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26
Über Krumau goss es aus allen Himmelsschleusen, dass man die Moldau bis in die Burg herauf gurgeln hörte, und Don Julius war in allerbester Stimmung. Eben hatte die Glocke unten im Städtchen achtmal geschlagen - oder vielleicht auch siebenoder neunmal, was scherte es ihn? Wollüstig wälzte er sich in den Seidenpfühlen des gräflichen Paradebettes, das von einem dunkelblauen Samthimmel überspannt wurde und wenigstens drei auf drei Meter maß.
Ah, die väterliche Majestät wird Augen machen, dachte er, wenn erst nach Prag vermeldet wird, dass hier auf Krumau Dreck in Gold verwandelt worden ist - unter der Regentschaft Eures Sohnes, allerherrlichster Herr! Laut Hezilow war die Transformatio für einen Erleuchteten seines Grades »ganz geringfiegiges Kunststick, Euer Gnaden«
- und wie käm ich dazu, an seinen Worten zu zweifeln, dachte Julius, Mariandls Astrolog hat mir ja alles aufs Haar genau so vorausgesagt. Die geschaffene Kreatur und den erleuchteten Magister, die gleich nach seiner Ankunft auf Burg Rosenberg erscheinen würden; Ströme funkelnden Goldes und geschaffener Bälger, die bald schon aus dem Gewölbe unter der Burg hervorquellen würden ...
Julius reckte sich nach der Messingglocke, die an einem burgunderroten Strang vom Himmel hing, und läutete ungestüm. Einen Herzschlag drauf erschien sein persönlicher Kammerdiener, den er stets nur Robert nannte, nach dem Vertrauten seines kaiserlichen Vaters zu Prag.
»Ich hab einen Hunger wie ein Bär, Berti!«, rief ihm Julius entgegen und rieb sich den Bauch unter seinem Nachthemd, das mit dem Rosenberg’schen Wappen in Rot und Silber bestickt war. »Apropos Bär - wir brauchen Braunbären für den Burggraben, ganz so, wie’s früher bei Wilhelm war. Sag d’Alembert, er soll sich drum kümmern, ja?«
»Wie Ihr befehlt, Exzellenz.«
Ah, cher maître, ich werd dir zeigen, wer fortan das Stöckchen in der Hand hält. Mit heiterem Lächeln sah er zu, wie der junge Robert von Fenster zu Fenster ging und die schweren Samtvorhänge aufzog. Draußen rauschte noch immer der Regen, und der Himmel war von der Farbe alten Bleis. Plumbum! Hezilow hatte gestern gleich zehn Fässer voll bestellt, außerdem Schwefel und Kalk, allerlei Säuren und Salze sowie Himmelskraut, bei Vollmond zu pflücken, dazu zweihundert lebendige Zitterlinge, die abstoßendsten Pilzgewächse auf Erden. Der Gallert des Zitterlings, tremella nestoc, so der Puppenmacher, beschleunigte die Fäulnis, aus der das alchimistische Gold emporblühen würde.
Alles, alles, was er will, soll er bekommen, sagte sich Julius, Metalle und Pulver, Truhen voller Geld und Kutschen voller Gehilfen - wenn er nur geschwind seine magische Kraft beweist und mir im Triumph zurück nach Prag hilft! Er warf die Polster zurück und wälzte sich seitwärts aus dem Bett. Robert sprang gleich herbei, um ihm den Nachttopf mit dem gräflichen Wappen zu reichen, und Julius zog sich das Schlafhemd bis zum Nabel hoch und sah voller Behagen zu, wie der zitronengelbe Strahl in die Schüssel schäumte.
»Was wünschen Eure Exzellenz heut zu speisen?« Mit seinem runden Böhmengesicht, den semmelblonden, scharf gescheitelten Haaren und dem Knödelbäuchlein unter der blauen Uniform sah Robert wie eine verjüngte Kopie des väterlichen Kammerdieners aus, des einzigen Menschen wahrscheinlich, dem die einsame Majestät überhaupt noch über den Weg traute.
»Gebratenen Kapaun, was sonst«, gab Julius zurück, »mit Kastanien aus Chiavenna angestopft. Und dazu Burgunder und rote Trauben, und bring Marzipan - aber das gute, aus Siena, hörst du, nicht wieder so ein griesiges Imitat! Sag dem Maître, dass ich seine Schliche durchschaue - allesamt und immer schon! Oder nein, Robert, das sag ich ihm besser selbst.«
Wenn ich es wage. Auf einmal wurde ihm flau. Auch das geschlachtete Mariandl fiel ihm gleich wieder ein, ihr Blut an seinen Händen, die ruchlose Intrige, durch die er aus dem Hradschin gedrängt worden war. Aber wenn die väterliche Majestät erst erkennt, was ihr verstoßener Sohn alles vermag, sagte sich Julius, muss sie die Verbannung im Handumdrehen aufheben. Und wer auch immer mir das Mariandl untergeschoben hat, wird grässlich dafür büßen.
Er stülpte die Lippen vor und reichte Robert den Nachttopf. »Ah, noch eins: Erinnere Madame Markéta, dass ich mit ihr zu frühstücken wünsche, hier in meinem Schlafgemach! Und von Breuner soll uns auftischen, die Maid wird Augen machen!«
Während Julius in sein Bett zurückklomm, begann seine Stimmung bereits wieder zu steigen. Markéta! Wenn er nur an sie dachte, drängte es ihn schon zu lächeln, dabei hätte er gar nicht sagen können, was er an der Badersmaid so erheiternd fand. Wie sehr sie stets auf ihre Würde bedacht war, na, das war in der Tat recht komisch. Oder nein, an andern Weibern hätte er’s lachhaft gefunden, wenn sie Brüstchen und Ehre vor ihm zu verwahren suchten, aber bei Madame Markéta Pichlerovâ ...
Er warf sich rücklings in die gräflichen Kissen und musste auf einmal grinsen, als er sich in Erinnerung rief, wie sie ihn gestern angesehen hatte: die Augen funkelnd, die Wangen gerötet, aber so, als ob sie selbst sich ihrer Empörung keineswegs sicher wäre. Und trotzdem schüchterte sie ihn manchmal geradezu ein! Ei, wie denn das? Obwohl Euer Gebaren ganz und gar unzimperlich ist, Madame, flößt Ihr mir auf geheimnisvolle Weise den Wunsch ein, mich moralisch zu bessern. Ha! Ganz anders als Johanna von Waldstein, deren gesteifte Würde und totenäugige Kühle ihn stets nur reizten, die ewig Verlobte zu kränken, durch Nichtachtung oder offene Niedertracht, je nachdem.
Auch wenn die Pfaffen mich längst zu immerwährendem Schmachten in der Hölle verdonnert haben, bin doch auch ich zu höheren Regungen fähig, zumindest in Markétas Gegenwart. Das Sujet begann ihn zu verdrießen, er schob eine Hand unter sein Hemd und bohrte missmutig in seinem Nabel. Wie dieser Flor wohl die Nacht verbracht hatte? Eigentlich hatte er den Geschaffenen, Rolfie, Flor oder wie er letzten Endes heißen mochte, wieder in den Karzer sperren lassen wollen, aber Markéta hatte sich für ihn eingesetzt wie eine Löwin für ihr Junges: »Wenn in Eurer Brust ein menschliches Herz schlägt, Exzellenz, dann gebt Flor frei!« So, mit genau diesen Worten, mit blitzenden Augen und vor zornigem Eifer geröteten Wangen, hatte Markéta sich für den Nabellosen ins Zeug gelegt, gestern Mittag, als sie aus dem laboratorischen Gewölbe wieder emporgestiegen waren. »Er hat keinem was zuleide getan - im Gegenteil, seht ihn Euch doch an: Der arme Bursche muss Furchtbares erlebt haben! Und überlasst ihn um Himmels willen nicht Hezilow.«
Zu seiner eigenen Überraschung hatte Julius zugestimmt, mit wegwerfendem Lachen: »Ihr sollt Euren Willen haben, Madame, der Nabellose kann sich frei zwischen den Burgmauern bewegen - unter einer Bedingung!«
Ihre Augen hatten Funken gesprüht, und dazu war sie bis in die Stirn hinauf errötet. »Was für eine Bedingung - Exzellenz?«
»Dass Ihr morgen früh mit mir speist, Madame.«
»Wenns weiter nichts ist!«
Wie arglos die Badersmaid eingewilligt hatte, dachte Julius nun, die Hände hinter dem Kopf verschränkend, während die Tür aufsprang und von Breuner an der Spitze eines halben Dutzends blau geschürzter Kuchelmägde ins gräfliche Schlafgemach stolzierte.
»Die angewiesenen Speisen, Euer Liebden.« In seinen Händen trug der hagere Haushofmeister ein gewaltiges Silbertablett mit krummen Eisenbeinen, darauf zwei Teller mit dem gräflichen Wappen, nebst Leinenservietten, Kristallkelchen und einer Schale dampfend heißen Wassers. Er trat vors Bett, verbeugte sich und setzte das Tischlein neben Julius auf die Matratze, wobei sich seine Wangen blähten, als ob er einen Hustenreiz verbisse. Dann wich er zur Seite und beaufsichtigte die Kuchelmaiden, die nacheinander gefüllten Kapaun und weißes Brot, Saucen und Burgunder, Trauben und Marzipan servierten.
»Ausgezeichnet«, sagte Julius, mit einer Hand nach der jüngsten Kuchelmagd haschend, »Madame Markéta möge eintreten!«
Von der Tür her erklang ein Hüsteln. »Halten zu Gnaden, noch einen Augenblick, Exzellenz.«
»Was soll das heißen, Robert?«
»Nun, der Maître sucht nach Madame .«
»Und der Nabellose?« Julius setzte sich so heftig in den Kissen auf, dass die Sauce aus der Schüssel schwappte.
»Anscheinend hat er im Frauenzimmer übernachtet, und nun ist er mit Madame Markéta .«
»Kein Wort mehr!« Julius knirschte mit den Zähnen. Seine Hände fuhren durch die Luft wie von der Leine seines Willens losgerissene Tiere, aber die Kuchelmägde hatten sich allesamt schon in Sicherheit gebracht. Nur von Breuner stand noch neben dem Bett, die Arme angewinkelt, als ob er noch immer ein Tablett vor sich hertrüge.
»Raus mit euch!«, schrie Julius. »Schafft mir Markéta herbei -auf der Stelle! Und den Nabellosen werft in den Turm, bei Wasser und Brot, ich befehl’s!«
»Und ich fleh Euch an, Don Julius - haltet Euer Versprechen, wie ich das meine halte, hier bin ich ja!« Mit diesen Worten erschien tatsächlich die Badersmaid in der Tür.
Augenblicklich begann Julius’ Zorn zu verrauchen. »Tretet näher, Madame«, sagte er, »alles ist bereit für Euch. - Und ihr schert euch endlich zum Teufel!«, herrschte er von Breuner und Robert an, die noch immer wie Skulpturen neben seinem Bett verharrten.
Die beiden eilten davon und rannten dabei fast den Maître über den Haufen, der eben hatte eintreten wollen. Dann schlug die Tür zu, und Julius war endlich mit Markéta allein.
