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FÜNF - SOLUTIO

49

»Der Kaiser kommt!«

Tausendmal rascher, als die Moldau durch ihr Flussbett eilte, hatte sich die Nachricht verbreitet, überall in der Burg und drunten in der Stadt. Rudolf II. geruhte Krumau zu besuchen, in wenigen Tagen schon! Was für eine unerhörte Ehre! Und wem hatte man die Gnade zu verdanken: dem neuen Grafen Don Julius!

D’Alembert ging in seinem Salon auf und ab, ein ganzes Bündel hastig verfasster Schreiben in Händen. Man schrieb den 5. Juni 1607 A.D. einen Dienstag, und wie an so vielen Vormittagen war er damit beschäftigt, die Rapporte seiner Späher zu lesen und die nötigen Folgerungen zu ziehen.

Alle geheimen Zuträger berichteten mehr oder minder das Gleiche: Seit sich die Kunde vom Besuch des Kaisers verbreitet hatte, waren die Feinde des neuen Grafen, die Verkünder des Unheils und Orakel des Untergangs mit einem Schlag verstummt. Keine Rede mehr davon, dass Don Julius ein unwürdiger Nachfolger Wilhelms von Rosenberg sei, im Gegenteil: Auf einmal wollten alle immer schon gewusst und geweissagt haben, dass mit dem Bastardsohn des Kaisers eine neue Blütezeit für Krumau anbrechen werde.

In die Lobgesänge zu Ehren des jungen Grafen mochten nur zwei Krumauer Bürger nicht einstimmen: der Flößer Karel Kudaçek, dem der Kummer über das spurlose Verschwinden seines Sohnes Nicodemus den Verstand zu rauben drohte, und der Bader Sigmund Pichler, den der Entzug des gräflichen Privilegiums begreiflicherweise erbitterte.

Im Gehen durchstöberte d’Alembert das Papierbündel, bis er den gesuchten Rapport gefunden hatte. »Wie kann der Herr Graf schuld dran sein, dass der Flößersbengel abhanden gekommen ist?«, empörte sich der Späher mit einem Eifer, der ihm gar nicht zukam. »Drängt sich der Bube in die edle Jagdgesellschaft hinein, verschuldet selbst die erlittene Jagdverletzung, wird auf Kosten des Herrn Grafen im Burgspital zurechtgeflickt - und verschwindet dann, um seine Wichtigtuerei auf die Spitze zu treiben!«

So kann es sich in der Tat zugetragen haben, sagte sich der Maître, zumal sich schon vorher die Anzeichen gemehrt hatten, dass Nicodemus seine Rolle als »falscher Homunkel« zu Kopf gestiegen war. Und doch, und doch ... Aus unerfindlichem Grund schien es auch d’Alembert denkbar, ja wahrscheinlich, dass es mit dem Verschwinden des kleinen Nico eine weniger harmlose Bewandtnis hatte. Auch wenn Julius selbst gewiss nicht in die Affäre verwickelt war, wie der Maître in Gedanken rasch hinzufügte.

D’Alemberts Suite lag in der oberen Burg, auf halbem Weg zwischen den Grafen- und den Frauengemächern, sodass er jederzeit in beide Richtungen antichambrieren und intervenieren konnte. Die Fenster seines Salons gingen auf das rot-schwarze Dächergewirr des Städtchens hinaus, das, vom schimmernden Band der Moldau umschlungen, wie eine gemalte Miniatur in der Sommersonne glänzte. Einen Moment lang blieb er stehen und sah auf die Stadt hinab, dann wandte er sich um und durchmaß abermals den Raum, der ganz und gar in Weiß und Silbertönen eingerichtet war.

Vor der Wand zu seiner Rechten, auf dem glänzend weißen Hirschledersofa, das er eigens aus Prag hatte überführen lassen, saßen die Syrakuser, Fabrio schmollend, Lenka mit weinerlicher Miene. Bei ihrem Anblick begann seine Bauchdecke zu flattern, als ob ein ganzes Nest voll zischelnder Schlangen unterhalb seines Nabels hauste. Schlimm genug, dachte der Maître, dass Fabrios Gegenwart seine innere Ruhe so sehr zu untergraben vermochte. Doch auch Lenka machte ihm Sorgen, seit er sie vor vier Wochen in Hezilows Gewölbe aufgefunden hatte, einen Kummer allerdings, der ihn nicht annähernd so sehr berührte wie der Anblick von Fabrios Brombeermund.

»Nun, Helena«, fragte er in absichtlich strengem Ton, »ist dir endlich eingefallen, was dort unten geschehen ist?«

Sie presste die Lippen zusammen und schüttelte den Kopf, dass ihre Locken flogen.

»Dann bleibt ihr beide weiter auf diesem Sofa sitzen«, kommandierte d’Alembert, »bis Lenka sich wieder erinnert, warum ihr Mund mit Blut verschmiert war, als ich sie im Labor des Magisters fand.«

Zwei kohlschwarze Augenpaare glühten den Maître an. D’Alembert sah bedauernd auf Fabrios üppige Lippen, die noch immer zum Schmollmund vorgeschoben waren, dann riss er sich von dem zutiefst verwirrenden Anblick los. Sein Stöckchen in der Rechten wirbelnd, marschierte er an den Zwillingen vorbei bis zur Tür, wo er mit einer eleganten Drehung wendete, um abermals dem Fenster entgegenzueilen. Zurück zu Rudolf!

Ursprünglich hatte der Kaiser bereits am Freitag in Krumau eintreffen wollen, offenbar brannten auch Ihre Majestät darauf, sich mit eigenen Augen von Hezilows Goldmacherkünsten zu überzeugen. Doch gestern zu später Abendstunde hatte ein kaiserlicher Kurier am unteren Burgtor Einlass begehrt, mit einer dringenden Depesche von Katharina da Strada: Ihre allerherrlichste Herrlichkeit, so vermeldete die kaiserliche Mätresse, könnten sich erst am Samstag auf die Reise nach Krumau begeben. Denn nach der Voraussage des Prager Hofastrologen Tycho Brahe würden Ihre Majestät, falls sie bereits am Freitag die Kutsche bestiegen, auf dieser Reise elendig zerschellen.

Mit den Jahren hatte der kaiserliche Aberglaube immer groteskere Ausmaße angenommen, sagte sich d’Alembert. Rudolf wagte keinen Schritt mehr zu gehen, keinen Bissen zu essen und bald wohl auch keinen Atemzug mehr zu tun, ohne dass seine Sterndeuter und Scharlatane das Wagnis geprüft und gebilligt hatten.

Seit Tycho Brahe auch noch prophezeit hatte, der Löwe, der in seinem Käfig im Prager Hofgarten rastlos auf und ab trottete, werde wenige Wochen vor Rudolfs Dahinscheiden verenden, war die wunderliche Majestät dem magischen Mummenschanz vollends erlegen. Jeden Morgen führte der allererste Weg des Kaisers zum Löwenkäfig, wo der mächtigste Mann der Welt sich ängstlich davon überzeugte, dass die Bestie bei guter Gesundheit, ihr Fell glänzend, ihr Appetit unersättlich war. Dabei seien Rudolfs Beine, so die Stradovä weiter, seit einigen Monaten so sehr von der Gicht geschwollen, dass er an manchen Tagen nur unter fortwährendem Ächzen umherhumpeln könne.

Aber was heißt hier Scharlatan und Mummenschanz, berichtigte sich der Maître, indem er vor den Fenstern neuerlich wendete; wenn es Hezilow tatsächlich gelingt, unter den Augen des Kaisers einen ganzen Bottich voller Gold zu erzeugen, dann wird fortan nichts mehr sein, wie es einmal war. Weisheit, was unsereins für schamlose Schurkerei hielt, Wissenschaft, was uns wie auftrumpfender Aberglaube erschien, Wahrheit, was wir als Lug und Trug verdammten. Und die schönen Künste, die edelsten Leidenschaften des Menschengeschlechts? Ihrerseits bloß noch ärmliche Täuschung, kaum der albernsten Narren wert! Denn wer wollte sich fortan noch mit gemalten Schätzen und gemeißelten Figuren abgeben, wenn alchimistische Kunst wirkliches Gold und bald wohl auch lebendige Kreaturen zu erschaffen vermöchte?

Und wie sollte ich noch bezweifeln, dachte der Maître, dass der Magister auch den wundergläubigen Rudolf überzeugen wird, nachdem ich selbst mit eigenen Augen das Gold im Kupfertiegel glitzern sah?

Abermals marschierte er an den Zwillingen vorbei, die starr wie Puppen auf seinem Sofa saßen, die Arme vor der Brust verschränkt. Und doch sträubt sich mein Herz noch immer, sagte sich d’Alembert, meinen eigenen Augen zu trauen: Hat er wirklich Gold aus Plumbum transformiert, Glanz aus Dreck - er, Hezilow, der nichtswürdige Lumpenkerl, das Scheusal aus unseren Alpträumen? Oder hatte der Puppenmacher sie drunten in seinem Gewölbe allesamt verzaubert und ihnen ein Spukgold vorgegaukelt, während sein Tiegel tatsächlich nur Dreck enthielt? Nun, man wird sehen, man wird sehen, sagte sich der Maître, spätestens nächste Woche, wenn die kaiserlichen Alchimisten das angebliche Gold aus Hezilows Retorte prüfen werden.

Der Russe hatte sich zwar ausbedungen, dass kein weiterer Eingeweihter bei der Goldprobe zugegen sein dürfe - »die käjserliche Majestät und ihr herrlicher Sohn, et finito!« -, aber natürlich würden die Prager Alchimisten der rudolfinischen Akademie das vermeintliche Gold augenblicklich untersuchen, mit Säge und Waage, Feuer und Säuren, um den dreisten Nebenbuhler als Scharlatan zu demaskieren, wenn sich ihnen nur die kleinste Gelegenheit bot.

