ochsenkarren. Das ist Verbannung, mon ami! Aber so weit würde er es nicht kommen lassen, dafür hatte er nicht bald zwei Jahrzehnte lang an der Bändigung des Bastardsohns gearbeitet: um sich auf seine alten Tage mit mährischen Ochsen und Knechten herumzuschlagen!

Mit einem Seufzer wandte sich d’Alembert nach rechts, zum vierten Hof hinauf, hinter dem sich die gewaltige Mantelbrücke hoch über der Moldau ausspannte. Dahinter begann schon die Allee, die steil bergan zum Schlosspark führte. Julius’ Kammerdiener Robert hatte ihm zugerufen, dass der Herr mit der Baderstochter hinauf in den Garten wollte, zum künstlich angelegten Teich, auf dem paarweise schwarze Schwäne schwammen, oder in den ausgedehnten Irrgarten, den gleichfalls der alte Wilhelm hatte anlegen lassen.

Während d’Alembert weitereilte, bewunderte er einmal mehr die vollkommene Komposition von Burg Krumau und verfluchte zugleich die Weitläufigkeit der Anlage, eine ebenso abgeschlossene Welt wie der Hradschin zu Prag. Um fünf Höfe gruppierte sich eine kleine Stadt, die selbst im Belagerungsfall für sich bestehen konnte, mit eigenem Theater, kaiserlichem Appartement, drei Dutzend Prunksälen, mit vierzig riesenhaften Gebäuden, deren größtes nicht weniger als neunundachtzig Zimmer umfasste, zumindest laut dem Inventar, das beim Verkauf der Burg an Rudolf II. angefertigt worden war. Dazu Kellergewölbe, die man mit vierspännigen Kutschen befahren konnte, Stallungen für fünfhundert Pferde, Werkstätten, Scheunen und Eishäuser rings um den ersten, am tiefsten gelegenen Hof; sogar eine Apotheke und ein Krankenhaus für die Dienstboten gab es dort, Schmiede und Meierei, Käserei und Brauerei, außerdem Pulver- und Waffenkammer. Doch das alles war seit Wilhelms Tod verwaist und verrottet. Und auch durch uns, sagte sich d’Alembert, durch Don Julius’ fragwürdiges Gefolge aus Schranzen und Künstlern, wird Burg Krumau nicht mehr zu alter Blüte auferstehen. Wir spielen Theater, dachte er, plötzlich grausam ernüchtert, fieberbunte Narrenstücke aus dem Säckel der väterlichen Majestät.

Atemlos erreichte er den Schlosspark, gerade als die Sonne über den Dächern von Krumau unterging und die Moldau orangerot verfärbte; ein grandioses Spektakel, dachte d’Alembert und eilte weiter, sein weißes Stöckchen unter die schweißfeuchte Achsel geklemmt. Unheilverheißend, dass Julius gleich bei ihrer Ankunft wieder eine Maid an sich gezogen hatte - gestern Mariandl, heute Markéta. Zwar stand nicht zu befürchten, dass der Bastardsohn auch ihr Fleisch ungesäumt mit dem Beil zerbeißen würde, der Dämon musste fürs Erste gesättigt sein. Dennoch beunruhigte ihn auch die Anwesenheit der Baderstochter, je länger er über sie nachdachte, während er gegen den Gestirnslauf um den Schlossteich eilte und in Lauben, Nischen, hinter Hecken und Büsche spähte. Markéta Pichlerovâ, dachte er, sie erinnerte ihn an irgendjemanden, aber an wen nur? Sie irritierte ihn sogar mehr noch als die vermaledeiten Zwillinge, oder auf andere Weise, wie er sich gleich korrigierte -    anders, unheimlicher, wenn auch nicht ärger als ... Fabrio.

D’Alembert hatte sich vor langer Zeit angewöhnt, vor sich selbst immer ehrlich zu sein, wenn auch vor niemandem sonst. Julius liebte er, aufrichtig und aufopfernd, wie ein Vater seinen Sohn lieben sollte. Den bronzehäutigen, schamlos hübschen Fabrio mit den Brombeerlippen aber begehrte er mit wütender Brunst. Doch Charles d’Alembert hatte niemals in Betracht gezogen, sich die Erfüllung gleich welcher Begierden zu gestatten, der Wollust, Völlerei oder welchen Lasters auch immer - allesamt Bestien, die es nicht zu hätscheln und zu mästen, sondern zu bändigen, zu zerbrechen galt.

Der Maître erreichte das nördliche Ufer des Schlossteichs, umrundete einen gewaltigen Eichbaum, und dahinter stand Fabrio in da Biondos welken Armen. Beim Anblick des Obersthofmeisters fuhren sie auseinander, schwerlich aus Schamgefühl, eher erschreckt durch d’Alemberts Miene, in der sich Unruhe, Unbehagen mit unerbittlichem Entsagen mischte. Im Gras verstreut der Schurz des Syrakusers, die zitronengelben Schnabelschuhe; des Malers Rechte auf der Hüfte, die Linke an der Brust des Knaben, der dem Maître aus funkelnd schwarzen Augen ins Gesicht sah. Und am Boden, keine drei Schritte abseits, kauerte die Zwillingsmaid.

»Ich«, sagte Charles und musste sich erst die Kehle freiräuspern, »suche Don Julius.«

»Der Herr ist zum Hungerturm runter«, gab Fabrio bereitwillig Auskunft, »zusammen mit der Badershur.«

Wie versteinert stand Charles d’Alembert unter der Eiche, sein Blick an der rechten Hand des frettchenhaften Malers haftend. Endlich riss er sich los und eilte davon, neuerlich um den Teich herum, diesmal dem Uhrzeigersinn folgend. In die falsche Richtung gelaufen, dachte er und spürte ein Brennen in der Kehle. Aber ruhig Blut: Verlaufen ist noch lange nicht verirrt.

Er bog in die abschüssige Allee ein, in seinem Bauch rumorten die Bestien der Vorahnung und des nahenden Unheils. Schon von weitem sah er den Soldaten in der Uniform der Salvaguardia, der ihm in taumelndem Lauf entgegeneilte.

