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»Die Pulverisierung durch Feuer lockert den Sulfur und setzt den Mercurius frei.«
35
In der Kutsche des Grafen von Krumau jagten sie dahin, einem offenen Zweisitzer mit vergoldeten Beschlägen, in dem schon Wilhelm von Rosenberg zu sommerlichen Landpartien ausgefahren war. Hoch über ihren Köpfen webte die Junisonne Glitzerfäden in die Eichenwipfel, zu ihrer Rechten schlängelte sich die Moldau durch ihr steiniges Bett, zehn Schritte unterhalb der Uferstraße. Kähne trieben auf der blauen Flut, Angler warfen ihre Ruten aus oder blinzelten träg in die Sonne, Kinder hockten im Uferkraut und winkten ihnen jauchzend zu. Und Markéta winkte zurück, mit ausgelassenem Lachen, während der Sommerwind ihre Haare zerzauste und die Kutschpferde schnaubend die Steigung erklommen, links der Schimmel, rechts der Rappe nach dem Willen d’Alemberts.
Meinetwegen auch Fuchs und Schecke, dachte Markéta, Hauptsache, neben mir sitzt er! Graf Julius, mein Geliebter. Manchmal klang es noch immer wie ein süßer Fieberwahn, aber es war kein Gaukeltraum, es war die blanke Wirklichkeit! Als kleines Mädchen war sie einmal mit den Eltern hier draußen durch den Wald gewandert, als die Kutsche mit dem gräflichen Wappen an ihnen vorübergejagt war, von zwei riesigen Rappen gezogen und von einem ganzen Tross weiterer Droschken gefolgt. Und heute saß sie selbst in den moldaublauen Samtpolstern, die Geliebte des Grafen von Krumau!
Gut zwei Wochen waren vergangen, seit der listenreiche Maître jenes Bildnis hatte auf der Bühne enthüllen lassen, Wochen, in denen ihr Leben ganz und gar umgewälzt worden war. Markéta von Ludanice. D’Alembert hatte ihr Dokumente vorgelegt, die über jeden Zweifel hinaus bewiesen, dass ihre Mutter vor zwanzig Jahren, ehe sie Sigmund Pichler ehelichte, den Namen Bianca da Ludanice trug.
Sie rasten die Anhöhe hinauf, durch Schlaglöcher holpernd, über Baumwurzeln rumpelnd, und auf der anderen Seite ebenso ungestüm wieder hinab. Der Gardist auf dem Kutschbock ließ die Peitsche tanzen, eine gedrungene Gestalt in moldaublauer Uniform, doch glücklicherweise war es nicht Jan Mular. Noch immer verfolgte der Soldat sie mit versteckten Drohungen und offener Harne. Markéta war sich sicher, dass Julius ihn aus der Salvaguardia entfernen würde, wenn sie ihn darum bäte. Aber bisher hatte sie sich nicht dazu durchringen können, auch wenn sie ahnte, dass es womöglich ein Fehler war.
Vor ihnen rollte die Kutsche mit dem gräflichen Herold, der in ungewissen Abständen die Fanfare erschallen ließ; hinter ihnen wälzte sich ein ganzer Tross aus Kutschen und Reitern zu Tale. Wie gern wäre sie jetzt mit Julius nach Prag gefahren, der junge Herr Graf und seine Geliebte, Edelfrau Markéta von Ludanice, auf dem Hradschin zu Prag empfangen von Ihrer Majestät! Sie schloss die Augen und erblickte sich selbst und Julius, wie sie Arm in Arm, in einem Wirbel gleißender Lichter, durch einen unendlichen Audienzsaal schritten, in einer Gasse buckelnder Höflinge auf den kaiserlichen Thron zu. Ihr wurde schwindlig, rasch hob sie wieder die Lider und lächelte Julius an.
In tannengrünem Wams saß Julius zu ihrer Linken, und als er ihren Blick bemerkte, schnitt er ihr eine so bübisch übermütige Grimasse, dass sie ihn am liebsten gleich wieder geküsst hätte. Wie heute Morgen, als sie in seinem Bett zusammen gefrühstückt hatten, ein Ritual, an das sie niemals denken konnte, ohne ein höchst angenehmes Prickeln in der Bauchgegend zu spüren.
Bald schon würden sie nach Prag reisen, Don Julius Caesar, Graf von Krumau, und seine künftige Gemahlin, dachte Markéta; nichts schien ihr mehr unmöglich, seit ein gnädiges Schicksal sie so jählings emporgerissen hatte, in den glanzvollen Stand einer Edelfrau und gräflichen Geliebten. Gemeinsam würden sie die schändlichen Verschwörer entlarven, die Julius in jene Mordintrige verwickelt hatten, und dann würden sie Seite an Seite vor dem Kaiser niederknien und seinen väterlichen Segen erbitten. Vorerst allerdings galt es, eine Jagdpartie zu überstehen. Ihr graute vor dem Pulverdampf und dem heiseren Hecheln der Jagdhunde, vor dem Blutgeruch und den aufgehäuften Kadavern, mit denen die Hatz unweigerlich enden würde.
Vor drei Tagen hatte Julius befohlen, eine große Jagd zu organisieren: »Ich liebe die Hatz, und auch Ihr, Madame, werdet diese hohe Kunst zu schätzen lernen.« Noch immer wunderte es Markéta, wie leichthin er sich auf einmal von Hezilow loszureißen schien, nachdem er zwei Wochen lang bald jeden Tag und nicht selten die halbe Nacht im Keller des Alchimisten verbracht hatte. Aber offenbar ging es dort unten mit den geheimen Experimenten nicht ganz so glatt voran, wie Hezilow vorausgesagt hatte. Jedenfalls war Julius immer düsterer geworden, und an manchen Tagen hatte seine Unterlippe schon am Morgen schmerzlich gezuckt. Doch seit er die große Hatz befohlen hatte, war seine heitere Laune zurückgekehrt.
Maître d’Alembert hatte alles Erforderliche bewerkstelligt, ohne sonderliche Begeisterung, doch mit der ihm eigenen Eleganz und Effizienz. Die alte Burg Rosenberg war über Nacht notdürftig hergerichtet worden, eine trutzige Feste zwanzig Meilen stromabwärts, umgeben von unwegsamen Wäldern, in denen es von Hirschen und Wildsauen wimmelte. »Das Kastell der Rosenberger steht seit vielen Jahren leer«, hatte der Maître zu bedenken gegeben, »als Jagdschloss für eine anspruchsvolle Herrschaft ist das Gemäuer kaum mehr zu gebrauchen, Exzellenz, auch wenn fünf Dutzend Diener seit vorgestern gefeudelt und gelüftet, Spinnennetze entfernt und fuderweise Ratten erschlagen haben ...«
Aber Julius hatte alle Einwände vom Tisch gewischt. »Morgen früh brechen wir auf, ich befehl’s.«
Auf der anderen Stromseite war bereits die Silhouette der alten Feste zu erkennen, eine halbe Meile voraus. Hoch über dem Moldaubogen hockte die Burg auf einem gewaltigen Felsblock, mit geschwärztem Wehrturm und dem lang gestreckten Haupthaus, dessen Dachstuhl so schadhaft schien wie die hohläugig glotzenden Fensterhöhlen. Eher eine Ruine als ein Palast, dachte Markéta, doch selbst dieser Anblick vermochte ihre Stimmung nicht einzutrüben.
Hinter der Kutsche des Herolds, der wieder die Fanfare erschallen ließ, rollten sie über die Steinbrücke in den Flecken Rosenberg hinüber, wo die Hühner gackernd das Weite suchten, während Bauern und Knechte herbeigestürzt kamen, die Mützen noch im Rennen von ihren Köpfen reißend. Mit Getöse fuhr der Tross die Burgstraße hinauf, die sich in löchrigen Serpentinen zur Trutze hinaufdrehte.
Die Stammburg der Rosenberger, dachte Markéta, und ein Schauer überlief sie: Durch Mutter Bianca waren es ein wenig auch ihre, Markétas Stammväter geworden, die von dieser Burg ausgezogen waren, um bis in die glanzvollsten Höhen Böhmens emporzusteigen. Nun ja, so ganz stimmte das möglicherweise nicht, doch nach d’Alemberts Dokumenten war Mutter Bianca zumindest eine entfernte Nichte der Katharina von Ludanice gewesen, der letzten Gemahlin des letzten Nachkommens der Rosenberger, Peter Vok, der im vergangenen Winter auf seinem mährischen Landschloss verschieden war.
Letzten Endes, dachte Markéta, konnte sie sich durchaus als Nachfahrin des alten Grafengeschlechts ansehen, so wie Don Julius die neue Herrschaft von Krumau verkörperte. Der Gedanke berauschte sie, wieder sah sie sich am Arm des jungen Grafen durch eine Gasse prachtvoll gekleideter Personen schreiten, dieses Mal zum Traualtar der St.-Veit-Kirche auf Burg Krumau, während die Glocken droben im Hungerturm ohrenbetäubend läuteten.
Durch ein solches Spalier war sie vor vierzehn Tagen wahrhaftig geschritten - oder eher gewankt, an Julius’ Arm, während seine Burgobern, Künstler und Schranzen links und rechts die Köpfe neigten. Sie hatte den Theatersaal als Baderstochter betreten und war auf der Bühne als Hurenpuppe verspottet worden - doch wer den Saal an jenem Abend verließ, hoch erhobenen Hauptes, wenn auch mit weichen Knien, war die adlige Geliebte des Kaisersohns, Markéta da Ludanice. Noch auf der Treppe, unter einem halben Hundert Augenpaaren, hatte Julius sich seitlich zu ihr gebeugt und ihr ins Ohr gewispert: »Euch hat mir das Schicksal geschickt, Madame - habt Ihr eine Ahnung, wie es ist, immer allein zu stehen gegen eine ganze hinterfotzige Armee?«
Verwirrt hatte sie den Kopf geschüttelt, und Julius hatte sie angelacht und dann eilends zu seinem Appartement geführt, wo die gräfliche Gefolgschaft auf der Türschwelle zurückblieb und ihnen derbe Ermunterungen in einem halben Dutzend Sprachen hinterrief; Sprachen, die Markéta nicht beherrschen musste, um den saftigen Sinn der Rufe zu verstehen.
Was dann geschehen war, würde sie in ihrem ganzen Leben nicht mehr vergessen. Die Tür fiel hinter ihnen zu, und Julius sah sie so voller Leidenschaft an, dass es in ihrem Bauch wie von tausend Waldameisen kribbelte. Ein Glück nur, dass er gleich einen Arm um sie legte und sie an sich zog, so zärtlich und stark, dass sie sich willig an seine Brust sinken ließ. Er beugte sich hinab, blies eine Haarsträhne von ihrem Ohr und flüsterte ihr mit heißem Atem etwas zu, von brodelnden Mondsäften und alchymischer Wollust. Dann hob er sie ohne weiteres empor und trug sie durch den gräflichen Salon, hinüber ins Schlafgemach, wo das riesige Himmelbett stand.
»Vergönnt mir die Gunst, Eure alchymische Unterwelt zu erkunden, Madame«, sprach Julius mit heiserer Stimme, und seine Augen funkelten im Kerzenlicht. »Lasst mich Euch mit tönender Glut erfüllen und Euren Lippen selige Klagen sonder Zahl entlocken.« Damit legte er sie sanft auf die Bettstatt, sein Gesicht so nah über dem ihren, dass ihr Atem sich vermischte, als Markéta ihre Arme um seinen Nacken schlang und den Geliebten mit einem Seufzer in sich aufnahm ...
Sie fuhr aus ihren Erinnerungen auf, als die Kutsche auf dem Burghof zum Stehen kam, neben einem Schutthaufen, aus dem Brennnesseln und Brombeerranken sprossen. Der Hügel mochte vor Jahrzehnten oder Jahrhunderten hier aufgeschüttet worden sein, zur Linken des Hauptportals und mit einer Sorgfalt, die edlerer Ziele würdig gewesen wäre.
Weitere Kutschen rollten auf den Hof, Koffer und Truhen wurden abgeladen, die Pferde abgeschirrt. Julius sprang aus der Karosse, ehe sein Kammerdiener Robert herbeigeeilt war. Markéta sah ihm hinterher, doch in diesem Moment hatte Julius keinen Blick für sie. Schon war er von Herren in grüner Jagdkluft umringt, die Gewehre und Armbrüste geschultert trugen. Einer von ihnen, ein kräftiger Mann mit puterrotem Kopf, hielt mit beiden Händen ein ganzes Bündel lederner Schnüre umklammert, an denen zwei Dutzend Hunde hechelnd und belfernd zogen.
Jetzt erst bemerkte Markéta, dass d’Alembert auf ihrer Seite der Kutsche wartete. Als sie ihn ansah, neigte er den Kopf und reichte ihr seine Hand. »Madame«, sagte er nur, mit einem Lächeln, in dem sich Zuneigung und Hinterlist die Waage hielten.
»Maître«, gab sie zurück und ließ sich so geziert aus der Kalesche helfen, als ob sie nicht vor kurzem noch im Badehaus auf ihren Knien gelegen und die Bodenkacheln abgerieben hätte.
Bei diesem Gedanken spürte Markéta einen heftigen Stich: Seit Wochen schob sie den überfälligen Besuch bei Vater Sigmund vor sich her, aus Groll auf den Bader, der ihr die Wahrheit - ihre Wahrheit - ein Leben lang vorenthalten hatte, aber mehr noch aus Angst vor dieser Wahrheit selbst.
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Ruhelos lief er durch die Rosenberg’sche Ruine, vom Burghof über die enge Treppe hinauf in den Wehrturm, dessen Mauerwerk rußgeschwärzt war, und von dort fluchtartig weiter, durch die Überreste des Wehrgangs hinüber in den Rittersaal. Alles in diesem zerfallenen Kastell vermittelte d’Alembert den Eindruck, gescheitert zu sein.
Der Rauchabzug in der Küche verweigerte seine Dienste, Qualmschwaden zogen durchs Kuchelgewölbe, das von Breuner mit seinem dröhnenden Husten zusätzlich verpestete. In den herrschaftlichen Schlafgemächern - wo Julius und Markéta in zwei benachbarten Zimmern nächtigen sollten, durch eine Tapetentür getrennt oder verbunden, je nachdem - hatte Robert ein Rascheln in den Wänden gemeldet, von Ratten oder Ärgerem. Die Jagdhunde, in einer Scheune im Wirtschaftshof notdürftig einquartiert, heulten und winselten ohne Unterlass, sodass in der Dienerschaft schon getuschelt wurde: Bestimmt gehe hier ein Rittergespenst um! Um die Unruhe unter Lakaien und Edelleuten noch zu steigern, war vom Dach der Remise, in der sie die offenen Kutschen unterstellen wollten, eine Lawine aus Ziegeln und morschen Balken niedergegangen und hatte zwei Diener und einen Edelknaben unter Trümmern begraben. Zum Glück war niemand ernstlich verletzt worden, doch die Blessierten wankten seither im Kastell herum und wiesen mit Märtyrermienen ihre Beulen und Schürfwunden vor. Nur Fabrio scharwenzelte aufreizend heiter durch das rußige Tohuwabohu, im Unterschied zu Lenka, die sich gleich beim Aussteigen einen Fuß verknickst hatte und seither ein noch grämlicheres Frätzchen zog.
Ein Glück nur, dachte der Maître, dass Julius zumindest bisher von den Plänen seiner Verlobten nichts zu ahnen schien. Dabei jagten seit acht Tagen Eilkuriere zwischen dem Hradschin und Burg Krumau hin und her: Johanna von Waldstein sei außer sich, so die mütterliche Mätresse, über die »schamlose Kabale der pseudo-adligen Badershur«. Das fromme Freifräulein verlange, die Rivalin augenblicklich zu entfernen - »aus seinem Bett, aus der Burg, aus unserem geliebten Böhmen, so weit wie möglich fort von Don Julius!« Aber das, werte Johanna, kommt zumindest derzeit nicht in Betracht, dachte d’Alembert. Wenn Don Julius und Madame Markéta ahnten, dass die Waldstein sogar angedroht hatte, in eigener Person nach Krumau zu reisen, »um sich im Gemäuer seines gräflichen Herzens aufs Neue zu installieren«, dann würde das verliebte Pärchen womöglich beschließen, überhaupt nicht mehr nach Krumau zurückzukehren. Und dabei war diese Ahnengruft der reinste Schweinestall, sagte sich Charles; warum nur hatte Julius darauf bestanden, Hals über Kopf zu dieser Jagdpartie aufzubrechen, und seinen bislang so heiß geliebten Magister in den Krumauer Gewölben sich selbst überlassen? Dies alles war so rätselhaft und beunruhigend, dass d’Alembert beinahe dankbar war für die vielfältigen Herausforderungen, vor die ihn der miserable Zustand der Rosenberger Trutze stellte. Derlei Probleme ließen sich immerhin beheben, wenn auch eher notdürftig als solide oder gar elegant, und vor allem halfen sie mit, die Bestien der Vorahnung in seinem Innern einzuschläfern.
Am frühen Nachmittag waren sie eingetroffen, bis Sonnenuntergang lief d’Alembert umher, schimpfte und lobte, ordnete an und munterte auf. Er befahl, Ratten zu erschlagen und Fensterlöcher zu verrammeln, ließ die Hunde in die Remise und die Kutschen in die Scheune schaffen. Ein magerer Kuchelknabe musste aufs Dach hinauf und sich durch den Kamin hinunterwinden, bis er auf den Pfropfen stieß, der den Abzug verstopfte: ein ganzes Rudel Fledermäuse, zum ledrigen Klumpen mumifiziert. Auch dieser Fund war wenig geeignet, die Stimmung in der Dienerschaft zu heben, und sogar er selbst, Maître d’Alembert, konnte sich eines beklommenen Gefühls nicht erwehren, als er den Kuchelknaben aus dem Ofen kriechen sah, schwarz wie ein Satansbraten und den schaurigen Pfropf in den Armen.
Fügte sich das lederhäutige Mumienbündel nicht auf unheimliche Weise zum Gestammel des Nabellosen, der nicht müde wurde, einen auf Lederschwingen herbeischwebenden »Drachen der Nacht« zu beschwören? Glücklicherweise war auch Flor auf Burg Krumau zurückgeblieben, behütet von der Zofe Lisetta, die sich in den Goldgelockten wie in ein atmendes Spielwerk vergafft zu haben schien. Und glücklicherweise schien auch niemandem die Analogie in den Sinn zu kommen, ausgenommen d’Alembert, der sich hütete, den heiklen Punkt zu berühren. Es gab schon genug, übergenug, worum man sich sorgen musste.
Von der Dorfkirche läuteten bereits zehn dünne Glockenschläge herauf, als von Breuner endlich im Rittersaal zu Tisch bitten ließ. Der dürre Haushofmeister hustete zum Erbarmen, mit Leidensmiene schlug er den Gong, den sie, in Leinen gewickelt, ebenso auf die Reise mitgenommen hatten wie fünfzig Gedecke, Porzellan und Bestecke, jeder Teller, jede Tasse einzeln in Seidenpapier gehüllt. An den Höfen Prags oder Wiens mochte es üppiger zugehen, der Graf von Krumau jedoch konnte sich kein Reiseservice für Herrschaft und Gefolge leisten, und hier droben im Kastell hatten sie keinen einzigen rostigen Topf vorgefunden, geschweige denn Kristallgläser, Porzellanschalen oder Goldbestecke.