Und die Frage ist nun, dachte der Maître, sollte ich meinerseits auf Hezilow setzen - wie mein Geist mir einzuflüstern trachtet, seit ich das Gold im alchimistischen Tiegel erblickte - oder im Gegenteil trachten, den Puppenmacher des Betrugs zu überführen - wie mein Herz und meine Seele mir zuschreien, seit ich den Lumpenkerl zum ersten Mal sah?

Einzig diese Frage war von Belang, wie der Maître immer klarer erkannte, während er wiederum vor dem mittleren Fenster innehielt, die Hände auf dem Rücken verschränkt. Eine Frage, die kein Späher, auch keine Katharina da Strada für ihn beantworten konnte, eine Frage, die ihn innerlich zu zerreißen drohte und die doch kaum mehr Aufschub duldete. Falls Hezilow in fünf Tagen vor den Augen des Kaisers triumphierte - würde dann nicht er, Maître d’Alembert, unweigerlich auch seinen allerletzten Einfluss auf den Kaiserbastard verlieren? Und falls der Russe sich bei der so auftrumpfend angekündigten Goldprobe als Betrüger erwiese - hieße das nicht für Rudolf, dass er, Maître d’Alembert, unfähig war, seinen Sohn Julius vor verderblichem Einfluss zu bewahren?

Natürlich konnte er nicht dafür sorgen, dass sich in Hezilows Tiegel am kommenden Samstag tatsächlich Blei in Gold verwandelte - oder Dreck eben Dreck blieb, je nachdem. Aber mit Hilfe von Katharina da Strada konnte er durchaus Meinung und Geneigtheit der kaiserlichen Alchimisten beeinflussen, die anschließend prüfen würden, ob es sich bei der Substanz aus Hezilows Retorte um wahres Gold handelte oder bloß um funkelnden Tand.

Worauf also sollte er setzen - auf Hezilow den Erleuchteten oder auf den zerlumpten Scharlatan? Auf glanzvollen Sieg des Puppenmachers oder auf seinen schmählichen Untergang? Aber hatte er sich denn nicht schon Hunderte Male an der Vorstellung gekräftigt, dass Hezilow und er eine verwickelte Schachpartie spielten - der Russe mit den schwarzen, er selbst mit den weißen Spielfiguren? Wie also konnte er dann darauf hoffen, dass er selbst und sein Schützling Julius aus dem Sieg ihres schwarzen Gegenspielers irgendwelche Vorteile zögen?

Außerstande, eine Entscheidung zu treffen, die zumindest ihn selbst länger als für ein paar Augenblicke überzeugen könnte, wandte sich d’Alembert abermals um, in der Absicht, seinen Marsch durch den Salon wieder aufzunehmen.

Die beiden Syrakuser saßen noch immer regungslos auf dem Sofa, die Arme verschränkt, mit glühenden Augen jede seiner Bewegungen verfolgend.

Einer plötzlichen Eingebung gehorchend, trat d’Alembert zu ihnen, fasste Lenka beim Arm und zog sie hoch. »Geh«, sagte er, »und komm mir erst wieder unter die Augen, wenn du meine Frage beantworten willst.«

Er legte ihr seinen Arm um die Schultern, als wollte er sie an sich drücken, schob sie aber im Gegenteil von sich fort, auf die Tür zu. Auch Fabrio wollte aufspringen, doch d’Alembert bedeutete ihm mit einer Kopfbewegung, sitzen zu bleiben, wo er saß.

Schweigend sahen sie beide zu, wie Lenka mit gesenktem Köpfchen davontrottete, die Tür öffnete und hinter sich zuzog, ohne sich noch einmal nach d’Alembert oder ihrem Bruder umzusehen.

»Du warst mit ihr dort unten, Fabrio«, behauptete d’Alembert, indem er sich neben dem Syrakuser aufs Sofa sinken ließ. »Und du hast auch gesehen, was ihr dort geschehen ist.«

Fabrio sah ihn unverwandt an, wortlos, die Lippen vorgeschoben. D’Alembert musste sich konzentrieren, damit er sich nicht versehentlich zu ihm hinüberbeugte, wie es in seinen Träumen so häufig geschah.

»Wenn deiner Schwester Gewalt angetan wurde, von Hezilow oder seinen Lumpenkerlen«, fuhr er fort, »solltest du mir das jetzt sagen. Und zwar zu deinem eigenen Besten.«

Der Junge zog die tintenschwarzen Brauen ein wenig zusammen, gab aber noch immer keine Antwort, ja nicht einmal ein Zeichen, dass er dem Maître zugehört hatte.

»Wenn sie einen dicken Bauch bekommt«, fuhr der mit absichtlicher Grobheit fort, »werden alle glauben, dass du deiner Schwester aufgehockt hast. Und dann werden Johanna von Waldstein und ihre heiligen Frauen veranlassen, dass Lenka und du in Waisenhäusern verschwindet. Sie wird euch trennen, Fabrio« - »uns trennen«, hätte er beinahe gesagt - »und ich kann dann nichts mehr für euch tun.«

Fabrio sog scharf den Atem ein, sein Gesicht verzerrte sich vor Angst. Im nächsten Moment flog er Charles an den Hals. »Nicht trennen«, flüsterte er, »bitte, bitte nicht!«

Wie versteinert saß der Maître da. Den Gegenstand seiner zehrendsten Träume in den Armen, wagte er nicht, auch nur einen Finger zu bewegen, aus Angst, dass Fabrio sich als bloßer Spuk erweisen würde oder, im Gegenteil, als allzu leibeswarme Wirklichkeit. »Nicht, wenn ich es verhindern kann«, gelang es ihm zu erwidern, »aber dafür müsst ihr mir endlich die Wahrheit sagen.«

»Die Lenka hat’n Balg im Bauch, sie sagt, sie spürt’s genau.« Mit kindlicher Zutraulichkeit drängte sich der Knabe noch enger an ihn, beide Arme um Charles’ Hals schlingend. »Nachts wacht sie immer plärrend auf - dann hat ihr geträumt, dass’n Teufelchen aus ihrer Fotz gekrochen käm.«

Er machte Anstalten, d’Alemberts Schoß zu erklimmen, schon begann sich ein bronzefarbener Schenkel auf die weiß bestrumpften Beine des Maître zu schieben; aber d’Alembert riss sich mit letzter Kraft aus seiner Versteinerung heraus und schob den Knaben von sich.

»Das ist abergläubischer Unfug«, sagte er mit rauer Stimme und hoffte, dass seine Worte einigermaßen überzeugend klangen. »Aber diese Träume kommen offenbar daher, dass Lenka Gewalt angetan wurde, wie ich es befürchtet hatte - von Hezilow selbst oder seinen Kerlen?«

Fabrio war wieder in seine frühere Schweigsamkeit zurückgefallen. Die Arme vor der Brust verschränkt, die Lippen zum Schmollmund vorgeschoben, saß er neben d’Alembert und sah aus kohleschwarzen Augen an ihm vorbei.

Sollte er Fabrio nochmals mit der Drohung bedrängen, dass er von Lenka getrennt werden könnte? Sicherlich wäre es das Klügste, dachte Charles, doch er bezweifelte, dass seine berühmte Selbstbeherrschung abermals standhielte, wenn der Knabe sich ihm wieder an den Hals werfen würde. Dabei könnte es die Lösung ihrer drängendsten Probleme bedeuten: Wenn Fabrio ihm bestätigte, dass der Puppenmacher der kleinen Lenka Gewalt angetan hatte, dann hätte er endlich etwas in der Hand gegen den Russen. Denn Julius liebte die Zwillinge aufrichtig, und mit etwas Glück und Geschick ließe sich sein berüchtigter Jähzorn so steuern, dass er den Magister für immer von sich stieße.

Noch während d’Alembert hin und her überlegte, klopfte es an der Tür.

»Wer da?«

»Verzeiht die Störung, Maître d’Alembert« ; die Stimme Pavels, seines ältlichen Sekretärs. »Madame Markéta wünscht Euch zu sprechen - dringend, wie sie sagt.«

»Führe Madame in den kleinen Salon, ich komme sofort.« Erleichtert, dass äußere Umstände ihn vom Zwang augenblicklicher Entscheidung befreiten, erhob sich der Maître, nickte Fabrio zu und eilte zur Tür, sein Stöckchen in der rechten Hand wirbelnd.

50

»Die heiße Quelle in dem kleinen Waldstück vorm Budweiser Tor. Begreift Ihr denn nicht, was das heißt, Maître d’Alembert?«

»Ein Unglücksfall, sollte man annehmen, Madame.« D’Alembert verbot sich, am Türstock Halt zu suchen, und setzte ein gelassenes Lächeln auf. »Natürlich wird die Affäre gewissenhaft untersucht werden.«

»Ein Unglück? So soll es aussehen, allerdings, Monsieur!«, ereiferte sich die Baderstochter. »Sie haben die Leich' dort hingeschleppt und in den heißen Quell geworfen, damit jeder denken soll, dass Nico im siedenden Wasser umgekommen wär.«

»Wen bei allen Göttern meint Ihr mit >sie<, chère madame?«

Markéta sah ihn aus funkelnd grünen Augen an. »Na, die Lumpenkerle - Jurij Hezilow!«

Er erwiderte ihren Blick mit einer Miene nachsichtigen Spotts, dabei war er so bestürzt, dass sich sein Magen verkrampfte. »Dass Ihr den Magister verabscheut, ist hinlänglich bekannt, Madame, aber welches Interesse sollte er an Eurem falschen Homunkel hegen?«

»Das weiß ich auch nicht.« Sichtlich widerstrebend hob sie die Schultern und ließ sie wieder fallen. »Noch nicht! Aber ich schwör Euch ...«

Charles hob seinen Stock, eine eher flehende als gebieterische Gebärde. »Bitte keine Schwüre vor Sonnenuntergang!« Er bot ihr seinen Arm, und zusammen schritten sie zu den weißen Samtfauteuils, die seinen kleinen Salon dominierten. »Nehmen wir erst einmal Platz«, schlug er vor, »wenn auch nur für einen Moment. Gleich muss ich nach unten: Der Bär kommt.«

Flüchtig lächelten sie einander zu. In den vier Wochen seit Eurem Erscheinen auf Burg Krumau habe ich Euch durchaus schätzen gelernt, Madame, dachte der Maître, aber bei dieser Affäre kann ich Euch nicht zur Seite stehen.