»Komm her«, sagte er und sah sie aufmerksam an. »Du hast mich warten lassen. Na komm schon, setz dich zu mir.«
Er klopfte zu seiner Rechten auf die Matratze, dass der Kapaun ins Schaukeln geriet, doch Markéta rührte sich nicht von der Stelle. Sie stand mitten im Schlafgemach und hatte einmal mehr ihre störrische Miene aufgesetzt. Außerdem trug sie wieder das hellbraune, hochgeschlossene Kleid, dabei hatte er strengstens befohlen, ihr diesmal das burgunderrote umzuschnüren, dessen Ausschnitt fast bis zum Nabel reichte. Apropos Nabel - »du hast diesen Flor im Weiberflügel nächtigen lassen?« Seine Unterlippe zuckte. »Wo hat der Nabellose die Nacht verbracht - etwa an Eurem Busen, Madame? - So tretet endlich näher und steht nicht herum wie ein neuspanisches Idol!«
»Er . er muss in der Frühe hinausgeschlichen sein.« Sie sprach stockend wie jemand, der sorgsam seine Worte wählt. »Es stimmt, dass ich ihn mit zu ... mir genommen hab, Herr, aber er wollte vorn im Empfangsraum schlafen, und als ich heute früh ... aufgestanden bin, da war er fort. Aber Flor ist bestimmt nicht aus der Burg geflohen«, setzte sie rascher hinzu, als Julius die Stirn runzelte, »ich glaub, er erträgt’s einfach nicht lange, hinter geschlossenen Türen zu sein.«
So ähnlich wie du, dachte er, nach ihren nackten Zehen spähend, die unter dem Kleidsaum hervorlugten. »Und da hast du ihn also gesucht?«
Sie senkte den Kopf, aber nur ein wenig. »So ist es, Exzellenz. Ich bin durch alle Höfe gelaufen und hab immer wieder seinen Namen gerufen, bis ich dann hörte, wie der Maître seinerseits nach mir geschrien hat. Da bin ich gleich zu Euch geeilt, um mein Versprechen einzuhalten .«
»Nur aus diesem Grund?«, fragte er und musste schon wieder lächeln über die treuherzige Art, in der sie vor ihm Rechenschaft ablegte.
»Aus welchem Grund denn sonst?« Sie sah ihm noch immer mit einem Ausdruck wohlanständiger Empörung ins Gesicht. Doch zumindest kam sie nun näher und setzte sich sogar an den Rand seines Bettes, so allerdings, dass das Tablett voller Köstlichkeiten zwischen ihnen blieb.
»Zum Beispiel, um deinen Appetit zu stillen?«, fragte er und sah mit wachsender Heiterkeit, dass sie wieder errötete, ganz so, als hätte auch sie bei diesen Worten nicht nur an Kapaun mit Kastanien gedacht. Mit Daumen und Zeigefinger zwickte er einen Happen von dem knusprigen Braten ab und hielt ihn kurz unter Markétas Nase, dann schob er ihr den Bissen mitsamt seinem Finger in den Mund.
Für einen winzigen Moment fühlte Julius ihre Zunge, die über seine Fingerkuppe fuhr. Dann schnappten ihre Zähne zu, so kräftig und rasch, dass er sich sputete, seinen Finger in Sicherheit zu bringen. »Du würdest dich nicht scheuen, mir ein Glied abzubeißen, wie?«
Sie kaute nur hingebungsvoll, ohne ihn aus dem Blick zu lassen. Der Glanz ihrer Augen und ihre gelöste Miene verrieten, dass sie an diesem Spiel Gefallen fand - so wie auch Julius selbst, der nie zuvor so umschweifig mit einer Maid getändelt hatte.
Markéta brach sich einen weiteren Happen vom Kapaun, kaute wieder genüsslich und leckte sich endlich die vor Fett glänzenden Finger. »Seht Ihr mir nur beim Essen zu - oder nehmt Ihr auch selbst etwas?«
»Ich warte«, sagte er und schaute sie wieder aufmerksam an.
»Warten - worauf denn?«
Anstelle einer Antwort schob er seinen Zeigefinger in die Höhlung des Kapauns und fischte ein wenig von der Kastanienpaste heraus. Ohne den Blick von Markéta zu wenden, führte er seinen Finger wiederum vor ihre Nase und wedelte damit hin und her. »Darauf, dass du ihn abschleckst«, sagte er, »bevor du auch mich etwas kosten lässt - am besten diese saftige Beere.« Und er deutete auf die Rebe voll blutroter Trauben, die auf der feuchten Silberschale prangten, neben Markétas Hüfte, über der sich das schlammbraune Samtkleid spannte.
27
Der Marzipanstab war mit einer dicken Schokoladenschicht überzogen, und auf mysteriöse Weise hatte Don Julius sie dazu gebracht, den süßen Stab gemeinsam mit ihm auszusaugen. Auf dem gräflichen Lager kniend, die Köpfe einander zugeneigt, balancierten sie ihn zwischen ihren Mündern, während sie mit Lippen und Zungen, jeder von seiner Seite, den zarten Schmelz hervorsogen und -leckten. Julius selbst ist ja ein Zauberer, wozu braucht er da den scheußlichen Hezilow?, dachte Markéta, die sich ein wenig benommen fühlte, nicht nur des Burgunders wegen.
Draußen hatte es aufgehört zu regnen, vor den Fenstern sengte die Sonne die letzten Wolkenreste vom Himmel über den Moldau-Auen, doch Markéta nahm es bloß am Rande wahr. Ihr derzeitiger Himmel war aus blauem Samt, von dem an einem roten Strang ein Messingglöckchen hing, ihre Aue ein schwankendes Geviert voll schwellender Seidenpolster. Anstelle der Moldau zogen sich Rinnsale aus Burgunder und Bratensauce durch die Leinenhaine, und die über alledem scheinende Sonne war das Antlitz eines jungen Gottes mit zerzaustem Haar und haselbraunen Augen, die unverwandt ihren Blick festhielten, funkelnd vor Leidenschaft. Atemlos sogen sie beide am sämigen Marzipanschmelz, und Markéta stellte sich eben vor, was sie mit dem fertig ausgehöhlten Schokoladenrohr anfangen könnten, als mit einem Mal an die Tür gepocht wurde.
»Nicht jetzt, Berti!«, rief Julius undeutlich, wobei der Marzipanstab zwischen ihren Mündern bedenklich zuckte.
»Der Maître!«, hörte Markéta den Kammerdiener antworten, »er besteht drauf, mit Euch zu sprechen, Exzellenz - wegen des Puppenmachers!«
»Hezilow!« Julius schrie den ihr verhassten Namen heraus, so schallend, dass Markéta zurückfuhr und der süße Stab ins rot verfleckte Laken zwischen ihren Knien fiel. »Worum geht’s, mon cher maître?«, fragte Julius in verändertem Tonfall.
»Um die Männer Eures Magisters, Excellence.« Charles d’Alembert stand bereits auf der Schwelle, von verkniffener Eleganz wie stets.
»Jetzt nicht«, brummte Julius wieder, Lippen und Kinn mit Schokolade verschmiert; offenbar traut er sich kaum, auch nur die Stimme gegen seinen Maître zu erheben, dachte Markéta erstaunt.
D’Alembert wandte sich nun direkt an sie, die sich mit hastiger Hand den süßen Schmelz vom Mund wischte. »Lasst uns einen Augenblick allein - s’il vous plaît, madame.«
»Madame Markéta bleibt.« Mit trotziger Miene sah Julius zum Maître hinüber. »Ich hab keine Geheimnisse vor ihr - im Gegenteil.«
Wie sollte sie sich jetzt nur verhalten? Unsicher blickte Markéta von Don Julius zu d’Alembert, der im Türrahmen erstarrt schien. Julius macht sich lustig über mich, dachte sie, anders kann’s ja nicht sein! Keine Geheimnisse - vor mir?
Auf einmal wurde ihr bewusst, dass sie noch immer in seinem Himmelbett kauerte, und das Blut schoss ihr ins Gesicht. Rasch schwang sie ihre Beine seitlich heraus; da erst dämmerte ihr, warum der Maître anscheinend so beunruhigt war. »Die Männer des Magisters?«, wiederholte sie, barfüßig auf den Teppich springend. »Wen meint Ihr damit, Monsieur d’Alembert?«
»Hezilows Gehilfen, ein halbes Dutzend.« Der Maître ließ Julius keinen Moment lang aus den Augen. »Sie sind heute früh eingetroffen und auf Befehl des Grafen eingelassen worden.«
Ein Schauer lief Markéta zwischen den Schulterblättern hinab. Vor ihrem geistigen Auge sah sie die wirrbärtigen Gesellen in dunklen Lumpen, die seit Wochen in der Stadt herumlungerten und den kleinen Puppenmacher wie Fliegen umschwärmten.
»Und seitdem schleichen sie überall in der Burg umher«, fuhr d’Alembert fort, »auf der Suche nach dem Nabellosen. Offenbar hat ihr Meister ihnen befohlen, den Knaben ins Alchimistengewölbe zu schaffen.«
Markéta wandte sich wieder Julius zu. »Aber Ihr habt mir versprochen, dass ihm kein Leid geschehen soll!« Das Herz zog sich ihr zusammen. Ob er Hezilows Kerlen schon in die Hände gefallen war? Hatte sie Flor deshalb vorhin vergeblich gesucht?
Julius gab ein verdrießliches Brummen von sich, doch ehe er antworten konnte, hob d’Alembert sein Stöckchen. Mit energischen Schritten trat er ins Zimmer und schloss hinter sich die Tür. »Der Nabellose ist im Moment das geringste unserer Probleme, Excellence.« Er warf Markéta einen ab schätzenden Blick zu. »Ihr wisst, was sich vor drei Tagen in Prag ereignet hat, Madame - im Schlafgemach von Don Julius?«
»Woher soll sie’s wissen, da ich’s ja selbst nicht weiß!«, rief Julius dazwischen. »Niemand weiß es - außer den Mördern und Verschwörern, die mir ...«
Wieder hob d’Alembert sein Stöckchen, und Julius verstummte.
»Kein Wort mehr, Excellence, ich bitte Euch.«
Da stieg eine wilde Wut in Markéta auf, Mitgefühl mit Julius, doch mehr noch Zorn auf d’Alembert, der seinen Schützling dirigierte wie eine Marionette. »Warum kein Wort«, fuhr sie den Maître an, »Don Julius hat ja grad gesagt ...« Vor Schreck biss sie sich auf die Unterlippe, doch dann bemerkte sie, dass Julius sie mit strahlender Miene ansah. »Gar nichts weiß ich«, fuhr sie leiser fort, nun direkt an Julius gewandt, »nur dass Ihr in Prag anscheinend irgendwem im Weg wart. Aber Euer Herr Vater, der Kaiser, wird doch den Verleumdern nicht glauben?« Neuerlich stieg ihr das Blut in die Wangen, während Julius’ Lächeln immer breiter wurde.
Mit unbewegter Miene sah d’Alembert ihr ins Gesicht. »Verübelt mir das offene Wort nicht, Madame: Ich hege allergrößte Zweifel, dass Euer bisheriger Lebensweg Euch befähigt, die in Frage stehenden Ereignisse zu beurteilen.«
Der Maître war eine Handbreit kleiner als sie, und seinem Schützling reichte er eben bis zur Schulter. Und doch ging von diesem sehnigen kleinen Mann eine so kalte Kraft aus, dass Markéta sich zwingen musste, nicht den Kopf zu senken, wie sie’s eben bei Julius gesehen hatte. »Dann sagt mir, wie Ihr sie beurteilt - ich bitt Euch, Monsieur«, fügte sie hinzu, ohne ihren Blick von d’Alembert abzuwenden.