»Ein Besucher, am untern Tor«, rapportierte der Bursche, als er endlich vor ihm stand; stoßweise hob und senkte sich seine Brust unter dem blauen Rock. »Ein Russe, heißt es. Der Mann begehrte dringend Einlass.«

D’Alembert fixierte die Schrammen auf der rechten Backe des dicklichen Gardisten; diesmal würde er den Kerl zur Rede stellen.

»Raufereien stehen unter Strafe, Mular«, sagte er, »mit wem bist du handgemein geworden?«

Jan Mular tastete mit spitzen Fingern nach den Striemen. »Mit der Badersmaid«, murmelte er, und seine Augen wurden zu Schlitzen.

D’Alembert zog es vor, das Thema zu wechseln. »Und wie nennt sich der Mann am Tor?«

»Der Fremde bezeichnet sich als Puppenmacher, Herr Obersthofmeister.« Mular schlug die Hacken zusammen. »Seinen Namen weiß ich nicht, aber der Herr Graf hat bereits befohlen, ihn einzulassen.«

Um Himmels willen, dachte der Maître, spürte wieder die Bestien in seinem Bauch und setzte eine gleichmütige Miene auf. »Es ist gut«, sagte er, schon zum zweiten Mal an diesem Morgen. »Lauf zurück und sorge dafür, dass der Besucher am unteren Burgtor aufgehalten wird, bis ich ihn begrüßt habe.«

»Das ist leider nicht möglich, Herr Obersthofmeister.«

»Und warum nicht?«, fragte d’Alembert.

»Weil der Herr Graf sich mit dem russischen Puppenmacher bereits in den Hungerturm begeben hat, Herr Obersthofmeister, den Gefangenen inspizieren, von dem es heißt, dass er ein Apparat aus Metall und Rädern wär.«

»Blödsinn, Bauerntölpel!«, rief d’Alembert. »Kein Wort mehr, sonst landest du im Turm!«

21

Ich muss lernen, dachte Markéta, so schnell wie möglich lernen, um meinetwillen und für ihn. O mein Gott, der arme kleine Flor. Zum hundertsten Mal überlegte sie hin und her, ob sie vorhin richtig gehandelt hatte, als sie sich ohne Widerwort hierher führen ließ, zurück ins Frauenzimmer. Wie ein Osterlamm!, schalt sich Markéta, aber dann wieder: Was hätt ich schon ausrichten können - gegen Don Julius’ Befehl?

Unschlüssig sah sie zu den beiden Zofen empor, die mit verriegelten Mienen vor ihr standen, mitten im Empfangsraum. Meine Zofen, dachte sie, von Bronja zu Lisetta blickend, das muss doch ein verrückter Traum sein? War ich nicht gestern noch ein Mädchen wie sie - und jetzt? Sitz ich hier auf lachsfarbenen Seidenpolstern, und die beiden weigern sich, in meiner Gegenwart auch nur Platz zu nehmen. Und da draußen ist Hezilow und wickelt Don Julius mit schmeichlerischen Lügenreden ein! O mein Gott, der arme Flor, dachte sie wieder, womöglich ist Hezilow schon bei ihm im Turm!

Sie riss sich aus ihrer Erstarrung heraus, erhob sich und stelzte der Tür entgegen.

»Don Julius hat befohlen, dass Ihr hier im Frauenzimmer bleibt - Madame.« Mit katzenhafter Raschheit war Bronja schon bei der Tür, während Markéta noch mit den Chopinen kämpfte. Die Zofe lehnte sich mit dem Rücken gegen das Türblatt, und ihr üppiger Busen hob und senkte sich in raschem Takt.

»Bin ich denn seine Gefangene, über die er so einfach verfügen kann?« Markéta sah der Kindheitsgefährtin ins Gesicht; mehr noch als Bronja, erkannte sie plötzlich, galt die Frage ihr selbst. Und die Antwort lautete - musste unbedingt lauten: Nein, sonst bin ich verloren, und Flor mit mir. »Gib die Tür frei.«

Einen Moment lang sah Bronja sie nur reglos an, aus sich verengenden Augenschlitzen. Dann senkte sie den brünetten Schopf, strich ihre Schürze glatt und trat zur Seite.

Na also, dachte Markéta. In ihrem Rücken spürte sie die Gegenwart Lisettas, die sich sicherlich nicht von der Stelle gerührt hatte, starr vor Befangenheit und Furcht. Sie legte eine Hand auf den Riegel und zog die Tür auf.

Draußen stand noch immer Franz Brodner, der sie vorhin vom Hungerturm heraufgebracht hatte - geleitet oder abgeführt, je nachdem. Sie trat hinaus auf den dämmrigen Flur. »Bring mich nach unten, Franz, ich muss Don Julius sprechen.«

»Das ... geht nicht, der Herr Graf hat befohlen ...« Der Gardist straffte seine Schultern und sah alarmiert um sich.

»Dir mag er befehlen, mir nicht, Franz«, sagte Markéta und versuchte sich nicht anmerken zu lassen, wie wenig sie an ihre eigenen Worte glaubte. »Jedenfalls kann er mir nicht vorschreiben, wohin ich meine Schritte setzen darf«, fuhr sie fort. »Ich bin meine eigne Herrin - und deine ja auch«, fiel ihr ein, »das hat der Graf doch vorhin selbst zu euch gesagt: >Eure Herrinc. Also bring mich zu ihm - oder lass mich alleine gehen, ich befehl’s«, fügte sie hinzu, hob den Kopf und sah dem Wirtssohn vom »Goldenen Fass« in die wasserblauen Augen. »Weißt du noch, Franz - wie wir zusammen an der Moldau im Ufergras lagen, nur du und ich? Damals hast du gehorcht, ohne zu zögern. Und wirst dich auch diesmal nicht verweigern, ich weiß es.«

Ohne den Blick von ihm zu wenden, allerdings auch ohne eine Antwort abzuwarten, ging sie seitwärts, mit schwankenden Schritten auf türkisfarbenen Stelzschuhen davon. Aus den Augenwinkeln sah sie die beiden Zofen, die sich aus dem Türrahmen beugten und hinter ihr herschauten, mit so starren Gesichtern wie Franz Brodner, der den Kopf nur ein wenig zur Seite gewendet hatte und, die Augäpfel stark verdreht, hinter ihr herschielte.