Zögernd setzte sie sich ihm gegenüber in den Sessel. »Warum sollte Nico mit seinem verletzten Bein die Stadt verlassen und dort draußen in die siedende Quelle fallen?«, fragte sie. »Jedes Kind in Krumau weiß, wie gefährlich diese Wasserstellen sind.«

»Gestattet mir eine Gegenfrage, Madame: Was hat Euch denn überhaupt zur Morgenstunde dort hinausgezogen, in den Wald vor den Toren der Stadt?«

Sie beugte sich ein wenig vor und sah ihn eindringlich an. »Der Nabellose. Er wollte hinab zur Moldau, an den Ort, wo die Büttel ihn vor Wochen aufgegriffen haben, und vom Fluss aus zog es ihn immer weiter in den Wald.«

»Und an der heißen Quelle fandet Ihr und Flor dann den Flößersohn?«

Markéta nickte, die Augen zu Schlitzen verengt. Es war ein schrecklicher Anblick, berichtete sie, und ihre Stimme klang auf einmal brüchig. Zuerst hatte sie Nico überhaupt nicht erkannt; durch den Wasserdampf, der von der Quelle aufstieg, hatte sie nur einen Schemen wahrgenommen, die Umrisse eines Menschen, der sich verzweifelt bemühte, aus dem Felsloch voll kochenden Wassers zu klettern. Flor hatte sich an sie geklammert und zu schreien begonnen, erst nach einigen Augenblicken, als sie den Nabellosen ein wenig beruhigt hatte, konnte sie ihn über die kleine Lichtung bis zur Quelle ziehen. Am Rand des Felslochs ging sie in die Knie und wollte schon die rettende Hand ausstrecken, als sie mit einem Mal zweierlei bemerkte: Der Mensch in der heißen Quelle war Nico, und er war über und über blutig rot, sein Gesicht, Schultern und Arme, sein ganzer Körper, soweit er im Wasserdampf zu erkennen war. Seine Ellbogen waren auf den Felsrand der Quelle gestemmt, als ob er bis zuletzt versucht hätte, sich aus dem tödlichen Schlund zu ziehen, sein Kopf war zur Seite gesunken und auf einen Arm gebettet, als ob er schliefe. Aber er war tot, berichtete Markéta mit gepresster Stimme, der Leichnam verbrüht und aufgedunsen, die Haut am ganzen Leib wellig und wundrot.

»Er trug keinen Fetzen am Leib«, sagte sie endlich, »und auf der Lichtung war von seinen Kleidern keine Spur zu sehen. Und das Entsetzen in seinem Gesicht, Monsieur ...« Sie verstummte und sah an d’Alembert vorbei, dann schloss sie mit festerer Stimme: »Was immer Eure Untersuchung ergeben wird, Maître: Ich bin überzeugt davon, dass Nicodemus Kudaçek nicht da unten im Wald umgekommen ist, durch einen versehentlichen Sturz in die Quelle, sondern hier oben, in Hezilows Labor.«

Ich bewundere Eure Klugheit und Euren Mut, Madame, dachte d’Alembert, schlug ein Bein übers andere und wippte zierlich mit seinem Schnabel schuh. »Die Wahrheit ist wie ein starkes Gewürz«, deklamierte er. »Es liegt an uns selbst, ob wir die Speisen unseres Lebens verfeinern oder verwürzen.«

Ihr Gesicht wurde finster. »Ihr zieht also die schmackhafte Lüge vor, wenn ich recht versteh?«

»Eine anfechtbare    Auslegung, chère madame. Ein unbeteiligter Zuhörer könnte die Sentenz auch auf Euch beziehen.«

»Auf mich?«, echote Markéta und sah ihn mit so aufrichtiger Ratlosigkeit an, dass der Maître beinahe aufgelacht hätte, ein bitteres Lachen, günstigstenfalls.

»On verra, madame«, sagte er. »Ihr wart doch wohl so umsichtig, Euren Verdacht für Euch zu behalten?«

Wieder funkelte sie ihn an. »Ich hab die Büttel gerufen, damit sie den Leichnam aus dem Wasser ziehn«, sagte sie. »Aber ich wollt mich als Erstes mit Euch besprechen, Monsieur, weil ich annahm, dass auch Ihr ...« Unvermittelt brach sie ab, ihr Blick wurde unstet.

Weil Ihr annahmt, dass auch ich Hezilow zu vernichten versuche, dachte der Maître, wolltet Ihr das andeuten, Madame? Im Grunde hatte sie auch damit vollkommen Recht, nur in diesem speziellen Fall lagen die Dinge eben ein wenig anders. »Das war sehr weise von Euch«, sagte er. »Fünf Tage vor dem Besuch des Kaisers kann und darf es hier in Krumau keine Mordaffäre geben, allenfalls einen bedauerlichen Unglücksfall. Danach aber ...« Er ließ sein Stöckchen durch die Luft wirbeln. »Dann werden wir den Dingen energisch auf den Grund gehen, Madame, das verspreche ich Euch.«

Markétas Blick ging noch immer an ihm vorbei, doch ihr Gesichtsausdruck hatte sich gänzlich verändert. »Am Samstag«, sagte sie in hoffnungsvollem Ton, »wenn die väterliche Majestät uns besucht, könnt Julius ihm ja seine künftige Gemahlin vorstellen.«

Das hat mir gerade noch gefehlt, dachte d’Alembert. »Ein recht hübscher Plan«, lobte er, »den Ihr nur vorderhand nicht weiterverfolgen solltet.« Er lächelte sie voll ehrlicher Zuneigung an. »Ich bitte Euch, Madame, Ihr glaubt doch nicht ernsthaft, dass Johanna von Waldstein sich so einfach aus dem Feld schlagen ließe?«

»Johanna?« Markéta schob das Kinn vor. »Bisher hab ich keine Haarspitze von der Holden zu sehen bekommen. Bronja und Lisetta sagen, dass sie von morgens bis abends mit ihren heiligen Weibern in der Damenkapelle hockt - bei Gesang und Gebeten. Aber was schert das Julius und mich? Wir lieben uns, Monsieur, und wenn der Kaiser das erkennt, wird er unsrer Vermählung .«

Da hob d’Alembert abermals sein Stöckchen empor und schnitt Markéta mit einer sägenden Bewegung das Wort ab. »Hört mich an, Madame, und dann entscheidet.« Über die finanziellen Verpflichtungen, die Rudolf II. gegenüber dem Hause von Waldstein eingegangen war, würde er gewiss kein Wort verlieren, beschloss der Maître; schon bei dem bloßen Gedanken an die kaiserlichen Pfandbriefe, die sich angeblich in Baron von Waldsteins mährischem Schloss stapelten, befiel ihn leiser Schwindel. Aber auch abseits dieses heiklen Punktes ließen sich hundert unwiderlegbare Gründe anführen, die gegen einen überstürzten Damentausch in dieser Schachpartie des Herzens sprachen.

»Ihr haltet den Kaiser für den gewaltigsten Herrn der Welt«, sagte er, »fast jeder macht diesen Fehler, zuweilen sogar ich. In gewisser Weise ist der Kaiser tatsächlich ein mächtiger Mann, zugleich aber von so vielen Kräften abhängig, so vielen Einflüssen unterworfen, dass Ihr weinen würdet vor Mitleid, wenn ich Euch all diese hemmenden Kräfte nennen, ihre kleinlichen, boshaften, eigensüchtigen Beweggründe aufschlüsseln würde. Aber dafür fehlt mir - glücklicherweise -die Zeit.« D’Alembert sprach nun rasch und konzentriert, in seinem Sessel vorgebeugt, an unvorhersehbaren Stellen seiner Rede mit dem Stöckchen auf Markéta deutend. »Also nur so viel, Madame: Wie Ihr vielleicht wisst, vielleicht aber auch nicht - erstaunlich viele Persönlichkeiten, auch aus den hohen und höchsten Ständen, haben den Überblick in politischen Dingen längst verloren; jedenfalls und kurz gesagt: Unter den sieben Kurfürsten des Heiligen Römischen Reichs deutscher Nation ist Rudolf als König von Böhmen zwar sicher der enormste Potentat, aber doch auch nur einer dieser sieben hochgemuten Herren. Hält der Kaiser die alleinige Regierungsgewalt in Händen, oder üben die Kurfürsten von Rechts wegen eine Nebenregierung aus? Um diese Frage wird gerungen, nicht erst seit Rudolf die Ottonenkrone auf dem Haupt trägt, sondern schon unter seinem Vater Maximilian und bereits vor dieser Zeit, als der ehrwürdige Kaiser Karl V. auf dem Reichsthron saß. Und dann erst der Reichstag, Madame! Habt Ihr jemals gewagt, dieser buntscheckigen, traditionell zerstrittenen, nach geheimnisvollen Grundsätzen hierarchisch gegliederten Vertretung der sieben Dutzend Stände Eure Aufmerksamkeit zu schenken? Ihr schüttelt den Kopf? Nun, das war klug von Euch, Markéta, denn manch einem hat dieser hochwohllöbliche Reichstag schon den Schlaf geraubt und, mehr noch, den Verstand dazu, und zwar vorzüglich jenen Kurfürsten, die sich die Kaiserkrone aufsetzen ließen.«

Markéta blickte nun recht betreten drein, doch der Maître war mit seinem Sermon noch lange nicht am Ende. »Aber Ihr wendet ein, dass dem Kaiser mit dem Reichskammergericht und dem Reichshofrat doch mächtige Instrumente zur Verfügung stünden, um seinen Willen durchzusetzen? Nun, Madame, dann könnt Ihr mir vielleicht erklären, nach welchen mysteriösen Grundsätzen und Regeln die Ratsmitglieder des Kammergerichts gewählt werden? Ich jedenfalls vermag diese Regeln nicht zu durchschauen!« Er deutete auf sein Gegenüber. »Die Mitglieder des Hofrats, da gebe ich Euch Recht, kann Seine Kaiserliche Majestät schlichtweg selbst ernennen, was die Dinge allerdings nur dem äußersten Anschein nach vereinfacht. Denn hier wirkt sich wiederum aus, dass Seine allerherrlichste Herrlichkeit eben nicht nur zum Kaiser des Reichs, sondern zugleich zum König des mächtigen Böhmen gekrönt worden ist, zu schweigen übrigens von Ungarn und Kroatien, über die Rudolf gleichfalls herrscht. Wundert es Euch da, wenn die Reichshofräte argwöhnen, dass er zwar stets als Kaiser befiehlt, aber keineswegs immer die Interessen des ganzen Reichs im Auge hat, sondern vor allem die seiner eigenen Königreiche?«

Wieder deutete er auf sie, und zu seiner Überraschung ergriff Markéta das Wort.