Zur Linken des Grafen sank der Maître auf seinen Platz, und die Tafel mit allen Höflingen und Huren, Künstlern und Schellennarren drehte sich ihm vor Augen. Als Sitzgelegenheiten dienten schlichte Holzbänke, einige sogar ohne Rückenlehne, die Tafel selbst bestand aus zusammengewürfelten Tischen, Brettern, rasch gezimmerten Holzböcken unterschiedlicher Höhe - eine Möblierung wie in der Räuberhöhle, dachte Charles. Da durfte man fast froh sein, dass die Kerzen in den rostigen Wandhaltern nur dürftiges Licht spendeten und die Fenster zur Stromseite hin teils mit Brettern verrammelt, teils mit rissigem Ölpapier verschlossen waren. An der langen Wand gegenüber standen Ritterrüstungen in gedrängter Reihe, starr glotzten die eisernen Heroen über die Schultern der Sitzenden hinweg, als ob sie denen das karge Mahl neideten.
Charles beugte sich ein wenig vor und spähte an Don Julius vorbei, um sich zu vergewissern, dass auch Markéta in den Speisesaal gefunden hatte; Markéta von Ludanice, dachte der Maître, Edelfrau von meinen Gnaden. Mit strahlender Miene saß sie zur Rechten des Grafen, in ein türkisfarbenes Kleid von erstaunlicher Eleganz gewandet, und als sie seinen Blick bemerkte, nickte sie ihm lächelnd zu. Nun, zumindest die Mätresse des Herrn Grafen schien entschlossen, sich die Laune nicht trüben zu lassen, wie übrigens auch Don Julius selbst, den Charles kaum jemals so heiter erlebt hatte wie in den drei Wochen, seit sie nach Krumau umgesiedelt waren.
Nur hübsch die Ruhe bewahren, mahnte sich der Maître, während von Breuner ihm kalten Fasan, Trüffelpastete und weißes Brot vorlegte, wobei er mit geblähten Wangen und zusammengepresstem Kiefer seinen Husten verbiss. Im Grunde war ja alles auf allerbestem Wege, wenn sie nur diese etwas geschmacklose Episode hinter sich brachten, ohne dass ein Mitglied der Jagdgesellschaft versehentlich erschossen oder von herabfallenden Kastelltrümmern erschlagen würde. Und wenn Katharina nur zur gleichen Zeit die Waldstein von ihrem Plan abbrachte, nach Krumau zu reisen und die unwürdige Rivalin aus Julius’ Bett und Herzen zu verjagen - zwei Orte allerdings, die Johanna niemals erobert hatte. Julius verabscheute die frömmlerische Freifrau, mit der er kurz nach seinem achten Geburtstag verlobt worden war.
Alles würde sich schon in die rechten Bahnen lenken lassen, beschloss d’Alembert. Spätestens in drei Tagen würden sie nach Krumau zurückkehren, und mit jedem Tag, jeder Woche, die sie ohne gröbere Zwischenfälle überstünden, würde Rudolfs Groll auf seinen ungestümen Sohn ein wenig mehr schwinden, und damit auch die Gefahr, dass der kaiserliche Zorn sie alle, wie sie hier saßen und schmausten, ins Verderben stürzte.
Charles lehnte sich zurück und begann sich zu entspannen. Der Tokaier mundete vorzüglich, ebenso der kalte Fasan. Noch war die Stimmung der Jagdgesellschaft etwas bedrückt, aber schließlich brauchten die Spaßmacher und die Schamlosen nicht jeden Tag auf den Tischen zu tanzen. Weiter hinten an der Tafel entdeckte er Fabrio, der seiner Schwester soeben einen Happen in den Mund schob.
Sein Blick schweifte weiter, zum goldgelockten Nicodemus, den alle nur den »falschen Homunkel« nannten, und dann erst sah er die drei wirrbärtigen Gesellen, die am hintersten Ende der Tafel hockten und, halb verborgen von einer Säule, Pasteten und Braten mit plumper Gier in ihre Schlünde schoben.
Wer bei allen Göttern hat Hezilows Kerlen erlaubt, mit uns zu fahren?, dachte d’Alembert, ließ sich jedoch nichts anmerken; die Antwort lag ja auf der Hand. Und wenn schon, sagte er sich, vom kühlen Tokaier nippend, schließlich brauchte es mehr, sehr viel mehr als ein paar Lumpenkerle, um Charles d’Alembert ins Verderben zu ziehen.
37
Er zog am Riegel, und die ganze Tür fiel ihm entgegen - na sei’s drum, sagte sich Julius, zwischen ihr und mir soll schließlich gar nichts stehen, außer meinem Zepter. Er lehnte die Türtrümmer an die Wand und trat ohne weiteres in Markétas Gemach.
»Schlaft Ihr schon, Madame?«
Stockfinster war es in ihrer Kammer, das Fensterloch auch hier mit Brettern verrammelt. Buchstäblich im Dunkeln tappte er auf den fahlen Fleck zu, den er für ihr Bett hielt, da stieß er sich die Zehen an einem klobigen Ding, das mitten im Zimmer lag. »Zur Hölle damit! Habt Ihr keine Kerze, Markéta? Nun sagt endlich was. Ich weiß doch, dass Ihr unter der Decke über mich lacht! Aber wartet nur - ojwei!«
Diesmal hatte er sich den rechten Fuß gestoßen, wieder an so einem Klotz mitten im Zimmer - sicher ihre Chopinen, wie ihm nun einfiel, die türkisfarbenen Stelzschuhe, die sie nach anfänglichem Sträuben so bereitwillig wie ihren Adelsrang trug.
Vom Bett her waren nun immerhin ein paar Laute zu vernehmen, ein Schnurren und Gähnen, als ob sie wahrhaftig jetzt erst zu sich käme.
»Ich bin der Geist dieser Burgruine«, sprach Julius, die Silben schaurig dehnend. »Zündet ein Licht an, sonst komm ich über Euch, holde Maid!«
Während er behutsam weiter aufs Bett zutappte, erklang von dort leises Lachen, gefolgt von emsigem Rascheln, dann flammte endlich ein Lichtlein auf.
»Mir ist kalt, so elend kalt, edle Frau«, sagte er, »wenn Ihr die Gnade hättet, mich ein wenig aufzuwärmen?« Doch da war er bereits bei ihrem Bett, und ehe Markéta irgendetwas erwidern konnte, hatte er ihre Decke gelupft und war neben sie geglitten, dicht an ihren warmen Leib, der allerdings gleich zur Wand hin zurückwich. »Ich hoffte so sehr, dass Ihr Euch meiner erbarmen würdet.« Er drehte sich zu ihr, sodass nun wahrhaftig nur das gräfliche Zepter noch zwischen ihnen stand.
Im dünnen Schein des Kerzleins waren ihre Augen wie zwei dunkle Höhlen, eingebettet in die mondbleichen Hügel ihres Pfuhls. »Und ich, mein Herr ...« Sie richtete sich auf und beugte sich über ihn, nach wilden Rosen duftend. »Ich hoff ebenso sehr, dass Ihr sie nicht nach Krumau kommen lasst!«
»Nach Krumau - na, wen denn?«, fragte er überrumpelt, dabei schwante ihm im selben Moment, von wem sie sprach.
»Johanna! Überall in der Burg wird ja gemunkelt, dass sie aus Prag herbeieilen will, um Euch wieder an sich zu ketten.«
»Keine Bange, sie hat Prag noch nie verlassen - was sag ich: den Hradschin!« Julius lachte leise und spürte im gleichen Moment, wie seine Stimmung sich trübte. »Kein Wort mehr von ihr, ich befehl’s.«
Er legte einen Arm um ihren Leib und versuchte, sie näher zu sich heranzuziehen, doch Markéta sträubte sich, und ihr Körper wurde unter seiner Berührung starr.
»Eure väterliche Majestät hält’s ja genauso«, flüsterte sie, und ihre Haare kitzelten ihn am Ohr. »Isabella ist am spanischen Hof, und Eure Mutter lebt bei ihm in Prag.«
Und wenn’s nach Euch geht, sollen wir es künftig auch so treiben, dachte er: Johanna nach Prag verbannt, während ich mit Euch hier in Krumau hause? Nichts lieber als das, Madame. Wenn Ihr wüsstest, wie oft ich’s mir selbst schon ausgemalt habe: Markéta da Ludanice, gräfliche Mätresse, die liebste, hübscheste, listigste Weibsperson, die mir je begegnet ist! Aber offenbar ahnte sie nicht im Entferntesten, wie heikel diese Fragen waren, wie viele Aspekte es zu erwägen galt, welche Fallstricke drohten.
»Nun sagt schon, Julius, warum nicht auch wir - getreulich nach dem Bild Eurer Eltern?«
»Da ist ... vieles zu bedenken«, presste er hervor und versuchte abermals, sie zu sich heranzuziehen, aber sie stemmte ihm eine Hand gegen die Brust.
Ah, zum Satan, warum musste sie ausgerechnet jetzt drauf beharren, gerade jetzt, da er ihr fast alles verspräche, wenn sie sich nur nicht länger wie ein totes Stück Holz betrug!
»Meine Mutter stammt immerhin aus einem angesehenen Adelsgeschlecht, während Ihr, Markéta .«
Er unterbrach sich, erschrocken, da sie mit einem Mal ganz schlaff geworden war, so als ob alles Leben aus ihr gewichen wäre. Im Halbdunkel sah er, wie sie die Augen aufriss, zwei riesige schwarze Seen.
»Aber das Bildnis«, stammelte sie. »Und das Dokument, das d’Alembert aufgetrieben hat - es beweist doch, dass meine Mutter aus dem Geschlecht der Ludanices stammt!«
»Markéta.« Er sprach so zärtlich, wie er niemals vorher zu irgendwem geredet hatte. »Maître d’Alembert ist ein Fuchs«, fuhr er fort und versuchte abermals, sie an sich zu ziehen, doch da hatte sie sich schon wieder steif gemacht und lag wie eine Eissäule in seinen Armen. »Und wie es aussieht, verstand sich auch Eure Frau Mutter darauf, mit lebenden Figuren Schach zu spielen. Aber bisher beweisen das Bild aus der Rosenberger Galerie und d’Alemberts Dokumente nur eines.«
Wieder unterbrach er sich, er wollte ihr ja nicht wehtun, im Gegenteil. Doch noch sehr viel weniger wollte er durch einen falschen Schachzug seine Hoffnungen auf die väterliche Thronfolge untergraben, gerade jetzt nicht, da er dank Hezilows magischen Künsten seinem Ziel so nahe war wie nie.
»Was spannt Ihr mich auf die Folter, Julius!« Ihre Stimme klang gequält, in ihren Augen glitzerten Tränen. »Was beweist es denn - so redet doch weiter!«
»Schscht«, machte Julius, »ruhig, ma chère. Niemand hofft ja inständiger als ich, dass alles sich so verhält, wie der Maître es darstellt.
Aber deine Mutter scheint damals, vor zwanzig Jahren, ziemlich überraschend bei den Rosenbergern aufgetaucht zu sein. Und falls sich herausstellen sollte, dass sie sich zu Unrecht als angeheiratete Verwandte ausgegeben hat ...«
Wieder sprach er seinen Satz nicht zu Ende, und diesmal drängte Markéta ihn nicht zum Weiterreden. Wortlos sahen sie einander an, im selben Bett liegend und doch mit einem Mal weit voneinander entfernt.
D’Alembert kam’s nur zu gelegen, wenn ich niemals mehr hoffen dürfte, die Krone Böhmens oder gar den Kaiserthron zu erstreiten, dachte Julius. Verbandelt mit einer Bürgerlichen, der Tochter einer Hochstaplerin gar, könnt ich nie und nimmer sukzedieren. Stumm sah er Markéta an, spürte ihren Körper in seinem Arm und dachte an den Mann, den er ausgesandt hatte, das Geheimnis um ihre Herkunft rasch und lautlos aufzuklären.
Gott gebe, dass ich niemals wählen muss, Markéta, an deinen Augen seh ich ja, dass auch du es weißt: Und wenn es mir das Herz zerrisse, Geliebte, ich würd dich opfern für meines Vaters kleinstes Königreich.
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Der Maître hatte einen Auszug aus dem Tauf- und Sterbebuch von Prescov aufgetrieben, einem ungarisch-siebenbürgischen Sprengel, der im Jahr ‘66 ebenso viele Seelen umfasste - »nicht eingerechnet die Pferde-, Hunde- und Schweineseelen, Madame, wenn Ihr mir die antikische Abschweifung nachseht«. Vor zehn Tagen schon hatte d’Alembert ihr die schwer leserliche Kopie vorgelegt, aber Markéta hätte den Wortlaut noch immer auswendig hersagen können: »Bianca von Ludanice, geboren am 6. Junius 1566 A.D. als Tochter des Edelmanns Anselm von Ludanice und seiner Gemahlin Margareta, geborene da Voscaja, getauft in der St.-Josefs-Kirche zu Prescov am Tag des Herrn, dem 12. Junius selbigen Jahres.«
Margareta - Markéta, dachte sie, aufs Neue erfüllt von zärtlichen Gefühlen für die ferne Vorfahrin. Mutter Bianca hatte an ihre Tochter den Namen ihrer eigenen Mutter weitergegeben. Dieser Großmutter Margareta war während Markétas Kinderjahren wohl gelegentlich gedacht worden, doch stets nur mit wenigen, im Grunde nichtssagenden Worten.
Ein Trompetenstoß riss Markéta aus ihren Gedanken. Sie sprang aus ihrem Bett und wollte hastig in das bereitgelegte Jagdkleid fahren, ohne auf Bronja zu warten, dann allerdings verfing sie sich in Schnüren und Ösen und musste mit kläglicher Stimme nach der Zofe rufen. Vor dem Fenster, durch Ritzen im Holz beinahe nur zu erahnen, ging eben die Sonne auf.
Bronja stürzte ins Zimmer, ihrerseits noch im Nachtgewand, in der Hand eine flackernde Kerze. Unten im Burghof versammelten sich schon die Jäger und ihre Gehilfen, Treiber zu Fuß und zu Pferde, dazu die Meute der Schweißhunde, deren Gebell von den Mauern widerhallte, dass es wie ein Heulen aus dem Schlund der Hölle klang.
»Die Luft anhalten, Madame.« Bronja war dicht hinter sie getreten und schnürte mit eisernen Händen das Korsett. In den letzten Wochen hatte Markéta jeden Widerstand gegen den atemberaubenden Aberwitz der höfischen Mode aufgegeben, doch im Stillen haderte sie noch immer mit einer Kleiderordnung, die Adelsdamen die Kontur eines doppelten Kegels aufzwang.
»Jetzt könnt Ihr wieder atmen, Madame.«
Oder auch nicht, dachte Markéta und schnaufte behutsam aus und ein. Es fühlte sich an, als wäre ihr Oberkörper in eine Weinpresse geraten. Dafür hätte fast der gesamte siebenbürgische Sprengel von Großmutter Margareta unter ihren gewaltigen waldgrünen Reifrock gepasst.
Sie unterdrückte ein Kichern. Bronja machte sich bereits an den Haaren ihrer Herrin zu schaffen, einem Berg aus Locken, Netzen, Haft- und Färbemitteln, neben dem sich selbst der Hungerturm von Burg Krumau kümmerlich ausnahm.
Vom Kastellhof drang ein Gebrodel aus Menschen- und Hundestimmen empor, es klang so erregt, dass auch Markéta mit einem Mal ein Kribbeln im Magen spürte. Noch gestern Abend hatte sie gedacht, dass sie niemals Gefallen an der Jagd finden könnte, dem methodischen Abschlachten wehrloser Kreaturen.
Neuerlich erschallte ein lang gezogener Trompetenton, untermalt von Rufen, Belfern, klappernden Pferdehufen.
»Hoffen wir, dass heut alles gut ausgeht.« Sie lächelte Bronja zum Abschied zu, stutzte einen Augenblick, als die Zofe sich mit düsterer Miene bekreuzigte, und eilte aus dem Zimmer, barfuß, ihre Chopinen in den Händen.
Als sie unten in den Hof trat, waren Jäger und Meute schon aus dem Tor. Neben dem Schutthaufen wartete eine offene Kalesche, auf dem Kutschbock Mikesch Slatava, Bronjas Bruder. Als er Markéta im Türbogen sah, sprang der Schlacks gleich hinab und bot ihr den Arm.
»Lass den Unfug, Mikesch«, sagte sie lachend, bestieg die Kutsche und ließ sich in die Polster fallen, ohne seinen Arm anzurühren. »Hast du vergessen, dass ihr mich früher Eichkätzchen genannt habt - weil ich auf Mauern und Bäume schneller hinauf bin als die geschwindesten Buben?«
»Vor Euch steht ein Soldat der gräflichen Salvaguardia, Madame.«
Mikesch kniff die Lippen zusammen. »Mir wurde befohlen, der Jagdgesellschaft in gewissem Abstand zu folgen - zu Eurer Sicherheit.« Er schwang sich auf den Kutschbock und ergriff die Zügel des Rappen, der mit einem Schnauben den Kopf emporwarf. »Die Person, die Ihr eben erwähnt habt, existiert nicht mehr.«
Diesen letzten Satz hatte Mikesch gesagt, ohne sich noch einmal zu ihr umzuwenden. Während sie darüber nachdachte, ob er sie oder sich selbst gemeint hatte, rollte ihre Kalesche bereits aus dem Burgtor, der Jagdgesellschaft folgend, die in gestrecktem Galopp auf den Waldrand zuhielt.
Anfangs sah sich Markéta noch aufmerksam um, während sie im Trab dem schmalen Weg hoch über der Moldau folgten, durch Gärten und Felder dem Wald entgegen, der wie eine schwarzgrüne Riesenwand vor ihnen aufragte. Aber bald wurde sie wieder schläfrig - kein Wunder, dachte sie, nach den Aufregungen der letzten Nacht. Sie warf sich die Decke über, die neben ihr auf der Bank bereitlag, aß langsam einen der rotbackigen Äpfel, die sich zusammen mit Würsten und Weißbrot, Fasan und Tokaier in der Provianttasche fanden, und sah an Slatava vorbei in die nebelverhangene Ebene, bis sich vor ihren Augen wirkliche Sinnesbilder mit Gedanken und Träumen vermischten.
Die sechziger Jahre des vergangenen Jahrhunderts waren ein wüstes Zeitalter, jedenfalls nach den Worten d’Alemberts, der ihr die Verhältnisse anschaulich geschildert hatte. Und ganz besonders galt dies wohl für das Fürstentum UngarnSiebenbürgen, in dem Markétas Mutter Bianca aufwuchs, im Gutsflecken Prescov nahe Hermannstadt, als einzige Tochter der Eheleute da Ludanice. Seit dem Fall der ungarischen Hauptstadt Ofen stand auch Siebenbürgen unter osmanischer Oberhoheit, immer wieder kam es zu Aufständen, die der Sultan von Konstantinopel blutig niederschlagen ließ. Katholiken bekämpften überdies Reformierte, Protestanten stritten mit Orthodoxen, und alle zusammen hassten die Mohammedaner. 1562, vier Jahre bevor Bianca zur Welt kam, erhoben sich die Sklezer gegen die osmanischen Usurpatoren und wurden von den Krummsäbeln in langwierigem Kampf niedergemacht. Die Pest brach aus, erneute, noch verzweifeltere Aufstände folgten; Dörfer, Städte, ganze Landstriche wurden verwüstet, so auch der Sprengel Prescov, der im Jahr 1570 lichterloh brannte.