In seinem Lächeln schimmerte etwas wie Respekt auf; aber das hatte sie sich wohl nur eingebildet. Der Maître klemmte sein Stöckchen unter den Arm und wandte sich an Julius. » Vollkommene Ruhe in Krumau«, sagte er, »ich bin sicher, Ihr wisst, Excellence, wer mir diese beschwörenden Worte gesandt hat. Auch im Namen dieser so selbstlos um Euch besorgten Dame flehe ich Euch an: Unterlasst alles, was den kaiserlichen Zorn noch weiter schüren könnte. Sorgt im Moment vor allem dafür, dass der russische Magister sich peinlichst an die Gesetze von Kaiser und Kirche hält.«
Julius hockte noch immer im Himmelbett, das fleckige Nachthemd bis über die Knie emporgerutscht. »Hezilow, maître?«., brummte er. »Was hat der denn mit der Prager Kabale zu tun?«
Der Maître ließ einen melodischen Seufzer erklingen. »Ihr versteht mich schon recht, Excellence: Der Magister mag drunten in den Alchimistengewölben werkeln, wie er will, solange . « Er unterbrach sich und lauschte nach draußen, wo in diesem Moment ein keckernder Schrei ertönte. »Solange«, setzte er aufs Neue an, »durch Hezilows Experimente nur keine Menschenseele zu Schaden kommt. Hört Ihr, Euer Liebden: niemand!«
»Und hört Ihr das, Maître«, sagte Markéta hastig, ehe d’Alembert weitere Beschwörungen hinzufügen konnte, »diese Schreie - das ist Flor!«
»Der Nabellose?«
D’Alembert und Julius riefen es wie aus einem Mund, doch Markéta nickte ihnen nur zu, dabei mit gespannter Aufmerksamkeit zum Fenster hin lauschend.
»Ké-kéta, hilf!«, meinte sie zu verstehen. »Hi-hilf, Ké-kéta, hilf!«
»Er ruft nach mir«, sagte sie, »Hezilows Lumpenkerle sind wahrhaftig hinter ihm her.«
D’Alembert deutete eine Verbeugung in Richtung der gräflichen Bettstatt an. »Wenn Ihr gestattet, sprechen wir später weiter, Excellence. Sicher ist es in Eurem Sinn, wenn ich Madame begleite.«
Noch während er sprach, eilte Markéta zur Tür. Auf der Schwelle wandte sie sich noch einmal um zu Julius, der unter seinem Samthimmel saß und ihr mit verlorenem Lächeln hinterhersah.
Abermals erklang von den Fenstern her der keckernde Schrei. »Kékéta, hi-hilf!«
Erst als sie draußen durchs Vorzimmer hastete, vorbei an Robert, der ihr mit weit aufgerissenen Augen entgegenschaute, wurde ihr bewusst, dass sie sich von Don Julius nicht einmal verabschiedet hatte, geschweige denn sich für das delikate Frühstück bedankt. Ich hoff auf baldige Wiederholung, Exzellenz, dachte sie, wie schade, dass wir gestört wurden, ehe unsere Zungenspitzen sich in der Mitte des Marzipanstabs trafen. - Heda, Mädchen, was soll Hochwürden Hasek zu solchen Ferkeleien sagen?, stellte sie sich selbst zur Rede; währenddessen lief sie schon durch den Flur und die Treppe hinab, barfuß neben dem Maître, der in seinen weißen Schnabelschuhen dahinglitt wie in venezianischen Gondeln.
Seite an Seite traten Markéta und d’Alembert unten aus der Tür, in den Schein der Mittagssonne, der die antikischen Wandgemälde erstrahlen ließ.
»Der nabellose Knabe scheint oben im Park zu sein«, sagte er in beiläufigem Tonfall.
Nie zuvor in ihrem Leben war Markéta einem Menschen begegnet, der sich so vollkommen in der Gewalt hatte wie Maître Charles d’Alembert. Sie wandten sich nach rechts, ihre Schritte aufs Neue beschleunigend. Im Trab durchquerten sie den vierten Burghof, wo die Syrakuser und etliche weitere Jugend müßig wie Katzen in der Sonne lagen.
»Wenn sie ihm auch nur ein Härchen krümmen ...!«: Sie stieß es hervor und wusste dann nicht, wie sie ihren Satz beenden sollte, nicht nur des steilen Anstiegs zum Schlosspark wegen, der ihnen beiden die Atemluft nahm. In ihrer Vorstellung lag sie auf einmal rücklings neben Julius, der sich über sie beugte, um Kastanienpaste von ihrer Haut zu schlecken, und die Bauchdecke zog sich ihr zusammen vor lüsternem Behagen, Rasch und reuig dachte sie wieder an den armen Flor, der oben durch den Park hetzen mochte, von den Häschern des Puppenmachers gejagt. »Wenn Hezilow auf der Burg bleibt«, sagte sie keuchend, »muss Flor fort von hier - und ich mit ihm.«
»Das wird keinesfalls gehen«, wandte d’Alembert ein, »Don Julius hat befohlen .« Aber Markéta hörte nicht länger auf ihn. Eben erreichten sie die Ebene über der Burg, wo sich der Schlosspark befand, mit dem künstlich angelegten, streng rechteckig geformten Teich in der Mitte, den eine breite Eichenallee säumte.
Auf der kreisrunden Schwaneninsel inmitten des Gewässers hockte Flor, ein blitzendes Ding in der Hand. Aufgestört fauchten die schwarzen Schwäne, die sich im Dutzend am Rand der Insel versammelt hatten, das Gefieder gebläht und die Hälse gereckt. An jeder Ecke des Teichs stand ein Soldat der gräflichen Salvaguardia, alle vier reglos wie Statuen und offenbar nicht gewillt, zugunsten des Nabellosen einzugreifen. Im Wasser aber trieben nicht weniger als fünf plumpe Boote, die das Eiland in geringer Entfernung umkreisten, besetzt mit ebenso vielen Lumpenkerlen aus Hezilows Gefolge.
»Ich muss zu ihm«, rief Markéta aus, »sofort, Monsieur!«
Charles d’Alembert fasste sie am Arm, als ob er sie zurückhalten wollte. Dann jedoch führte er sie geradewegs auf den Wächter zu, der ihnen am nächsten postiert war. »Steigt ein, Madame«, sagte er, auf das am Ufer liegende Boot deutend, »der Soldat wird Euch zur Insel rudern. Die anderen drei Gardisten sorgen unterdessen dafür, dass Euch kein Leid geschieht, notfalls mit Hilfe ihrer Gewehre.«
Tröstlich gemeinte Worte, dachte Markéta, auch wenn sie weit eher beunruhigend klangen. Und doch fühlte sie sich gelassen und bereit, Flor zu Hilfe zu eilen, als sie ihr Kleid emporraffte und, von d’Alembert gestützt, in den altersschwachen Kahn stieg. Dann erst sah sie, mit jähem Erschrecken, die Wunde auf der Wange des Soldaten, der nach ihr ins Boot sprang, vier blutrote Striemen, die in der Mittagssonne leuchteten.
»Obacht, Badershur«, murmelte Jan Mular, fast ohne die Lippen zu bewegen, »dass bloß die Kerle da draußen dich nicht in ihre Pratzen kriegen.« Und er stemmte sich in die Riemen, dass das Wasser aufschäumte und ihr Boot in wilder Fahrt der Schwaneninsel entgegenflog.
28
Seit dem Morgendämmer war Flor ziellos hier droben durch den Schlosspark gestreunt, gepeinigt von innerer Unrast, die nur umso ärger wurde, je länger er umherlief. Auf einmal hatte er Schritte gehört, hinter sich in der feuchten Wiese rauschend, dazu Wispern und Räuspern aus groben Kehlen. Er hatte sich hinter einem Eichbaum verborgen, doch die Männer, ein halbes Dutzend oder mehr, hatten ihn längst bemerkt. Langsam kamen sie näher, wobei sie sich geschickt im Gelände verteilten, und Flor erkannte, dass sie gekommen waren, um ihn zu fangen.
So war es ihm schon einmal ergangen, ganz genau so! Die Erinnerung traf ihn wie ein Hieb. Für einen Moment sah er alles wieder vor sich: den weiten Park, lieblicher als dieser hier, das herrschaftliche Gutshaus, in der Morgensonne glänzend, viel heller, viel kleiner als die hiesige Burg. Und doch war sonst alles wie damals: Auch dort war er frühmorgens im Park herumgestrichen, hatte auf einmal gemerkt, dass er beobachtet, von schleichenden Schritten verfolgt wurde. Damals hatten sie es geschafft, ihn einzukreisen, immer enger zu umzingeln, bis er plötzlich ihre Hände im Nacken, an seinen Armen gespürt hatte. Diesmal aber rannte er davon, ehe die Falle sich schließen konnte. Und die Lumpenkerle hinter ihm her, unter heiseren Flüchen, über die Wiese, durch Unterholz und Büsche, bis zur Eichenallee am Schwanensee. Atemlos stand er am Ufer, sah nach links und rechts, und von überall kamen die Kerle auf ihn zu. Wie ihre Stiefel im Wegsand knirschten, wie ihre Schatten näher und näher herangaukelten, schaurig lang und spindelspitz in der Morgensonne. Schon roch er den Gestank ihrer Lumpen, schon streckte der Erste eine Pratze vor, um ihn beim Arm zu packen - da machte Flor einen Satz, stolperte und versank im Schwanenteich.
Als er auftauchte, sprangen die Gesellen eben in die Boote, die eins neben dem andern am Ufer vertäut lagen; schon stemmten sie sich in die Riemen und jagten hinter ihm her. Ihr Keuchen in der Morgenstille, die klatschenden Laute, wenn die Ruder ins Wasser platzten, dazu die Alarmrufe der Amseln in den Bäumen und der Schwäne vom Inselchen her, auf das Flor aus Leibeskräften zuschwamm.
Er war schon fast an der Insel, als ihn ein Ruderhieb hart an der Schulter traf. Da stieß er einen Schrei aus, vor echtem Schmerz und mit hellsichtiger List, ließ sich auf den Grund des Teichs sinken, tief hinab in die entengrüne Grütze, umwatete die kleine Insel und kroch auf der rückwärtigen Seite leise hinauf.
Augenblicke lang lag er dort im Schilf, keuchend und verzweifelt bemüht, sich nicht durch lautes Atmen, durch Husten gar zu verraten. Die Insel mochte fünf Schritte im Kreis messen, in der Mitte erhob sich der struppige kleine Hügel, der ein wenig Deckung bot. Nicht nur die Hatz durch Hezilows Gesellen hatte er schon einmal erlebt, durchfuhr es Flor, auch den Sturz ins Wasser, das verzweifelte Tauchen in trüben Fluten; doch da war er erst wieder zu sich gekommen, als die beiden Büttel ihn geschüttelt und ins Baderhaus geschleift hatten. Und vorher? Wie war er dorthin gelangt, in den Fluss, den Markéta und die Ihren Moldau nannten? Undeutlich sah er einen Steinkrug vor sich, den eine schwarz behaarte Hand ihm reichte - Hezilow? Und dann sich selbst, wie er den Krug an die Lippen setzt und den Trunk gierig in seine Kehle gießt, um seinen brennenden Durst zu stillen. Und darauf - Schwärze, gar nichts mehr, Finsternis wie im Grab. Bis er sich auf einmal unter Wasser fand, in reißenden Fluten, wie im ärgsten Alptraum um sein Leben kämpfend.
Jener Trunk, wurde er ihm eingeflößt, damit er alles, was vorher war, vergaß? Während Flor noch die Nebelwelt seiner Erinnerung durchforschte, begannen um ihn herum die Schwäne zu fauchen, ihr schwarzes Gefieder zu blähen, mit ihren Schnäbeln gegen den Eindringling zu klappern, der tropfnass und nackt bis zum Gürtel auf ihrem Stückchen Erde lag. Und sich seinerseits den Kopf zermarterte, auf welches Erdenstück er gehören mochte, wenn er nicht tatsächlich aus einem Klumpen Dreck geschaffen worden war, von Hezilows Händen und Gnaden.