»Ich weiß zwar nicht recht, cher maître«, sagte sie, »warum Ihr mir diese Lektion in Reichsalchemie erteilt, und wie fast immer, wenn Ihr mit mir redet, hab ich den Eindruck, dass Ihr Euch zumindest ein bisschen über mich lustig macht. Aber das verschlägt wenig, das nehm ich in Kauf, Monsieur. Zumal es mir vorkommt, als ob ich mit Euren heutigen Belehrungen tatsächlich was anfangen könnte, als ob der Kaiser - und auch sein Sohn, Don Julius - mir jetzt klarer vor Augen stünden. Weil ich nämlich durch Euch den Boden besser seh, auf dem sie sich bewegen müssen, vorsichtig, tastend, um nicht einzubrechen.«

»Ihr beschämt mich, Madame.« Nun war es an d’Alembert, für einen Moment den Blick zu senken, doch gleich ging er wieder in die Offensive: »Ihr seid doch eine brave Katholikin? Ah, Ihr zieht es vor, zu dieser Frage zu schweigen? Meine Bewunderung steigt ins Grenzenlose. Ich komme jetzt nämlich zu jenen Kräften, die den mächtigsten Mann der Welt am ärgsten behindern und einschränken, oder um mit Eurer Metapher zu sprechen: zu den Stellen im Boden, wo er am übelsten einzubrechen droht.

Die Kaiserliche Majestät nämlich«, fuhr er nach einer Kunstpause fort, »ist durchaus Katholik, wie Ihr natürlich wisst, Katholik von Amts und Dynastie wegen, wenn auch keineswegs kraft eigener Entscheidung. Als katholische Majestät steht Rudolf aber in unserem heutigen Reich, und gar hier im hussitischen Böhmen, einer kleinen Minderheit vor, während die anderen, die Reformierten sämtlicher Schattierungen, die Hussiten, Calvinisten, Adamiten, Lutheraner und wie sie sich alle nennen mögen, hierzulande längst die Stärkeren sind, keineswegs nur der Kopfzahl nach. Und nun stellt Euch aber vor, wie viele Vertreter nichtkatholischer Stände dem Kaiser auf dem Reichstag entgegentreten! Die Städte und Grafschaften des Nordens und der Mitte des Reichs, die bürgerlichen Republiken, Festungen und Handelszentren bis hinab zu den Reichsstädtlein und Reichsrittern: Sie alle verfechten ihre Eigeninteressen, und sie alle haben tausend gute Gründe, der obersten Majestät umso argwöhnischer entgegenzutreten, je genauer sie es mit ihren Kaiserpflichten nimmt.«

D’Alembert fühlte sich auf einmal müde, so als ob er die ganzen drückenden Kaiserpflichten persönlich schultern müsste. Ein geringes Maß dieser Lasten, dachte er, schleppe allerdings seit Jahr und Tag auch ich für die väterliche Majestät. »Ohne Zustimmung der Stände«, sagte er, »kann der Kaiser keinen einzigen Gulden ausgeben, keinen Soldaten in die Schlacht schicken, keine Feldschlangen und keine Musketen kaufen. Und all das wird er überreichlich brauchen, er oder sein Nachfolger, in wenigen Jahren schon, vielleicht denkt Ihr eines Tages an meine Worte: Der Streit um die Religion wird das Reich über kurz oder lang in Stücke reißen, was die Leute auch munkeln mögen. Da sollte man meinen, dass es völlig gleich wäre, ob sie zu einem bärtigen oder glatthäutigen Gott beten, mit oder ohne Mater Maria, ob sie anerkennen, dass der Thron ihres Schöpfers von Heiligen umlagert wird oder bloß von Engeln umflattert -gleichgültig, sage ich, weil das alles doch nur tröstliche Lügenmärchen sind. Und davon, urteilt selbst, aufrichtig geschätzte Madame Markéta, kann die Menschheit auf ihrer einsamen Reise durch einen toten, durch und durch gleichgültigen Kosmos doch gar nicht genug im Gepäck haben: von tröstlichen Lügenmärchen! - Aber nun genug, Madame, ich sehe, dass das Gespräch Euch zu verwirren beginnt, und außerdem muss ich, wie gesagt, zum Burgtor hinunter: Der Bär kommt.«

Er machte Anstalten sich zu erheben. »Verzeiht mir, wenn ich Euch ermüdet haben sollte mit meiner Reichsalchemie, wie Ihr es so vortrefflich nanntet. Stellt Euch einfach vor, diese Burg wäre das Reich - mit der brodelnden Unterwelt im Keller, den ständig unzufriedenen Bauern, Handwerkern und Lakaien im Erdgeschoss und dem naschsüchtigen, schwatzhaften, intriganten Künstler- und Höflingsvölkchen in den Etagen darüber. Gesetzt, Ihr wäret die Herrscherin über ein solches Reich, Markéta: Würdet Ihr unbekümmert Entscheidungen treffen, die den Zorn der Bewohner aller Etagen auf Euch lenken müssten, oder würdet Ihr solche Veränderungen vermeiden, wie der Teufel vor dem Weihwasserwedel davonwetzt?«

Markéta schloss für einen Moment die Augen. »Aber wenn der Kaiser«, sagte sie endlich, hob die Lider und sah ihn durchdringend an, »wenn Rudolf seinen eigenen Sohn mit einer Adligen aus ehrenwertem ungarisch-siebenbürgischen Haus vermählt: Wen bei allen Heiligen sollte das empören?«

»Beispielsweise die Adelshäuser des halben Abendlandes?«, schlug d’Alembert vor. »Oder sollte Eurer Aufmerksamkeit entgangen sein, Madame, dass der Kaiser nahe daran war, seinen natürlichen Sohn auf einen mährischen Bauernhof zu verbannen, nachdem in Don Julius’ Schlafgemach eine erschlagene Hurenmaid gefunden wurde - und er selbst von Kopf bis Fuß mit ihrem Blut besudelt war? Dass seinem Bastardsohn die ehrenwerte Krumauer Grafschaft zugeschlagen wurde, haben die Edlen Europas und die Bürger Böhmens übel genug vermerkt. Und da meint Ihr, wir sollten gerade jetzt neues Öl in die Wogen gießen - durch Bruch seiner Verlobung mit der hochwohlgeborenen Johanna und Vermählung mit einer jungen Dame von nicht annähernd ebenbürtiger Herkunft?«

Sie zuckte zusammen und warf ihm einen verworrenen Blick zu, gemischt aus Zweifel und Zorn. »Habt nicht Ihr selbst mir versichert«, fragte sie zurück, »dass meine Abkunft aus dem Haus der Ludanice unzweifelhaft sei? Und war eine da Ludanice nicht edelblütig genug, um dem Bruder des hochwohlgeborenen Wilhelm von Rosenberg vermählt zu werden?«

D’Alembert begnügte sich damit, seine strichdünnen Augenbrauen zu heben, die er sich an jedem zweiten Samstag im Dampfbad sorgsam beschneiden ließ.

»Außerdem wisst Ihr so gut wie ich, dass Don Julius dieses Mariandl nicht umgebracht hat - er hat das Herz eines Kindes, Monsieur!«

Und die Kraft eines Stiers in seinen Armen, dachte d’Alembert, und jenen Dämon in seiner Seele, der in mondhellen Nächten zuweilen wispert: Schlachte sie! Aber von alledem sagte er nichts, sondern betrachtete nur angelegentlich sein Stöckchen, dessen Lacküberzug an einigen Stellen stumpf zu werden begann.

»Es mag ja sein, Monsieur«, fuhr Markéta fort, »dass Ihr Euch die Baderstochter Markéta Pichlerovâ zurückwünscht, weil Ihr die leichter dirigieren konntet - wenn auch nicht auf jene Weise, wie Ihr’s Eure Bühnenkünstler damals dreist behaupten ließet. Aber vor Euch steht nun Markéta da Ludanice, und falls Ihr insgeheim hoffen solltet, dass Ihr mich bei Bedarf aus der Burg hinauswerfen könntet, wie es meiner armen Mutter geschehn ist, so lasst Euch versichern: Das wird Euch nicht glücken, Monsieur.«

D’Alembert strahlte sie an, sein Stöckchen in der Luft wirbelnd.

»Nichts läge mir ferner, als solches auch nur zu erwägen, Madame. Eure Liebe wirkt auf Julius wie ein Balsam. Euch zu verlieren wäre das Schrecklichste, was ihm widerfahren könnte.«

Abgesehen von seinen törichten Hoffnungen aufs väterliche Zepter, dachte der Maître und bot der Mätresse des Kaiserbastards lächelnd seinen Arm.