Während dieser Wirren kamen anscheinend Anselm wie auch Margareta da Ludanice ums Leben. Jedenfalls fand man in den Trümmern des Gutshauses zwei verkohlte Leichen, die für ihre sterblichen Überreste angesehen und am 11. Oktober 1570 auf dem verheerten Kirchhof zu Prescov notdürftig bestattet wurden. Die kleine Bianca aber wuchs fortan in der Obhut ihrer Großtante Ludovica auf, in einem Häuschen am Rand des Sprengels Prescov.
»Nicht, dass es heute in Siebenbürgen sehr viel friedlicher zuginge«, hatte d’Alembert nach kurzem Sinnen noch hinzugefügt. »Von dem Tohuwabohu, das Stephan Bocskay dort angerichtet hat, wird sich das Land nicht so rasch erholen, auch wenn der streit- und ruhmsüchtige Fürst so einsichtig war, nach nur dreijähriger Tyrannei das Zeitliche zu segnen.«
Seit dem Tod ihrer Eltern und der Verwüstung des Familienguts war Bianca da Ludanice eine bettelarme Waise, angewiesen auf die Gnade der alten Tante, die ihrerseits in dürftigen Verhältnissen lebte.
Die einzige Trumpfkarte, die dem Mädchen verblieben war, ihr siebenbürgischer Adelsrang, war lange Zeit nicht das Pergament wert, das die Echtheit ihrer Ansprüche verbürgen sollte, bis Peter Vok von Rosenberg, der jüngere Bruder Wilhelms, im Sommer 1580 Katharina da Ludanice ehelichte, eine Kusine Biancas aus der mährischen Hauptlinie der Ludanices.
Damals zählte Bianca vierzehn Jahre, ein Jahr mehr als die so glanzvoll aufgestiegene Kusine. Nicht einmal d’Alembert hatte herausbringen können, wie lange es von Katharinas Hochzeit an gedauert hatte, bis die frohe Botschaft nach Prescov gedrungen war, zur Großtante Ludovica, die unterdessen nahezu taub war, und zu ihrem Mündel Bianca, das nach den Aufzeichnungen des Dorfpfarrers, Hochwürden Dragovic, »anstellig, gewissenhaft und von Ehrsucht geplagt« war.
Im Jahr 1586 jedenfalls verstarb Ludovica im biblischen Alter von dreiundneunzig Jahren, und im Sommer darauf tauchte auf Burg Krumau eine hübsche und aufgeweckte, wenn auch ärmlich gekleidete junge Frau auf, die sich anhand verschiedener Dokumente als Bianca von Ludanice auswies. Und Wilhelm von Rosenberg, der großmächtige Burgherr, seit jeher weiblichem Liebreiz zugeneigt und großzügig bis zur blinden Verschwendung - Wilhelm nahm die siebenbürgische Kusine seiner Schwägerin Katharina mit offenen Armen auf. Etwas mehr als ein halbes Jahr verbrachte sie auf Burg Krumau, ohne sich in irgendeiner Weise hervorzutun, ausgenommen ihr brillantes Schachspiel. »Dann vermählte sich Eure Frau Mutter Hals über Kopf mit dem Bader Sigmund Pichler und wurde nie mehr hier oben in den Burghöfen gesehen. Wie eine Spielfigur, die über den Rand des Schachtischs kippt und zu Boden fällt, wenn Ihr mir den nicht ganz ernst gemeinten Vergleich nachseht, Madame.«
»Hört Ihr mich, Madame?«
Die Frage verwirrte Markéta, erst nach einigen Momenten der Besinnung wurde ihr klar, dass nicht d’Alembert sie angesprochen hatte.
»Natürlich hör ich dich, Mik ... - Gardist Slatava.«
Ihre Kutsche stand am Rand einer weiten Lichtung, die von Eichenwald umschlossen war. In der Ferne erklangen Jagdhörner, das Hecheln der Bluthunde und die abgehackten Rufe der Knechte, die den Jägern das Wild zutrieben.
»Zur Mittagsstunde«, sagte Mikesch Slatava, indem er vom Kutschbock sprang und den dampfenden Rappen abschirrte, »wird sich die Jagdgesellschaft hier auf der Lichtung einfinden, auch die Beute soll hier aufgestapelt werden, Madame.«
Seine Worte beschworen aufgehäufte Tierkadaver, blutüberströmt und gehäutet, vor Markétas geistigem Auge herauf. Sie war Julius dankbar, dass er zumindest nicht angeordnet hatte, sie mitten ins Getümmel zu führen. Zugleich spürte sie zum ersten Mal seit Wochen wieder, dass er manchmal noch immer ein Fremder für sie war, jedenfalls jener Teil von ihm, der sich an Blut und Tod ergötzte.
Er ist ein Mann, dachte sie dann, lebt nicht in allen Männern dieser dunkle Drang zu überwältigen, abzuschlachten und zu töten? Nein, nicht in allen, antwortete sie sich selbst, denn gleich schon kamen ihr drei wandelnde Gegenbilder in den Sinn: Charles d’Alembert, Flor und - Vater Sigmund. Keiner dieser drei könnte sich an der Jagd berauschen, dessen war sie sicher, auch wenn der Maître notgedrungen an der heutigen Jagdpartie teilnahm. Aber keiner von ihnen ist auch wie er, dachte sie dann wieder, so leidenschaftlich, kühn und stark.
Markétas Knie fühlten sich ein wenig weich an, als sie sich endlich von der Kutschbank erhob, und diesmal zögerte sie nur einen Augenblick, dann nahm sie Mikeschs dargebotenen Arm und ließ sich aus der Karosse helfen.
39
Trompetentöne kündigten die Rückkehr der Jagdgesellschaft an, die überschwänglichen Klänge schienen die Üppigkeit der Beute zu preisen.
Markéta hatte sich im Gras niedergelassen, unter den Ästen eines riesigen Eichbaums, ob vor zwei Stunden, drei oder mehr, sie hätte es kaum sagen können. Fürsorglich hatte der Gardist ihre Decke und die Provianttasche aus der Kalesche herbeigeholt, sie hatte das Webtuch ausgebreitet, sich seitlich darauf gelegt, den Kopf in einen Arm gestützt. Und war gleich wieder in Grübeleien versunken, Gedanken an Mutter Bianca und den Bader, von dem sie so viele Jahre lang geglaubt hatte, dass er ihr Vater sei. Dabei war Sigmund Pichler höchstwahrscheinlich nur der Bürgersmann gewesen, der Bianca Schutz und Dach und vielleicht auch ein wenig Trost geboten hatte, nachdem das Schifflein ihrer ehrsüchtigen Träume gekentert war.
Markétas heitere Stimmung war verflogen. Ein ums andere Mal musste sie sich Tränen aus den Augen wischen, verstohlen, damit der Gardist nichts bemerkte. Slatava hockte auf der anderen Seite der Lichtung, nahe dem Kutschpferd, das mit methodischer Gier den Waldsaum abgraste. Auch die ersten Jäger und Treiber, die nun von Westen her auf die Lichtung kamen, sah sie ein wenig verschwommen, obwohl sie gleich wieder Tränen aus den Augen blinzelte. Die Pferde waren mit Hirschhälften und blutigen Rehkadavern beladen, gehäutete Hasenkörper quollen aus den Satteltaschen der Reiter und aus den Netzen der Treiber, die sich hinter den Pferden auf die Lichtung schleppten, unter ihre Lasten gebeugt.
Als der Wind einen Schwall süßlichen Blutgeruchs zu ihr herübertrieb, richtete sich Markéta zum Sitzen auf und drehte sich seitlich weg. Aus den Augenwinkeln sah sie eben noch, wie die ersten Jäger ihre Beutestücke vom Pferd gleiten ließen und auf einem Felsstück am Rand der Lichtung aufzustapeln begannen, dann senkte sie die Lider und kehrte in Gedanken zu Mutter Bianca zurück.
Alles sprach dafür, dass Bianca damals, im Sommer 1587 oder wenig später, die Geliebte eines wohlgeborenen Herrn aus Wilhelms Gefolge geworden war. Höchstwahrscheinlich hatte sogar ein Freier von höherem Adel um ihre Gunst gerungen, denn anders ließ sich kaum erklären, was Bianca wenig später widerfuhr: Anfang 1588 vermählt mit dem Kleinhäusler Sigmund Pichler, wobei das Kirchbuch von Krumau als Mädchennamen der Braut nicht etwa »von Ludanice« anführte, sondern den Herkunftsnamen ihrer Mutter Margareta, überdies gekürzt um das Adelsprädikat: »Bianca Voscaja, geboren am 6. Junius 1566 A.D. in Prescov, Fürstentum UngarnSiebenbürgen«.
Aber Geburtstag und -ort stimmten überein, die Identität der beiden Biancas stand also außer Zweifel - umso mehr, als das Gemälde aus der Rosenberger Privatgalerie niemand anderen als Bianca Pichlerovâ zeigte, vielmehr Bianca da Ludanice, die sich im Januar 1588 so überraschend in die Gemahlin des Baders Pichler verwandelt hatte.
Derlei »Transformationen«, wie d’Alembert es ausdrückte, erfolgten »nicht ganz selten, stets diskret und fast immer aufgrund der nämlichen Konstellation: wenn die Buhlin gesegneten Leibes ist und der Standesunterschied eine Vermählung mit dem Kindserzeuger verbietet, dieser jedoch Ehrenmann genug ist, die Dame angemessen abzufinden - mit Ehegemahl und Mitgift, in bürgerlichem oder kleinadligem Rahmen, je nachdem«.
Markéta hatte eine Weile gebraucht, um die gedrechselten Worte des Maître zu enträtseln, aber mittlerweile war sie sicher, dass sie, auf ihren Fall bezogen, nur einen Schluss erlaubten:
Mutter Bianca, damals immerhin eine Edelfrau klangvollen Namens, musste eine Liebschaft mit einem Krumauer Herrn von hohem oder sogar höchstem Adel eingegangen sein. Zum hundertsten Mal wendete Markéta den Gedanken hin und her und kam doch zum selben Ende wie immer: Wäre nämlich Biancas Buhle von ähnlichem Blutsrang wie sie gewesen, ein Freiherr oder selbst ein Baron, so hätte er schwerlich eine andere Wahl und noch weniger einen guten Grund gehabt, die Vermählung mit der Dame zu verweigern, immerhin einer angeheirateten Verwandten des Grafen von Rosenberg. Hatte Mutter Bianca sich dagegen mit einem Herrn von weit höherem Stand eingelassen, so durfte sie keinesfalls hoffen, dass der wohlgeborene Galan sich um der minderblütigen Buhlin willen ins Verderben stürzte, »und speziell in diesen Fällen«, so wiederum der Maître, »kommt das Instrument der Transformation sehr zupass.«
Alles in allem, dachte Markéta, hieß das doch wohl, dass ihr wahrer Vater eine fürstliche Persönlichkeit sein musste, die im Winter 1587 auf Burg Krumau lebte, möglicherweise sogar Graf Wilhelm höchstselbst. Sie hatte es kaum gedacht, als ein heftiger Schwindel sie befiel; rasch öffnete sie die Augen und sah zu den Jägern hinüber.
Immer noch kamen weitere Männer in tannengrüner Kluft aus dem Wald hervor, zu Fuß oder zu Pferde, sie alle beladen mit blutigen Beutestücken, die sie auf den Kadaverhaufen warfen. Auch etliche Künstler in papageienbunten Gewändern waren zur Lichtung herausgekommen, Markéta erkannte die zitronengelben Schuhe Giacomo da Biondos, der eben seine Staffelei aufstellte. Der Kadaverstapel mochte mittlerweile anderthalb Meter in der Höhe messen, Dutzende starrer Augen glotzten aus dem Fleischberg zu ihr herüber, und Markéta sah den äugenden Beutehaufen einen Moment lang benommen an, ehe es ihr gelang, den Blick wieder abzuwenden.
Gestern Nacht, dachte sie, bei seinem überraschenden Besuch in ihrem Bett, hatte Julius angedeutet, dass es für Biancas Absturz von der Burg ins Baderhaus möglicherweise noch eine andere, weit weniger ehrenhafte Erklärung gab. Natürlich hatte auch sie selbst schon daran gedacht, aber die Möglichkeit, dass Bianca der Hochstapelei überführt und deshalb nach kurzer Zeit aus der Burg gewiesen worden war, schien ihr keine ernstere Überlegung wert. Die Dokumente, die ihre Herkunft bezeugten, waren untadelig gewesen, das hatte d’Alembert ihr mehrfach versichert, und daran würde sie sich halten.
Ich muss endlich mit ihm sprechen, dachte Markéta wieder, mit Vater Sigmund - auch wenn sie jetzt schon wusste, dass sie gerade die Fragen, die ihr am ärgsten auf der Seele brannten, unter seinem bekümmerten Blick kaum hervorwürgen könnte. Und dennoch, sie war es dem Bader und sich selber schuldig, sagte sie sich, während ihr neuerlich Tränen in die Augen traten; armer Vater Sigmund, von Bianca verlassen und nun auch von mir.
Aber hatte der Bader sie nicht regelrecht in die Burg hinauf abgeschoben, bei der erstbesten Gelegenheit?, dachte sie dann wieder, während Julius drüben auf die Lichtung sprengte, durch Fanfare und Hurra der Jäger und Treiber begrüßt. War es ihr nicht schon damals im Thronsaal sonderbar erschienen, überlegte sie weiter, wie geflissentlich der Bader ihre Mutter hervorgestrichen hatte, ohne auch nur anzudeuten, dass er selbst der Gemahl und Vater sei?
Nein, so eigentümlich hätte der Bader sich gewiss nicht gebärdet, wenn er Biancas Geheimnis nicht seit langen Jahren kannte, sagte sich Markéta, während Julius von seinem schwarzweiß gescheckten Hengst sprang und mit strahlendem Lächeln auf sie zulief. Sein Gewand war mit Blut besprenkelt, auch seine Hände, selbst auf Stirn und Wangen klebte Blut. Ein Schauder überlief Markéta, sie sprang auf und hielt den Atem an, als er vor sie trat, so nahe, dass der Geruch seines Körpers sie umhüllte; ein überwältigendes Duftgemenge aus Jägerschweiß und Fichtenharz, Unterholz und Blut.
»Ihr werdet staunen, Madame!« Er rief es mit heller Stimme, bübische Freude in den Augen, dann beugte er sich vor, nahm ihre Hand in seine blutbeschmierte Rechte und hauchte einen Kuss darauf. »Begleitet mich und seht selbst, wie sehr unsere kühnsten Erwartungen übertroffen wurden!« Und er zog sie mit sich, über die weite, sonnenbeschienene Lichtung zu den Jägern hinüber, die im Schatten der Eichen lagerten, auf Baumstämmen, Felsbrocken, im Gras.
Der Maître beaufsichtigte nahebei eine Schar von Kuchelmaiden, die Leintücher im Gras ausbreiteten und Teller, Zinnbecher und Messer aufdeckten. Einige Dutzend Schritte abseits waren die Hunde angekettet worden, vor einer Mulde voll blutiger Eingeweide, um die sie kläffend und zähnefletschend kämpften.
Markéta klammerte sich fester an Julius’ Arm. »Ihr seid ein Kind, Monsieur - im Körper eines Mannes«, setzte sie, sehr zu ihrer eigenen Verwirrung, hinzu.
Julius grinste sie von der Seite an. »Und wer gefällt Euch besser, Markéta - der Knabe oder der Mann?«
»Nun - alle beide, wenn auch selten zur gleichen Zeit«, gab sie zurück, entschlossen, die Hitze zu ignorieren, die ihr wieder in die Wangen stieg.
»Und Ihr seid Euch jederzeit sicher, welchen Knaben Ihr gerade meint?«
Keine fünf Schritte trennten sie mehr von dem Haufen aufgestapelter Tierkadaver, auf denen Hunderte von Schmeißfliegen umherkrauchten. Der Geruch nach Blut und rohem Fleisch, nach Eingeweide und Kot war betäubend, und obwohl Markéta schon mehr als einmal Karnickel gehäutet oder Schweinehälften zerschnitten hatte, spürte sie nun, wie Übelkeit in ihr aufstieg.
Unvermittelt blieb sie stehen, sodass auch Julius innehalten musste. »Ich verstehe nicht, Monsieur?«
»Nun, Eure Bemerkung eben, von dem Knaben - bezog sie sich nicht ein wenig auch auf Flor?«
»Aber er ist ein Kind!«, stieß sie hervor. Ihre Wangen brannten wie Feuer.
»Im Körper eines Burschen?« Er zog sie weiter, auf den Beutehaufen zu, aus dem Rehköpfe, Schweineschnauzen, großäugig starrende Hasen hingen, die Löffelohren erdwärts baumelnd und mit Schlamm oder Blut verschmiert.
»Habt Erbarmen, Monsieur!« Sie zog ein Seidentüchlein hervor und presste es sich vor Mund und Nase.
Unterdessen hatte Mikesch Slatava einen Bauernwagen, der mit zwei schweren Pferden bespannt war, neben den Kadaverstapel manövriert. Kaum war der Karren zum Stehen gekommen, da packten die Jagdgehilfen, allein oder zu zweien, die ersten aufgehäuften Kadaver und warfen sie unter lautem Hauruck auf den Wagen.
»Ihr meint - wegen diesen da?« Julius deutete auf einen weißen Hirsch, der einige Schritte abseits im Gras lag, sein Fell so makellos, als ob er nur schliefe. Daneben lagen weitere Körper, anscheinend tot, wenn auch äußerlich unversehrt: eine gewaltige Hirschkuh und drei winzige Kitze, die wie schutzsuchend ineinander verknäult waren.
»Die Jagd begeistert mich, Madame, das wird Eurer Aufmerksamkeit nicht entgangen sein. Aber mehr noch als Hirsche zu töten ergötzt es mich, wenn diese Könige des Waldes wiederauferstehen.«
Markéta sah von dem weißen Hirsch zu Don Julius, der mit Verschwörermiene fortfuhr: »Wartet nur ab - bald wird diese ganze Hirschfamilie wieder gesund und munter vor Euch stehen!«
»Ihr seid ja ...!«: Sie brach ab und biss sich erschrocken auf die Unterlippe.
»Wahnsinnig, meinst du?« Unvermittelt beugte er sich vor und küsste sie auf den Mund; seine Zunge bohrte sich zwischen ihre Lippen, sein Leib drängte sich gegen ihren Körper, mit so jäher, überrumpelnder Härte, dass sie ihn wie willenlos gewähren ließ. »Glaubst du, ich wüsst nicht, was sie über mich munkeln? In der Prager Hofburg oder droben in Krumau - über mich so gut wie über die väterliche Majestät?« Schwer atmend ließ er ab von ihr, seine Unterlippe zuckte. »Don Julius lacht oder weint? Er ist ja auch verrückt! Don Julius flüstert oder singt, liebt oder hasst, schweigt oder schreit? Kein Wunder, alles überhaupt kein Wunder, schließlich ist er mondsüchtig, dem Satan verfallen -das weiß doch in ganz Böhmen jedes Kind! Wahnsinnig, verrückt, dieser Kaiserbastard - auch wenn er nur tote Tiere mit Lumpen und Stroh ausstopft, bis sie wieder wie lebendig aussehen!«
Obwohl er mit gedämpfter Stimme und atemlosem Keuchen sprach, kam es Markéta mit einem Mal vor, als ob er schrie, eine uralte Bitterkeit aus sich herausschrie, und da flammte eine wilde Zärtlichkeit in ihr empor. »Ich bin dem Wahnsinn verfallen«, flüsterte sie, zog seinen Kopf zu sich herunter und wiederholte stammelnd, ihre Lippen dicht an seinem blutbespritzten Ohr: »Dem Wahnsinn ... der Liebe, Julius, zu dir!«
Da gellte neben ihr ein Schrei auf, sie ließ seinen Nacken fahren und sah sich erschrocken um. Die Augen weit aufgerissen, stand Lenka vor dem Beutehaufen, den die Knechte zur Hälfte abgetragen hatten. Mit zitternder Hand deutete sie auf die schmale Gestalt, die inmitten der Tierkörper zum Vorschein gekommen war.