22

Schon vom Fuß der Turmtreppe her hörte er Julius’ Stimme, dunkel und ein wenig heiser wie immer, wenn jene unheilvolle Glut die Seele des Kaiserbastards entflammte. »In der Tat wundert’s mich überhaupt nicht, werter Magister, Euch mitsamt Eurer Kreatur hier in Krumau vorzufinden: Ein vortrefflicher Astrolog hat’s mir just so aus dem Himmel gelesen.«

D’Alembert klemmte das Stöckchen fester unter seinen Arm und eilte die speckigen Stufen hinauf. Daher also Julius’ unerwarteter Sinneswandel?, dachte er. Träumte sein Schützling wieder einmal seinen törichten Traum: die väterliche Majestät im alchimistischen Wettstreit zu besiegen und auf diesem Weg die böhmische Königswürde an sich zu reißen, wenn nicht gleich das ganze Kaiserreich? Nun gut, sagte sich Charles, unter den herrschenden Umständen würde er notfalls auch einen Alchimisten in den Burgmauern dulden, solange der magische Scharlatan ihm nur half, den Grafen in Krumau und bei linder Laune zu halten.

»Kre-reatur«, hörte er den Nabellosen klagen, »aus dem Hi-himmel!«

D’Alembert erreichte die Plattform und trat in den Flur zum Kerker Flors. Vor den klobigen Gitterstäben hoben sich zwei Gestalten ab, wie sie unähnlicher kaum aussehen konnten. Von Wandfackeln angeleuchtet, ähnelten sie lebensgroßen Schattenrissen, die Umrisse wie aus der Finsternis geritzt. Neben dem schlanken Hünen Julius, der mit einer Schulter am Käfig lehnte, stand ein mageres Männlein, ein Zwerg fast, wie d’Alembert sich sagte, in seltsam verdrehter Haltung, halb dem Gefangenen, halb Julius zugewandt. An seiner linken Seite trug der Fremde ein gewaltiges Schwert, dessen Spitze fast den Boden touchierte. Als er sich ein wenig mehr zur Seite drehte, erkannte Charles, dass der kleine Mann überdies verwachsen war.

Augenblicklich empfand d’Alembert heftige Abneigung, wie stets, wenn er auf krasse Hässlichkeit stieß. Der Höcker buckelt sich zwischen den Schultern hervor, dachte er, wie ein zweites, unförmiges Kinn. Mit einem Lächeln trat er näher und sagte: »Hat der Sterngucker nicht auch vorausgesehen, Excellence, dass sich der vermeintliche Magister als nichtswürdiger Betrüger erweisen werde?«

»Bedaure sehr, cher maître, aber diesmal hattet Ihr wohl keine Gelegenheit, das Horoskop mit derlei Gezeter aufzubessern.«

Der Maître hatte die Antwort schon auf der Zunge, die seinen Schützling in die Schranken weisen würde. Da aber wandte sich der Fremde vollends um zu ihm, und d’Alembert sackte das Blut aus den Wangen. Seine Abneigung schlug in Unbehagen, ja in Grauen um, wie er es allenfalls aus schweren Träumen kannte, Nächten zumal, in denen Fabrio vor ihm floh.

»Maître d’Alembert, wenn ich nicht irre?« Die pfeifende Stimme bohrte sich in seine Schläfen. »Bin ich Jurij Hezilow -kajserlicher Puppenmacher, aus Moskau gebirtig, bekannt von St. Petersburg bis Basel, geachtet von Britannien bis Prag.« Der Russe deutete einen Kratzfuß an. »Untertän’chster Diener.«

Unwillkürlich erwiderte d’Alembert die Verbeugung. Erst in diesem Moment, da ihre Köpfe sich einander entgegenneigten, wurde ihm bewusst, dass der abscheuliche »Puppenmacher« allenfalls eine Handbreit kleiner gewachsen war als er selbst. Ja, wenn man es recht genau nahm, nicht einmal das, sagte sich der Maître, indem er dem feixenden Frätzlein sein eisernes Lächeln entgegenhielt.

»Sorgt Euch nicht, cher maître«, sagte Julius, und seine Unterlippe zuckte, »Magister Hezilow hat tatsächlich in der alchimistischen Akademie meines Vaters mitgewirkt. Ihr kennt doch Kelley; der ehrsüchtige Angelsachse mochte keinen Schwarzkünstler von Hezilows Rang neben sich dulden und lag Ihrer Majestät in den Ohren, bis mein Vater unsern Puppenmacher aus dem Hradschin komplimentierte, wenn auch in allen Ehren und mit einem Dokument versehen, das ihn als ruhmreichen Adepten preist.«

Er warf Hezilow einen auffordernden Blick zu - grauenvoll vertrauensvoll, dachte d’Alembert. Unbehaglich sah er zu, wie der Russe eine Papierrolle unter seinem Lumpenmantel hervorzog und umständlich entrollte. Er zwang sich, den Fetzen entgegenzunehmen, für einen Moment sah er nur die fettigen Flecken, Knicke und Risse, die den Text wie mit Warzen und Runzeln überzogen.

». erklären Wir, Rudolf II. Kaiser von Gottes Gnaden, Unsere überströmende Dankbarkeit für den erleuchteten Moskowiter Magister Jurij Hezilow, Unsern treuen Untertanen, der Uns Anno Domini 1601 in der Akademia zu Prag eifrig beigestanden bei Unserm Trachten, in die tiefsten Geheimnisse der Natur einzudringen. Studio philosophorum comparatur putrefactio chemica - ut per solutionem corpora solvuntur, ita per cognitionem re solvuntur philosophorum dubia. Die Lehre des Magisters hat Uns die Augen aufgetan .«

Keine üble Fälschung, dachte d’Alembert, indem er das Blatt sinken ließ. Im Augenblick schien es ihm nicht ratsam, den Russen offen der Betrügerei zu zeihen. Noch war er keineswegs sicher, ob er den Lumpenkerl schleunigst wieder verjagen oder für höhere Zwecke einspannen sollte. So ließ er willenlos zu, dass ihm der Puppenmacher das Papierfetzlein wieder aus der Hand nahm, es einrollte und erneut unter schwarzen Lumpen verstaute, derweil seine prallen Lippen schnappende Bewegungen im Bartgestrüpp vollführten.