51

Seite an Seite schritten d’Alembert und Markéta den dämmrigen Gang voll Rosenberger Ahnenbilder entlang und die breite Treppe hinab auf den Hof.

Wahrscheinlich wäret auch Ihr behutsamer, Madame, dachte d’Alembert, wenn Ihr wüsstet, dass Euer Geliebter schon einmal eine ganze Hirschkuh, mitsamt Fell und Eingeweiden, in einem Bottich gekocht hat, weil er nämlich annahm, dass sich so die Haut säuberlich vom Leib lösen ließe. Verrückt, meint Ihr? In der Tat, Madame, ich verehre Euren Scharfsinn, dachte der Maître, während sie über den sonnigen Burghof schritten, wo da Biondo, Gabriele und einige andere Maler wilde Kohlestriche auf ihre Skizzenblätter warfen. Ein halbes Dutzend junger Leute lief auf den Händen im Hof herum, schlug Räder oder Purzelbäume, am ganzen Körper mit gelben und schwarzen Strichen und Tupfern wie Tigerkatzen bemalt.

Das findet Ihr wohl auch närrisch, Madame? Tollhäuslerisch und verderbt? Der Maître warf Markéta einen raschen Seitenblick zu. Aber bedenkt Ihr bei Eurem Urteil auch, dass diese Künstler den einzigen wirklich verehrungswürdigen Gottheiten dienen: der galanten Schönheit und der geistreichen Illusion? Wenn es schon keinen Himmel gibt, Madame, keine Seligkeit und keinen Gottvater droben im Wolkenschloss, kommt es dann nicht letzten Endes nur darauf noch an: dass wir unseren Stil verfeinern und einander nicht in grobem Ernst, wie die Bestien in den Wäldern, an die Hälse gehen?

So monologisierte der Maître im Stillen, dabei Arm in Arm mit Markéta durch die Burghöfe wandelnd, bis sie endlich das tintenschwarze Durchhaus hinter sich ließen und ihnen ein bestialischer Gestank entgegenbrach.

»Der Bär«, sagte d’Alembert und rümpfte die Nase.

Unwillkürlich verlangsamte er seinen Schritt, aber Markéta zog ihn weiter, den Hof hinab.

Tatsächlich war das untere Burgtor schon weit geöffnet, eine Menschenmenge hatte sich dort versammelt, und von den Ställen her, aus dem Backhaus, der Butterei und dem Schlachthaus liefen weitere Knechte und Mägde auf den Hungerturm zu, der schlank und bunt in den blauen Mittagshimmel ragte.

Trommelschläge ertönten, so dumpf und gemächlich, dass man bei ihrem Klang schon das behäbige Trotten eines Bären vor sich sah. Nun bildeten die Leute unten am Tor eine Gasse, und Augenblicke später trat ein Hüne mit feuerroter Mähne und ebensolchem Bart hindurch, einen gewaltigen Braunbären am Seil hinter sich herziehend. Zum Abschluss der kleinen Prozession folgte ein halbwüchsiger Knabe, gleichfalls mit feuerrotem Haar, der rhythmisch auf seine umgehängte Trommel schlug.

»Sie sollten ihn gleich nach unten in den Graben bringen«, murrte der Maître, »die Bestie verpestet uns noch die ganze Burg.«

»Ah, Don Julius! - Ihr gestattet doch, Monsieur?« Und die Baderstochter entzog ihm ihren Arm, schlängelte sich geschickt durch die Menschenmenge und stand im nächsten Moment neben dem Grafen.

D’Alembert zögerte, es ihr gleichzutun, das Gedränge und Gejohle, der Gestank und die pulsierenden Trommelklänge stießen ihn ab. Nahe der Grabenmauer entdeckte er einen schwarzen Kasten und stellte sich darauf, um besser zu sehen, was vorn am Tor geschah.

Soeben nahm Julius dem feuerköpfigen Riesen das Bärenseil aus der Hand. »Hoppla, du Fleischberg«, rief er, »tanz schon -ich befehl’s!«

Sein Gesicht strahlte, doch es war eine trügerische Heiterkeit -selbst aus einer Entfernung von zwanzig Schritten meinte d’Alembert wieder jenes unheilvolle, allzu vertraute Funkeln in Julius’ Augen zu sehen.

Der junge Graf überragte die Menge der Diener und Handwerker, der Edlen und Gardisten fast um Haupteslänge, nur der feuerköpfige Bärenfänger war noch höher gewachsen und breitschultriger als er.

»Willst du wohl springen!«, rief Julius und zerrte am Seil, dass der Eisenring in der Nase des Bären emporflog und die urtümliche Kreatur mit in die Höhe riss. »Hossa, so ist’s recht!« Julius jauchzte, und die Menge johlte mit ihm. »Spring schon, du Fleischsack!« Er riss am Seil, dass sich der Bär taumelnd auf seine Hinterbeine aufrichtete und mit den Vorderpratzen um sich hieb.

Auch die Künstler und Schranzen waren unterdessen in hellen Scharen von der oberen Burg herangesegelt. D’Alembert unterschied den Maler mit den zitronengelben Schnabelschuhen und das Rudel splitternackter Poseure in ihrer Tigermaskerade, die weiterhin Purzelbäume in der Menge schlugen oder auf den Händen im Kreis liefen.

Die Nase des Bären war grotesk geschwollen, und an den Stellen, wo sich der Ring am Fleisch rieb, bemerkte der Maître nun eitrige Geschwüre. Auf den Hinterbeinen torkelnd, versuchte die Bestie immer wieder, sich mit plumpen Pratzen den Ring von der Nase zu schlagen oder ihrem Peiniger das Seil zu entreißen, aber all ihre Hiebe gingen unter dem Johlen der Menge ins Leere.

»Hossa, Monstrum, hüpf!«, schrie Don Julius, und die Trommel dröhnte um die Wette mit dem Brummen des Bären und dem Kreischen des Publikums.

Die getigerten Nackten stelzten und kreiselten durch die Menge, und nun liefen auch Lakaien umher, Tabletts und Körbe in den Händen, um die Edlen unter den Gaffern mit Wein und Naschwerk zu versorgen.

D’Alembert reckte den Hals und sah, dass sich Markéta bei ihrem Julius eingehängt hatte; ihre Miene wirkte angespannt, ganz im Gegensatz zu dem strahlend jungen Hünen an ihrer Seite. Sie beide hielten Weinbecher in den Händen, Julius zusätzlich zu dem Seil, an dem er immer wieder heftig zog, um den Bären zu torkelndem Tanz zu zwingen.

Auf einmal sprang der Schellennarr in seinen tomatenroten Hosen, auf dem Kopf die Narrenkappe, die wie eine ganze Aussegnungskapelle klingelte, in den freien Raum vor dem zottigen Vieh. Geschickt ahmte er das Taumeln der Bestie nach und brachte sich unter dem Raunen des Publikums eben noch in Sicherheit, ehe die Riesenpranke ihn zerschmettern konnte. Laute Zurufe, Händeklatschen und Gelächter belohnten ihn für die waghalsige Tat.

Jemand rief: »Wo sind die Tiger?«

Die Frage wurde mit heller Begeisterung aufgenommen. »Her mit den Kätzchen!«, hörte der Maître. »Sie sollen gegen den Bären kämpfen!«

Und mit einem Mal, buchstäblich von einem Moment zum anderen, verwandelte sich die Menge in eine einzige ungeheure Bestie, die aus hundert Mäulern nur noch einen Schlachtruf schrie: »Die Kätzchen - kämpfen! Die Kätzchen - kämpfen!«

D’Alembert hatte eine solche Verwandlung schon einmal miterlebt, bei einer Bauernrevolte vor zwanzig Jahren, als ein halbes Hundert plumper Männer, nur mit Forken und Flegeln gewappnet, sich unter trunkenen Gesängen einer Übermacht schwer bewaffneter Wehrknechte entgegenwarf. War es erst einmal so weit gekommen, dass die Bestien in den Menschen die Oberhand gewonnen hatten, dann konnte selbst der beste Bändiger sie nicht mehr seinem Willen unterwerfen - zumindest nicht in diesem Moment archaischer Ekstase, in dem alle Körper, Seelen und Herzen zu einem einzigen, ungeschlachten Leib verschmolzen schienen.

Auf dem schwarzen Kasten balancierend, den irgendwer hier an der Mauer abgestellt hatte, begnügte sich der Maître damit, still zu beobachten, wie die Dinge sich entwickelten, doch er fürchtete das Ärgste, denn die Szenerie enthielt alle benötigten Zutaten für einen bestialischen Tumult.

Die »Kätzchen« unternahmen einen schwachen Versuch, ihr aufgemaltes Fell und alles Darunterliegende zu retten, aber die Menge packte sie mit drei Dutzend mitleidlosen Händen und stieß sie nach vorn. »Kämpfen, kämpfen!«, kreischte es weiter aus hundert Mäulern, während zwei der Getigerten, Junge und Mädchen, von der Menge ausgespien wurden und auf den freien Platz vor dem Bären taumelten.

Für einen Moment lähmenden Entsetzens glaubte d’Alembert, dass es Fabrio und Lenka wären, dann erst erkannte er die Gesichter hinter den Tigermasken. Der Maler Gabriele hatte die beiden unlängst mitgebracht - Piero und Clarissa, wenn er sich recht erinnerte -, Zwillinge angeblich auch sie, wie es die allerneueste Mode befahl.

Die Menge stöhnte auf, und der Schlachtruf verdorrte auf hundert Lippenpaaren, als das Mädchen direkt vor dem Bären zu Boden fiel. Mit seinen winzigen Augen stierte das Tier ins Weite, als ob es sich fragte, wie nun weiter zu verfahren sei. Dann senkte es unvermittelt den Kopf und starrte auf Clarissa hinab, die mit einer Miene leeren Entsetzens zu ihm emporsah.