Seine Augen waren geschlossen, der Arm angewinkelt, die Schulter ein wenig emporgezogen, eine Wange ins Fleisch gebettet wie zu sanftem Schlaf. Aber es war kein Schlaf, sein Gesicht so blutig, als ob sie auch ihn gehäutet hätten, alles, alles, auch Stirn und Schläfe unter Locken so funkelnd wie Goldgefädel.
Lenka schrie noch immer, und da begann auch Markéta zu schreien, sie riss sich von Julius los und warf sich, in einer Lache aus Blut und Leichen was ser, vor den Kadavern auf die Knie: »Flor! Um Himmels Willen, Flor! Lieber Gott, bitte mach, dass er lebt!«
40
Er war wieder dort in der schwarzen Halle, wie damals starr vor Angst. Lisetta, dachte er, sie hat am Boden gekauert wie - aber da sah er die Zofe schon nicht mehr, hatte sie schon vergessen, verloren, ihren Zimtduft, das pfirsichfarbene Zimmer, alles verschwamm, verschwand binnen eines Lidschlags, bis ihn nur noch Nacht umgab.
Irgendwo tropft Wasser, leise nachhallend, pa-lapp. Dazu sein eigener Atem, keuchend, obwohl er reglos dasteht, in die Tintenschwärze lauschend: nichts; sich dreht und wendet, angestrengt horchend: nichts, wiederum nichts!
Von allen Seiten stürzt die Stille auf ihn ein. Er will sich räuspern und bringt keinen Laut heraus, will einen Schritt machen, ganz gleich wohin, doch die Beine verweigern ihm den Dienst. Da plötzlich hört er’s, und wünscht sich gleich die Stille zurück, alles lieber als das: ein Winseln, kaum wahrzunehmen, ein fistelndes Fiepen wie von sehr jungen, grässlich verschreckten Tieren.
Welpen vielleicht, oder Kätzchen? Wie fern ihre Laute sind, auch das Tropfen des Wassers. Wie riesig dieser Raum sein muss: eine Halle, ein Gewölbe, gefüllt mit nichts als Finsternis. Und darin schwimmend, in einem Meer aus Schwärze, Stille und jenem herzzerreißend zarten Fiepen: ich, Flor.
Wie komm ich hierher? Er lauscht in sich hinein: nichts, nichts! Nur ein Grauen, das in allen Winkeln lauert: Fort, nur fort! Frag lieber nicht! So lauf schon, Flor!
Diesmal schafft er’s, einen Fuß vom Boden zu heben, er tastet umher, zuckt zurück: wie kalt der Boden ist! Jetzt erst beginnt er zu frösteln. Fährt mit den Händen über seine Brust, den Leib hinab: Er ist nackt, am ganzen Körper nackt, ein klapperdürres Kind, und aus dem Steinboden kriecht der Frost empor.
Flor streckt die Arme nach vorn, um sich im Finstern nicht zu stoßen, und macht einen Schritt, dann noch einen. Wieder hört er das Fiepen, so leise wie im Traum, aber es ist kein Traum, im Gegenteil: Ihm scheint, als wär er gerade erst erwacht aus langem, tiefem Schlaf. Langsam geht er weiter, über den schroffen Boden, und betastet die Luft vor sich, aber da ist nichts, nur hallend kalte Nacht.
Welpen, denkt er wieder, mit wolligem Fell. Er friert jetzt so sehr, dass seine Zähne aufeinander klappern, seine Haut fühlt sich rau an wie der Stein unter seinen Sohlen, jede Berührung schmerzt. Er tappt weiter und weiter, hört das ferne Tropfen, pa-lapp, und das vielstimmige Fiepen, das eine Höhle, warm und dämmrig, vor ihm heraufbeschwört. Dort will er hineinkriechen, zu den Welpen, sich an ihnen wärmen.
Doch da hört er ein Rauschen, mächtig und gleichmäßig wie ferner Wind oder wie anbrandende Wellen. Es kommt näher heran, wird zu einem Brausen hoch über ihm. Flor hebt den Kopf, und da sieht er ihn, dunkler als alle Dunkelheit, ein plumper Leib zwischen spitz gezackten Schwingen, ein riesenhafter Schatten, der scheinbar auf ihn herabstürzt: der schwarze Drache der Nacht .
Und da wirft sich Flor zu Boden, presst sich mit Brust und Bauch auf die eiskalten Steine, zieht die Beine an den Leib, schlingt die Arme um seinen Kopf, wartet auf den Angriff, der kommen muss, im allernächsten Moment. Wieder hört er das Wimmern und merkt dann erst, dass er selbst wie ein Welpe fiept. Und hört auf einmal ein Lachen, spürt die Hand, die ihn am Arm packt und hochreißt, blinzelt in die Lampe, deren Schein ihm gleißend in die Augen beißt: »Na, Zitterpippchen, wollt er vor säjnem Mäjster fliehen?«
41
Er war noch am Leben, glücklicherweise, und es war nicht Flor, natürlich nicht - der Nabellose befand sich in Burg Krumau, in der Obhut der Zofe Lisetta.
Dennoch fühlte sich Markéta immer noch weich in den Knien, als sie neben dem Verletzten im Gras kauerte und die tiefe Pfeilwunde in seinem Oberschenkel mit einem Verband aus gebleichtem Leintuch versorgte. Offenbar hatte er eine Menge Blut verloren. Erst nachdem sie ihm Riechsalz unter die Nase gerieben und mehrfach die Wangen beklopft hatte, öffneten sich seine Lider, flatternd wie Mottenflügel, und er sah mit einem Ausdruck dumpfen Entsetzens zu ihr auf.
»Bleib liegen, Nicodemus, ganz ruhig«, sagte sie, in beschwichtigendem Tonfall, wie sie hoffte, dabei war sie selbst von quälender Unruhe erfüllt. »Du hattest einen Unfall bei der Jagd - einer der Armbrustschützen muss versehentlich auf dich geschossen haben.«
Der »falsche Homunkel« sah sie nur weiter verständnislos an, mit bebenden Lippen, und seine Augen glitzerten, als ob er gleich in Tränen ausbrechen würde.
»Keine Sorge«, fuhr sie rasch fort, »die Verletzung ist nicht arg, du wirst bald wieder laufen können.«
Der Mund des Flößersohns öffnete sich und ging wieder zu, er ballte eine Hand zur Faust und stammelte endlich: »Wie konnte das ... tut so weh ...?«
Sie überlegte, wie sich das Geschehene erklären ließe, doch dann hob sie nur die Schultern und lächelte ihm tröstend zu. Was hätte sie ihm auch sagen können? D’Alembert hatte Jäger und Treiber zusammengerufen und alle vierzig oder sechzig Männer streng befragt, doch das Ergebnis war dürftig: Dass ein Treiber angeschossen wurde, wenn er sich nicht rechtzeitig in Sicherheit brachte, komme immer wieder einmal vor, bedauerlicherweise; meist liege die Schuld beim Treiber selbst, der ungeschickt im Unterholz Deckung suche, anstatt aus der Schussbahn zu fliehen. Wie es allerdings geschehen konnte, dass Nicodemus, einmal angeschossen, auch noch im Schleppnetz voller Beutestücke landete, zwischen aufgebrochenen Sauen und gehäuteten Rehen, das erklärten alle kopfschüttelnd für »unbegreiflich«, »rätselhaft«, »schändlichen Unfug«.
»Auch wenn er reglos dalag, blutüberströmt und mit Erde verschmiert«, erklärte Skraliçek, die Hände vor seinem Trommelbauch gefaltet, »hätten die Beutesammler erkennen müssen, dass es sich um einen menschlichen Körper handelt.« Die Stimme Skraliçeks, Oberststallmeister und Hauptmann der Jagdgesellschaft, klang reichlich verwaschen, und das war wohl auch die wahre Erklärung für den Zwischenfall, der Nico leicht hätte das Leben kosten können: Seit sie im Morgengrauen aufgebrochen waren, hatten Jäger und Treiber tapfer dem Schnaps zugesprochen, Wacholder- und Holundergeist aus blechernen oder versilberten Taschenflaschen, die sie alle im Rucksack oder am Gürtel mit sich führten. Sowohl der Jäger, der auf Nicodemus angelegt hatte, als auch der Treiber, der ihn zu den Rehen und Sauen geworfen hatte, mussten so betrunken gewesen sein, dass ihnen Mensch und Vieh in eins verschwommen waren.
»Versuch noch ein bisschen zu schlafen«, sagte Markéta zu dem Verletzten, dessen ins Leintuch gewickelter Schenkel aussah wie eine Wurst im Weißbrotmantel. »Gleich bringt dich einer der Gardisten mit der Kutsche nach Krumau, ins Hospital droben in der Burg.«
Sie erhob sich, lächelte dem Flößersohn noch einmal aufmunternd zu, wie Vater Sigmund es bei seinen Patienten zu tun pflegte, und sah sich dann suchend auf der Lichtung um.
Eben kam eine kleine geschlossene Kutsche auf sie zugeschaukelt, von einer Schecke gezogen, auf dem Kutschbock der Gardist Slatava.
Weiter hinten, nahe dem Bauernkarren, der unter der Last der Tierkadaver fast zusammenbrach, erspähte sie die drei Kerle mit den verworrenen schwarzen Barten, die sie natürlich als Erstes verdächtigt hatte; aber da hatte sie noch geglaubt, dass Flor verletzt oder sogar getötet worden sei. Und gerade Flor, dachte sie nun, würden Hezilows Spießgesellen doch wohl nicht umbringen wollen, im Gegenteil: Solange der Nabellose am Leben war, konnte der Puppenmacher sich brüsten, ihn erschaffen zu haben, ein toter Flor aber half ihm wenig.
Auf ihr Drängen hin hatte d’Alembert die drei Gesellen dennoch streng ins Gebet genommen. Sie waren herbeigetrottet und hatten sich in einer Reihe vor dem Maître aufgestellt, die speckigen Mützen in den Händen drehend. »Baschek« nannte sich einer, »Oblion« ein anderer, der dritte »Täkie«, für Markéta sahen sie alle mehr oder minder gleich aus. Ihr Alter schien unbestimmbar, eher dem vierzigsten als dem dreißigsten Lebensjahr nahe, aber die wirren Bärte, die fahle Gesichtsfarbe und die ausgemergelten Leiber unter der dunklen Lumpenkleidung ließen sie möglicherweise älter erscheinen, als sie tatsächlich waren. Bei der Jagd jedenfalls hatten Baschek, Oblion und Täkie als Treiber gedient. Eine Armbrust, mit der sie auf Nico oder irgendwen schießen könnten, besaßen sie alle drei nicht, und nach der Jagd hatten sie nicht beim Einsammeln der Beute geholfen, sondern zusammen mit dem Gardisten Jan Mular sieben Pferde befreit, die vor dem Jagdgeböller talwärts ins Moor geflohen waren. Mular hatte ihre Aussage bestätigt, mit einem hämischen Blick auf Markéta, die nun zur Seite trat, damit Slatava den Verwundeten vom Boden aufheben konnte.
Noch immer war sie erfüllt von Unruhe, die nur noch ärger wurde, je mehr sich die Lage äußerlich beruhigte. Unschlüssig machte sie einige Schritte weg von dem Verletzten, der, schlaff in Mikeschs Armen hängend, mit dem Kopf voran in die Kutsche geschoben wurde. Es war ein heißer Tag, die Luft flimmerte selbst unter den Eichbäumen, aber unter der Sonnenwärme begann Markéta zu frösteln. So als ob ihr Herz nicht glauben könnte, was sie doch mit eignen Augen gesehen hatte: Nicht Flor war von dem Pfeil getroffen worden, natürlich nicht.
Jäger und Treiber saßen rings um die Leintücher im Gras und ließen sich die Speisen schmecken, die der Haushofmeister ihnen aufgetischt hatte, mit schmerzverzerrter Miene und immer wieder schauerlich hustend. An einer erhöhten Stelle saßen Don Julius und der Maître, von Breuner und Skraliçek um ein reich gedecktes Tuch herum, dessen Silberstickereien in der Sonne glitzerten. Als er ihren Blick bemerkte, versuchte Julius sie mit einladenden Gebärden heranzulocken, aber Markéta schüttete den Kopf, für einen Moment gezwungen lächelnd, und wandte sich gleich wieder ab.
Keinen Bissen könnt ich jetzt runterwürgen, dachte sie und sah zu, wie der Einspänner mit dem Verletzten langsam davonrumpelte. Ein paar Stunden nur, dann liegt Nico im Spitalsbett und wird vom gräflichen Medikus versorgt - kein Grund zur Sorge also, beschwor sich Markéta; warum nur wurde sie gleichwohl immer unruhiger, ihr Herzschlag flatternd, als ob in ihrem Busen ein Vogel gefangen wäre?
Während sie noch hin und her sann, entdeckte sie die schlaksige Gestalt, die über die Lichtung trottete, auf den Platz zu, wo die Treiber und Gardisten lagerten.
»Mikesch?«
Er stockte kaum merklich, dann ging er weiter, mit gleichmäßigen Schritten auf seine Kameraden zu.
»Gardist Slatava!«
Nun blieb er stehen, mitten auf der Lichtung, und wandte sich um, zwanzig Schritte von ihr entfernt. Auch die Tafelnden an den Rändern des weiten Platzes waren aufmerksam geworden und sahen zu ihr herüber, linkerhand die Jäger, darüber Julius und die Oberen, ihnen vis-à-vis die Schar der grün gewandeten Treiber, dazwischen einige Soldaten in blauen Uniformen.
»Solltest du nicht den Verletzten zurückbringen?«, rief sie.
Mikesch beschirmte die Augen gegen die Sonne. »Ich hab Befehl, Euch zurückzufahren, sobald Ihr es wünscht, Madame. Den Verwundeten fährt der Gardist Mular.« Sie zuckte zusammen, vor aller Augen. »Es besteht kein Anlass zur Sorge, Madame«, fuhr Slatava fort, »ein Helfer ist mitgefahren, um den Verletzten während der Fahrt zu stützen und zu versorgen.«
»Wer ist es?«, fragte Markéta und erschrak noch hundertmal ärger, als er mit schallender Stimme Antwort gab.
»Es ist einer der Russen, Madame, er nennt sich Täkie.«
42
»Wie Ihr befehlt, Excellence. Morgen in aller Frühe reisen wir ab.« Er verneigte sich und wollte davoneilen, aber Julius hielt ihn am Ärmel zurück: »Warum so unwirsch, mon cher maître? Ihr habt doch sicher Eure sämtlichen Heidengötter um ein schnelles Ende der Jagdpartie angefleht.«
»Nun, ich will nicht leugnen, dass mir diese Ruine für den Grafen von Krumau allzu glanzlos scheint.« D’Alembert setzte sein heiterstes Lächeln auf. »Aber wo immer es Euch hinzieht, Euer Liebden, Ihr werdet mich an Eurer Seite finden.«
»Daran zweifle ich nicht.« Julius’ Miene wurde düster. »Und da es mich nun auf schnellstem Weg nach Krumau zurückdrängt, werdet Ihr auch dafür Sorge tragen, dass dort ein Saal für mich vorbereitet wird, sagen wir - so groß wie dieser hier.« Er drehte sich im Kreis und sah sich prüfend um, als überlegte er bereits, ob nicht auch dieser Rittersaal für seine Zwecke in Frage käme. »Nur heller brauch ich’s und mit viel frischer Luft«, fügte er hinzu, dann schwieg er wieder einen Moment und sah sinnend an d’Alembert vorbei. »Und bei meinen Gemächern muss es sein, also nehmt den großen Salon neben dem Audienzsaal. Lasst ihn leer räumen, cher maître -bis morgen früh, vous comprenez?«
Alles, nur das nicht, dachte Charles, der sich für einen Moment des Eindrucks erwehren musste, dass der Boden unter seinen Füßen schwankte. Beunruhigend genug, dass Julius so überstürzt zurückreisen wollte; aber warum, Euer Liebden, wählt Ihr gerade jenen Saal für Eure fauligen Künste aus? Jedes andere der vierhundertvierzig Zimmer, flehte er im Stillen, dabei seinen Schützling mit unverbrüchlicher Heiterkeit betrachtend; nur nicht gerade den Kunst- und Wundersaal, von dem Eure Frau Mutter und ich uns so günstige Wirkung auf Euer Gemüt versprachen. »Wie Ihr wünscht, Don Julius.«
Er wirbelte sein Stöckchen in der Hand. »Noch heute Abend reitet ein Bote nach Krumau.«
Ehe Julius weitere Befehle anfügen konnte, verbeugte sich Charles aufs Neue und eilte in den Burghof hinab. »Brodner!« Er winkte den Gardisten zu sich heran. »Du springst auf dein Pferd und reitest geschwind nach Krumau hinüber. Dort meldest du dich beim Oberstkämmerer und erklärst ihm, dass sie noch heute Abend den großen Salon neben dem Spiegelsaal leer räumen müssen.« Für einen Moment fürchtete er wahrhaftig, vor diesem Wirtssohn mit dem behaglichen Knödelbäuchlein in Tränen auszubrechen. »Sag von Hasslach, dass sie mit äußerster Vorsicht vorgehen sollen. Es sind unersetzliche Exponate, sie sollen jeden einzelnen Gegenstand in Samt oder Seidenpapier einschlagen und so behutsam wie irgend möglich nach nebenan tragen, in den Maskensalon. Hast du mich verstanden, Brodner?«
Der Gardist salutierte. »Jawohl, Herr Obersthofmeister, alles, wie Ihr befehlt.«
Aber Charles war noch nicht zufrieden. Er ließ sich Wort für Wort wiederholen und wurde noch trübseliger, als er seine eigenen Anordnungen aus dem Mund des Burschen holpern hörte.
»Und wenn alles leer ist«, sagte er zum Abschluss, »sollen sie einen groben Tisch und eine Bank reinstellen, den ältesten Tisch, den sie auftreiben können; wenn er nur eine Last von ein bis zwei Zentnern aushält, ist er gut genug.«
Der Gardist Brodner staunte über diesen Befehl, aber wortlos, da er zweifellos spürte, dass es im Obersthofmeister bedrohlich brodelte. Einen uralten Tisch für den Prachtsalon neben dem Audienzsaal? Mit weit aufgerissenen Augen harrte er weiterer Befehle.
»Und dann sollen sie einen Bottich in den Salon tragen, oder besser zwei, große Kübel, wie sie im Schweinestall am unteren Burghof zu Dutzenden aufgestapelt stehen. Außerdem drei Säcke Stroh und drei Bündel Haderlumpen, Messer und Scheren in allen Größen und Formen, dazu Salz und Salpeter, dann Nähnadeln und Fäden, grobe und feine - verstanden, Gardist?«
Brodner wiederholte langsam, Wort für Wort, auch diese Befehle, und nur sein ungläubiger Tonfall ließ erahnen, wie eigentümlich ihm die Anordnungen erschienen.