Drei der verstrüppten Gesellen blieben in den Booten, rings um die Insel verteilt, die beiden anderen ließen den Kiel in den Uferschilf schrammen und taumelten an Land. Da begann Flor zu schreien, so grell, so durchdringend, dass es überall in der Burg erschallte:
»Ké-kéta, hilf! - Hi-hilf, Ké-kéta, hilf!«
Und so immer weiter, unterbrochen nur vom Fauchen der Schwäne, vom Schnattern der Enten und von heiseren Flüchen der beiden Gesellen, die unschlüssige Blicke wechselten und dennoch näher und näher kamen.
Flor war aufgesprungen, dabei unablässig weiterschreiend. Der eine Lumpenkerl schnappte nach seinem Arm, der andere ließ sich blitzartig fallen, im Hernieder stürzen nach seinen Fußknöcheln haschend. Keuchend kollerten sie über den Boden, auf dem Federn, Schwanenkot und dürre Zweige verstreut lagen - dazwischen ein Dolch mit krummer, stark angerosteter Klinge, den Flor gedankenschnell packte, während er immer weiter schrie: »Ké-kéta, hilf! - Hihilf, Ké-kéta, hilf!«
Anscheinend hatte der eine Lumpenkerl im Niederstürzen das Messer verloren; Flor jedenfalls nutzte den Moment der Verwirrung, als die Gesellen die Klinge in seiner Hand sahen, riss sich los und sprang neuerlich auf. Drohend schwang er die Waffe empor, dann senkte er sie, einer jähen Eingebung folgend, und drückte die Spitze auf seine linke Brust.
»Ma-markéta, hilf! - Zu-zurück, Kohlenkerl, sonst ... ! - Ké-kéta, hilf, Markéta!«
Unterdessen hatten seine Schreie tatsächlich eine Reihe gafflustiger oder mitleidiger Burgbewohner aufgeschreckt, darunter auch d’Alembert und die Badersmaid, nach der sich Flor immer noch die Seele aus dem Leib schrie: »Ma-markéta, hilf! - Weg, Kerl, sosonst .! - Ké-kéta, hilf, Markéta!«
29
Nachdem er ihr alles berichtet hatte, was ihm an diesem Morgen widerfahren war, auf Burg Krumau und im namenlosen Gutshaus seiner Erinnerung, wirkte Flor tief erschöpft und doch nahezu glücklich, zum ersten Mal, seit er gestern zu ihr ins Badehaus gebracht worden war. Stammelnd und mit der freien Hand fuchtelnd hatte er auf Markéta eingeredet, Schulter an Schulter neben ihr auf dem kleinen Hügel kauernd, argwöhnisch beäugt von den beiden Lumpengesellen und den ebenso finster gefiederten Schwänen, die allesamt an den Rand der Insel zurückgewichen waren, wo die Kähne im Uferschilf lagen.
Einige Schritte abseits stand Jan Mular, klein und dicklich zwischen seinem Boot und einem verlassenen Schwanennest, die Muskete im Anschlag. Abwechselnd richtete er seine Waffe auf die beiden Wirrbärte im Uferschilf und ihre drei Spießgesellen, die in den Nachen vor dem Eiland trieben. Mulars Miene verriet, dass er die Badershur und den »Apparat aus Metall und Rädern« liebend gern Hezilows Leuten ausgeliefert hätte, doch drüben am Rand des Teichs stand d’Alembert und beobachtete, die Augen gegen die Sonne beschirmend, was auf der Schwaneninsel geschah.
Ihm gegenüber, am östlichen Ufer des Schlossteichs, bemerkte Markéta auf einmal den Puppenmacher, umgeben von drei weiteren seiner bärtigen Gesellen. Für einen Moment der Verwirrung schien es ihr, als ob d’Alembert und Hezilow eine gottlose Schachpartie austrügen: mit dem See und der Allee als ihrem Spielfeld, den vier Gardisten und den fünf Lumpenkerlen als hellen und dunklen Spielfiguren - und wer wären, fragte sie sich, dann sie selbst und der arme Flor?
Der Nabellose war an ihrer Seite immer weiter hinabgerutscht, bis er endlich in ihrem Schoß zu liegen kam, den Dolch in der Linken, ein Lächeln um die Augen, deren Lider sich flatternd senkten. Überwältigt von Zärtlichkeit und Rührung sah Markéta auf ihn hinunter; solange ich bei dir bin, dachte sie wieder, soll dir nichts Arges geschehen, kleiner Flor.
In Gedanken ging sie noch einmal durch, was da förmlich aus ihm herausgebrochen war. Vieles, was sich ihrem Verstand nicht leicht erschließen wollte, hatten ihr Herz und ihre Seele ergänzt. Hezilow und seine Gesellen haben ihn entführt und in jener »finsteren Halle« gefangen gehalten, dachte sie, während d’Alembert den Gardisten mit seinem Stöckchen diskrete Zeichen machte; und in diesem Gewölbe haben sie einen boshaften Hokuspokus veranstaltet, mit dem Drachen unterm Dach und was wusste sie denn noch allem, um den armen Flor glauben zu machen, dass er im alchimistischen Labor erschaffen worden sei. Deshalb auch der Trunk, überlegte sie weiter, den Hezilow ihm eingeflößt hat, um Flors Gedächtnis auszulöschen, ehe der Puppenmacher dafür sorgte, dass Flor vor den Toren von Krumau aufgefunden wurde - just zwei Tage nachdem Don Julius in die Burg eingezogen war!
Markétas Gedanken wirbelten im Kreis. Zumindest erahnte sie nun die Umrisse eines so verwegenen wie teuflischen Plans, von Hezilow ausgeheckt, damit der Kaisersohn ihn für imstande hielt, lebendige Kreaturen zu erschaffen. Aber wenn sich alles so zugetragen hatte, dachte sie dann, wie war’s zu erklären, dass Flors magerer Bauch, der sich unter ihrem Blick in tiefem Schlaf hob und senkte, von so unnatürlich muldenloser Glätte war? Als Baderstochter hatte sie schon mancherlei Verwachsungen gesehen, dreibrüstige Frauen, Menschen mit Affenfell und einmal sogar ein zweieiniges Zwillingspaar, junge Frauen, die an den Schläfen miteinander verbunden waren. Aber einen Nabel musste doch jedes Geschöpf haben, das von einer Mutter geboren worden war.
Ihr Blick schweifte zu den Ufern des Schwanenteichs, wo sich der Maître und der Magister noch immer wie zwei Kriegsherren gegenüberstanden, in elegantem Weiß der eine, der andere lumpenhaft schwarz. Und mit jener sprunghaften Logik, zu der der menschliche Geist zuweilen auch diesseits der Träume neigt, dachte Markéta auf einmal: Auch Mutter Bianca war ja eine leidenschaftliche Schachspielerin, im Gegensatz zu Vater Sigmund, der mit den »tumben Holzpuppen« nichts anzufangen wusste - aber was soll mir dieser Erinnerungsfetzen gerade jetzt?
»Hoch mit dir, Badershur!« Jan Mular trat neben sie, die Muskete im Anschlag. Mit der Stiefelspitze stieß er Flor das Messer aus der Hand. »Und der kalte Kerl hier auch!«
30
Die Mittagssonne stand schon hoch über Krumau, als d’Alembert durch den Nordflügel der oberen Burg eilte. Auch wenn die kaiserliche Majestät ihnen viel mehr Geld zugestanden hatte, als er selbst oder Katharina da Strada jemals zu hoffen wagten, war es doch von Anfang an zu wenig gewesen, in lächerlichem, ja beschämendem Grad zu wenig; aussichtslos, mit ein paar Dutzend Truhen voller Gold und Silber eine ausgeplünderte Herrschaft wie Burg Krumau wieder herzurichten. Entsprechend schäbig sah es beispielsweise hier oben im Dachgeschoss aus, die Tapeten hingen in Fetzen von den Wänden, und aus den Türstöcken rieselte Holzmehl.
Dabei hatten sie bei der Einrichtung von Burg Krumau wahrhaftig keine Mühen gescheut. Für d’Alembert war es ein weiterer Waffengang in seinem inständigen Kampf gegen die Hässlichkeit gewesen, seine persönliche Feindin seit jeher. Für die herrschaftlichen Räume hatte er Teppiche aus Venedig besorgt und Tischsilber aus Genua, wenn auch nicht aus der Silberschmiede von Sepossi, dem berühmtesten genovesischen Juwelier, dessen Preise das gesamte kaiserliche Handgeld auf einen Schlag verschlungen hätten. Die Gobelins für die unteren Etagen hatte Oberstkämmerer von Hasslach aus Amsterdam kommen lassen, ebenso die Goldledertapeten. Die Hässlichkeit beleidigt unsere Sinne, entwürdigt die Seele und demütigt unseren Geist, sagte sich d’Alembert, als Sterbliche sind wir alle der Hässlichkeit verfallen, in Kot und Fäulnis werden unsere Leiber sich zersetzen, aber bis dahin sollen Schönheit und Eleganz, Kunst und erlesener Glanz unser Leben regieren.
Die mürben Dielen knarrten unter seinen Füßen, weiter vorn in einer Dachkammer fiepten Ratten. O ihr Götter, dachte der Maître, wenn ich nur diesen Hezilow hinausdrängen könnte, aus der Burg, aus Julius’ Gesichts- und Gedankenkreis! Doch momentan blieb ihm nichts anderes übrig, als den schwarzen Widersacher zu dulden; aber keine Bange, sagte sich der Maître, er würde den Alchimisten einfach durch einen unerwarteten Zug in Schach halten.
Mit raschen Schritten näherte er sich der Rosenberg’schen Familiengalerie, die in die Dachkammern des Nordflügels eingepfercht war, doch seine Gedanken waren noch immer bei Hezilow. Heute früh, als der Russe ihm gegenübergestanden hatte, über den Teich hinweg zu ihm herüberfeixend, da hatte er für einen Augenblick gefürchtet, die Gegenwart des Grässlichen nicht länger zu ertragen. Am liebsten hätte er seinen Gardisten befohlen, Hezilow zu verhaften und in den Turmkerker zu werfen, aber eine solche Handlungsweise kam nicht ernstlich in Betracht. Ich werde ihn bändigen und unschädlich machen, auf meine Weise, wie schon so manche Bestie vor ihm, sagte sich d’Alembert; nach dem Vorbild von Petrusco Bandinello, dem legendären Milaneser Löwenbändiger, mit dem er vor fast zwei Jahrzehnten zusammengetroffen war.
»Um ein guter Dompteur zu werden, müsst Ihr als Erstes die Bestien bändigen, die zuhauf in Eurer eigenen Seele hausen: die Hyänen der Selbstzweifel, die Alligatoren der Angst vor Schmerz und Scheitern, die Drachen der geheimen Todeswollust.« Einen ganzen Abend lang hatte Bandinello ihn damals mit seinen goldenen Weisheiten traktiert, und die Begegnung mit dem Bändiger hatte sein Leben von Grund auf verändert. Nicht lange darauf hatte d’Alemberts steiler Aufstieg begonnen, der bis heute Bewunderer wie Neider in Erstaunen versetzte: von Rudolf II. an den Kaiserhof zu Prag gerufen, wo er, selbst beinahe noch ein Jüngling, mit der Erziehung des damals dreijährigen Julius beauftragt worden war. Eine Aufgabe, die wahrhaftig einen Bestienbändiger erforderte, das hatte er bald schon erkannt, und auch die kaiserliche Majestät schien gespürt zu haben, dass ihr unglückseliger Sohn Julius frühzeitig einer unerbittlichen Persönlichkeit unterstellt werden musste und dass der junge Charles d’Alembert, seiner zierlichen Erscheinung zum Trotz, dieses herausragende Maß an Willenskraft besaß.