Der Sohn des Bärenfängers hatte die Hand mit dem Schlegel sinken lassen. Einen endlosen Augenblick lang war nichts als das Wimmern des nackten Mädchens zu hören, das in seiner lachhaften Tigermaskerade vor dem Bären lag und seine Todesangst aus sich herausfiepte. Dann sackte die Bestie nach vorn.

D’Alembert, der zu diesem Zeitpunkt seine Augen längst geschlossen hatte, vernahm einen zähen Schmatzlaut, während seine Einbildungskraft ihm mit unerbittlicher Genauigkeit vormalte, wie die Überreste des Mädchenkörpers unter den Vorderpratzen hervorquollen, ein Frikassee aus Knochensplittern, Fleisch und Blut.

»Bekennet Eure Sünden - büßet und schwöret dem Frevel ab -preiset den Namen des He-he-herrn!«

Für einen kurzen Moment fürchtete der Maître, dass er tatsächlich das Bewusstsein verloren haben könnte. Aber er stand noch immer auf dem Holzkasten neben der Grabenmauer, und das Dutzend jubilierender Nonnen, das vom Spital her über den Burghof wandelte - die knöchellangen schwarzen Kutten, die ihren Bewegungen etwas Schwebendes verliehen; die strengen Gesichter, umschlossen von strahlend weißen Hauben; die gleichförmig sich öffnenden und schließenden Münder, aus denen heller Gesang brach; die Weihrauchwedel, die sie rhythmisch über der Menge schwenkten; die Glöckchen, die sie bei jedem »He-he-herrn!« wie rasend erklingen ließen -, all das wirkte zwar närrisch wie die Szenen mancher Träume, gehörte aber zweifellos der Wirklichkeit dieses Junitages an. Zumal d’Alembert einige Schritte hinter den singenden Nonnen nun auch noch eine durch und durch weltliche Gestalt erblickte, mit glänzender Glatze und puterrotem Antlitz, das wie ein Lampion über dem eng anliegenden schwarzen Gewand nach spanischer Mode schaukelte. Was aber hatte Kasimir von Rosert mit Johannas frommen Weibern zu schaffen?

»Bekennet Eure Sünden, büßet und schwöret dem Frevel ab, preiset den Namen des He-he-herrn!«

Während der Maître den zwölf heiligen Frauen und dem Medikus entgegensah, ängstlich bemüht, die zermalmte Clarissa aus seinem Blickfeld und seinen Gedanken zu verbannen, krachte eine Salve von Gewehrschüssen in sein Gehör. Er fuhr herum, verlor nun ernstlich die Balance, stolperte von seinem hölzernen Podest und ging im selben Moment zu Boden wie der Braunbär unten am Tor.

Im Fallen sah d’Alembert eben noch, wie Julius einem Gardisten seine rauchende Flinte zurückgab, dann musste er tatsächlich für einen winzigen Moment in die süße Schwärze einer Ohnmacht abgeglitten sein.

Als er die Augen wieder öffnete, leuchtete über ihm von Roserts Schädel wie ein Erntemond. »Madame Markéta hat drum gebeten, dass ich den Leichnam noch einmal beschaue, ehe er beigesetzt wird.«

D’Alembert sah ihn nur ratlos an, zu viele Fragen schwirrten durch seinen viel zu benommenen Kopf. Außerdem standen die heiligen Frauen im Kreis um ihn und den Medikus, unverdrossen bimmelnd, Weihrauch verspritzend und aus zwölf selbstgerechten Mündern singend: »Bekennet Eure Sünden, büßet und schwöret dem Frevel ab, preiset den Namen des He-he-herrn!«

Er reichte dem Medikus eine Hand, tastete mit der anderen nach seinem Stöckchen und ließ sich auf die Füße ziehen. Erst als von Rosert sich nach dem länglichen Holzkasten bückte und ihn ächzend auf seine Schulter hob, dämmerte dem Maître, dass er die letzte Behausung des unglücklichen Flößerbuben als Aussichtspunkt missbraucht hatte.

»Und Madame Markéta hat Euch gebeten?«, fragte er nach.

»Nun, nicht direkt mich. Sie wünscht, dass ein Kundiger den Leichnam beschaut, und da ihrem Herrn Vater das Privilegium entzogen wurde ...«

»... kommt nur noch Ihr dafür in Frage?«, vollendete d’Alembert, dem mehrere Schleier gleichzeitig von den Augen fielen.

»So ist es, Maître d’Alembert«, bestätigte der Medikus. Er machte den heiligen Frauen ein Zeichen, worauf diese sich je zu sechst an seinen Seiten formierten.

Die überlebenden Tigerkätzchen drängten sich fröstelnd in die Arme ihrer schnabelbeschuhten Beschützer, und Don Julius ließ sich mit finsterer Miene von Markéta da Ludanice zurück in die obere Burg führen. Am Burgtor versuchten die Lakaien unter Rufen und Flüchen, die Überreste der kleinen Clarissa unter dem Kadaver hervorzuziehen. Mit Tränen in den Augen standen der Bärenfänger und sein Sohn dabei, ohne einen Finger zu rühren. Währenddessen lehnte d’Alembert noch immer an der Grabenmauer und schaute, seine vom Sturz beschmutzten Kleider beklopfend, dem Medikus und den heiligen Frauen hinterher, bis sie allesamt im gräflichen Spital verschwunden waren und nur ihr Chorgesang noch über dem Burghof zu schweben schien: ». den Namen des He-he-herrn!«

52

Der Junge in der Quelle, umwabert von Nebel schwaden: Das Bild verfolgte Flor bis in den Schlaf. Seine blonden Locken, vor Nässe gedunkelt, die milchigen Augen, das Gesicht in Dampf und Angst zerfließend - das war schon mal, schon einmal, dachte er, bei verhängtem Fenster in Markétas Schlafgemach liegend, aber wo nur, wo?

Und dazu Markétas Ausruf, als sie den Knaben hinterm Nebelschleier erspäht hatte: »Flor, um Himmels willen, Flor!«

Dabei hatte er ja neben ihr gestanden, unter den Eichbäumen, auf der kleinen Lichtung, an deren Rand die Quelle dampfte. Und hatte Markétas Hand umklammert wie früher, wie vor kurzem noch die kleine, schwielenreiche Hand der Steinerin.

»Ra-raus, Ro-rolf!« Er begann zu schreien, erschrocken mehr über Markétas Ausruf als über das Nebelbild, das sich ihren Augen bot: der Junge, aus dem Felsloch kriechend, von Dampf umwabert, wie ein riesenhafter Säugling, so nackt und rot. Als ob die Erde selbst ihn gebären würde! »Krie-kriech, Rolf! Rasch, Ro-rolf! Ra-raus!«

Das war schon mal, schon einmal, dachte er wieder, aber wo nur, wo?

»Die Welt hinterm Nebel«, hörte er Markéta flüstern, dicht an seinem Ohr. Sie hielt ihn umschlungen, zog ihn langsam auf die Quelle zu und flüsterte unablässig auf ihn ein, Worte, deren summender Klang ihn tröstete, auch wenn er ihre Bedeutung nicht verstand: »Ganz wie in meinem Traum, Mutter Bianca. Und jetzt er: Nico, natürlich Nicodemus, nicht Flor. Und doch genauso, wie mir Flor mal erschienen ist, ganz zu Anfang: als Bote aus der Welt hinterm Nebel. Aber ich versteh’s nicht, immer noch nicht, ich begreif bald gar nichts mehr!«

Sie ging am Rand der Quelle in die Knie, wollte ihn mit sich hinabziehen, aber Flor machte sich los.

»Ni-nicht zurück!« Wieder begann er zu schreien, während er unverwandt auf den dampfumwallten Körper in der Quelle starrte, die aufgestemmten Ellbogen, der kochendrote Kopf auf einen Arm gebettet wie zum Schlaf. »Ra-raus, Ro-rolf! Ni-nicht zurück!«

»Er ist tot«, hatte er Markéta flüstern gehört. »Flor, begreifst du nicht: Er ist tot!«

Da hatte er sich neben Markéta niedergehockt, sterbensmatt war ihm mit einem Mal zumute gewesen. Als schaute er in einen Spiegel, so hatte er den Toten hinter den Nebelschleiern angesehen; in einen Spiegel, ja, aber der zeigt nicht mich selbst, sondern einen wie mich, aus Dampf und Dreck geboren.

Er lag in Markétas Bett und sah doch ihn die ganze Zeit vor sich: Nico, wie sie ihn genannt hatte. Er spürte die feuchte Hitze, die von der Quelle, von dem kochenden Körper aufstieg, und fror doch immer noch am ganzen Leib. Immer frier ich, frier ich, dachte Flor, seit damals, als ich in der schwarzen Halle aufwach und das Fiepen im Finstern hör und den Drachen der Nacht.

Vor der Schlafkammertür machte sich jemand rumpelnd zu schaffen, Flor hielt den Atem an und lauschte angespannt nach draußen.

»Schscht, ich bin’s nur - Lisetta«, hörte er und verkroch sich noch tiefer unter Markétas Pfuhl. Markéta und Lisetta, dachte er, bei den beiden Frauen war er in Sicherheit. Wie früher bei der Steinerin, nein, anders, wärmer. Er probierte die Wörter aus - es gibt so viele Wörter und nie will eins wirklich passen: Meist sitzen sie schief auf den Dingen, wie die schmierige schwarze Mütze auf Hezilows Kopf.

Hezilow! Wenn er den Namen nur dachte, fuhr er zusammen. Du hast mich gefangen gehalten, dachte er; damals, du Lumpenteufel, Jurij Hezilow. In deiner Halle war ich gefangen, nackt in schwarzer Nacht. Aber warum nur, warum? Und weshalb kamen der Puppenmacher und seine schwarzen Gesellen, die Halle und der grauenvolle Drache - warum kam all das in allen Geschichten der Steinerin niemals vor?