»War Hezilow aber noch nicht in käjserlicher Gunst, als er diesen da erschuf«, sagte der Alchimist und deutete in den Käfig hinein. »Ist sich auch schon ein paar hibsche Jährchen her, lasst mich rechnen, Euer Liebden - das geschah in Basel, finfzehnnäjn’nachtzig A.D.«

Es dauerte eine geraume Weile, bis Charles d’Alembert die Bedeutung dieser wie beiläufig hingeworfenen Worte erfasste. Voll faszinierten Widerwillens starrte er auf das Stäblein in Hezilows Hand, dessen Spitze auf den im Kerkerstroh kauernden Flor deutete. Es sieht ganz und gar aus wie mein Stöckchen, dachte er, genauso lackiert und gedrechselt, von anderthalb Ellen Länge - nur dass seines schwarz ist und meines weiß! Gewaltsam riss er sich vom Anblick des Hölzleins los und zwang sich, Hezilows Sermon zu lauschen.

»Gut meeglich, dass Ihr davon geheert habt, Exzellenz, aber wett ich, Ihr gebt wenig auf solches Gewäsch. Hatten mich sintemalen die Ratsherren zu Basel als ihren Stadtarzt gedungen, ward Hezilow aber bald schon verleumdet und unter Geschräj aus der Stadt gejagt.« Mit der Spitze seines Stabes stieß er heftig in den Käfig hinein, auf Flor zu, der im Stroh hockte und mit weit aufgerissenen Augen auf Hezilow starrte. »Den Herren Scholaren gefiel’s gar sehr«, fuhr der Puppenmacher fort, »dass ich an der Universität in deutscher Sprach’ aus meiner Künstlichen Medicina las, nur die Pfaffen lamentierten, dass sich die Gelehrtheit latäjnisch sprechen misst oder andernfalls des Teufels wär. Ist sich Hezilow aber stur wie ein Baseler Holzkopf« - mit der Faust pochte sich der Russe auf den Schädel - »und daher beschlossen die Ratsherren, mich wieder aus der Stadt zu wäjsen. Von Basel ist sich Hezilow nach St. Gallen .«

»Verzeiht, wenn ich Euch ins Wort falle«, unterbrach ihn d’Alembert, dem Katharina da Strada regelmäßig die neuesten Nachrichten von Magiern und Quacksalbern sandte. »Da Euer Gedächtnis Euch im Stich zu lassen droht, Magister Hezilow, gebietet mir schiere Höflichkeit, Euch ein wenig zu Hilfe zu kommen.« Er holte sein Stöcklein unter dem Arm hervor und deutete auf den Puppenmacher, der seinerseits noch immer auf den Nabellosen wies. »Verhielt es sich nicht eher so, dass Ihr aus der Stadt Basel zu fliehen vorzogt, da der Rat beschlossen hatte, Euch in den Kerker zu werfen?« Er glaubte ein Zucken im verstrüppten Frätzlein wahrzunehmen. Unsicherheit, Angst gar? Es war an der Zeit zu zeigen, beschloss er, dass zumindest er das Spiel des Alchimisten durchschaute. »Und solltet Ihr nicht aus einem ganz anderen Grund verhaftet werden«, fuhr er fort, »als Eure Erinnerung Euch nun vorzuspiegeln scheint - weil Ihr nämlich den Henker von Basel bestochen hattet, damit der Euch die zum Strang Verdammten heimlich überließ?«

Zu seiner Verblüffung machte der Russe nicht einmal den Versuch, die abscheuliche Verstrickung zu leugnen. Vielmehr schien er regelrecht geschmeichelt, ähnlich einem Künstler, der unverhofft jemanden seine Bildwerke rühmen hört. Wieder schnappten die fiebrig roten Lippen ein paarmal auf und zu, die dunklen Knopfaugen flitzten zu Don Julius und zurück zu d’Alembert, der sich unterdessen vollends entsann: Zufolge der Stradovä hatte Hezilow den Scharfrichter durch Handsalbung -drei Kupfermünzen für jeden noch atmenden Körper - bewogen, die Delinquenten lebendig vom Galgen zu schneiden, und die Unseligen dann in seinem Laboratorium sehr langwierig zu Tode gebracht.

»Verleumdung, Überträjbung«, sagte der Puppenmacher endlich, mit einer Hand abwinkend. »Lässt sich Kreatura aber nur erschaffen, wenn man paar hibsche Leffelchen lebendige Essentia hat.« Damit wandte er sich zu Flors Zelle um, d’Alembert und Don Julius ohne weiteres den Rücken kehrend.

Noch während sich der Maître von seiner Verblüffung zu erholen versuchte, vernahm er aufs Neue die pfeifende Stimme des Puppenmachers, der nun absonderliche Verse rezitierte:

»Das Ei der Natur man mich heißt, bekannt den Weisen allermeist. Quecksilber oder Mercurius fein werd ich genannt im Allgemein’. Ein’ dunklen Greif, ein’ alten Herrn, bin allenthalben, nah und fern.«

Während Hezilow murmelte, ging mit Flor eine seltsame Veränderung vor. Der Bursche rappelte sich aus dem Stroh auf, ohne seinen Blick vom Puppenmacher zu wenden. Mit hölzernen Gebärden, einer Fadenpuppe ähnlicher als einem lebendigen Menschen, näherte er sich Hezilow, wobei er leise, mit wehmütigem Tonfall in den Singsang des Russen einstimmte:

»Ich flieg hinweg, es sei denn, dass man mich anbind gar wohl mit Maß. Ich hab viel Form, Farb und Gestalt, führ in mir Manns und Weibs Gewalt. Wer also bin ich, schweb unterm Dach - kein andrer als Ourob, der alte Drach’.«

Nach diesem letzten Vers riss Flor die Augen auf und brach unvermittelt in Tränen aus. »Der alte Dra-drach’«, wiederholte er ein ums andere Mal unter Sturzbächen von Tränen, »unterm Da-dach, der alte Drach’.«

Da hob Hezilow sein Stöckchen und schlug links und rechts sachte gegen die Gitterstäbe. Die elfenhafte Kreatur verstummte. Wieder richtete sich Flors Blick auf den buckligen Magister, und in seinen Augen glänzten noch immer Tränen, eines bernsteingelb, eines dunkelgrün wie Moos.