Wenn der junge Herr Graf Hirsche und Rehe auszuweiden und die leeren Gehäuse mit Stroh und Lumpen auszustopfen wünscht, dann wird seinem Begehren entsprochen, das ist doch selbstverständlich, sagte sich Charles im Stillen vor, hielt es jedoch nicht für ratsam, diese Worte vor dem Gardisten laut zu wiederholen. Immerhin gab es heiklere Leidenschaften als das Präparieren von Hirschen und Kitzen, und seit Don Julius diese Schwärmerei vor einigen Jahren entdeckt hatte, versuchte er sich immer öfter an ausgeweideten Waldbewohnern, wenn auch mit mehr Begeisterung als Geduld und Geschick.
»Dann marsch und ab mit dir, Brodner, und reite wie der Wind, der Oberstkämmerer hat eine lange Nacht vor sich.«
Er blieb am Tor stehen, bis der Gardist, auf seinem Schimmel übereifrig weit nach vorn gebeugt, an ihm vorbeigeprescht war und die steile Burgstraße hinunterklapperte. Kurz darauf hörte der Maître schon das Hallen der Hufe unten auf der Moldaubrücke. In einer Stunde würde die Sonne untergehen, aber Franz Brodner war ja aus der Gegend, er kannte den Weg im Schlaf.
D’Alembert dagegen war heilfroh, dass er heute nicht mehr durch die Nacht reiten musste. Dabei galt er als brillanter Chevalier, mehr als einmal hatte er selbst erfahrene Kavalleristen bei kaiserlichen Turnieren mit seinem Schimmelhengst deklassiert. Was ihm an körperlicher Stärke fehlte, pflegte er durch Willenskraft und vorausahnende Geschmeidigkeit wettzumachen, so hatte er auch seinen Zögling höchstselbst in der Reit- und Degenkunst unterrichtet, von den Anfangsgründen bis zu Julius’ sechzehntem Jahr. Ich werde alt, dachte der Maître nun, noch ein paar Jahre, dann muss ich abtreten, wie jeder kluge Bändiger, ehe die Bestie seine Schwäche wittert. Über den Burghof ging er zurück, mit langsamen Schritten, wie um die mühsamen Bewegungen des Alters vorab zu erproben, vorbei an dem Schutthaufen, aus dem Brennnessel und Brombeer sprossen, und im Schatten zwischen Schutt und Haus stand Markéta von Ludanice.
»Verzeiht die Störung, Ihr seid in Gedanken, Maître. Eine Frage nur, wenn Ihr erlaubt.«
Er sah zu ihr empor, in ihre grünen, hellwachen Augen, die Gefühl und Willensstärke verrieten, und eine Woge der Zuneigung stieg in ihm auf. Ihr könnte er vertrauen, dachte Charles, natürlich nur in Maßen, aber in ähnlichem Grad wie Julius’ Mutter, der listenreichen Katharina da Strada. »Bitte fragt, Madame«, sagte er und behielt vorsichtshalber seine verschlossene Miene bei, so als ob er noch immer halb in Gedanken wäre, »womit kann ich Euch helfen?«
Sie trat näher zu ihm heran, einen halben Kopf größer als er, ihr Gesicht nun vom Abendrot beglänzt. »Mich beunruhigt der Zwischenfall von heut Mittag, in gewisser Weise fühl ich mich verantwortlich«, sagte sie. »Glaubt Ihr, dass Nicodemus auf der Burg in Sicherheit ist?«
»Nicodemus«, wiederholte Charles, »das ist der Kleine, den der Pfeil getroffen hat?« Anstatt auf ihre Antwort zu achten, sann er seinen eigenen Worten hinterher - vom Pfeil getroffen, das konnte auch entschieden anderes bedeuten als einen Jagdunfall. Von den höheren Mächten zur Liebe bestimmt, einer oftmals unglücklichen, nicht selten aufzehrenden Liebe. Aber gerade deshalb haderte er ja mit Don Julius’ Beschluss, schon morgen nach Krumau zurückzukehren: weil er fürchtete, dass die Wunde in jenem Schenkel weit mehr als ein blindes Unglück war.
»Ja, eben der - Nicodemus Kudaçek«, erklärte Markéta in drängendem Tonfall, offenbar zum wiederholten Mal. »Ihr scheint auch Befürchtungen zu hegen, Maître? Etwa wegen seines Begleiters, dieses - Täkie?«
»Der Russe?« D’Alembert sah sie in ehrlichem Erstaunen an. »Ich habe so gut wie Ihr gesehen, Madame, dass Hezilow und seine Gehilfen Euren Nabellosen einzufangen versuchten. Aber was sollte ihnen der falsche Homunkel nützen?«
»Was genau sie in den Kellern unter der Burg treiben, weiß ich auch nicht«, sagte Markéta, deren Ton immer heftiger wurde, »und ich bet zu Gott dem Herrn, dass ich niemals gezwungen sein werde, es in Erfahrung zu bringen. Aber eins weiß ich genau, Monsieur d’Alembert: Hezilow hat eine Mörderbande um sich versammelt, der jede Schandtat zuzutrauen ist.«
Noch während sie sprach, begannen d’Alemberts Gedanken zu wirbeln: Wie üblich waren all seine Besorgnisse und Pläne nur um Don Julius gekreist; früher oder später, das fürchtete er seit langem, würde es den Kaiserbastard drängen, seine Wild- und Bildwerkkünste nicht mehr nur an Bock oder Färse zu erproben. Als heute Mittag der Angeschossene unter den Kadavern entdeckt wurde, hatte er gleich geargwöhnt, dass Julius den Bogen gespannt haben könnte. Was wäre aber, fragte er sich nun, wenn Markéta Recht hatte und hinter dem scheinbaren Jagdunglück nicht Don Julius steckte, sondern der lumpige Hezilow? Wenn also jener Nicodemus auf Krumau zwar vor Julius in Sicherheit, aber desto schutzloser dem Puppenmacher ausgeliefert wäre? Hatte er selbst nicht vor kurzem noch Hezilow vorgehalten, dass er wegen ähnlicher Frevel einst aus Basel verjagt worden war?
»Euer Mitgefühl ehrt Euch, Madame«, sagte er in gelassenem Tonfall, »aber glaubt mir, Ihr sorgt Euch grundlos: Kasimir von Rosert persönlich, der Medikus des Grafen, kümmert sich im Spital um Euren Schützling. Und im Übrigen hat Don Julius soeben angeordnet, schon morgen früh nach Krumau zurückzufahren.«
»Morgen schon?«, fragte Markéta mit einer Miene, in der Freude und Erstaunen um die Vorherrschaft rangen. »Wollte er nicht bis Mitte der Woche hier bleiben und jeden Tag jagen gehen?«
»Er hat seine Pläne geändert.« D’Alembert tippte mit seinem Stäbchen auf ihren Ellenbogen. »Das geschieht recht häufig«, vertraute er ihr an.
»Sicherlich hat er gute Gründe für seine Entscheidung.«
Charles hätte am liebsten aufgelacht, so sehr erheiterte ihn die Empörung, mit der sich Markéta für Don Julius in die Bresche warf.
»Seine Gründe sind immer unwiderlegbar«, stimmte er ihr mit undurchdringlicher Miene zu. »Und diesmal ist sogar besondere Eile geboten.«
»Warum denn das?«
Es war sicherlich nicht gerecht, wie sich d’Alembert sagte, denn Markéta hatte ihm nichts zuleide getan, im Gegenteil, und in der Kunst der Selbstbeherrschung war sie gewiss keine gleichwertige Gegnerin. Aber Charles gönnte sich dennoch die kleine Schwäche: Das Stöckchen unter seinen Arm geklemmt, den Kopf in den Nacken gelegt, stand er vor ihr und weidete sich im Voraus an der Bestürzung, die gleich ihre Züge verzerren würde.
»Damit die Körper nicht verderben, die Don Julius auszuweiden und zu präparieren wünscht.«
Sie lächelte auf ihn herab, arglos - oder funkelte in ihren Augen gar leiser Spott? »Ah, der Hirsch«, sagte sie, »die majestätische Familie, wie Julius es nannte. Er fiebert ihrer Auferstehung schon entgegen.«
Charles verbeugte sich, murmelte einen Gruß und eilte in sein Schlafgemach hinauf. Hatte er den Fehler gemacht, Markéta da Ludanice zu unterschätzen? Wieder einmal kam ihm eine goldene Maxime Bandinellos in den Sinn: »Wenn du den Löwen fürchtest, beißt er dir den Hals durch; missachte ihn, und er verschlingt dich mit Haut und Haar.«
43
Diesmal wird’s gelingen, dachte er, majestätisch würde der weiße Hirsch unter seinen Händen auferstehen. Haut und Gebeine von allen Fleischresten befreien, dann mit Salpeter und Spiritus abreiben, wieder und wieder, memorierte er im Geiste, während sein Blick auf Markéta haftete, die ihm gegenüber in der schaukelnden Kutsche saß, mit geschlossenen Augen neben dem ebenso schläfrigen d’Alembert.
Erbarmungslos hatte Julius angeordnet, um drei Uhr in der Nacht die Kutschen zu beladen, die Pferde anzuschirren, mochte Skraliçek auch zetern oder von Breuner husten und winseln, wies beliebte.
Draußen begann der Himmel eben erst fahl zu werden: die Stunde vor Sonnenaufgang, für ihn seit jeher eine der liebsten Zeiten des Tages. Diesmal werden mir die Bilderwerke nicht wieder unter der Hand verfaulen, dachte er, Hezilow würde ihm eine wirkungsvolle Essenz destillieren: Mondtinktur, Goldwasser oder was immer er gegen die Fäulnis aufbieten könnte. Malum ac putridum corpus esse - böse und faulig ist der Leib. Und apropos Gold, dachte er dann: Der Puppenmacher hatte angekündigt, binnen sieben Tagen vor aller Augen die Goldprobe abzulegen.
Gold, mein allergnädigster Herr! Truhen, Kutschen, Kammern voller Gold, Ströme gesponnenen, gemünzten, getriebenen Goldes - für Euch, nur für Euch, väterliche Majestät! Julius seufzte vor Behagen. Und gleich danach würde sich der Russe ans größte aller alchimistischen Werke machen, das sperma mundi, die Zeugung des Homunkel.
Zu Julius’ Seiten saßen die syrakusischen Zwillinge, eng an ihn gedrückt, die Köpfe mit den wirren schwarzen Locken an seine Schultern gelehnt. Auf einmal fiel ihm ein, wie er letzte Nacht zwei Kitze ausgeweidet hatte, im Traum, nur im Traum; Fell und Gerippe gereinigt, mit Stroh und Lumpen gestopft, mit feinen Fäden zugenäht. Plötzlich hatten sich die Kitze unter seinen Händen aufgerappelt, ein lebhafter Glanz war in ihre Murmelaugen getreten, und wie er sie genauer ansah, waren es Lenka und Fabrio!
Labyrinthisch sind die Wege des roten Leu, dachte er, der schöpferischen Bestie der Alchemie. In den letzten Wochen hatte er mit Hezilow manche Nacht drunten im Gewölbe zugebracht, und der Puppenmacher hatte ihn in immer tiefere Mirakel der Schwarzkunst eingeweiht, bis ihm von all den Formeln und Allegorien ganz wirr im Kopfe geworden war. Das sperma mundi jedenfalls, das es aus der Materie herauszukochen galt, auch genannt Aquaster oder Spiritus mercurii, konnte sich in Hezilows wunderlich schnurrenden Reden vom fliehenden Sklaven unversehens zum flüchtigen Hirsch transformieren, kein Wunder, dass in seinem Traum die Hirschkitze zu Menschlein geworden waren.
Dennoch wurde ihm immer unbehaglicher, je länger er an den Traum zurückdachte, je genauer er sich entsann, wie er bis zum Ellenbogen in die Kadaver gefahren war, ihre Organe herausgeschnitten, endlose Darmschlingen hervorgezogen hatte, und am Schluss waren es die Leichen der Syrakuser gewesen! Oder hatten sich die Hirschkitze erst verwandelt, als die Präparation gelungen war? Zurückverwandelt, wie in den Zaubergeschichten, die d’Alembert ihm als kleinem Knaben erzählt hatte: von Bruder und Schwester, die im Wald vor der magischen Quelle standen, und als der Bruder davon trank, wurde er zum Reh? Aber kam am Ende nicht doch der Knabe wieder aus dem Zauberfell hervor?
Eine Weile lang grübelte Julius drüber nach, konnte sich aber nicht mehr entsinnen, wie die Mär ausgegangen war. Er wollte den Maître fragen, doch das Schaukeln der Kutsche, die Wärme der Zwillinge, die graue Dämmerung vor den Fenstern lullten auch ihn zurück in den Schlaf.
Wieder träumte ihm, dass er die Hirschkitze ausschabte, aber diesmal war Hezilow da und schrie ihm unablässig grässliche, nur halbwegs begreifliche Anweisungen zu. »Sein Haupt sollst du abtrennen«, schrie er und drückte ihm ein Beil in die Hand. »Verbirg es, damit niemand es findet und die Erde verwiestet, und seinen Leib zerstickle und verscharre, auf dass er faule, sich vermehre und bringe unzählige Fricht!«
Verzweifelt kämpfte Julius im Traum gegen das Beil, oder vielmehr gegen Hezilow, dessen Magie in die Schlachtwaffe gefahren schien: Die Axt hob sich in seiner Hand, wie er sie auch hinabzudrängen, seine Finger vom Stiel zu lösen versuchte, hoch schwang sie sich über seinen Kopf, und wie Julius auf das Kitz hinabsah, da lag sie vor ihm, Markéta, rücklings auf den Tisch gestreckt. Ihre Augen waren weit geöffnet, vertrauensvoll sah sie auf zu ihm, und dann sauste das Beil in seiner Hand hernieder und zerbiss mit widerlichem Schmatzlaut ihre Kehle, dass Julius mit einem Schrei aus seinem Traum hochfuhr.
Die Morgenluft war noch kühl, doch unter seinem Umhang war er nass geschwitzt. Er keuchte, das Herz schlug ihm bis zum Hals. Nur langsam löste sich der Krampf in seiner Hand, die das Traumbeil umklammert hatte.
Markéta und der Maître, Fabrio und Lenka, alle in der Kutsche starrten ihn an. Was für ein furchtbarer Alp, dachte er, werdet auch Ihr von solchen Mären heimgesucht, mein allerherrlichster Herr?
Schließlich munkeln die Leute ja, dass mir zumindest diesen Erbteil niemand streitig machen könne: den väterlichen Wahn? Er spürte ein Brennen in der Kehle, wie als ganz kleiner Knabe, wenn er ein Schluchzen zurückzudrängen versuchte, und sah starr nach draußen, auf das prachtvoll verzierte Budweiser Tor von Krumau, das eben von zwei Gardisten für sie geöffnet wurde.
»Schau, die Sonne«, wisperte Lenka und zeigte ihrem Bruder, wie die goldenen Strahlen über die Dächer krochen.
»Den Vorhang zu«, sagte Julius, »ich befehl’s.«
44
Kaum war die Kutsche im oberen Burghof zum Stehen gekommen, da sprang Markéta nach draußen, die Stelzschuhe in der Hand. Trotz der frühen Morgenstunde liefen bereits Diener und Höflinge umher, durch die verfrühte Rückkehr der Jagdgesellschaft aufgescheucht. Sie trat durch die Tür und eilte die Treppe hinauf, drei Geschosse bis zu den Frauengemächern.
Warum sollte Flor nicht wohlbehalten sein, in Lisettas Obhut, wie sie ihn zurückgelassen hatte? Trotzdem klopfte ihr das Herz, als sie oben ins Empfangszimmer trat, vorbei an zwei Gardisten, die sich beflissen vor ihr verneigten. Drinnen fand sie Flor und dachte als Erstes: Gott sei gelobt; dann erst fiel ihr auf, wie sonderbar starr der Nabellose vor ihr saß.
Er hockte auf dem Boden, halb unter den Tisch geduckt, der zwischen den lachsfarbenen Sofas stand. Sein Blick war abwesend, fast gläsern. Auch als sie auf ihn zukam, blieb seine Miene starr, als ob er eine Fremde vor sich sähe.
»Flor! Was ist mit dir!« Sie kauerte sich neben ihn, mit Knien und Zehen im Teppich versinkend. »Lisetta! Wo bist du? Nun redet schon - was ist mit Flor?«
Die blonde Zofe stürzte herbei, bei ihrem Anblick schien Flors Gesicht aufzuleuchten. »Es ... fing gestern Mittag an, Madame.« Stockend, mit brennend roten Wangen berichtete Lisetta: wie Flor auf dem Sofa gesessen hatte und plötzlich aufgesprungen war. Wie er im Stehen erstarrt war, das Gesicht schreckverzerrt, den Blick auf sie geheftet - »wie eine Steinfigur, so und nicht anders, Madame!«
Stunde um Stunde hatte er auf ein und demselben Fleck gestanden und den Teppich vor seinen Füßen angestarrt, als ob es eine Grube voller Schlangen wäre. Dazu hatte er gefiept und gewinselt, »wie ein verängstigtes Hündchen, so: fi-fiiep!, Madame.« Bis auf einmal, nach Stunden und Stunden, ein Schrei aus seinem Mund gebrochen war:
»Der Drach’, der alte Drach’!« Und da hatte sich Flor zu Boden geworfen, flach auf die Brust gepresst, die Beine an den Leib gezogen, die Arme um den Kopf geschlungen - »es war zum Fürchten, Madame, ich musste selbst immer wieder nach oben schauen, ob nicht wirklich von dorther ein Drache geflogen käm. >Der schwarze Vogelc, >kalt, so kalte, >der alte Drach’<, Madame, so hat der arme Flor immerzu geweint und gewimmert, an den Boden gepresst hat er dagelegen, bis es draußen schon dunkel war. Dann bin ich rumgegangen, um die Lichter anzuzünden, und wie ich wieder hier vorne ankomm, sitzt Flor auf dem Teppich, fast genauso wie jetzt. Und hat sich seither kaum bewegt, ich wollt ihn zu Bett bringen, Madame, aber wenn ich ihn auch nur am Arm anrühr, fängt er gleich wieder an zu schreien: >Der alte Drach’!<«
»Und er war die ganze Zeit hier bei dir?«, fragte Markéta.
»Tag und Nacht, Madame.«
»War jemand hier oben bei euch - etwa Hezilow?«
Die Zofe schüttelte den Kopf so heftig, dass ihre dünnen Zöpfe flogen. »Die Soldaten stehn ja vor der Tür, Madame, wie Ihr befohlen habt.« Sie schniefte in ihre Schürze.
»Beruhig dich, Lisetta, ich glaub dir ja.« Trotzdem musste es dem Puppenmacher gelungen sein, auf irgendeine Weise mit Flor Verbindung aufzunehmen, überlegte sie, durch einen teuflischen Zauber vielleicht, auch wenn sie nach wie vor nicht glauben mochte, dass der zwergische Lumpenkerl tatsächlich derlei dunkle Kräfte besaß. Er macht die Leute glauben, dass er’s vermag, dachte sie, er spielt mit unsren Hoffnungen und Ängsten, mit Grauen und Ehrsucht wie ein Schachspieler mit den hölzernen Puppen auf dem Brett. Aber noch immer sträubte sich in ihr alles gegen den Gedanken, dass Hezilow lebendige Puppen erschaffen könnte und dass Flor, ihr lieber Flor, eine solche Kreatur des Warzenfrätzleins wäre.