Weil sie gelogen hat, mich immer nur angelogen hat, dachte Flor, indem er sich frierend in Markétas Himmelbett hin und her warf. Weil Herr Veit nicht mein Vater und Frau Hilda nicht meine Mutter ist. Weil ich keine, gar keine Eltern hab! Weil ich von keiner Mutter geboren bin, sondern aus Dampf und Dreck und Nacht gekrochen wie er aus jener Nebelpfütze!

Und hat es kaum gedacht, da ist er wieder dort, in der schwarzen Halle, ein Knäblein von drei Jahren vielleicht, mit einem Lumpenhemdchen angetan. So tappt er barfüßig auf dem kalten Steinboden umher, und wie er friert, wie fürchterlich ihn friert! Das Lederband um seinen Hals, daran die Kette, die kalt vor seinem Rücken herabhängt, klirrend hinter ihm am Boden schleift. So weiß Hezilow immer, wo er sich gerade herumtreibt, denn wie sachte er sich auch bewegt, wie er die Kette mit seinen Händen zu dämpfen versucht, ganz kann er das Klirren nie ersticken.

Über ihm im Finstern gleitet der Drache umher. Wenn du ihn siehst, seine glühenden Augen, wenn du ihn hörst, das Rauschen seiner Flügel, ist es schon zu spät.

Unablässig lauscht er nach droben, immer auf den furchtbaren Angriff gefasst. Hundertmal am Tag wirft er sich zu Boden -aber es gibt keine Tage, nur Nächte, nur eine einzige, nie endende Nacht. Hundertmal kriecht er unter einen Tisch, zwängt sich hinter einen Schrank, weil er in seinem Innern ein Ziehen und Reißen gespürt hat, die schreckliche Gewissheit: Da kommt er, aus schwärzester Höhe, und stößt mit feurigem Rachen auf ihn herab.

Und dann lacht der Lumpenteufel, lacht heulend und pfeifend:

»Hat der kläjne Rolfie wieder’s Rauschen geheert?«

Fackellicht, das immer nur einen winzigen Umkreis erhellt, ringsum und darüber die trügerischen Tücher der Nacht. Die Angst macht ihn rastlos, zwingt ihn, in der riesigen Halle umherzutappen, von einem Ende zum andern, durch die Nebengewölbe, immer die Wände entlang, immer krampfhaft nach droben lauschend.

Der Lumpenteufel und seine Gesellen, die sich an großen Tischen, glühenden Öfen zu schaffen machen. Den Blasebalg treten, Pulver in Tiegel geben, leuchtende Tinkturen dazuschütten, und dann steigen bunte Schwaden auf: Fratzen aus Qualm, Pratzen aus Nebel, die nach dem Knäblein im Lumpenhemdchen greifen.

Wieder rennt er weg, klirrend und stolpernd. Und dabei immer frierend, selbst wenn er neben einem der glühenden Öfen steht. Die Hitze versengt ihm Haut und Haare, aber unter der Glut bleibt es felsenkalt. Er geht um eine Säule in der schwarzen Halle herum, und auf einmal ist er in einem Nebengewölbe, in dem er niemals vorher war.

Riesenhafte Glasballons, von heißer Nässe beschlagen, sodass er nicht sehen kann, was drin sein mag. Ein Gewirr von Röhren, das die Ballons verbindet, und in der Luft ein Schmorgeruch, der in der Kehle würgt, ein Gurgeln und Blubbern wie von zäh kochendem Brei. Und weiter hinten, ganz leise und doch deutlich wie niemals: jenes Fiepen, wie von ängstlichen Welpen, dem er schon so lange hinterherspürt.

Der Geruch nimmt ihm fast den Atem. Dennoch tappt er weiter hinein ins Gewölbe, seine Kette mit beiden Händen dämpfend.

Es sind drei Ballons aus Kristallglas, jeder so groß wie der Schädel eines Riesen, an armdicken Ketten von der Decke hängend und durch gläserne Röhren verbunden. Auf dem Boden unter den Kugeln stehen gewaltige Kupferbecken, gefüllt mit glühender Kohle, deren Hitze den Inhalt der Kristallballons brodeln macht.

Als er näher herantappt, wird das Fiepen lauter, doch es dringt nicht aus den beschlagenen Ballons, wie er im ersten Entsetzen geglaubt hat. Die Welpen müssen hinter den kochenden Glasbehältern sein, aber wie dorthin gelangen: Der ganze Boden ist ja mit glühender Kohle bedeckt. Hastig schaut er hin und her, auf der Suche nach einem Pfad hinter die Kristallkugeln, dabei horcht er unverwandt nach droben, zur Gewölbedecke, wo jederzeit der Vogel der Nacht erscheinen kann.

Doch wie er auch umherspäht, er findet keinen Pfad durchs Meer der glühenden Kohlen. Enttäuscht versucht er, die Schwaden, die von den Glasballons aufsteigen, zumindest mit seinen Blicken zu durchdringen. Ein goldenes Funkeln glaubt er zu erkennen, die bleichen Scheiben kleiner Gesichter, den Glanz hin und her huschender Augenpaare. Solche wie ich!, durchfährt’s ihn, da spürt er das Reißen und Zucken in seinem Innern: der Drach’, der Drach’, und wirft sich schreiend zu Boden, Bauch und Brust auf die kalten Kacheln pressend, die Beine an den Leib gezogen, seinen Kopf unter den Armen bergend.

»Na, Rolfie, wollt’st deine Briederchen besuchen gehn?«

53

»Madame?« Bronja trat von einem Fuß auf den anderen, und ihre rechte Hand krampfte sich in den Saum ihrer Schürze.

»Was gibt’s denn?«, fragte Markéta, die gerade erst in einen der lachsfarbenen Fauteuils gesunken war. Ihr Kopf schmerzte, noch immer fühlte sie sich elend und aufgewühlt. Erst die Entdeckung des toten Nico in der Quelle, und dann auch noch der schreckliche Zwischenfall mit der kleinen Clarissa und dem Bären - es war einfach zu viel für sie, zumal Julius’ Gemütsverfassung ihr zusätzlich Sorgen machte. Seit der Goldprobe ging eine seltsame, schleichende Veränderung mit ihm vor. Seine Augen glänzten beinah ständig auf eine Weise, die sie ebenso beunruhigte wie seine Laune, die binnen eines Herzschlags von greller Heiterkeit in Höllenschwarz umschlagen konnte - und im nächsten Moment wieder zurück!

Die Zofe gab sich sichtlich einen Ruck. »Madame Johanna ... sie wünscht Euch zu sprechen - Madame«, fügte sie stammelnd hinzu.

Die Waldstein! Wie viel Verhängnis denn noch am gleichen Tag, dachte Markéta und setzte ein eisernes Lächeln auf, wie sie es bei d’Alembert hundertmal gesehen hatte. »Johanna?« Suchend sah sie sich um, und für einen Moment glaubte sie tatsächlich, dass die fromme Freifrau gleich hinter einer Tapetentür hervorkäme. »Ich lasse bitten.«

»Na ja, Madame ...« Bronja zerknüllte nun beidhändig ihren Schürzensaum. »Johanna von Waldstein wünscht, dass Ihr zu ihr kommt - Madame«, fügte sie wieder hinzu und verdrehte die Augen, als ob sie Prügel fürchtete.

»Oh, natürlich.« Wie hatte sie nur annehmen können, dass die Edle sich höchstderoselbst zu ihr bemühen würde? »Wo ist sie denn?«, fragte Markéta und rappelte sich schon wieder aus ihrem Sessel auf.

»In der Kapelle der Herrin. Wenn Ihr mir folgen wollt -Madame?«

Unangenehme Aufgaben erledigt man am besten sofort, sagte sich Markéta, eine Spruchweisheit von Pater Hasek. Während sie hinter Bronja dreintrottete, durch die labyrinthische Flucht pfirsich- und aprikosenfarbener Säle, fühlte sie auf einmal einen Lachreiz in der Kehle, ein Anflug finsterer Heiterkeit, wie sie Don Julius immer häufiger befiel.

Alles in ihr sträubte sich gegen dieses Zusammentreffen, für das sie sich innerlich zu wappnen versuchte, seit sie vom Jagdkastell zurückgekehrt waren. Würde die edle Johanna sie als Badershur verhöhnen? Oder als Hochstaplerin verspotten, die ihre nichtswürdige Herkunft hinter fragwürdigen Adelsbriefen verbarg? Wieder fühlte sich Markéta schrecklich dumm und hilflos, wie vor Wochen, als sie zum ersten Mal diese Frauengemächer betreten hatte. Aber etwas hat sich verändert, dachte sie dann: Julius liebt mich, und ich lieb ihn wie mein eignes Leben.

Ihre Knie fühlten sich weich an, und ihr Herz flatterte wie eine aufgestörte Nachtigall. Dennoch fühlte sie sich ein wenig gekräftigt, als sie Bronja weiter durch Zimmer und Kammern folgte, tiefer hinein in das Labyrinth der Frauengemächer, als sie bisher jemals vorgedrungen war. Raum fügte sich an Raum, alle so ineinander verschachtelt, dass man sich wie in einem endlosen Tunnel fühlte - einem mit Damast und Seide verkleideten, mit Kissen und Teppichen ausgepolsterten Stollen zwar, aber doch wie in einer abgeschlossenen Röhre, die von schweren Aromen erfüllt war. Immer drückender wurde der Geruch, süßlich wie Weihrauch, dachte Markéta, vermischt mit exotischeren Düften, die sie nicht einmal dem Namen nach kannte.

Bronja steuerte nun auf eine scheinbar massive Wand zu, die mit einer silbrig gestreiften Seidentapete bedeckt war. Mit der flachen Hand drückte die Zofe gegen eine kaum sichtbare Wölbung, und vor ihr glitt eine Tapetentür auf. Sie traten hindurch und durchquerten einen fast kahlen Vorraum, dessen Fenster mit schwarzen Tüchern verhängt waren.