»Rölflein, kleines Wölflein, bin ich ja bei dir, dein Papuschka«, murmelte Hezilow, indem er mit seinem Stöckchen verschlungene Bewegungen vor Flors Gesicht vollführte, »Komm jetzt heraus zu Mäjster Hezilow.«

Und der Nabellose machte eine schlangengleiche Bewegung, wallend wie Nebel zwischen den Stäben, und stand einen Herzschlag später vor dem Gitter, neben dem Puppenmacher, der ihm seinen Arm um den mageren Rumpf schlang.

»So ist’s recht, Rolfenko. Nu’ gehn wir beide hibsch mit der Exzellenz ins alchymische Labor.«

23

»Bringt ihn in die erste Etage - links der weiße Saal - und ab in den Käfig mit dem Kerl!«

Schon auf der Wendeltreppe nach unten hielt Markéta inne, doch weitere Rufe waren nicht zu hören. Hatte sie richtig verstanden? Ihr Herz klopfte, rasch lief sie weiter. Wieso hatten sie Flor vom Kerkerturm hier heraufgebracht? Und, seltsamer noch, weshalb gab es hier, im herrschaftlichen Teil der Burg, einen Käfig, in den man Gefangene sperren konnte?

Auf der Plattform vor der nächsttieferen Etage verharrte sie abermals. Ihr Blick glitt in die Fensternische, unwirklich tief lag das Städtchen unter ihr, von der Moldau umschlungen und fast ersaufend im Wolkengrau. Wehmut wehte sie an, so als ob sie nie mehr nach Hause zurückfinden könnte. Da vernahm sie ein vielfüßiges Trappeln vom linken Gang her, der von der Plattform abzweigte, eilende Schritte, dazu ein Wispern und metallisches Klirren.

Kurz entschlossen schlüpfte Markéta aus ihren Chopinen, nahm die Stelzen in die Hände und eilte nacktfüßig den Flüsterern nach. Wandlampen erfüllten den Gang mit blakenden Schatten. Sie hielt sich im Düstern, suchte Deckung in Mauernischen, hinter halb geöffneten Türen. Zwanzig, fünfundzwanzig Gestalten zählte sie, mehlfarbene Perücken, bunte, glänzende Gewänder ein Dutzend Schritte voraus. Inmitten der vorandrängenden Menge auf einmal das Funkeln goldener Locken, wie ein Sonnenfleck im Nebel, und ihr Herz machte einen Satz - vor Sorge, vor Glück, ihn wiederzusehen.

Solange ich hier bin, soll dir nichts Arges geschehen, kleiner Flor.

Der Gang endete vor einer breiten Tür. Ein Schlüsselbund klirrte, schon flog die Tür auf, und die Menge schob sich hindurch. Markéta huschte hinterdrein, just ehe die Flügel sich wieder schlossen.

Drinnen strahlten kristallene Lampen von Decke und Wänden, so gleißend, dass ihre Lider sich senkten. Als sie die Augen wieder öffnete, hatte sich die bunte Menge bis zum Ende des Saals vorangeschoben. Dort stand der Käfig, klobige Eisenstangen, selbst aus dieser Entfernung vor Rost und Scharten strotzend. Und dahinter die goldenen Locken Flors.

Erneut setzte sie sich in Bewegung, ihre Füße tappend auf kunstvoll komponierten Mosaiken, deren Kälte ihr in die Beine kroch.

Vor dem Käfig eine schmale Gestalt mit wirren schwarzen Haaren, den Rücken ihr zugekehrt, in schwarzem Lumpenmantel - Hezilow?

Erst in diesem Moment bemerkte sie Giacomo da Biondo. Der ältliche Maler hatte seine Staffelei linkerhand neben dem Käfig aufgebaut. Will er den armen Flor etwa malen, dachte Markéta, aber warum nur?

Ohne es recht zu bemerken, ließ sie die Chopinen fallen und schob sich durch die Menge auf den Käfig zu, ihre Blicke auf den Häftling gerichtet, der im Stroh hockte, halb abgewandt und den Kopf auf die Brust gesenkt.

»Werter Herr Puppenmacher, würdet Ihr uns nun gütigst demonstrieren, wie Ihr die güldne Kreatura erschuft?«

Auf diese Frage, hervorgenäselt von einem dürren Burschen mit Schellenkappe und tomatenroten Seidenhosen, folgte vielstimmiges Gelächter, dröhnend und wiehernd. Mehr verblüfft als wütend sah Markéta um sich, in junge, glatte, und ältliche, grell geschminkte Gesichter, Männer und Frauen, alle so papageienbunt und seidenglänzend wie die Feuerschlucker und Balljongleure auf dem Jahrmarkt zu Krumau.

Wie durch einen Zauber hielten viele von ihnen plötzlich Zeichenbretter in den Händen, Kohlestifte, riesige Adlerfedern, wenn sie nicht gleich Leinwand, Pinsel und Farben mit sich führten wie da Biondo und drei, vier andere Maler, die ihre Staffeleien im Halbkreis um den Käfig aufgestellt hatten.

»Deinem Wunsch soll entsprochen werden, Narr«, rief der Schwarzgewandete, aber in unerwartet samtenem Ton. Die Gestalt wandte sich langsam um zur Menge, die erwartungsvoll aufstöhnte, und tatsächlich war es nicht der Puppenmacher, sondern jener syrakusische Zwillingsbursche, Fabrio oder wie Don Julius ihn genannt hatte: den schwarzen Lumpenumhang nachlässig übergeworfen, das schamlos hübsche Gesicht maskiert mit schwarzen Fäden oder Federn in Hezilows struppigem Stil.

Die Künstler beugten sich über ihre Zeichenblätter, während der Schellennarr auf ein Fensterbrett sprang und törichte Verse zum Besten gab.

»Ich erschuf die Kreatura«, rief Pseudo-Hezilow, »einfach genug - mit meinem Zauberstab!« Und er hob seine Arme zu einer priesterlichen Gebärde, sodass der angekündigte Stab unter dem aufgleitenden Umhang hervorsprang.