Aus Gründen, die dem Maître selbst nicht ganz klar - und noch weniger geheuer - waren, hatte er über die Begegnung mit Bandinello zeitlebens Stillschweigen bewahrt. Am Tag nach ihrem Zusammentreffen hatte der Bändiger ihm ein hirschledernes Etui mit zwölf spiegelblanken Wurfmessern überbringen lassen, an denen d’Alembert seither regelmäßig seine Geschicklichkeit schärfte. Und bis heute rief er sich, wann immer er auch nur das leiseste Rascheln jener Bestien in seinem Innern vernahm, augenblicklich die Maximen des Berühmten ins Gedächtnis: »Ein guter Dompteur unterwirft jede Bestie seinem Willen, und es gibt nur gute Bändiger, jedenfalls unter den Lebenden.«
Auch dieses Mal bewährte sich die Reflexion, Charles spürte, wie Unruhe und Unbehagen in seinem Innern die Köpfe einzogen. Er lenkte seine Aufmerksamkeit den Gemälden zu; schließlich war er eines bestimmten Bildes wegen hier hochgestiegen, in die staubgeschwängerte Dachetage, wo Hunderte Rosenberg’scher Familiengemälde in engen Gängen und stickigen Zimmern hingen.
Einige Minuten darauf stand er vor dem Ölgemälde, dessen Abbild er offenbar in einem Hinterzimmer seiner Erinnerung bewahrt hatte. Einen großartigeren Ort hatte es auch sicher nicht verdient, dachte der Maître, indem er näher herantrat, um das Bildnis schärfer in den Blick zu fassen.
Angemessenerweise hatte es auch Wilhelm in einen unscheinbaren Winkel dieser Sammlung hängen lassen, die ohnehin nur minderrangige Bildwerke umfasste: Ahnenporträts, bei denen allein guter Wille die Farben angerührt und den Pinsel geführt hatte, dazu allerlei ölige Frömmeleien, mit schielenden Heiligen und pausbäckigen Engelsputten, die durch einen fettig goldenen Himmel segelten. Das Bild aber, das Charles nun angelegentlich betrachtete, zeigte keine Heilige und keinen Engel, auch keine Angehörige des Hauses Rosenberg, zumindest nicht nach weltlichem Gesetz. Die junge Frau auf dem Gemälde sah mit angespannter Miene auf ein Schachfeld hinab, auf dem sich der schwarze und der weiße König in geringer Distanz gegenüberstanden, beide nahezu entblößt von ihren Armeen. Sie hatte ein hübsches Gesicht mit braunen, lebhaften Augen, das von rossbraunen Locken umkräuselt wurde, und auch ihre schlanke Gestalt, soweit der Maler sie wiedergegeben hatte, ließ erahnen, dass die Weibsperson selbst wohlgeborene Herren zu betören vermochte.
Nun, jedenfalls weiß ich jetzt, an wen Madame mich erinnert, sagte sich Charles, der vor vielen Monaten ein einziges Mal hier oben gewesen war; auf sein Gedächtnis konnte er sich ebenso verlassen wie auf die Stoß- und Sprungkraft seines Leibes, den er seit dreißig Jahren regelmäßig auf dem Fechtboden stählte. D’Alembert führte seine Augen bis auf einige Zoll an das Bild heran und entzifferte die Jahreszahl im unteren rechten Eck des Gemäldes: 1587; dann wandte er sich gleichmütig ab.
31
Wieder schloss Flor die Augen und versuchte zu vergessen, um sich zu erinnern - zu vergessen, dass er auf dem lachsfarbenen Sofa im Frauenzimmer von Burg Krumau lag, stattdessen sich endlich zu erinnern, woher er kam und wer er war. Was nur war ihm widerfahren? Und wo lag jenes Haus, freundlich und hell, mit dem lieblichen Park, in dem er vor Hezilows Häschern geflohen war?
Er spürte Markétas Blicke auf sich, zärtlich und erwartungsvoll. Sie saß neben ihm im Sessel, schweigend, da sie glauben musste, dass er wieder schlief. Dabei war er vielleicht niemals wacher gewesen; verzweifelt versuchte er sich in jenen Park zu versetzen, und auf einmal war er wahrhaftig wieder dort.
Dämmerung - ein Morgen vor vielen Jahren wohl, denn auch sich selbst sah er wieder vor sich, wie er über jene Wiese lief: ein Kind noch, verängstigt und allenfalls zehn Jahre alt. Der Anblick des Kleinen rührte Flor fast zu Tränen, und das zärtliche Gefühl bewies doch, dass er endlich auf der rechten Spur war - oder etwa nicht? Dieser Knabe dort bin ich, dachte er, vor acht oder zehn Jahren, ich, ich, niemand sonst.
Der Junge trug nur ein paar Stofffetzen am mageren Körper. Hinter Bäumen, im Unterholz Deckung suchend, schlich er durch den morgengrauen Park. Im Laufen sah er über die Schulter zurück, sodass Flor mit seinen Augen nach hinten spähen konnte, und da erkannte er auch wieder die Lumpengesellen, die ihn, verteilt über die breite Wiese, mit taumelnden Schritten verfolgten. Aber zu welchem Zweck? Versuchten sie tatsächlich, ihn einzufangen, aus dem Park zu verschleppen, hinter dessen Ästen schon die hellen Gutsmauern sichtbar wurden?
Es musste das Anwesen seiner Eltern sein, das Haus, in dem er aufgewachsen war, zumindest hatte Flor das bisher geglaubt. Doch auf einmal verspürte er Zweifel. Sie jagten ihn ja nicht, dachte er, sie trotteten nur hinter ihm her, als wollten sie ihn nicht fangen, sondern im Gegenteil auf das Haus zutreiben!
Aber weshalb um Himmels willen sollten sie das tun?
In den letzten Stunden waren verschiedene Erinnerungen in ihm wach geworden - er kommt in einem hellen Zimmer zu sich, im Bett liegend, neben einem alten Weib, das im Schlaf seine Hand hält; er eilt in einer herrschaftlichen Halle auf einen grauhaarigen Herrn zu und ruft Vater! Vater!, während der edel Gewandete ihm mit mattem Lächeln entgegensieht; er kniet an einem Grab, das mit Efeu überwachsen ist, und darin liegt die Mutter, vor langen Jahren verstorben ...
Bestürzende, kummervolle Erinnerungen! Wie sehr hatte Flor sich gleichwohl gefreut - und mit ihm Markéta -, da seine Erinnerung sich zu öffnen, die Leere in seinem Innern sich mit Vergangenheit zu füllen schien. Nun aber war ihm, als ob diesen Erinnerungen, die ihm auf einmal so bereitwillig zuströmten, keineswegs zu trauen sei. Als ob sie nicht ganz wirklich wären, dachte Flor, gekünstelt oder gefälscht.
Und wenn alles genau anders herum war?, schoss es ihm durch den Sinn: lügenhaft erdacht nicht seine Erschaffung im Labor, sondern sein Leben draußen, seine Kinderjahre im Park, das Muttergrab, der Vater im Gutshaus?
Eine Weile grübelte er noch darüber nach, aber der Gedanke verstörte ihn so sehr, dass es ihn schließlich drängte, in die Gegenwart zurückzukehren. Er schlug die Augen auf, und neben ihm saß Markéta und lächelte ihn an.
»Ta-tausend Bilder in mir, Markéta«, sagte Flor. »Von Mutter und Vater, La-lachen und Singen, vom Spazieren unter herbstbunten Bäumen, tausend Bilder und dahinter - nichts. Wenn ich aber die Hahalle in Gedanken nur ganz leicht anrühr ...«, fröstelnd zog Flor das Leinenhemd um sich, das Lisetta für ihn besorgt hatte, ein muffig riechendes Gewand, das auf der Brust mit einem gewaltigen Wappen verziert war, ». den alten Drach’, die schwarze Nacht, Ma-markéta - dann spür ich ein Entsetzen, einen Schmerz, so arg, als wenn man sich an einer frischen Wunde stößt .«
Unverwandt lächelte sie ihn an. »Nur ruhig, lieber Flor. Deine Erinnerung wird zurückkehren, warte nur. So wie deine Sprache, schau doch - du stotterst ja kaum mehr, Flor!«
Eingehüllt in ihr Lächeln wie in eine warme, weiche Decke, schloss er abermals die Augen und kehrte in die Nebelwelt seiner Erinnerung zurück.
32
»Vierspännige Kutschen, Herr Obersthofmeister«, verkündete Vladislav Kollek, die Hacken zusammenschlagend, »alle fünf bis unters Dach beladen.«
D’Alembert zückte sein weißes Seidentuch und tupfte sich über die Stirn. Kaum war er in sein Appartement zurückgekehrt, um sich ein wenig von den Strapazen dieses Vormittags zu erholen, da hatte sein Sekretär Pavel auch schon den Gardisten gemeldet. »Und ihr habt sie eingelassen?«, fragte er, auf seine blendend weiße Hirschledercouch sinkend.
»Die Kutscher hatten Passierscheine, ausgestellt von Graf Julius.«
»Wer hält mit dir Wache am Tor?«
»Mikesch Slatava, Herr Obersthofmeister.«
Das hat mir gerade noch gefehlt, dachte d’Alembert und setzte ein heiteres Lächeln auf. »Ausgezeichnet, Gardist Kollek«, sagte er, »du hast genauso gehandelt, wie ich es angeordnet hatte. Und jetzt kehre an deinen Platz zurück - nur eines noch.«
Der Soldat, sonnenblond und kaum weniger schmächtig als seine Schwester, die Zofe Lisetta, wendete auf den Fersen, eine Hand schon an der Tür.
»Erwähne vor niemandem, dass du mir Bericht erstattet hast -auch nicht gegenüber deinem Kameraden Slatava.«
Für einen Moment blitzte Argwohn in den Augen des Gardisten auf, dann wurde seine Miene starr und er salutierte. »Wie Herr Obersthofmeister befehlen!«
Die Tür hatte sich kaum hinter dem Wächter geschlossen, da sprang d’Alembert wieder auf und verließ seinen Salon durch eine Tapetentür, die direkt ins Dienertreppenhaus führte. Ungesehen eilte er nach unten und erreichte eben den dritten Burghof, als die erste der schwarzen Lastkutschen unter gewaltigem Rumpeln im Tor zum Alchimistengewölbe verschwand.
Die Sonne war bereits untergegangen, Fackeln an den kunstvoll bemalten Wänden erhellten die Szenerie. Die Erde unter d’Alemberts Füßen erzitterte, während die Kutsche tiefer und tiefer in das riesige Gewölbe rollte. Mitten auf dem Hof, hoch und klobig wie ein Frachtschiff, wartete schon der nächste Wagen, die Fenster verhängt. Dahinter stauten sich weitere der gewaltigen Gefährte, deren stumpfes Schwarz das Licht der Fackeln aufzusaugen schien.
Die Pferde der zweiten Kutsche scheuten vor dem schwarzen Schlund, bis der Kutscher die Peitsche tanzen ließ. D’Alembert wartete noch einige Augenblicke, dann trat er aus seiner Mauernische und eilte hinter dem donnernden Wagen in die Unterwelt hinab. Er selbst hätte nicht sagen können, was er hier unten überhaupt suchte; an einer erneuten Konfrontation mit dem Puppenmacher, und dann noch allein und auf dessen Terrain, war ihm gewiss nicht gelegen. Doch irgendetwas zog ihn ins Gewölbe hinab, und er hatte sich vor langen Jahren angewöhnt, auf leitende Zeichen aus seinem Innern zu achten, zumindest in gefahrvollen Situationen, zu denen ihre derzeitige Lage zweifellos zählte.