Während sie überlegte, sah Markéta unverwandt den vor ihr Kauernden an. Seine zwiefarbenen Augen schienen gedunkelt von rätselhaften Qualen, doch in seiner Miene meinte sie nun eine Ahnung zu entziffern, eine Verwunderung zumindest, so als ob er sich ihrer zu erinnern begänne.
Behutsam legte sie eine Hand auf seinen Arm. Flor duldete die Berührung, nur leise erzitternd, und er sträubte sich auch nicht, als sie ihn um die Schultern fasste und sanft emporzog.
»Komm«, flüsterte sie, »komm mit mir, armer Flor.«
Sie brachte ihn in die Badekammer mit dem großen Zuber. Auf dem Teppich, wo er die ganze Nacht über gelegen oder gekauert hatte, waren Flecken eindeutiger Herkunft zurückgeblieben, auch seine Kleidung roch nach Schweiß und herberen Sekreten. Doch was die Ausdünstungen des menschlichen Leibes anging, war die Baderstochter Ärgeres gewohnt, und im Unterschied zu Mutter Bianca hatte sie sich niemals vor Schmutz oder Gebresten geekelt.
Lisetta hatte unterdessen Wasser erhitzt und schleppte eben einen Eimer voll herein, gefolgt von zwei kräftigen Mägden, die dampfende Kübel trugen. Nicht lange, und der Zuber war mit warmem Wasser wohl gefüllt, über dem die Zofe zuletzt noch aromatische Blüten und Kräuter ausstreute.
»Nun zieh ihm seine Sachen aus und hilf ihm hinein«, sagte Markéta.
Die Zofe errötete flammender denn je und warf einen zaghaften Blick auf Flor, der neben dem Zuber kauerte, in der gleichen starren Haltung wie zuvor.
»So wie du ihn anschaust«, sagte die Baderstochter, »scheinst du dich arg in ihn vergafft zu haben. Aber was Flor im Moment braucht, ist eine unzimperliche Baderin, keine schmachtende Buhlin.«
Da auch ihre absichtlich groben Worte nichts verschlugen, ging Markéta abermals neben Flor in die Knie. Sie murmelte ihm beruhigende Laute zu, währenddessen streifte sie ihm das Hemd vom mageren Leib, hieß ihn sich aufrichten, zog auch seine Hosen herunter und half ihm, ins Bad zu steigen.
Als er im Zuber saß, bis über den nabellosen Bauch ins Wasser eingetaucht, beugte sie sich über ihn hinweg, nahm einen Schwamm vom Wandbrett und reichte ihn Lisetta.
»Das Bad wird ihn müde machen und die schwarzen Säfte in seinem Leib beruhigen. Bring ihn anschließend zu Bett.«
Sie war schon in der Tür, als Lisetta mit dünner Stimme fragte:
»Bitte, in welches Bett, Madame?«
»Er darf die Frauengemächer auf keinen Fall verlassen«, sagte Markéta, »die Salvaguardia muss Tag und Nacht vor unserer Tür Wache stehen. Am besten schläft Flor in meiner Kammer.«
45
Das Spital war im unteren Burghof untergebracht, zwischen Butterhaus und Hungerturm, sinnigerweise, wie sich Markéta sagte. Sie trat unten in die Tür, und ein klammer Geruch schlug ihr entgegen, wie von Leibern, die seit langem keinem Badezuber nahe gekommen waren.
Schon während sie die ausgetretenen Steinstufen hinauflief, hörte sie Stimmen von droben, zwei Männer, die sich murmelnd unterhielten. In Gedanken war sie immer noch bei Flor. Was nur mochte ihm widerfahren sein, während er allein bei Lisetta war? Sie würde sich nur rasch überzeugen, dass Nicodemus, der »falsche Homunkel«, beim gräflichen Medikus in guter Obhut war, und dann gleich wieder zurücklaufen, ins Frauengemach. Wenn Flor sich erst ein wenig beruhigt hatte, würde er auch wieder zu sprechen beginnen, dachte sie, indem sie im oberen Geschoss auf die Plattform trat.
Vor ihr dehnte sich ein schmaler, dämmriger Flur, von dem auf beiden Seiten Türen abgingen. Die leisen Stimmen waren noch immer zu hören, die Sprecher mussten gleich hinter der ersten Tür sein, dachte Markéta und wollte eben anklopfen, als sie hinterm Türblatt ein scharfes Zischen hörte. Sofort drückte sie auf den Riegel und trat ein.
Ein weiter Saal voll weißer Betten, viel größer, als sie erwartet hatte. Der Anblick erschreckte sie, es wirkte beinahe so, als ob sich die Burg für eine Woge von Pestopfern rüstete. Im Gang zwischen den Betten standen die beiden Männer, die eben noch miteinander gemurmelt haben mussten und ihr nun mit verschlossenen Mienen entgegensahen.
»Wie kann ich Euch behilflich sein, Madame?« Die Stimme des bulligen Mannes dröhnte, der gewaltige Rundschädel, auf dem kein einziges Haar spross, besaß die Farbe von Klatschmohn. »Ihr seid hier im gräflichen Spital!«
Sein Ton und seine Miene verrieten, dass er sie am liebsten wieder vor die Tür gesetzt hätte, nur die Vorsicht mahnte ihn offenbar, sich zu bezähmen. Es war derselbe Mann, dachte Markéta, der damals droben im Audienzsaal ausgerufen hatte, Flor sei »ein Kunstmensch aus Rädern und Metall«.
»Und Ihr seid der gräfliche Medikus?«, fragte sie und beobachtete aus den Augenwinkeln, wie der Mann neben ihm eine schmierige schwarze Mütze in den Händen drehte. Täkie?, überlegte sie, Baschek? Oder wie hatte sich der Dritte der Lumpenkerle genannt: Oblion? Der Gestank jedenfalls schien hauptsächlich von diesem schwarzbärtigen Gesellen auszugehen, die Betten dagegen, zehn an jeder Seite des Ganges, waren allesamt leer.
»Allerdings, Madame. Kasimir von Rosert, gräflicher Medikus. Bitte untertänigst um Nachsicht, ich bin sehr beschäftigt, Madame.«
So höflich seine Worte, so abweisend klang noch immer seine Stimme, deren Dröhnen von den Wänden widerhallte.
»Gestattet mir nur eine Frage, Monsieur. Euer Besucher wird Euch gewiss für einen Augenblick entschuldigen. So ist es doch, Herr - Täkie?« Mit einem Lächeln wandte sie sich dem zweiten Mann zu.
Der bleckte die Zähne im schwarzen Bart. »Unçerek«, er deutete sogar eine Verbeugung an, »Täkie ist unten im Labor, Madame. Wir bereiten die Goldprobe vor, müsst Ihr wissen«, fuhr er in vertraulichem Ton fort und rückte näher an Markéta heran. »Und da wurd ich ausgeschickt, den Herrn Medikus zu fragen, ob er Magister Hezilow mit ein wenig ungelöschtem Kalk aushelfen kann.« Wieder bleckte er sein Gebiss, dabei mit einem Zischen ein- und ausatmend, sodass sich Speichelbläschen zwischen schadhaften Zähnen blähten.
Markéta atmete seinen fauligen Geruch ein, doch sie zwang sich, keinen Zoll vor dem Lumpenkerl zurückzuweichen. Er lügt, dachte sie, jedes einzelne Wort aus seinem Mund ist eine stinkende Lüge.
»Monsieur Unçerek also«, sagte sie stattdessen, sich aufs Neue dem gräflichen Heiler zuwendend. »Ich will Euch wie gesagt nicht lange behelligen. Verratet mir nur eines, werter Herr Medikus: Wie geht es dem jungen Nico? Wo liegt er? Kann ich ihn ...«
»Das sind bereits drei Fragen, Madame«, fiel ihr von Rosert polternd ins Wort. »Aber um die Sache abzukürzen, denn ich bin wahrhaftig in großer Eile: Der Bursche wurde gestern von Herrn Täkie und dem Gardisten Mular hier bei mir abgeliefert. Ich war so umsichtig, die Wunde auszubrennen und den recht unzulänglichen Verband, den man ihm angelegt hatte, zu erneuern; gleich anschließend ist der Knabe davongehumpelt, ohne ein Dankes- oder auch nur Abschiedswort. So, Madame, nun wisst Ihr, wie es um Euren wackeren Schützling steht.« Grimmig sah er auf sie herab, die Augen zusammengekniffen, der Schädel so rot, als ob gleich das Blut unter der Haut hervorspritzen wollte. »Und wer zahlt mir nun die drei Groschen für Heilbehandlung, Verband und Spiritus, der Blutsenkung gar nicht zu gedenken?«
»Ihr habt ihn zur Ader gelassen?«, fragte Markéta erschrocken.
»Aber er hatte sowieso schon viel Blut verloren! - Und dann ist er davongegangen, sagt Ihr?«
Der Medikus nickte und wandte sich zugleich mit einer brüsken Bewegung ab. Markéta blieb noch einen Moment lang stehen, wo sie stand, inmitten des leeren, erschreckend großen Krankensaals. Sie glaubte von Rosert kein Wort, so wenig wie dem Lumpenkerl neben ihm, der sich Unçerek nannte. Dabei hätte sie schwören mögen, dass es einer der drei Gesellen war, die gestern an der Jagd teilgenommen hatten, höchstwahrscheinlich doch dieser Täkie, dachte sie, der den Verletzten mit Mular hierher gebracht hatte.
Im Augenblick aber konnte sie hier nichts weiter tun. Ohne ein weiteres Wort wandte sie sich um und verließ den Krankensaal. Noch ehe sie die Tür hinter sich geschlossen hatte, begannen die beiden bereits wieder, sich murmelnd zu unterreden.
Der untere Burghof war von geschäftigem Leben erfüllt. Diener und Mägde liefen umher, aus den Viehställen gegenüber drangen Rufe und lautes Gelächter, vermischt mit Grunzen, Gackern und Quieken. Von der Backstube wehte der Duft frischen Brotes herüber, aber Markéta verspürte keinen Appetit, in ihrem Bauch rumorte noch immer quälende Unruhe.
Eine Weile stand sie neben der Spitalstür und sah zu, wie eine Gruppe junger Mägde Eimer voller Milch vom Kuhstall hinüber ins Butterhaus schleppte. Zwei Bäckerjungen traten aus der Backstube, Hucken voller Fladen auf dem Rücken, die sie in windesschnellem Wettlauf zur oberen Burg emportrugen. Im Winter vor fünf Jahren, dachte Markéta, hab auch ich als Kuchelmaid hier angefangen, und wenn damals nicht Graf Wilhelm das Zeitliche gesegnet hätte, wer weiß, vielleicht wär ich immer noch hier beim Gesinde.
Ihre Gedanken sprangen hin und her, und nur sie selbst stand weiter reglos neben der Tür. D’Alembert hatte ihr erzählt, dass unter den Burghöfen ein Labyrinth von Tunneln verliefe. Von morgens bis abends bewegten sich Ströme von Dienern durch diese Gänge, schleppten Speisen in den Herrschaftstrakt und die leeren Schüsseln zurück, trugen Kübel und Fässer, Wäsche und Gewänder, alles, was ein so riesiger Haushalt brauchte und verbrauchte, in unablässigem Gewoge hin und her.
Markéta stellte sich vor, wie Dutzende oder Hunderte von Dienern unter ihr durch die Tunnel flitzten, und mit einem Mal fühlte sie sich schrecklich allein und überfordert. Wenn Nicodemus nun doch nicht nach Hause gehumpelt war, wie der Medikus behauptet hatte, wenn er stattdessen von Hezilows Häschern in die alchimistischen Gewölbe verschleppt worden war, aus welchen grässlichen Gründen auch immer - was konnte sie schon gegen den Puppenmacher und seine Spießgesellen ausrichten? Und wenn Hezilow den armen Flor sogar oben im bewachten Frauengemach so sehr in Angst und Schrecken versetzen konnte, dass es dem Nabellosen aufs Neue Verstand und Sprache verschlug - was konnte sie schon tun, um Flor zu beschützen oder gar dem Russen das schwarze Handwerk zu legen?
Unter solchen Gedanken hatte sie sich gleichwohl wieder in Bewegung gesetzt, durchs tintenfinstere Durchhaus hinauf zur oberen Burg. Ich könnte Julius bitten, den Russen zur Rede zu stellen, dachte sie, aber nein, er würde höchstens halbherzig gegen Hezilow vorgehen, gerade jetzt, da der Puppenmacher angekündigt hatte, in Bälde Blei - oder Dreck, oder Sonnenstrahlen, was verstand sie schon davon? - in Gold zu verwandeln. Außerdem hatte Julius dem Moment entgegengefiebert, da er endlich mit Messer und Salpeter, mit Stroh und Lumpen darangehen konnte, die erlegte »majestätische Familie« als murmeläugige Bildwerke wiederzubeleben.
Und der Maître? Einen Moment lang schien es ihr möglich, ja wahrscheinlich, dass d’Alembert ihr gegen Hezilow beistehen würde. Aber er ist zu schwach, dachte sie dann, die »Unterwelt« unterliegt nicht seiner Gewalt, es ist eben »Hezilows Hölle«, und einzig Julius könnte den Puppenmacher dort unten in die Schranken verweisen. Außerdem rannte d’Alembert sicher längst wieder treppauf und treppab, um Anordnungen zu erteilen und Unterredungen zu führen, Briefe zu diktieren und Boten zu empfangen; der kleine Nicodemus und auch Flor waren für ihn allenfalls Bauern in einem verwickelten Schachspiel, das ihm unablässige Konzentration und alleräußersten Scharfsinn abverlangte.
Sie erreichte den dritten Burghof und ging mit langsamen Schritten weiter bergan, auf das riesige schwarze Gewölbetor zu. Es war geschlossen und verrammelt, was sie nicht sonderlich überraschte. Drei schwarzbärtige Gesellen standen davor, gegurtet mit Schwertern in langen Scheiden nach Hezilows Manier.
»Ich will mit Täkie sprechen«, verlangte sie und sah den drei Kerlen abwechselnd in die Augen.
»Er steht vor Euch, Madame«, antwortete einer von ihnen bereitwillig und deutete auf seinen Nachbarn; der jedoch schüttelte den Kopf und schob den dritten Kumpanen nach vorn: »Der hier ist Täkie.«
Sie versuchte es noch einmal. »Dann seid Ihr also Oblion?«, wandte sie sich an den Ersten, der ihr so geflissentlich den falschen Täkie angepriesen hatte.
Er schüttelte den Kopf. »Fondor, Madame. Oblion ist mit Baschek noch im Jagdkastell.«
Fondor?, dachte sie. Und wieso waren zwei der Lumpenkerle im Kastell geblieben? Oder tischte der Geselle ihr Lügen auf? Aber vielleicht war es auch gar nicht der, mit dem sie als Erstes gesprochen hatte.
Verwirrt sah sie von einem zum andern. Immer wieder wechselten sie die Plätze, hin und her huschend wie Schatten. Wer von ihnen also war Täkie?
Alle drei Gesellen bleckten nun die Zähne im schwarzen Bartgewirr, genau wie vorhin Unçerek. Markéta verspürte den Drang, aufzuschreien oder ihnen mit der flachen Hand in die abscheulich gleichförmigen Fratzen zu schlagen. Aber sie zwang sich ruhig ein- und auszuatmen und überlegte, wie d’Alembert auf derlei dreistes Gebaren antworten würde.
Schließlich wandte sie sich um und ging langsam zurück, über den abschüssigen Hof, zwischen den aufgemalten Säulen, Nymphen und Satyrn. In ihrem Rücken spürte sie die Blicke der drei Lumpenkerle; niemals mehr, schwor sich Markéta, würde sie Leuten wie ihnen gestatten, Zeuge ihrer Verwirrung, Angst oder Ohnmacht zu sein.
Mit gleichmäßigen Schritten ging sie weiter und durchquerte aufs Neue das grabesschwarze Durchhaus. Diesmal lag der untere Burghof still in der brennend heißen Mittagssonne. Markéta ging weiter und weiter, und mit jedem Schritt wuchsen in ihr Unruhe und Unbehagen. Und doch musste sie weitergehen.
»Öffnet mir«, befahl sie den Gardisten am unteren Burgtor.
Sie schüttelte die Stelzschuhe von ihren Füßen, ließ sie im Innern der Burgmauern stehen und ging die Gasse hinunter, der schimmernden Moldau entgegen.
Lange, allzu lange hatte sie es vor sich hergeschoben, nun endlich würde sie mit ihm reden. Aus irgendeinem Grund schien es ihr, als ob diese Begegnung, vor der sie sich seit Wochen fürchtete, auch für den armen Flor heilsam sein müsste, sehr viel mehr jedenfalls, als wenn sie sich rat- und hilflos zu ihm ins Frauengemach hockte. Aber das bildete sie sich vielleicht auch nur ein, dachte sie dann, um sich nicht schon wieder schuldig zu fühlen, erst vor Mutter Bianca, dann vor dem Bader, nun auch noch gegenüber Flor.
Sie bog um die Kurve, und die Knie wurden ihr weich. Sie hatte geglaubt, dass ihr das Baderhaus kleiner erscheinen würde, ins Zwergenhafte eingedampft, nun, da sie die großartigen Ausmaße der Burg gewöhnt war, doch das Gegenteil traf zu.
Gewaltig ragte die Fachwerkfassade mit den dunklen Holzläden vor ihr auf, und als Markéta ins elterliche Durchhaus trat, schien es ihr für einen Augenblick glückseliger Verwirrung, als ob sie niemals weggewesen wäre.
46
»Der Herr hat’s gegeben, der Herr hat’s genommen.« In dumpfer Ergebung starrte Sigmund Pichler vor sich auf den Tisch. »Dein feiner Herr Graf, Markéta, den mein ich - nicht etwa unsern gütigen Gott!«
Der Atem des Baders roch nach Wein, dabei war es noch helllichter Tag. Unten die Badestube allerdings lag so still und verwaist wie in allertiefster Nacht. Markéta wusste nicht, was sie ihm antworten sollte. Sie vermochte nicht einmal, seine Hand in die ihre zu nehmen, zum Trost oder um die alte Vertrautheit wiederzubeleben, die sie all die Jahre empfunden hatte, das Band zwischen Vater und Tochter.
Du bist mein Vater nicht.
»Kaum hatte er dich in seine Dienste genommen« -schamlose, frevlerische Dienste, schien er im Stillen hinzuzufügen, sie las es von seinem Gesicht ab - »da fing das Gemunkel an: Der neue Graf wird dem Pichler das Privilegium entziehen.«
Seine Rede verebbte zu einem Murmeln. Markéta beugte sich über den Tisch, um besser zu hören, das Herz schlug ihr bis in die Schläfen hinauf. Traf sie eine Schuld an dem Unglück, das den Bader befallen hatte? Oder hatte er selbst mit seinem Glück gebrochen, als er sie wie ein nicht länger erwünschtes Pfandstück an den neuen Grafen zurückerstattet hatte?
Ihr Blick irrte über den Tisch, der mit Essensresten übersät war, umgestürzten Bechern, halb geleerten Krügen. Noch immer wagte sie nicht, seine Hände zu berühren, die zwischen ihnen auf der Tischplatte lagen. Wie dämmrig es hier in der Stube war. Die Holzläden geschlossen, dabei hatte gerade der Bader das Sommerlicht immer geliebt.
In ihrem Rücken spürte sie die offene Tür zu ihrer alten Schlafkammer, aber sie brachte nicht einmal die Kraft auf, sich auf ihrem Stuhl umzudrehen. Seit sie ins Badehaus eingetreten war, das menschenleer und von Modergeruch erfüllt war, spätestens seit sie den Bader gesehen hatte, im verfleckten Nachtgewand hier am Tisch der verwahrlosten Stube hockend, kam es ihr vor, als ob all ihre Kraft aus ihr entwichen wäre.