Neuerliches Gelächter belohnte die dreiste Schaustellung, einige klatschten in die Hände oder stampften mit den Füßen auf. Markéta aber, kaum zwei Schritte mehr vor dem Käfig, fühlte, wie ihr das Blut ins Gesicht schoss. Sie machte einen Satz, bekam den Syrakuser beim Ohr zu packen und zerrte ihn vom Käfig fort wie einen rotznasigen Gassenbuben oder wie einen der Streithähne, die in der elterlichen Badestube zuweilen handgemein wurden. Mit hellem Schrei, mehr Wut als Schmerz, taumelte Fabrio zur Seite, ein Büschel syrakusischer Haare blieb in Markétas Hand zurück. Sie ließ es achtlos zu Boden rieseln, ihre Aufmerksamkeit galt längst wieder dem Knaben mit dem goldenen Haarschopf, der sich der Menge vor seinem Käfig zugewandt hatte, im Stroh hinter den Gitterstäben kniend.

Seine Augen, die Markéta aufmerksam ansahen, waren nicht zwiefarben, sondern gleichförmig braun, seine Gesichtszüge plump, wie gedunsen, von elfischer Zartheit unendlich weit entfernt. Vom Gürtel aufwärts war er nackt wie Flor, seit dessen Hemd im Thronsaal zuschanden gegangen war, aber es war nicht Flor.

Markéta kannte den Burschen. Er stammte aus Krumau wie sie selbst, wie so viele Leute, die auf einmal hier oben in der Burg aus- und eingingen. Der Sohn des Moldauflößers, dachte sie, aber was nur hat er im Käfig verloren, anstelle von Flor?

»Nico?«, fragte sie und musste sich räuspern.

Der Bursche nickte und senkte zugleich schuldbewusst den Blick. In wachsender Wut sah Markéta, dass sein Bauchnabel mit einer hautfarbenen Paste ungeschickt zugeschmiert worden war.

»Nicodemus Kudaçek«, sagte sie so streng, wie sie es in diesem Moment vermochte. »Wirst du mir auf der Stelle erklären, was hier vorgeht?« Sie trat vor den Käfig und umfasste zwei Gitterstäbe. Daher fand Nicodemus keine Gelegenheit, ihr zu antworten, so wenig wie Fabrio, der sich wieder aufgerappelt hatte und sie mit Augen voll vulkanischer Glut fixierte. Denn in diesem Moment zerknickten die Gitterstäbe, die Markéta mit baderstöchterlicher Deftigkeit angepackt hatte, und der ganze Käfig sackte mit dem trockenen Rascheln und Knacken angemalten Pappmaches um.

24

»Das All ist Gäjst, ganzes Universum ist gäjstig - so lautet sich erstes Prinzip der Alchemie.« Würdevoll schritt Hezilow neben Don Julius einher, der ihn um anderthalb Häupter überragte. Dabei gab der Puppenmacher unablässig Sentenzen von unergründlichem Tiefsinn von sich. »Wie oben, so unten, wie unten, so oben - so lautet sich zwäjtes Prinzip der hermetischen Philosophie.«

Markéta kam sich mit einem Mal abgrundtief dumm vor. Neben dem zwielichtigen, doch anscheinend überaus gelehrten Magister war sie ja nichts als eine Dorfgans, die gegen die Weisheit des Löwen anzugackern wagte.

»Den roten Leewen zu gewinnen«, sagte Hezilow in diesem Moment tatsächlich, »auch bekannt als Stäjn der Wäjsen, ist sich reines Kinderspiel, Euer Liebden - wenn man nur die sieben hermetischen oder alchymischen Prinzipien beherzigt.«

Sogar ein kaiserliches Dokument hatte der lumpige Russe vorgewiesen, dachte Markéta, während sie Julius, Hezilow und dem Maître durch die Burghöfe folgte. Und dennoch hatte sie vom ersten Moment an gespürt, dass es mit Hezilow keine gute Bewandtnis hatte. So wie sie jetzt deutlich fühlte, dass in Julius noch immer Schmerz und Zorn brodelten, trotz aller Begeisterung, die ihn ergriffen hatte, sowie der kleine Russe in der Burg erschienen war. Verbannt, dachte sie wieder, aber wie kann es nur sein? Opfer einer Intrige, des Mordes an diesem Mariandl bezichtigt - und deshalb vom eignen Vater aus Prag verjagt? Aber war es denn nicht eine glanz- und ehrenvolle Aufgabe, als Graf von Krumau hier in der Burg zu herrschen? Anscheinend nicht, überlegte sie, wenn man der älteste Sohn des Kaisers war und Anspruch auf den väterlichen Thron erhob.

Don Julius’ Stimme riss sie aus ihren Grübeleien. »Und Ihr rühmt Euch, Magister, diese Gesetze zu beherrschen - die heiligen Principia, durch die jede Transmutation gelingt?« Er fragte es mit schlecht verhohlenem Ungestüm, wie ein Kind, dachte sie, das der Erfüllung seines heißesten Wunsches entgegenfiebert.

»Gebt Hezilow nur die neetigsten Hilfsmittel zur Hand«, brüstete sich der Puppenmacher, »und Eure Schatzkammern werden sich fillen mit gildenen Klimpchen sonder Zahl.«

»Verwandlung von Plumbum in Gold - schön und gut«, erwiderte Julius, indem er mitten auf dem dritten Burghof stehen blieb und den kleinen Russen beim Arm packte. »Aber sagt, Magister« - er dämpfte die Stimme - »wie steht’s mit der lebendigen Kreatura? Ist jener da wahrhaftig der gläsernen Mutter entkrochen in Euerm Baseler Labor?« Und er deutete mit spitzem Kinn auf den Nabellosen, der sich eng an Hezilows linker Seite hielt, einen halben Schritt zurück wie ein geprügeltes Hündchen.

»Zwäjfelt Ihr an Wort und magischer Macht von Hezilow, Exzellenz?«, brauste der Russe auf.