» Vollkommene Ruhe in Krumau, oder der kaiserliche Zorn wird uns alle verderben.« Während d’Alembert in Gedanken die Warnung der Stradovä repetierte, eilte er die abschüssige Fahrstraße entlang, die nach der ersten Biegung von Fackeln hell erleuchtet wurde. Hinter sich hörte er schon die nächste Kutsche herandröhnen, als er endlich den großen Saal erreichte.
Wie unverkennbar das Herz des Drachen schon wieder zu schlagen beginnt, dachte er, indem er sich hinter einer Säule verbarg. Fackeln brannten auch hier an den Wänden, Lampen und Kerzen leuchteten von Tischen und Schemeln, und doch lag über allem eine lastende Schwärze. Unter dem Bild des grünen Leu, der die Sonne verschlingt, glühte ein riesiger Ofen, der alchimistische Athanor. Metallene Tiegel und Glasbehälter in den wunderlichsten Formen waren rings um den Herd auf Tischen und Regalen aufgestellt. Allerlei Gesellen machten sich im Saal zu schaffen: Die einen entluden die Kutsche, die in dem titanischen Saal fast zwergenhaft wirkte, andere standen über Tische gebeugt, zermörserten Substanzen oder rührten Tinkturen an, wieder andere traten einen gewaltigen Blasebalg, obwohl der Ofen ohnehin schon glühte.
Einige der Lumpengestalten erkannte Charles wieder, heute früh hatten sie droben den Nabellosen gejagt. Er erschrak, als er sah, wie viele der schwarzen Gesellen Hezilow schon um sich geschart hatte. Wenigstens ein Dutzend zählte er, und womöglich ließ der Russe mit den Kutschen nicht nur Fässer und Kisten, sondern auch weitere Gehilfen herbeischaffen.
Eine schwarze Kiste wurde nun entladen, von der ungefähren Form eines Kindersargs. Erdbrocken kollerten hinab, als zwei Männer den Kasten auf einem Tisch absetzten. Einer nahm ein Brecheisen zur Hand und keilte es unter den Deckel. Charles hörte die Geräusche splitternden Holzes und stöhnender Nägel und kniff die Augen zusammen, um aus einer Entfernung von wenigstens zehn Metern zu erkennen, was der fatale Kasten enthielt.
Im Spalt zwischen Kiste und Deckel kam endlich das spitznasige Gesicht einer Ratte zum Vorschein. Fiepend zwängte das Tier seinen plumpen Leib durch die Ritze, sprang vom Tisch und rannte im Zickzack durch den Saal. Charles war der Ratte unwillkürlich mit den Augen gefolgt, und dann zuckte er fürchterlich zusammen: Eine kleine braune Hand legte sich auf seinen Arm.
»Maître - s’il vous plaît.« Die Hand gehörte Lenka, und ihre Augen waren so voller Pein und Panik, dass er sie einen Moment lang nur anstarren konnte. Scharfer Modergestank waberte durch die Luft, anscheinend der aufgehebelten Kiste entquollen. Der Maître musste gegen Brechreiz ankämpfen, während er auf Lenka hinabsah. Die kleine Syrakuserin trug nur ein paar bunte Fetzen am Leib, obwohl es hier im Gewölbe empfindlich kühl war.
»Helena - was machst du hier unten?« Glücklicherweise hatte er sich so weit in der Gewalt, dass er seine Stimme zu einem Flüstern dämpfte, und noch während er sprach, zog er sie in den Schatten hinter der Säule.
Stumm beobachteten sie beide, wie die nächste Kutsche in den Saal einrollte, während die erste, mittlerweile gänzlich entladen, im Hintergrund des gewaltigen Raums gewendet wurde und im Schritttempo wieder nach draußen fuhr. Das Stampfen der Hufe und das Dröhnen der Räder hallten von den Gewölbewänden wider. Auf Boden und Tischen, für einen Moment frei sichtbar, stand ein halbes Dutzend schwarzer, sargartiger Kästen, wie Apfelsteigen übereinander gestapelt, dann schob sich die Kutsche davor, und der ärgste Lärm verebbte.
Charles beugte sich zu Lenka hinab. Das Mädchen umklammerte seinen Arm nun mit beiden Händen, und durch sein Gewand hindurch spürte er, wie sehr sie zitterte. Wo ist dein Bruder?, wollte er sie fragen, da schaute sie auf zu ihm, und er sah die schwärzlich roten Tupfer in ihren Mundwinkeln, getrocknetes Blut. »Was ist passiert?«, fragte er und fuhr abermals zusammen, als anstelle Lenkas eine pfeifende Stimme erwiderte: »Heb er sich schläjnigst hinweg aus Hezilows Helle, Maître Weißkäs, sonst lass ich ihn geheerig braten auf Athanor!«
Charles richtete sich auf, seine Linke auf Lenkas Schulter. »Wenn Ihr dem Mädchen etwas angetan habt, Hezilow, sorge ich dafür, dass Ihr noch heute im Turm landet.« Seine Stimme klang ruhig, obwohl ihm das Herz bis in die Schläfen hinauf dröhnte.
»Tumber Hanswurst säjd Ihr, d’Alembert!« Der Puppenmacher trat so dicht vor ihn, dass Lenka zwischen ihnen beiden fast zerdrückt wurde; die Säule in seinem Rücken hinderte den Maître, auch nur einen Zoll zurückzuweichen. »Hezilow in Kerker werfen - wegen finf Träpflein Blut?« Pfeifend lachte er auf und trat einen Schritt zurück, spie auf seine Hand und wischte Lenka breit übers Gesicht, dass sie mit dem Kopf gegen Charles’ Brust prallte.
»An Euren Händen«, sagte d’Alembert, »kleben sehr viel mehr als nur ein paar Tropfen Blut. Habt Ihr nicht auch diese Toten auf dem Gewissen - da drüben in den Kindersärgen?« Mit seinem Stöckchen deutete er auf die kreuz und quer gestapelten Kästen, die hinter der soeben abfahrenden Kutsche zum Vorschein kamen.
»Kindersärge?« Hezilows weibische Lippen schnappten im Bartgestrüpp auf und zu. »Seid Ihr noch dutzendmal dimmer, als Hezilow dachte, d’Alembert! Wollt Ihr wissen, was sich wirklich in diesen Kisten ist?« Mit zwei taumelnden Sprüngen war er bei dem schwarzen Kasten, den seine Gesellen vorhin geöffnet hatten, stieß den Deckel vollends beiseite und winkte d’Alembert zu sich. »Nun kommt schon, ieberzeugt Euch selbst, Maître Weichkäs!«
Zögernd trat d’Alembert aus dem Schatten der Säule, Lenka mit sich ziehend. Am liebsten wäre er aus dem von Hitze, Gestank und dröhnendem Lärm erfüllten Gewölbe geflohen, aber dies war gewiss nicht der rechte Moment, um törichter Sehnsucht die Zügel schießen zu lassen. So trat er neben den Puppenmacher, der mit seinem Stöckchen über dem Kasten herumfuchtelte.
»Zitterlinge, Pilzkulturen!«, kreischte der Russe. »Seht sie Euch nur an, sind sich das nicht Pflänzlein nach Eurem Geschmack?«
Widerstrebend beugte sich d’Alembert über den Kasten, der bis zum Rand mit Erde gefüllt war. Aus dem fettig schwarzen Mutterboden sprossen die sonderbarsten Pilze, die er jemals gesehen hatte. Tatsächlich ähnelten sie menschlichen Gliedmaßen, nur dass die mageren Fingerchen und Zehlein durchscheinend waren wie Gallert.
Hezilow bückte sich hinab und stieß keuchend die Atemluft aus. Da überlief die Zitterlinge ein Beben, und sie wogten in ihrem Beet auf und nieder, als ob dort unter der Erde wahrhaftig jemand eingegraben wäre und sich verzweifelt freizuscharren versuchte.
»Nehmt das Hierchen nur mit, Maître«, sagte der Russe, und die schwarzen Augen über Warzen und Bartgestrüpp funkelten vor Häme, »und sein Briederchen auch, wenn’s noch hier drunten rumscharwenzelt. Bald erschafft sich Hezilow eigene Pippchen - sechs, sechzig, sechshundertsechzig, ganz wie Graf Julius befiehlt!«
33
Das Gartenhaus, mit Eiskristallen gesprenkelt, auf einmal sah er’s wieder vor sich: die hohen Fenster mit den ziegelroten Rahmen, dahinter Zitronenbäume in tönernen Kübeln, Palmen und Zypressen in einem Wirrwarr von Harken und Schaufeln, von schadhaften Töpfen, eingesponnenen Mumienpflanzen, die sich wie verfrorene Kutschreisende an die Scheiben drängen.
Es konnte grauenvoll kalt sein dort draußen, dachte Flor, auf dem lachsfarbenen Sofa im Frauengemach liegend; aber auch innerhalb der hellen Mauern, die von außen so anheimelnd aussahen, hatte er immer wieder furchtbar gefroren.
Neben dem Gewächshaus, rechterhand angesetzt, der gemauerte Seitentrakt, in dem er mit den beiden Alten haust, Steiner und Steinerin. Steiner, der unter seinem schlammbraunen Umhang die seltsamsten Dinge hervorzaubern kann (Zwirnstücke, Nägel, Messer, was du gerade brauchst), ein apfelwangiger, ganz und gar glatzköpfiger Alter mit trüben Augen, die nur noch wenig sehen, und doch grinst er Flor gleich entgegen, zahnlos, ein heiterer Totenschädel, wenn der ihn im Gewächshaus besucht oder, ganz selten mal, draußen im Park.
Wie sonderbar, dass ihm das alles auf einmal wieder einfiel, als ob eine lange verrammelte Falltür in seinem Innern aufgesprungen wär. Auch mit geschlossenen Augen sah Flor, wie Markéta wieder neben ihm saß und seinen Dämmerschlaf bewachte.
Nach draußen geht er so selten wie möglich, viel lieber bleibt er drinnen bei der Steinerin, in der kleinen Gärtnerwohnung, die zu jeder Tageszeit von Dämmerlicht erfüllt ist, von Kräutergerüchen, fettigem Suppendampf. So hochgewachsen der alte Steiner, ein knochendürrer Riese, so klein ist sein Weiblein. Kugelrund und winzig, der fast kahle Kopf immer unterm schwarzen Tuch verborgen, sodass nur das Hutzelfrätzlein mit den wasserhellen Augen hervorlugt, über einem formlosen Kittel von nebelhafter Farbe, den sie niemals ablegt, auch im heißesten Sommer nicht: Da watet sie mitsamt Kopftuch und Kittel in den Parkteich, nur den Saum ein wenig raffend und schneckenbleiche Schenkel entblößend.