Du bist mein Vater nicht - die Worte nisteten in ihrem Kopf wie schwarze Vögel.
Seit sie oben in der Burg hause, gingen ihm die Leute aus dem Weg, fuhr der Bader mit matter Stimme fort, ohne seinen Blick vom Tisch zu heben. Drunten in der Zuberstube sei es mit jedem Tag stiller geworden, erst seien die Zimmerleute ausgeblieben, dann die Bäckerzunft und so weiter. Er habe sich schon kaum mehr aus dem Haus getraut; die Leute tuschelten hinter seinem Rücken, wechselten die Straßenseite, wenn er näher kam, warfen im »Goldenen Fass« ihre Münze auf den Tisch und machten, dass sie wegkamen, sowie er in den Schankraum trat.
»In Ungnade gefallen«, sagte Pichler und sah endlich auf zu ihr, seine Augen verschwimmend in Tränen. »Ungnade ...« Er wiederholte es flüsternd und lauschte dem Wort mit halb geöffnetem Mund hinterher. »Und warum, frag ich dich? Weil der Pichler seine Schuldigkeit getan hat! Also ab mit ihm! So denken deine edlen Herren, Markéta!« Selbst sein Schreien klang müde, greisenhaft.
Für einige Momente saßen sie einfach da, stumm und ohne einander anzusehen.
»Aber was«, begann sie endlich und brach gleich wieder ab. Ihre Kehle war trocken und fühlte sich wund an, als sie sich räusperte.
»Was ist denn überhaupt geschehen, Va ...?«: Nein, sie brachte das Wort nicht heraus. Um ihre Verlegenheit zu überspielen, täuschte sie sogar einen plötzlichen Husten vor und hoffte, er möge auch ihre Gewissensnot überdröhnen, aber nur ein dünnes Krächzen drang aus ihrem Hals.
»Vorgestern«, sprach der Bader, »war es so weit, fast wie eine Erlösung nach all dem ungewissen Warten: Im Morgendämmer schlugen die Büttel drunten an mein Tor und verkündeten, was der neue Herr Graf in Sachen Sigmund Pichler beschlossen hat.« Tief atmete er ein, und sein mächtiger Brustkorb blähte sich, dass er das Leinenhemd zu sprengen drohte; dann begann der Bader im Tonfall eines amtlichen Ausschreiers hervorzuleiern: »Das von Seiner Herrlichkeit, Graf Wilhelm von Rosenberg, Burggraf von Prag, Kanzler und Vizekönig von Böhmen, im Jahre 1588 A.D. dem Bader Sigmund Pichler, wohnhaft zu Krumau, Witwer der Bianca Pichlerovâ, geborene Voscaja, gnädigst verliehene Privilegium, Kranke und Gebresthafte zu heilen, ihre Leiden zu lindern mit Gottes Hilfe, widerrufen Wir, Don Julius Caesar d’Austria, Graf von Krumau, mit unverzüglicher Wirkung und ordnen an, dass fortan all Unsere Untertanen, die an fiebriger Hitze oder quellenden Gallensäften, Geschwüren oder Gebresten jeglicher Beschaffenheit leiden, ins gräfliche Burgspital zu verbringen und dort der Obhut des gräflichen Medikus zu unterstellen sind .«
»Sie hieß nicht Voscaja«, sagte Markéta rasch, kaum dass der Bader geendet hatte. »Das hast du doch seit langem schon gewusst?«
Seine Hände begannen den Zinnbecher zu drehen, der vor ihm in einem Morast aus Brotkrumen und Apfelschalen stand. »Gewusst«, murmelte er. »Wieso denn gewusst?«
»Bitte hör mich an, Va ... Vater Sigmund.« Sie holte Luft und sprach hastig weiter: »Was dir angetan wurde, ist Unrecht, und ich schwör dir, dass ich alles versuchen werde, um deine Lage zu lindern. Mit Don Julius sprechen, oder besser noch mit Obersthofmeister d’Alembert, und ich bin sicher .«
Wieder brach sie ab. Ihrer Sache sicher war sie nun wirklich nicht, im Gegenteil. Hezilow steckt dahinter, durchfuhr es sie; nein, dachte sie aber gleich darauf, das ergab ja keinen Sinn: Auch wenn sie dem Puppenmacher so ziemlich jede Schandtat zutraute, was hatte er davon, wenn dem Bader Pichler das Wasser abgegraben wurde?
Sie sah auf seine Hände, die immer schneller den Becher drehten. Einige Tropfen honiggelben Weins spritzten heraus, und da hörte er auf, den Becher zu drehen, hob ihn mit zitternder Hand an seine Lippen und goss den Wein in seine Kehle.
»Du hast eben gesagt: Der Pichler hat seine Schuldigkeit getan.«
Markéta beugte sich vor und sah ihm scharf ins Gesicht. »Was hast du gemeint damit?«
»Na, ich ...« Der Bader setzte den Becher ab, und gleich begannen seine Hände wieder das schmucklose Zinngefäß zu drehen. »Gar nichts hab ich .«
»Lass uns offen reden, bitte«, fiel sie ihm ins Wort. »Wir beide wissen, dass Mutter Bianca ein halbes Jahr droben auf der Burg gelebt hat, bevor sie auf einmal hier heruntergekommen ist und deine Gemahlin wurde.«
Der Bader glotzte sie an, seine Lippen bewegten sich, glänzend vom Wein.
»Ich weiß es seit wenigen Wochen«, fuhr Markéta entschlossen fort, obwohl ihr das Herz schon wieder wie rasend klopfte. »Aber du musst es doch damals schon gewusst haben, nicht wahr, Vater Sigmund?«
Wieder starrte der Bader stumm an ihr vorbei. Der Zinnbecher sprang zwischen seinen zuckenden Händen hervor, rollte über den Tisch und fiel scheppernd zu Boden.
»Sie war erst droben, das stimmt«, brummte er endlich. »Da hab ich sie ja auch zum ersten Mal gesehen, im Winter vor .« Er fuhr sich mit der flachen Hand über den Schädel. »Das war vor zwanzig Jahren, ich weiß es noch genau«, fuhr er lebhafter fort, »ich war droben, um mit dem Burgvogt zu sprechen, weil ich doch endlich das Badehaus aufmachen wollt. Ein sonniger Tag, aber so kalt, dass der Atem in der Nase gefror. Und ich bin kaum durchs Burgtor marschiert, da steht sie vor mir im Hof, schön wie eine Fee.«
Auch seine Miene war heller geworden, doch sein Blick ging immer noch an Markéta vorbei.
Ich bin deine Tochter nicht.
Er habe sich gleich in sie vergafft, fuhr der Bader fort. Mit dem Badehaus wurde es an jenem Tag wieder einmal nichts - zu wenig Geld und noch weniger Fürsprecher, wie der damalige Burgvogt ihm auseinander setzte. Aber er fühlte sich trotzdem nicht niedergedrückt, im Gegenteil. Noch am selben Tag brachte er ihren Namen in Erfahrung, zumindest ihren Rufnamen: Madame Bianca. Was Herkunft und Stand betraf, gingen die Meinungen auseinander, aber das interessierte ihn wenig: Er war ein junger, mittelloser Bader, und ob Madame Bianca nun Voscaja oder Ludanice hieß, ob sie eine Wohlgeborene war oder nur eine vornehme Bürgerin, machte für ihn keinen Unterschied.
»Ich betete sie an wie ein Hund, der sich in eins der Gestirne droben am Himmel vergafft hat«, murmelte der Bader, »was kümmert’s den Hund, ob er die Sonne, die Venus oder einen geringeren Stern anschmachtet? Für ihn sind sie alle unerreichbar fern.«
»Aber nicht lange darauf«, sagte Markéta, »ist der Stern vom Himmel gefallen, genau in deinen Schoß.«
Er tastete nach dem Krug, ohne hinzusehen, goss Wein in einen der Becher, die noch auf dem Tisch standen, und trank mit gierigen Zügen. Als er den Becher wieder absetzte, war sein rundes Gesicht gerötet, seine Augen glasig. »Jawohl«, murmelte er, »in den Schoß.«
Er versuchte sich an einem Grinsen, das kläglich missriet. Jetzt erst erkannte Markéta, wie betrunken der Bader war. Offenbar hatte es nur dieser wenigen Schlucke bedurft, um seinen Geist aufs Neue zu benebeln.
»Sie wurde mit dir vermählt, Hals über Kopf«, sagte sie, »dabei hatte sie noch kurz vorher von einem ganz anderen, tausendmal glanzvolleren Leben geträumt.«
»Und hat nie mehr aufgehört, davon zu träumen«, murmelte der Bader, »niemals, keinen Tag lang bis zu ihrem Tod.« Wieder schenkte er sich aus dem Krug ein, Wein schwappte auf den Tisch.
»Sie hat das Badehaus verabscheut«, sagte Markéta. »Immer hab ich mich gefragt, was ihr daran so sehr missfallen hat. Dabei ist die Antwort so einfach: Sie hat sich nie damit abgefunden, dass sie auf einmal nur noch eine Badersfrau war.«
»Aber sie war ... in Ungnade ...« Aus Pichlers Mund drang nur noch nasses Gebrabbel. »Und Bianca . ohne mich . ja verloren!«
»Sie haben einen Handel mit dir abgeschlossen, die Herren droben von der Burg.« Abrupt stand Markéta auf und verschränkte die Arme vor der Brust. »Das Bader-Privileg«, fuhr sie fort, »und eine Mitgift, üppig genug, dass du dieses Haus kaufen konntest - als Entgelt dafür, dass du dich mit ihr vermählen ließest.«
Am liebsten hätte sie ihn angeschrien, bei den Schultern gepackt und gerüttelt, aber sie zwang sich, weiter mit ruhiger Stimme zu sprechen. »Kein schlechter Handel - für dich; aber nun sag mir eins, Vater Sigmund: Hast du dich - oder sie, Mutter Bianca - damals auch gefragt, was sie von diesem Handel hielt?«
Pichler glotzte zu ihr empor, mit stumpfer Miene, als ob er sich kaum entsänne, wer da vor ihm stand. »Liebe Frau«, sagte er mit schwerer Zunge, »immer Treue und ... Vertrauen.«
Du bist mein Vater nicht.
Aber sie würde die Frage nicht über die Lippen bringen, sie wusste es längst. Die Frage, wegen der sie heute endlich zu ihm gekommen war, oder vielmehr: um deretwegen sie diese Begegnung immer wieder hinausgezögert hatte.
Am 23. Januar 1588 A.D. wurde Bianca Voscaja mit dem Bader Sigmund Pichler vermählt in der St.-Jost-Kirche zu Krumau. Am 1. Februar desselben Jahres erhielt Sigmund Pichler das Bader-Privilegium. Am 16. August des nämlichen Jahres kam sie, Markéta, im Baderhaus vis-à-vis der St.-Jost-Kirche zur Welt - »ein kümmerliches Frühchen, aber Mutter Bianca hat dich hochgepäppelt«, wie der Bader immer zu sagen pflegte.
Aber ich bin deine Tochter nicht, du wusstest es, immer schon. Aber weißt du auch, aus wessen Armen sie zu dir hinabgestoßen wurde? Sie brachte die Worte nicht heraus. Am liebsten hätte sie geweint, doch selbst dafür fehlte ihr die Kraft.
Der Bader drehte den Becher zwischen den Händen und sah an ihr vorbei, mit glasigen Augen. Unter den Fenstern rauschte die Moldau, jemand fuhr im Boot vorüber, Mann und Frau, leise lachend. Eine andere Welt, dachte Markéta, so fern wie die Sonne für den Hund, mit dem der Bader sich vorhin verglichen hatte.
Und wenn ich noch Tage und Nächte lang hier stünde, ich bliebe doch so stumm und starr wie eine von da Biondos Skulpturen. Oder wie die murmeläugige Hirschkuh, deren Fell und Gerippe Julius vielleicht gerade mit Haderlumpen ausstopfte.
»Hat sie dir denn nie gesagt«, brach es endlich aus Markéta heraus, »warum sie damals in Ungnade gefallen ist? Oder zumindest, auf wessen Befehl sie die Burg verlassen musste?«
Dem Bader war der Kopf auf die Brust gesunken, aus seinem Mund sickerten unverständliche Laute.
Einen Moment lang sah Markéta noch auf ihn hinunter, dann ging sie um den Tisch herum und aus dem Zimmer, die knarrenden Stiegen hinab und durch die stille Badestube.
Du bist mein Vater nicht.
Ich bin deine Tochter nicht.
Du warst ihr Retter nicht.
Früchte für dich getragen hat das alles - die Lügen, der üble Handel - nicht.
Die unheilvollen Sätze, allesamt auf nicht endend, vermehrten sich in ihrem Kopf wie eine schwarze Brut. An Flors Vogel der Nacht musste sie mit einem Mal denken, während sie nach draußen lief, und dann plötzlich, auf der Schwelle zwischen dem dunklen Durchhaus und der Seilergasse, die in gleißendem Sonnenlicht vor ihr lag: Ergeht es mir denn nicht genauso wie dem armen Flor? Sind nicht unser beider Leben aus dem gleichen Lügengarn genäht?
Sie lief die Gasse wieder hinauf, zum Burgtor empor, ohne auf die Gaffer zu achten, die einander verstohlene Zeichen machten oder ihr hinterhersahen, in Fensterluken oder Hoftoren verborgen.
Unsere Väter sind unsre Väter nicht. Und in unsern Herzen kreist die gleiche Lüge, Brüderlein.
47
»Gut, dass Ihr zeitig zurückgekehrt seid, Madame. Die Entwicklungen haben sich - nun: ein wenig beschleunigt.«
D’Alembert schwitzte; kein Wunder, dachte Markéta: Sie war kaum ins Frauengemach eingetreten, vorbei an den salutierenden Gardisten, als auch schon der Maître Einlass begehrte. Unablässig wirbelte er sein Stöckchen durch die Luft, Schweißtropfen perlten unter seiner Perücke hervor und fraßen kleine Löcher in die Schminke auf Stirn und Wangen. Die Zofe Bronja, die knicksend herbeigeeilt war, hatte er gleich davongescheucht: »Begib dich geradewegs ins Appartement der Herrin: Johanna von Waldstein und die heiligen Frauen sind angekommen.«
»Johanna? Heilige Frauen?«, wiederholte Markéta.
Aber d’Alembert schüttelte nur den Kopf und sprang zu einem Thema über, das ihn weit stärker zu beschäftigen schien: »Verzeiht mein Eindringen, Madame. Heikle Kunde ist eingetroffen - aus Prag; Ihre Kaiserliche Majestät erwägen, Burg Krumau einen Besuch abzustatten, nächste Woche schon.«
»Heikle Kunde?«, fragte sie. Ihr selbst wurden allerdings die Knie weich bei dem Gedanken, Rudolf II. gegenüberzutreten, aber war es nicht dennoch eine große Ehre für ganz Krumau? »Freut Don Julius sich denn nicht, dass sein kaiserlicher Vater ...?«
D’Alembert hob die Hand mit dem weißen Stöckchen. »Die Beziehungen sind ein wenig angespannt«, erklärte er. »Die familiären ohnehin, aber wie Ihr sicherlich wisst, geben auch die politischen Verhältnisse Anlass zu großer Besorgnis. Die Feinde des Reichs bedrängen das Land, Katholiken und - hm - Ketzer belauern einander, den Dolch in der Hand, doch der Kaiser hat Mühe, genügend Soldaten auszuheben, um die Widersacher von diesseits und jenseits der Grenzen niederzuhalten, denn die kaiserlichen Schatzkammern sind leer, und der Reichstag ...«
Markéta wurde ein wenig schwindlig, sie sank auf ein lachsfarbenes Sofa und lud den Maître ein, es ihr gleichzutun. Auch unten in Krumau, auf dem Markt oder in der Badestube, wurde die politische Misere des Reichs seit Jahren hitzig debattiert, aber Markéta fühlte sich nicht in der Verfassung, heute noch längere Ausführungen zu diesem irrgärtnerischen Thema anzuhören. Nicht gerade jetzt. Ihr eigener Vater, dachte sie, keine Majestät, nur ein feiger Lügner und trauriger Trunkenbold, hatte sie heute schon genügend Kraft und Zuversicht gekostet. Und Johanna von Waldstein hatte ihre und Julius’ Abwesenheit tatsächlich genutzt, um sich handstreichartig hier in Krumau einzuquartieren? Am liebsten wäre sie jetzt einfach ins Bett gekrochen, ungeachtet des Sonnenscheins vor den Fenstern, und im Stillen beschwor sie den Maître, von der politischen Misere abzulassen und geradewegs auf den Anlass seines Besuchs zu sprechen zu kommen.
»Unter diesen Umständen« - d’Alembert ließ sich mit gezierten Bewegungen auf einem Fauteuil ihr gegenüber nieder - »könnten einige Truhen reinen Goldes durchaus Wunder wirken, hinsichtlich der politischen Lage des Reichs und damit auch der Beziehungen zwischen Don Julius und der väterlichen Majestät.«
Nach diesen Worten blickte er sie mit dem gewohnten Lächeln an, doch Markéta kannte ihn mittlerweile gut genug, um auch die versteckteren Zweifel in seinem Mienenspiel zu entdecken.
»Ihr meint - Hezilow?« Sie deutete auf den Boden vor ihren Füßen und sah d’Alembert ungläubig an.
Der Maître bejahte so zurückhaltend, dass es gerade noch als Nicken zu erkennen war. »Wenn Rudolf in einigen Tagen hier erscheint, will Don Julius ihn mit einer großen Demonstration -sagen wir: besänftigen. Oder besser noch: beeindrucken, wenn Ihr mich recht versteht. Vor den Augen Ihrer Majestät soll der Magister eine stattliche Menge unedler Materien in schieres Gold transformieren. Und um sicherzustellen, dass Monsieur Hezilow bei der Anpreisung seiner wundersamen Fähigkeiten nicht ein wenig übertrieben hat, wird er auf Don Julius’ Befehl gleich heute Nacht eine Goldprobe ablegen.«
Als d’Alembert Nacht sagte, war es Markéta, als sacke sie mit einem Ruck noch tiefer in ihre Müdigkeit. Sie machte große Augen, um gegen den Schlaf anzukämpfen, der unermüdlich dunkle Tücher über sie warf.
»Monsieur Hezilow«, hörte sie d’Alembert wie durch eine Nebelwand sagen, »hat sich dem gräflichen Befehl gefügt und erklärt, dass er heute beim Glockenschlag der elften Nachtstunde mit der Transformation beginnen werde.« Er beugte sich im lachsfarbenen Sessel nach vorn; seine Haut auf Stirn und Wangen war noch bleicher als die Puderschicht, in die der Schweiß erbarmungslos Rinnen und Krater fraß. »Und damit komme ich zum Anlass meines überstürzten Besuchs, Madame: Magister Hezilow hat sich ausbedungen, dass neben Don Julius auch Ihr sowie der Nabellose zugegen sein werdet.«
»Flor? Aber Ihr wisst so gut wie ich, Maître, wie sehr der arme Flor sich vor Hezilow fürchtet.«
»Es ist auch Don Julius’ Wunsch«, sagte d’Alembert. »Und wenn Ihr einen Rat von mir hören mögt: Nach den Lehrbüchern der griechischen Weisen - namentlich Platos - müsste Hezilows Unterwelt auf das Erinnerungsvermögen Eures Schützlings ungemein belebend wirken.« Er erhob sich. »Heute Nacht also, die Gardisten werden Euch hinabbegleiten. Bonsoir, madame. -Ah, eines noch.« Er wandte sich noch einmal um zu ihr, eine Hand schon an der Tür. »Der Entzug des Privilegiums geht allein auf Don Julius zurück. Mit den alten Geschichten hat das - auch wenn der Anschein dafür sprechen mag - nichts zu tun.« »Aber womit denn sonst?«, fragte Markéta. »Was hat Vater Sigmund ihm denn zuleide getan?«
»Gar nichts, soweit ich weiß.« Der Maître lächelte dünn. »Ich nehme an, dass Don Julius Euch ganz einfach den Rückweg abschneiden will, Madame.«
Damit war er aus der Tür, und fast im selben Moment begann Markéta, sich aus ihrem Kleid zu schälen.