»Glä-gläserner Mutter! Jener da!«

»Nein, gewiss nicht«, versicherte Julius, »seht mir meine unbedachten Worte nach, die mir bloß von der Hoffnung eingeblasen wurden, dass das große Werk gelingen möge - hier auf Burg Krumau, zu meinem Ruhm und zur Rettung unsres Kaiserreichs.«

»Werden wir Pfauenschwanz schon zum Bliehen bringen, Euer Liebden! An der neetigen Apparatur fehlt’s ja gewiss nicht - nach allem, was man so munkeln heert?«

»Pah, Euch soll’s an nichts gebrechen - außer an Zeit! Sputen wir uns!« Und Julius beschleunigte seine Schritte, den Puppenmacher mit sich ziehend.

Charles d’Alembert, der dem Humpelnden mit tänzerischer Eleganz folgte, sah spöttisch auf Hezilows Schwertscheide, die Funken sprühend über den Steinboden schleifte. Niemals, dachte an seiner Seite Markéta - nie hatte sie Julius weniger hochfahrend erlebt als gegenüber Hezilow. Wieder fühlte sie, wie dumm und ungehobelt sie selbst war, neben dem Magister wie auch neben dem jungen Grafen, die sicher beide mehr Wissenschaften studiert hatten, als sie auch nur dem Namen nach kannte, die Jurisprudentia, die Theologia und was es sonst noch an Unbegreiflichem geben mochte. Ich dagegen, sagte sie sich, kann nicht mal Pappe von Eisen unterscheiden, Theater von Wirklichkeit.

Nach ihrem überstürzten Rückzug aus dem weißen Saal, wo sich die Künstler unter Weh- und Zornesrufen um den zerknickten Karzer geschart hatten, war sie geraume Zeit durch Gemäuer und Höfe geirrt, ehe sie am unteren Ende des zweiten Burghofs auf Don Julius gestoßen war. An seiner Seite Hezilow, der in endlosem Strom Sentenzen produzierte, dabei sein schwarzes Stöcklein wirbelnd; in ihrem Gefolge Maître d’Alembert und Flor, der fröstelnd die Arme vor der bloßen Brust verschränkt hielt. Für Markéta hatte er kaum einen Blick, dagegen verfolgte Flor jede Bewegung des lumpigen Russen mit einem Ausdruck hündischer Ergebenheit und sprach wieder und wieder die Phrasen seines Meisters mit stockender Zunge nach.

Ohne ein Wort hatte Markéta sich ihnen angeschlossen, mit einem beiläufigen Kopfnicken von Don Julius willkommen geheißen und mit einer knappen Verbeugung von d’Alembert. Selbst Hezilow hatte nur einen Blick unter verstrüppten Augenbrauen auf sie abgeschossen und war gleich wieder zu seinen hermetischen Prinzipien zurückgekehrt.

»Alles fließt aus und ein, alles hat seine Gezäjten, Euer Liebden. Alle Dinge stäjgen und fallen, das Schwingen des Pendels zäjgt sich in allem - so lautet sich finftes Prinzip der Alchemie.«

»Pe-pendel in allem!«

Fast wäre es ihr lieber, dachte Markéta nun, wenn Julius oder der Maître versuchten, sich ihrer Begleitung zu entledigen, dann könnte sie sich zumindest wieder als Flors Beschützerin fühlen statt als nichts begreifende Gans. Aber niemand hinderte sie, den drei Männern und Flor zu folgen, die mit raschen Schritten den dritten Burghof durchmaßen und rechterhand vor einem riesigen Gewölbetor hielten. Also lief sie weiter auf nackten Füßen hinter ihnen her und blieb dann neben Flor stehen, dessen blasse Haut im Fackellicht fast durchsichtig schien.

Charles d’Alembert nestelte einen gewaltigen Schlüssel aus seinem Wams hervor und schob ihn mit sichtlichem Widerstreben ins Schloss. Unter lautem Knarren und Stöhnen schwang der rechte Flügel des Gewölbetors auf. Der Maître zog eine Fackel aus ihrem Wandhalter und leuchtete in die laboratorische Finsternis hinein, machte aber keine Anstalten, als Erster das Gewölbe zu betreten. Da nahm Hezilow ihm die Fackel aus der Hand und trat über die Schwelle. Im selben Augenblick sprangen aus einer Tür vis-à-vis die syrakusischen Zwillinge, nun gemeinsam in den schwarzen Lumpenmantel gewickelt, der Fabrio vorhin zur dreisten Scharade gedient hatte.

»Geschlecht ist in allem, alles hat sich männliche und wäjbliche Prinzipien; offenbart Geschlecht sich auf allen Ebenen«, hörte Markéta den Puppenmacher deklamieren, und für einen Moment der Verwirrung schien es ihr, als ob sich diese Phrase in geheimnisvoller Weise auf die Zwillinge bezog. »So lautet sich siebentes Gesetz der Alchemie.«

Gleichwohl warf sie dem syrakusischen Duo einen, wie sie hoffte, warnenden Blick zu, dann sputete sie sich, hinter Hezilow und Don Julius, Flor und d’Alembert in die grabesfinstere Unterwelt hinabzusteigen.

25

Geschäftig lief der Puppenmacher von einer Wandnische zur nächsten und entzündete mit seiner Leuchte armdicke Kerzen. Seine Schritte hallten von den Wänden wider, und mit jedem Licht, das er entflammte, schälte sich ein wenig mehr von dem gewaltigen Gewölbe aus der Dunkelheit. »Spiritus alme«, rief er dabei mit pfeifender Stimme, »Illustrator hominum - Horridas nostrae mentis purga tenebras!«

»Erhabener Geist - Erleuchter der Menschen.« Don Julius, der auf einmal neben Markéta stand, übersetzte die Formel, seine Stimme schien vor innerer Bewegung zu vibrieren. »Reinige die schaurigen Finsternisse unsres Geistes!«

Während er sprach, drehte sich Markéta um ihre eigene Achse, dabei abwechselnd in die Höhe und zu den fleckenweise erhellten Wänden sehend. Sie befanden sich in einem unterirdischen Saal von so gewaltigen Ausmaßen, dass er leicht das ganze Pichler’sche Badehaus fassen mochte. Überall standen Tische und Herde, Schemel und Regale, bedeckt mit Tiegeln und Töpfen, sonderbar geformten Gefäßen aus Glas oder Eisen, hastig bekritzelten Bögen und verfleckten Lederkladden. Modergeruch hing in der Luft. Irgendwo im Hintergrund tropfte Wasser hernieder, in quälend langsamem Takt. Fingerdick lag über allem rußdunkler Staub.