Auch wenn ihm die Gerüche in der Gärtnerküche zuwider sind, das ewige Kräutergehäcksel und Suppengebrodel, hält er sich doch fast immer bei der Steinerin auf, in Griffnähe ihres Schürzenbändels. Als kleiner Junge hockt er bei ihr auf dem Dielenboden und baut aus Sand und Steinen wunderliche Welten, mit vier, sieben und noch mit elf Jahren. Und sitzt mit dreizehn, sechzehn, siebzehn immer noch bei der Alten, auf einem Küchenschemel oder auf der Ofenbank, ordnet Steinbröckchen und Sandhäuflein, ganz nah bei der Steinerin, ohne die er nicht lange ruhig bleiben kann. Wenn sie ihn allein lässt, wenn die Steinerin einmal nicht bei ihm und auch Steiner nicht in seiner Nähe ist, dann wird es schwarz um ihn, so schnell, als wenn die Sonne erloschen wär. Und dann wird ihm kalt, so totenkalt, dass seine Zähne klappern, dass Lippen und Fingerspitzen taub werden. Dann macht er die Augen ganz fest zu und traut sich nicht mehr, um sich zu sehen. Denn er weiß ja, dass alles sich wieder verwandelt, grauenvoll umgestülpt hat, dass er nicht mehr in der Gärtnerküche, nicht bei der Steinerin ist, sondern in jene dunkle Halle zurückgeworfen, umschlossen von Stille, von steinerner Schwärze, und irgendwo hoch über ihm schwebt wieder der riesige Vogel der Nacht. Und dann schreit er »Steinerin! Stei-steine-riiiin!«, schreit und schreit, dass es ihm fast die Brust zerreißt, dass die Scheiben nebenan im Glashaus klirren und drüben im Herrenhaus alles an die Fenster stürzt, die Mägde und Diener und selbst der Gutsherr -Veit von der Mühlen, dein Vater, Rolfie, wie die Steinerin ihm immer wieder versichert hat, mit glänzenden Augen und zischender Aussprache, ihres einzigen Zahnes wegen, der wie ein Elfendolch aus ihrem Oberkiefer ragt.
In Flors Bewusstsein drang dumpf das Rumpeln schwer beladener Kutschen, die drunten durchs dunkle Durchhaus zum zweiten Burghof fuhren, das Dröhnen der eisenbeschlagenen Räder vermengt mit groben Flüchen und hellem Pferdewiehern. Doch all das nahm er bloß am Rande wahr, während vor seinem inneren Auge unablässig Bilder vorüberzogen.
Manchmal nimmt die Steinerin ihn mit nach oben, an ihrer Hand läuft er über die gesandeten Wege, zwischen Eichen und Rotbuchen den kleinen Hügel hinauf bis zum Herrenhaus. Dort begrüßen ihn alle sehr freundlich, die Diener nennen ihn »junger Herr«, wenn auch mit einem Lächeln, und wenn der Gutsherr nicht auf Reisen ist, kommt auch er meist herbei, um die Steinerin und ihren Schützling willkommen zu heißen. Herr Veit ist ein grauhaariger, schon älterer Mann von unscheinbarem Äußeren, mit schlaffen Wangen und kalten Augen. Wenn er aus der Bibliothek oder von der Terrasse zu ihnen herauskommt, bemüht er sich immer, den »lieben Rolfie« mit besonderer Wärme anzulächeln, aber das Lächeln zieht nur seine Mundwinkel ein wenig empor, während die blauen Augen unbeteiligt bleiben.
Flor sah das väterliche Lächeln vor sich, die Augen so kalt wie zwei Winterpfützen, und noch in der Erinnerung begann er wieder zu frösteln.
Während Herr Veit ihn umarmt oder bei den Schultern fasst und mit väterlicher Derbheit rüttelt, lässt er selbst die Hand der Steinerin nicht los. Auch mit fünfzehn Jahren oder mehr geht er nur an ihrer Hand aus dem Gärtnerhaus, ganz selten, dass er sich mal allein aus der Tür traut, in die Orangerie hinüber oder gar in die wilden Weiten des Parks.
Etwas an ihm, in ihm ist auf schreckliche Weise anders als bei den Menschen, zwischen denen er aufgewachsen ist. Das hat er immer schon gefühlt, aber eines Tages, mit zwölf oder dreizehn Jahren, ist es ihm plötzlich klar geworden, binnen eines einzigen Augenblicks - ich bin anders, anders, nie, nie werd ich sein wie sie. Er hätte nicht sagen können, wodurch und in welcher Weise anders, damals so wenig wie heute, aber seither weiß er, mit untrüglicher Gewissheit, dass er nicht wie der Steiner oder die Steinerin ist, nicht wie Herr Veit oder die Mägde und Diener, die ihn mit feinem Lächeln als »jungen Herrn« begrüßen.
Sie war eine »ganz unglückliche Person«, versichert ihm die Steinerin stets bereitwillig, wenn er drum bittet, von seiner Mutter zu hören. »Hilda war schön wie wilde Rosen und gefährlich wie Vogelbeeren.« Wo sich die Liaison zwischen ihr und Herrn Veit abgespielt hat, ob sie zusammen hier auf dem Gut oder an einem anderen Ort gelebt haben, ob Hilda seine Mätresse gewesen ist oder vielleicht nur eine Buhlin für ein paar Sommertage, all das bleibt in den gefühlvollen Schilderungen der Steinerin ganz und gar unbestimmt. »Oj, wie innig sie sich liebten«, nuschelt sie über ihren Kräutern, »kann so was gut ausgehen, Bübli? Nein, es war eine heilige Liebe, zu gut für diese Welt.«
Jedenfalls sei Hilda eines Tages bei einem Kutschunfall ums Leben gekommen, erklärt ihm die Steinerin unter Tränen, und da habe der mildherzige Gutsherr ihn, seinen Sohn, zu sich genommen und in ihre gärtnerische Obhut gegeben. »Da warst du ein Kräutli von vier Jahren«, versichert sie ihm, während er auf dem Schemel am Küchentisch hockt und Sand und Steine zu Kreisen oder Rechtecken ordnet, seine liebste Beschäftigung, so weit er zurückdenken kann, »und du selbst hast ja nur durch ein Wunder überlebt - ist schon besser so, dass du dich an den furchtbaren Unfall nicht erinnerst.«
Nein, daran erinnert er sich tatsächlich nicht: weder an die Kutsche, in der er und Mutter Hilda übers Land reisten, noch an den Felshang, den sie hinunterstürzten, als der Kutscher bei Nacht und Sturm vom Weg abkam. Auch an das Spital, in dem die Ärzte um sein Leben rangen, fehlt ihm jede Erinnerung, an die wundersamen Essenzen, mit denen sie ihm Kopf und Bauch bestrichen, um seine Wunden zu heilen. Er war aus der Kutsche geschleudert und auf einer Felsnadel aufgespießt worden, jedenfalls laut der Steinerin; »der Fels hat deinen Nabel durchbohrt, Jungchen«, so die Alte, in ihre Schürze schnüffelnd, »die Ärzte haben das Loch mit ihrer Wunderpaste wieder geschlossen, und deshalb lebst du noch, hast aber keinen Nabel mehr. Besser, du lässt es keinen sehen - sonst sagen die Leute noch, dass der Teufel dein Vater wär!«
Von alledem weiß er einzig durch die tränenreichen Schilderungen der Steinerin, er selbst erinnert sich nur an die schwarze Halle, den Drachenvogel, der über ihm in der Finsternis schwebt. Aber auch das ist ja kein Erinnern, es ist die Essenz des Entsetzens, aus Dunkelheit, Stille, ein paar winzigen Lauten destilliert - Fiepen wie von jungen Tieren, Rauschen wie von großen Flügeln.
Alles andere kommt ihm dagegen unwirklich vor, gekünstelt, erlogen, auch wenn die Steinerin es ihm noch so lebhaft ausmalt und sogar wenn er selbst sich dran erinnert, wie an die vierzehn oder mehr Jahre, die er bei den alten Gärtnern verbracht hat, der weitaus größte Teil seines bisherigen Lebens.
Die meiste Zeit habe er mit den Steinen verbracht, sagte Flor nun zu Markéta, indem er sich auf dem lachsfarbenen Sofa aufrichtete; mit Sand und Steinen, die er zu geometrischen Gestalten geordnet habe, gleichförmigen Wellen oder Wällen; die Menschen habe er gefürchtet, doch bei den Steinen habe er Frieden und Trost gefunden.
»Wa-weil ich selbst aus Dreck erschaffen bin!« Er sah sie an und schaute zur gleichen Zeit in die schwarze Halle hinein, die sein ganzes Inneres auszufüllen schien. Ich bin verloren, dachte Flor, niemand kann mich retten, auch Markéta nicht.
34
Lautlos stieg der moldaublaue Samtvorhang empor und gab den Blick auf die Bühne frei, die noch ganz im Finstern lag. D’Alembert hatte den Rosenberg’schen Wappensaal kurzerhand zum Theater umgewidmet, und bei dieser ersten Aufführung unter Don Julius’ Ägide waren alle Plätze in den Logen und unten im Parkett bis auf den letzten Fleck gefüllt.
Eben noch hatte alles munter durcheinander geschwatzt, doch nun kehrte mit einem Schlag erwartungsvolle Stille ein. Im Saal wurde es dunkel, auf der Bühne dagegen flammten Lichter auf, mit ihrem scharfen Schein jeden Schatten verjagend.
Markéta hielt den Atem an und überließ Flor, der zu ihrer Rechten in der Loge saß, bereitwillig ihre Hand. Der Bühnenraum schien aus rohen Steinen gemauert; inmitten des Gewölbes, an einem Gestell aus hölzernen Stangen, schaukelte ein großer Topf. Dampf stieg in Schwaden aus dem Bottich empor, darunter züngelten Flammen, täuschend echt in Gelb und Rot auf Pappmache gemalt.
Von links trat, mit eigentümlich taumelnden Schritten, eine schmale Gestalt ins Bild, ganz in Schwarz gewandet. Einen Moment lang kehrte sie ihr Gesicht dem Publikum zu, das die Scharade mit heiterem Gelächter quittierte. Wohl jeder im Saal erkannte, wer sich hinter dem aufgeklebten Bart verbarg und welche geheimnisvolle Person er darstellen sollte. Und Markéta fühlte sich einmal mehr als tumbe Dorfgans: Offenbar war sie gestern in eine Theaterprobe geplatzt und hatte sich zur Närrin gemacht, als sie Nicodemus, den Krumauer Knaben, zur Rede gestellt und Fabrio sogar scheltend an den Haaren gezogen hatte.
Der Magier auf der Bühne trat vor den Bottich, wobei er dem Publikum seinen Rücken zuwandte, und hob mit feierlicher Gebärde beide Arme. Langsam drehte er sich um, und der ganze Saal erbebte vor Gelächter und dröhnendem Trampeln. Ein schwarzes Stäblein ragte aus dem aufklaffenden Umhang hervor, just in der Leibesmitte des feixenden Zauberers. Feine Fäden, im Bühnenlicht schimmernd, verbanden den Stab mit den Handgelenken des Magiers: Wedelte er mit den Händen, so schnellte das Stöcklein vor seinen Lenden empor, senkte er die Arme, so fiel auch das Hölzchen matt hinab.
»Mit diesem zauberhaften Stabe«, sprach der Magister in dumpfem Ton, »erschaffe ich die nabellose Kreatur - für Seine Exzellenz, meinen allerherrlichsten Herrn!« Er wandte sich zurück zum Bottich und vollführte einige wedelnde Gebärden, worauf von unterhalb des Bühnenraums ein gewaltiger Paukenschlag ertönte.
Markéta zuckte zusammen und drückte Flors Hand. Auf dem Kirchmarkt drunten in Krumau hatte sie alljährlich Hanswurstiaden gesehen oder auch Seiltänzer, die zwischen Kirch- und Rathausturm durch die Luft spazierten, aber nie zuvor ein Bühnenstück wie dieses hier.