»Lisetta!«
Die blonde Zofe eilte herbei und begann, die dutzenderlei Häkchen auf der Rückseite des Kleides zu öffnen.
»Ich werde mich für ein paar Stunden hinlegen«, erklärte ihr Markéta. »Damit ich heute Abend in guter Verfassung bin.«
»Für die Goldprobe«, wisperte Lisetta.
Darauf erwiderte Markéta nichts. Hier oben in der Burg wurde mindestens so emsig geklatscht und getratscht wie unten in der Stadt.
Im Unterkleid stand sie endlich vor der Tür ihres Schlafgemachs.
»Aber in Eurem Bett liegt Flor, Madame«, flüsterte Lisetta.
»Ich weiß«, sagte Markéta. »Er ist wie ein Bruder für mich, und das Bett bietet Platz für ein ganzes Dutzend wohlanständiger Schläfer.«
Sie trat in die Schlafkammer und zog hinter sich die Tür zu.
Eine enge Treppe führte steil in die Unterwelt hinunter, Wände und Stufen des Schachtes mit dunkelrotem Samt bespannt. Dort unten würde sie Mutter Bianca wiederfinden, sie spürte es ganz deutlich, und wenn sie sich in den Treppenschacht hinabbeugte, meinte sie die geliebte Mutter auch schon zu sehen, wenigstens einen Schatten von ihr hinter wallendem Nebel.
Das Herz schlug ihr bis zum Hals, mit leisem Donner schienen ihre Pulse von den Wänden widerzuhallen, ihr war heiß und kalt zugleich.
Wir müssen hinab, dachte sie, sofort.
Auf sonderbare Weise war sie nicht allein, da war noch jemand, doch dieser Jemand war ein Teil von ihr, wie bei den miteinander verwachsenen Zwillingen, die sie einmal in der väterlichen Badestube gesehen hatte. Zwei Körper, aber ein Herz und eine Seele, auf frevelhafte und doch auch berauschende Weise miteinander vereint.
Wieder beugte sie sich hinab in die Treppenhöhle, und diesmal sah sie Bianca ganz deutlich hinter der Wand aus rötlichem Nebel: Ihre Lippen bewegten sich, ihre Augen waren weit geöffnet, ihre Hände vollführten beschwörende Gebärden. Zu verstehen war gar nichts, aber ihr schmerzlicher Gesichtsausdruck ließ keinen Zweifel, dass sie Qualen litt.
Wir müssen hinab, dachte sie wieder, Mutter Bianca befreien.
Behutsam trat sie auf die oberste Stufe, und da zog sich der ganze rote Schacht wie erschauernd zusammen. Das Donnern wurde lauter, drängender. Erschrocken zog sie ihren Fuß zurück, sofort schwoll auch der Donnerklang wieder ab, und die Treppe war wie vorher starr und dunkelrot.
Sie trat einen Schritt zurück, versuchte es mit stärkerem Anlauf und drang diesmal bis zur vierten Stufe vor, ehe der ganze Schacht sich wieder erbebend zusammenzog. Schauer überliefen sie, in immer rascheren Wellen, aus dem schimmernden Samt, aus Stufen und Wänden knospten zitternde Fühlpunkte hervor. Eine Muschel, keine Treppe, dachte sie, mit unzähligen winzigen Fühlern, die sie umschmiegten, liebkosten, sie selbst und jenen Jemand, der, so geheimnisvoll mit ihr verbunden, nun neuerlich hinausglitt und mit stärkerem Schwung zurück in die Tiefe stieß.
»Alles hat männliche und weibliche Prinzipien, Geschlecht offenbart sich auf allen Ebenen!«, hörte sie mit heller Stimme deklamieren, untermalt von Donnerschlägen, und da erst dämmerte ihr, dass sie selbst die wunderlichen Worte schrie.
Alles ich, alles wir, dachte sie, in die Muschel tauchend, den Taucher umschlingend, zurückwerfend, wieder hinabsaugend, hinabgesogen, immer schneller, mit immer wilderem Schwung. Welle um Welle durchflutete sie, immer süßere, immer heißere Wogen, dann stieß der Taucher ungestüm wie nie in die Tiefe, und die ganze funkelnd rote Muschel zog sich zusammen, wieder und wieder erschauernd vor Glückseligkeit.
Für einen winzigen Moment war die Nebelwand tatsächlich zerrissen, dahinter kam Mutter Bianca zum Vorschein, den Mund schon geöffnet, um ihr endlich die Botschaft zuzurufen.
Doch da erschallte ein Schrei, und sie fuhr aus ihrem Traum, keuchend und schweißüberströmt.
Schwarze Nacht umgab sie, ein Arm lag auf ihrer Brust, schwer und warm. Julius, dachte sie, abermals erschauernd, doch dann ertastete sie eine schmale Schulter, verworrene Locken und schob ihn hastig von ihrem Leib.
Sie wagte kaum zu atmen, bis die Kerze endlich sein Antlitz beschien: elfisch bleich, die zwiefarbenen Augen verengt zu Schlitzen, der Mund noch geöffnet von seinem Schrei.
Sie beide starrten einander an wie Gespenster, nein, wie Traumbilder, hinübergesprungen in die wache Wirklichkeit.
Die gräfliche Geliebte, dachte Markéta, in den Armen ihres Schicksalsbruders. Beinahe hätte sie laut aufgelacht, ein Gelächter des Entsetzens, das unfehlbar in Schluchzen umgeschlagen wäre; doch in diesem Moment begannen die Glocken der St.-Veit-Kirche feierlich die Stunde zu läuten, und Markéta hielt aufs Neue den Atem an und zählte: drei - sieben -neun - zehn, gefolgt von zwei dünneren Schlägen.
Eben noch Zeit genug, den Schlaf aus den Augen zu krümeln und in die Kleider zu fahren, ehe drunten in »Hezilows Helle« das nächste unterweltliche Spektakel begann.
48
Er fühlte sich so ruhig wie selten in seinem Leben, gespannt wie ein Armbrustbogen und doch ganz gelassen, seiner Sache gewiss. Die Probe würde gelingen, kein Zweifel.
In seiner Phantasie hatte er die Szene schon tausendmal vor sich gesehen, allerdings mit sich selbst anstelle von Hezilow. In diesen Tagträumen waren er und seine Gehilfen, Fabrio und Lenka, Flor und Markéta, der alchimistischen Kunst stets in völliger Nacktheit nachgegangen. Den mystischen Pelikan, sagte sich Julius, trug er ohnehin stets bei sich, wohlgefällig spürte er die kristallene Härte unter seinem Habit.
»Alchymische Wollust«, wie Hezilow derlei nannte, hielt ihn in ihrem Bann, seit er die Goldprobe anberaumt hatte. Wäre Madame Markéta nicht heute Mittag stracks aus der Burg gelaufen, die störrische Schöne wäre ihm nicht davongekommen ohne ernstliche Erprobung des goldenen Tiegels, den sie zwischen ihren Schenkeln verbarg.
Und jetzt, da er all seine Aufmerksamkeit auf Hezilow richten musste, lehnte sie neben ihm an der Säule, so nah, dass ihre Schulter seinen Arm berührte und er mit jedem Atemzug den Geruch ihres Körpers einsog. Alchymische Wollust, dachte er wieder; ich riech’s ja, auch sie giert mit jeder Pore ihres Leibes nach dem Mirakel der Verschmelzung.
Kein Wunder, dass just am heutigen Tag, gelenkt von eifersüchtiger Hellsicht, seine ewige Verlobte eingetroffen war, in Begleitung eines Dutzends dominikanischer Nonnen. Ihr könnt genauso gut gleich wieder abreisen, Johanna, dachte er: Nie werd ich Euch freien, fromme Freifrau, wie beflissen Ihr auch alle Demütigungen duldet - ja gerade darum nicht!
Zu seiner Linken stand, wie immer, soweit er zurückdenken konnte, Maître d’Alembert. Sie alle drei beobachteten den Puppenmacher, der sich am Athanor zu schaffen machte, vor dem zwei seiner Gehilfen knieten und wie besessen den Blasebalg traten. Dabei glühten die »Testikel des roten Leu«, wie der Russe das eherne Doppel-Ei genannt hatte, bereits hell wie zwei Sonnenbälle, und das zwischen ihnen aufragende Rohr knackte vor Hitze.
Markéta hielt den Nabellosen an der Hand, der sich immer wieder hinter der Säule zu verstecken suchte und von Zeit zu Zeit ein Winseln hören ließ. Ansonsten herrschte Stille im Gewölbe, abgesehen vom Fauchen des Blasebalgs, dem Keuchen der beiden Gehilfen, Fondor und Täkie, und dem steten Tropfen herabrinnenden Wassers weiter hinten im Labor.
Auf Tischen und Regalen vor dem Athanor schimmerten goldgelbe und milchig weiße Essenzen in den eigentümlich geformten Gefäßen, deren Anblick Julius’ mystische Ekstase noch weiter steigerte. Reagenzgläser, aus denen gläserne Phalli jeglicher Größenordnung ragten, Glasglocken von der Form trächtiger Weiberbäuche, Kupellen so rund und schwellend wie Mädchenbrüste, und all diese schimmernden Apparate durch Schläuche und Mündungen zu einem endlosen Akt der Zeugung und Empfängnis verbunden.
»Wie Ihr wisst, Euer Herrlichkeit«, ließ sich Hezilow mit pfeifender Stimme vernehmen, »muss sich Athanor vier Hitzegrade erreichen: häjßer als Siedepunkt für Wasser, zwischen diesem und dem Schmelzpunkt für Schwefel, unter dem Schmelzpunkt von Zinn und genau am Schmelzpunkt für Bläj.« Er gab den beiden Gehilfen ein Zeichen, und sie ließen vom Blasebalg ab, die Gesichter unter den wirren Barten glänzend vor Schweiß.
Der Puppenmacher deutete auf den Athanor. »Der alchimistische Ofen«, sagte er, »Euer Exzellenz längst bekannt wie eigener Hosensack; aber will Hezilow auch dem verehrten Maître und Madame Markéta ein paar nitzliche Fingerzäjge geben. - Dir nicht, Rolfenko«, fügte er mit veränderter Stimme und einer wegwerfenden Gebärde in Richtung des Nabellosen hinzu, »kennst das alles ja, seit du so klitzekläjnes Gliehwirmchen warst.« Und er zeigte die gemeinte Spanne mit Daumen und Zeigefinger; Flor wimmerte wieder und verbarg sich hinter der Säule. »Diese Kristallfenster«, fuhr der Russe fort, auf die Luken im oberen Drittel des Doppel-Eis deutend, »ermeeglichen Einblick ins Innere der gliehenden Hoden des Läj; bitte um Verzeihung, Madame.« Er feixte in Markétas Richtung, wieder winselte der Nabellose leise auf.
Auf den Herdstellen standen die drei Dreibeine. Gespannt lauschte Julius den Erläuterungen des Puppenmachers, die er selbst im Schlaf hätte wiederholen können: auf den Dreibeinen die muffelbewehrte Kupelle und das so genannte Ei der Philosophen, ein fußloser Glasballon, überragt vom Pelikan, dem langen, offenen Destillierkolben mit zwei gegenüberliegenden Hähnen, die seitlich ins Ei zurückführten.
»Alchimistische Essenz«, sagte der Russe, »aus der Hezilow bald den Stäjn der Wäjsen, das Sperma mundi transformiert, wird sich in diesem Äj beräjtet. Jede Flissigkeit, die dort durch die Hähne hineinträjfelt, fließt sich durch den Pelikan ins Äj zurick.« Dabei deutete er erst auf den Ballon, dann auf den kristallenen Kolben, der in steilem Winkel über dem Ei des Philosophen aufragte. »Wird sich diese Apparatur aber für die Transformatio von Plumbum in Gold nicht beneetigt, erst für die Erschaffung der Homunkuli.«
Wieder das rasche Spreizen von Daumen und Zeigefinger, wieder wimmerte Flor. Flugs füllte Hezilow nun eine Kupferschale mit Wasser, setzte sie auf den Athanor und schüttete zwei Säckchen farblosen Pulvers hinein - aus dem Saft von Mondpflanzen gewonnen, wie Julius wusste. Er hatte dem Magister schwören müssen, dass er keines der alchimistischen Geheimnisse an unwürdige Personen weitergeben würde, mit einem grässlichen, blasphemischen Schwur, vor dem ihm noch in der Erinnerung schauderte.
Fondor und Täkie standen starr neben dem Athanor, wie der tönerne Kerl aus seinem Traum, nur durch Hezilows Magie belebt. Während die Mixtur in der Kupferschale heiß wurde, nahm der Puppenmacher zwei kleine Flaschen aus dem Regal. Aus der ersten Flasche schüttelte er drei Tropfen Quecksilber in den zweiten Flakon, der mit klarem Meisterwasser gefüllt war. Sofort trübte sich das Wasser und nahm eine milchig weiße Farbe an.
Auf dem Herd dampften unterdessen die Mondsäfte in ihrer Kupferschale. Hezilow gab die milchige Flüssigkeit aus der Flasche hinzu, wartete aufmerksam, bis die Mixtur zu kochen begann, und zog sie mit einer raschen Bewegung vom Feuer.
Dann machte er seinem Adepten ein Zeichen.
Sofort trat Julius zu ihm, sie hatten jede Bewegung mehrfach eingeübt. Er spürte Markétas Blicke auf sich und musste sich neuerlich mystischer Vorstellungen erwehren, den Tiegel zwischen ihren Schenkeln und die darin brodelnden Mondsäfte betreffend. Rasch nahm er das Kupferbecken mit kaltem Wasser, das auf dem Tisch bereitstand, und hielt es seinem Meister hin.
Hezilow goss die kochende Mixtur aus der Kupferschale hinein, und sogleich löste sie sich im Wasser auf. Schließlich blieb ein bräunlicher Rückstand übrig - »das Projektionspulver«, erklärte der Russe, »misste sich äjgentlich in der Sonne trocknen, aber weil Euer Herrlichkeit nicht länger warten kann, behilft sich Hezilow mit dem Athanor.«
Er nahm Julius das Kupferbecken aus den Händen und stellte es auf den Herd. Bescheiden trat Julius zur Säule zurück, zwischen den Maître, der undurchdringlich wie immer dreinblickte, und Markéta, deren Wangen brennend rote Flecken zierten.
Binnen weniger Minuten war der bräunliche Schlamm zu feinem Puder getrocknet. Hezilow stellte ihn zur Seite, nahm ein Stück Blei, legte es in einen Tiegel und brachte es langsam zum Schmelzen. Er öffnete eine weitere Flasche und gab einen Tropfen rötlichen Extrakts aus einer kleinen Phiole hinein - »ist sich Leeweneel« -, fügte eine Prise des braunen Puders hinzu und bedeckte den Tiegel mit einer Kupelle, die mit glühenden Kohlen gefüllt war. »Muss sich die Mixtur ein Stindchen lang gliehen.« Er feixte in Julius’ Richtung, dann trat er zu seinen Gehilfen und verwickelte sie in ein leises Gespräch.
Während die Minuten dahinschlichen, wechselten Julius, der Maître und Markéta kaum ein Wort. So gelassen und siegessicher sich Julius eben noch gefühlt hatte, so bang wurde ihm nun zumute. Hatte er früher in Prag nicht unzählige Erzählungen von betrügerischen Alchimisten gehört? Waren nicht auch die angeblichen Magier, die vor Jahren hier auf Burg Krumau Goldtaler zu säen versprachen, nichts als gemeine Strauchdiebe gewesen? Was wäre, wenn auch der Puppenmacher sich als Scharlatan entpuppte?
Nein, unmöglich, beschwor er sich dann wieder, Hezilow hatte ihm durch unzählige Andeutungen bewiesen, dass er wahrhaftig ein eingeweihter Magister war. Und hatte nicht auch jener Astrolog ihm vorausgesagt, dass die Goldprobe gelingen würde? Kurz und erschreckend huschte ihm das Mariandl durch den Sinn; wieder spürte er das widerlich klebrige Rot an seinen Händen, wie damals, als er neben dem Leichnam zu sich gekommen war. Ah, auch diesen ruchlosen Verschwörern würde er auf die Spur kommen, mit der Hilfe Markétas, die ganz und gar davon überzeugt schien, dass er in eine mörderische Kabale verwickelt worden war; fast noch überzeugter, dachte Julius, als ich selbst. Pah, alles, alles würde glücken, bald schon würden sich aus den Gewölben von Burg Krumau gewaltige Ströme funkelnden Goldes ergießen, mächtig und unbezähmbar. Nie wieder würde die väterliche Majestät auf einem Reichstag um die dürftigsten Gelder betteln müssen, und niemals mehr würde irgendwer sich erdreisten, seine, Don Julius’, Sukzessionsfähigkeit zu bestreiten. Wir, Julius Caesar von Habsburg, Kaiser des Heiligen Römischen Reiches ...
In seine ekstatischen Träume hinein tönte, wie aus weiter Ferne, die Glocke von St. Veit: zwölf Schläge und zwei dünnere dazu.
Hezilow entfernte die Kupelle mit den glühenden Kohlen, nahm eine Weinrebe zur Hand und rührte das rötliche Gebräu damit um. Augenblicklich wurde es zu einer zähen Masse -»durch Projektionspulver und Leeweneel«, erklärte der Russe gelassen, »wird sich das Metall fixiert.«
Ruhig rührte er weiter um, hob endlich den glühenden Tiegel mit einer Zange vom Herd und setzte ihn auf einen Stein. Wieder winkte er Julius heran, in seinen Knopfaugen funkelte es triumphierend. Als Julius sich über den Tiegel beugte, brach ihm vom Boden des Gefäßes goldener Glanz entgegen.
Sein Herz schlug nun mit hämmernder Härte, der Härte des mystischen Pelikans. Stumm sah er zu, wie die Flüssigkeit auf dem Boden des Tiegels koagulierte und endlich eindickte. Da vermochte sich Julius nicht länger zu bezwingen, er nahm die Zange, die neben dem Tiegel auf dem Tisch lag, fischte einen noch glühenden Klumpen heraus und hielt ihn prüfend ins Licht.
Der Klumpen funkelte und glitzerte, und ehe irgendjemand etwas sagen konnte, begann der Nabellose zu stammeln: »Der ro-rote Leu - Go-gold!«
In der Hand die Zange mit dem funkelnden Klumpen, trat Julius zu Markéta. »Für Euch, Madame.« Und er zog sie an sich, Pelikan und Becken aneinander drängend zur mystischen Vermählung.
»Trockene Substanzen werden mittels Säure zu wässrigen gelöst.«