»Zu Wilhelms Zeiten«, sagte Don Julius zu ihr, »sind hier unten vierspännige Kutschen aus- und eingefahren, mit Fässern voll Schwefel, Truhen voller Gold und allem, was die Schwarzkünstler für ihr großes Werk brauchten.«

Tatsächlich waren sie vom Gewölbetor über eine abschüssige Straße bis hierher abgestiegen, ins Innerste des Laboratoriums, das sicher zwanzig Meter unter der Erde lag. Unterwegs hatte Markéta verschiedene Abzweigungen bemerkt, in Seitenwege, Nebengewölbe, die Maître d’Alembert und die Zwillinge auf eigne Hand erkunden mochten. Jedenfalls hatte sie das ungleiche Trio bald schon aus den Augen verloren. Aber die Schwarzkünstler machten doch Gold, wollte Markéta fragen, wozu also die Truhen? Da fiel ihr Blick auf ein riesiges Wandgemälde, das Hezilow mit emporgestreckter Fackel bestrahlte.

»Mercurius verschlingt Sol«, erklärte der Russe mit geheimnisvoller Miene, und Flor, der im Halbdunkel neben ihm stand, echote mit klappernden Zähnen: »Ku-kurius schlingt Sol!«

Das Bild zeigte einen furchterregenden Löwen mit schimmelgrüner Mähne, der ohne weiteres die Sonne zermalmte, Blut spritzte aus etlichen Wunden im ernst blickenden Himmelsgesicht. »Ich bin der wahrlich grüne und güldene Löwe ohne Sorgen - in mir steckt alle Heimlichkeit der Philosophen verborgen!«, stand auf dem buttergelben Spruchband, das sich über dem Löwen durch die Lüfte schlängelte.

»In die Tiefe jedes Körpers«, sagte der Puppenmacher, »wirkt sich Mercurius alläjn.« Blindlings griff er hinter sich und zog Flor ins Fackellicht. »Werft dem grienen Läj einen Keerper zum Fraß vor, Euer Liebden, und er wird ihn erleuchten und transformieren - von toter Materia in die lebendige Kreatur!«

»Grü-grüner Leu!«, echote Flor mit so bekümmerter Miene, als ob er gleich in Tränen ausbrechen würde. »Lebendige Kreatur!«

Nie zuvor in ihrem Leben, dachte Markéta, hatte sie einen Menschen mehr verabscheut als den kleinen Puppenmacher. Mochte er getrost in dieser modrigen Unterwelt verschimmeln, wenn er nur den armen Flor in Ruhe ließ! Aber sie wagte kaum, dem Russen einen zornigen oder Flor einen tröstenden Blick zuzuwerfen. Niemals vorher hatte sie sich auf weniger sicherem Grund gefühlt als gerade hier im Felsgewölbe unter der Burg. Und nie zuvor hatte sie eine solche innere Verwirrung empfunden - wie angepflockt zwischen Don Julius, dessen Nähe ihr Herz heftig schlagen ließ, und dem offenbar tief verstörten Flor. Was nur hatte Hezilow mit dem Nabellosen zu schaffen, und was mochte Don Julius mit seinem Gefangenen im Sinn haben? Glücklicherweise hatte er Flor zumindest aus seinem Kerker entlassen. Aber das hieß offenbar nicht, dass der Nabellose ein freier Mann war. Vielmehr schien nicht nur Hezilow selbst, sondern auch Julius ihn als selbstverständliches Besitztum des Puppenmachers anzusehen.

Die Fackel in der Hand, trat Hezilow mit schleifendem Schwert zu einem großen Tisch unweit von Julius und Markéta. Er beugte sich über eine zerfledderte Lederschwarte. Als er darin blätterte, wallte süßlicher Aasgeruch auf. Markéta wich einen Schritt zurück und stieß mit dem Rücken gegen Don Julius, der blitzschnell seine Arme um sie legte.

»Hier!«, rief der Puppenmacher aus. »Beachten Sie dieses Bild, Hochwohlgeboren!«

Julius beugte sich über ihre Schulter, wobei er sich von hinten noch fester gegen sie presste. Der Kupferstich zeigte einen bauchigen Topf auf glühendem Ofen, von unten züngelten Flammen empor. Oben aus dem Gefäß schauten verschiedene Wesen hervor, eines sah für Markéta wie ein Schwein aus, ein anderes wie ein Wolf. Das Grässlichste jedoch war ein Drache mit gespreizten Flügeln und halb geöffnetem Rachen, der sich offenbar anschickte, dem Feuer zu entfliehen.

Flor, der einen flüchtigen Blick auf das Bild geworfen hatte, prallte förmlich zurück und brach nun tatsächlich in Tränen aus. »Der aalte Drach’!«

Stetig tropfte das Wasser in den Saal herab, und ebenso gleichförmig sprach der Puppenmacher auf Don Julius ein: »Leben, Euer Liebden, ist sich nichts als einbalsamierte Mumia, die den sterblichen Keerper vor Fäulnis bewahrt, mit Hilfe einer Salzleesung, deren Formula sich offenes Buch für Hezilow ist.«

»So könnt Ihr wahrhaftig Kreaturen formen«, fragte Don Julius, »aus Lehm und Dreck - wie ein zweiter Gott?«

»Keerper ist sich malum acputridum, Euer Liebden, beese und faulig. Sein Bestreben ist es nur, zu verfaulen und sich wieder in Kot zu verwandeln. Philosophischer Kinstler kann der Mumia während der Fäulnis ihre Lebensessenz entziehen - den heiligen Aquaster, Euer Gnaden, aus dem Hezilow Euch flugs das monstrum hermaphroditum destillieret - das Retortensöhnchen, auch als Homunkel bekannt.«

»Mo-monstrum«, flüsterte Flor, »Homu-munkel!«

Don Julius’ Hände lagen noch immer auf Markétas Hüften, braun und lauernd wie zwei kräftige kleine Tiere.

»Dämpfe steigen auf, das Destillat läuft zurück im Pelikan.«