Unter drängenden Pauken- und Trommelschlägen begann der Bottich über dem gemalten Feuer zu schaukeln. Eine Hand stieg aus dem Gefäß empor und umklammerte den Topfrand, gefolgt von einer zweiten, die fast noch bleicher als die erste schien. Während der Bottich immer wilder hin und her schwang, rappelte sich im Topf eine schmale Gestalt auf und stand endlich zitternd inmitten der Schwaden, die Augen weit aufgerissen, die goldenen Locken himmelwärts gesträubt. Ein Raunen ging durchs Publikum, und ehe man sich halbwegs von der Überraschung erholt hatte, machte der Magier eine anlockende Gebärde und zog den frevlerisch Erschaffenen mit schierer Zauberkraft aus dem Bottich heraus. Zitternd lag die Kreatur vor ihm am Boden, nabellos nackt und dampfend nass, und der Zauberer griff unter seinen Umhang, brachte eine Schlinge zum Vorschein und warf sie dem Geschaffenen um den Hals.
Das jämmerliche Winseln der Kreatur auf der Bühne und die Klagelaute Flors gingen gleichermaßen im donnernden Applaus unter, als der Vorhang zum ersten Mal fiel.
Lakaien schwärmten nun überall im Publikum aus und zündeten Kerzen an. Benommen beugte sich Markéta über die Brüstung ihrer Loge und sah einem Diener hinterher, der über seinem Kopf ein Silbertablett voll brennender Kerzen balancierte.
Sie wandte sich nach links, da traf sie ein Blick, der ihren Atem stocken, ihr Herz mit einem Mal wie rasend pochen ließ. »Julius!« Sie hauchte seinen Namen und fuhr zurück in ihre Loge wie in ein Schneckenhaus. Wie hatte sie auch nur einen Augenblick vergessen können, dass er nebenan in der Fürstenloge saß, bloß durch eine dünne, mit Seide bespannte Wand von ihr getrennt? Behutsam beugte sie sich noch einmal vor, bereit, ihren Kopf mit den hoch aufgetürmten Haaren -einem Kunstwerk, an dem Bronja und Lisetta zwei Stunden lang gewerkelt hatten - sofort wieder einzuziehen. Der Platz zur Rechten des jungen Grafen war leer; an seiner linken Seite saß der Maître im weißen Wams, wie immer ganz vorn auf der Sesselkante kauernd, als könnte jederzeit ein Feuer ausbrechen, dem er persönlich sich entgegenwerfen müsste.
Eine Glocke ertönte. Markéta bewegte ihre schweißnasse Hand zwischen Flors kühlen Fingern und lehnte sich zurück, während der Vorhang abermals emporstieg und das Licht im Publikum erlosch.
Das zweite Bild zeigte einen Thronsaal. Zwischen Wänden aus gemaltem Gold und Spiegelglas saß ein junger Herrscher auf dem Prunksessel, im scharlachroten Habit, die silberne Krone schief auf seinem Haupt. Die Zuschauer hießen ihn mit leisem Gelächter willkommen; erst als Don Julius in seiner Loge lauthals auflachte, begannen auch unten im Saal Hunderte Hände ungehemmt zu applaudieren.
Von links sprang wieder der Magier mit dem schwarzen Umhang in die Szene; an der Schlinge geführt, stolperte die unselige Kreatur hinter ihm her. Leise erklang eine Flötenweise, zu diesen kummervollen Tönen begann sich der Nabellose hin und her zu wiegen und taumelnd im Kreis zu drehen. Währenddessen zog der Schwarzkünstler ihn weiter am Seil herum, und bei jeder Bewegung seiner Hände schwang der schwarze Stab in seinem Umhang empor.
Gelächter und Zurufe des Publikums klangen nun ein wenig beklommen. Auch Flor an Markétas Seite seufzte wieder und wieder beim Anblick seines Doppelgängers, der sich mit todtrauriger Miene auf der Bühne drehte. Dann aber brandete abermals Applaus auf, begleitet von heiterem Lachen und spöttischen Rufen: Von der rechten Seite tänzelte eine weitere Gestalt auf die Bühne, ein schmales Männlein, so makellos weiß gewandet wie sein bärtiger Widersacher in einförmiges Schwarz.
Auch Markéta musste lachen, als sie das Mädchen mit der mehlfarbenen Perücke erblickte, das über weißen Strumpfhosen ein Wams aus weißem Leder trug. In der rechten Hand wirbelte sie ein weißes Stäbchen, in der linken hielt auch sie ein Seil, dessen anderes Ende den Blicken noch verborgen war. Aber warum nur sah Lenka in der Rolle des eleganten Maître mindestens so traurig drein wie der Bühnen-Flor, der, von Fabrio hin und her gezogen, allen Grund hatte, mit seinem Schicksal zu hadern?
Geschmeidig bewegte sich der weiße Tänzer um den Thron herum, vor dem plumpen Schwarzbart zurückweichend, wenn der drohend auf ihn zuhinkte, dann wieder an Boden gewinnend, wenn der Nabellose in selbstvergessenem Taumel seinen Meister seitwärts mit sich riss. Der junge Herrscher auf der Bühne schaute gebannt von einer Seite zur anderen, vom Schwarzbart, der den Nabellosen führte, zum weißen Elegant, der nun gleichfalls das Seil in seiner linken Hand straffte. Und von dieser Schnur herbeigezwungen, stolperte eine junge Frau auf die Bühne, bei deren Anblick der ganze Saal in wieherndes, brüllendes, prustendes Gelächter ausbrach.
Die rossbraunen Haare fielen ihr wirr ins Gesicht und bis auf die Schultern hinab, ihre Füße schauten nackt und schlammbefleckt unter dem groben Leinenkleid hervor. Der elegante weiße Tänzer ruckte abermals am Seil, das um eine Hand und einen Fuß der torkelnden Maid geschlungen war. Da verlor sie die Balance und fiel vor dem Thron auf den Rücken, alle viere von sich streckend.
Markétas Gesicht wurde flammend heiß. So tief wie möglich drückte sie sich in ihren Sessel und hoffte, dass die Dunkelheit der Loge sie verschlingen möge. Zugleich aber starrte sie gebannt auf die Bühne, auf der sich ihre eigne Doppelgängerin zur kreischenden Erheiterung des Publikums vor dem Herrscher am Boden wälzte.
»Mit diesem kunstgeneigten Stabe«, sprach der weiße Elegant mit unsäglich trauriger Miene, »dressierte ich die liebliche Kreatur - für Euch, Exzellenz, mein allerherrlichster Herr!« Und dazu wirbelte er das weiße Stöcklein in der Luft und zerrte zugleich rhythmisch an der Schlinge, und im gleichen Takt spreizte die Maid, rücklings vor dem Thron liegend, Arme und Beine, ruckhaft wie ein Jahrmarktsapparat.
Unterdessen hatte der Nabellose sich weiter und weiter zum trübseligen Flötenklang im Kreis gedreht. Nun setzte eine zweite Melodie ein, beherrscht von harten, gläsernen Klavichordtönen, zu denen die Maid am Boden zuckte, sich wie beim Veitstanz wälzte und die Glieder spreizte.
Markéta wäre am liebsten im Boden versunken, nie zuvor hatte sie sich so gedemütigt gefühlt. Die Höflinge verspotteten sie als Hure, die sich vor dem Grafen auf den Boden warf und lockend die Schenkel öffnete! Fast ebenso sehr schämte sie sich für den armen Flor, dessen Doppelgänger nackt auf der Bühne umhertaumeln musste, die Schlinge um den Hals wie ein gefangenes Kalb. Aufhören!, schrie es in ihr, aber sie brachte nicht die Kraft auf, auch nur eine Hand zu heben. Was vermochte sie auch auszurichten gegen die hoffärtige Schar?
Und könnte das dreiste Bühnenstück denn ohne Julius’ Billigung überhaupt aufgeführt werden?
Dieser Gedanke, dass auch er in ihr nur eine tumbe Badershur erblickte, lähmte Markéta noch mehr. Wie versteinert saß sie in ihrer Loge neben Flor, der ebenso starr zur Bühne hinuntersah wie sie, und drückte seine kalte Hand.
Unter johlendem Zuspruch des Publikums war die Pantomime weitergeschritten: Die Maid am Strick des Tänzers hatte sich aufgerappelt, und sie und der Nabellose taumelten und tanzten nach zweierlei Klängen um den Thron herum. Die Flöten weinten, wie gemeißelt klangen die Töne des Klavichords. Währenddessen versuchten die beiden Gefangenen voller Verzweiflung, einander die Hände zu reichen, doch immer wenn sie nahe genug beisammen schienen, rissen ihre Herren sie wieder auseinander.
Dann plötzlich hob der Herrscher seine Schultern zu einer ratlosen Gebärde. Im gleichen Moment verstummten die Instrumente, und die Gestalten in den Schlingen blieben wie versteinert zu beiden Seiten des Thrones stehen. Der schwarze Magier und der weiße Tänzer aber wandten sich jeder zu seiner Seite und begannen, ihre Stäbe mit magischen Bewegungen durch die Luft zu schwingen.
Der Schwarzbart murmelte eine Formel. Da ergoss sich von seiner Seite her eine wahre Flut an papiernen Goldmünzen und gipsernen Gliedmaßen in den Thronsaal, vom schrillen Pfeifen der Flöten untermalt. Der Herrscher rückte seine Krone zurecht und neigte das Haupt zum Zeichen, wie sehr ihm diese Zaubertat behagte, dann jedoch wandte er sich mit fragender Miene dem weißen Tänzer zu. Dieser öffnete den Mund, sang eine betörende Tonfolge und schwang dazu das weiße Stöckchen wie einen Dirigentenstab. In seinen Gesang stimmte abermals das Klavichord ein, zuerst leise und langsam, dann mehr und mehr anschwellend zum Stakkato. Und unter diesen dramatischen Klängen rollte von rechts her eine Staffelei auf die Bühne, mit einem Gemälde darauf, das unter weißem Tuch verborgen war.
»Was ist das für ein Bild?«, rief der Herrscher, und alle Figuren auf der Bühne fuhren zusammen. Denn es war die Stimme ihres wirklichen Herrn, der sich in seiner Loge vorbeugte und hinzusetzte:
»Enthüllt es auf der Stelle - ich befehl’s!«
Augenblicklich wurde das Tuch entfernt, von so vielen Händen, dass nachher niemand hätte angeben können, wer die Dame als Erster entblößt hatte. Zum Vorschein kam ein Gemälde von bescheidenen Ausmaßen und noch mäßigerer Qualität, dessen Inhalt und Bedeutung sich in diesem Moment wohl kaum einem der Anwesenden offenbarte.
»Was stellt das Bild dar?«, fragte auch der wirkliche Don Julius, und während sein Doppelgänger auf der Bühne ratlose Blicke mit den Dubletten von d’Alembert und Hezilow, Flor und Markéta wechselte, gab ihm der tatsächliche Maître - so als ob nun die Loge zur Bühne geworden wäre - mit lauter Stimme Antwort: »Das Bild stammt aus dem Jahr 1587, Euer Liebden, und es zeigt Bianca von Ludanice, eine entfernte Verwandte Wilhelms von Rosenberg. Wie Ihr bei näherer Betrachtung unfehlbar feststellen werdet, sieht Madame Markéta der Dame so ähnlich, wie eine Tochter ihrer Mutter überhaupt ähneln kann.«
Nach diesen Worten wurde es im Rosenberg’schen Wappensaal so still, dass man einen Homunkel von zwei Zoll Körperlange hätte mit dem Füßchen aufstampfen hören können.
Markéta war in ihrem Leben noch niemals in Ohnmacht gefallen, und sie blieb auch an diesem Dienstagabend im Mai des Jahres 1607 bei Bewusstsein, während sie mit zusammengekniffenen Augen zur Bühne hinunterspähte und tatsächlich ihre Mutter erblickte, die sich in edler Haltung, wenn auch zwergenhaft verkleinert, über ein Schachbrett beugte.