Endlich blieb Bronja vor einer schwarz lackierten Tür stehen. Sie klopfte an und lauschte, bis von drinnen ein ungnädiges »Nun denn!« ertönte. Zaghaft zog sie die Tür auf und zirpte, dabei zu einem Knicks zusammensinkend: »Gnädige Frau, wie befohlen - Madame Markéta.«

Der Saal, in den Markéta eintrat, schien eine unbestimmte Mitte zwischen Kapelle und Audienzraum einzunehmen. Auch hier waren die Fenster mit dunklen Tüchern zugehängt, sodass die Sonne nur verdüstert durchdringen konnte. An der Stirnwand hing ein riesiges Kreuz aus schwarzem Holz, davor stand ein Bronzebecken, aus dem silbrige Schwaden aufstiegen - die Quelle jenes süßlichen Geruchs. Den Boden bedeckten steinerne Quadrate in Schwarz und Weiß, angeordnet wie auf einem riesenhaften Schachbrett. In der Mitte dieses Feldes stand ein Dutzend schlichter Stühle von schmuckloser Strenge rings um einen schwarzen Marmorsockel, ansonsten war der gewaltige Raum gänzlich kahl. Auf den Stühlen saßen die »heiligen Weiber«, die Markéta vorhin schon gesehen hatte, als sie singend und Weihrauch verspritzend durch den unteren Burghof gewandelt waren. Alle zwölf Nonnen saßen ihr zugewandt, eingemummt in ihre schwarzen Kutten, und sie alle blickten sie so kalt und strafend an, als ob sie die verworfenste Sünderin auf Erden wäre.

»Kommt nur näher - Senorita.«

Erst jetzt richtete Markéta ihr Augenmerk auf die schmale Dame, die inmitten des heiligen Kreises auf dem Sockel thronte. Das ist Johanna?, dachte sie.

Die Waldstein - denn wer sonst sollte die Thronende sein -hob eine vor Juwelen glitzernde Hand und winkte sie mit Zeige-und Mittelfinger herbei. »Lasst Euch betrachten - solange Ihr noch halbwegs ansehnlich seid.«

»Johanna?« Sie trat langsam näher, über schwarze und weiße Riesenfelder stelzend und Julius’ Verlobte ungläubig musternd. Der süßliche Geruch aus dem Bronzetopf benahm ihr fast den Atem. »Ihr seid Johanna von Waldstein?«

»Was erstaunt Euch daran so sehr?« Die Frau auf dem schwarzen Sockel hob strichdünne Augenbrauen.

»Ihr seid so ... jung«, sagte Markéta, dabei traf das Gegenteil sehr viel eher zu. Höchstens achtzehn Jahre mochte Johanna von Waldstein zählen, und doch begann sie in der Blüte ihrer Mädchenjahre bereits zu welken. Die scharfen Falten um ihren Mund verieten den galligen Charakter. Und dann die leise Schlaffheit gewisser Hautpartien, dachte Markéta, vorerst nur fürs Auge einer Baderin sichtbar, aber in kaum zehn Jahren würde Johanna von Waldstein einer Vogelscheuche ähneln: die Gestalt allzu dürr, scheinbar fleischlos, die Haut an Hals und Wangen lose herabhängend, zu schweigen von heikleren Partien. Kein Wunder, dass Julius vor derart herben Reizen zurückschreckte, sagte sich Markéta und verspürte ein Kribbeln in der Bauchgegend, als Julius’ Gesicht vor ihrem inneren Auge erschien, sein funkelnder Blick, die vom Tokaier geröteten Lippen.

»Aus welchem Grund sollte Graf Julius’ Verlobte ein altes Weib sein?« Johanna warf den Kopf zurück. »Ahmt er nicht in allen Belangen seinem kaiserlichen Vater nach? Aber woher soll ein Dämchen wie Ihr wissen, wem Rudolf versprochen ist!« Und sie stieß ein krähenhaftes Lachen aus, das die Falten um ihren Mund noch schärfer hervorkerbte.

»Der Kaiser ist mit der Infantin Isabella von Spanien verlobt«, gab Markéta zurück, »das weiß in ganz Böhmen jedes Kind, Madame.«

Sie mahnte sich zur Mäßigung, um den Hass der Dame nicht noch zusätzlich zu schüren. Am besten würde sie selbst so wenig wie möglich reden.

Mit vogelhafter Starre sah Johanna von der Höhe ihres Thronsessels auf sie herab. Tatsächlich war sie in strenges Schwarz gewandet, nach der allerneuesten, allerkatholischsten Mode. Eine weiße Spitzenhaube verbarg nahezu gänzlich ihr schwarzes Haar. Aus dem ebenso blendend weißen Stehkragen spähte ein blasses Gesicht mit spitzem Kinn und dunklen Augen hervor. »Don Julius ist ein Mann«, sagte Johanna endlich, in einem Tonfall, der unerfreulichen Feststellungen vorbehalten schien, »da sind gewisse Dinge wohl unvermeidlich, zumindest in jüngeren Jahren.«

Ihre Blicke strichen Markétas Gestalt hinab, über Brüste, Bauch und Beine, und Markéta empfand, wie derb ihre Leiblichkeit wirken musste, mit den Augen der kargen Dame besehen.

»Wenn Julius in allem seinem Vater nachahmt, wie Ihr sagt, Johanna«, erwiderte sie und ahnte schon im Voraus, dass sie ihre Worte bereuen würde, »welche Rolle kommt dann Euch in seinem Leben zu - und welche mir?«

Die Waldstein beugte sich noch weiter auf ihrem Prunksessel vor und kniff die Augen zusammen. Mehrere der heiligen Weiber waren von ihren Stühlen aufgesprungen und machten Miene, sich auf Markéta zu stürzen, aber sie nahm die Nonnen nur am Rande wahr. Ihr Blick haftete auf dem totenblassen Krähengesicht, das mit zitternder Starre über ihr schwebte.

»Ich jedenfalls«, fuhr sie fort, ebenso betont und leise wie zuvor, »ich lieb Don Julius von Herzen, Madame - jede Faser seines Wesens lieb ich, sein Lachen und seine Launen, seine Leidenschaft und seine Zärtlichkeit.« Das hagere Gesicht über ihr verzog sich wie in jähem Schmerz. »Ergeht’s Euch ebenso, Madame?«, fügte sie hinzu. »Dann mag Don Julius zwischen uns entscheiden.« Sie trat noch einen Schritt näher, so dass sie sich zwischen zwei Nonnen hindurchdrängen und den Kopf in den Nacken legen musste, um der Waldstein weiter in die Augen zu sehen. »Wenn nicht, Johanna, wär’s besser - für Euch und für ihn -, wenn Ihr möglichst bald nach Prag zurückreist.«

Für einen scheinbar endlosen Moment herrschte völlige Stille, dann stieß die Waldstein ein heiseres Lachen aus. Markéta fuhr zusammen. Mit hastigen Schritten wich sie von Johanna und den heiligen Weibern zurück.

»Was für eine Närrin Ihr seid.« Alles an Johanna schien dünn und spitz, selbst ihre Stimme, die wie mit Nadeln in Markétas Gehörgänge fuhr. »Meint Ihr wirklich, nur weil der brave Maître diesen siebenbürgischen Papierfetzen herbeigezaubert hat, könnt Ihr einer von Waldstein gefährlich werden?« Sie machte eine wegwerfende Handbewegung, und wieder verzerrte sich ihr Gesicht wie vor Ekel oder Schmerz. »Genug jetzt, die Angelegenheit wird enden wie die Affärchen vor ihr. Daran zu zweifeln wäre töricht, Senorita - und nun lauft davon, solange Ihr noch laufen könnt!«

Hatte Johanna ihr eben tatsächlich gedroht, und womit denn um Himmels willen? Oder verlier jetzt ich den Verstand?, dachte Markéta und sah ungläubig zu ihrer Widersacherin hinauf. Doch ehe sie noch etwas erwidern konnte, begannen mit einem Mal alle zwölf heiligen Weiber mit schallenden Stimmen zu singen. Auch die Waldstein stimmte sogleich in die Litanei zum Lob ihres gütigen Gottes ein, während sie weiter aus schrägen Vogelaugen zu ihr herabspähte.

Markéta verharrte noch einige Augenblicke, dann wandte sie sich um und stelzte mit weichen Knien aus der Kapelle. Wieso hab ich nur mein Maulwerk nicht bezähmt?, dachte sie. Aber wer weiß, ob der Waldstein sonst die sonderbare Drohung entschlüpft wär?

Warum sollt ich bald nicht mehr laufen können?, fragte sich Markéta noch immer, als sie hinter Bronjas schaukelnden Hüften abermals die Flucht der Frauengemächer durchmaß. Etwa weil’s mir demnächst wie jenem Mariandl ergehen soll? Aber was weiß die Waldstein von dieser Kabale - und wie kommt sie dazu, mir mit dem Schlachtbeil zu drohen?

54

»Einen neuen Bären will ich haben, Maître, pah - eine Bärenfamilie, bis Samstag, ich befehl’s!«

Er hielt inne und weidete sich an d’Alemberts Qualen. Der kleine Mann saß so starr auf seiner Stuhlkante, als fürchtete er, sich mindestens mit der Beulenpest anzustecken, wenn er auch nur die Stuhllehne berührte, ganz zu schweigen von den Fellfetzen und Brocken rohen Fleischs, die auf Tisch und Boden verstreut lagen.

Der Geruch erinnerte allerdings auch Julius an gewisse Ausdünstungen, die ihm vor Jahren mal in die Nase gefahren waren. Damals hatte der Maître ihn gezwungen - »aus erzieherischen Beweggründen« -, in Prag ein Armenhospiz aufzusuchen, wo die Siechen in langen Reihen im Krankensaal lagen, mit offenen Wunden und Blumenkohlgeschwüren, an denen sich die Fliegen gütlich taten.

»Ich will sehen, was sich tun lässt, Euer Liebden«, sagte d’Alembert.

Er sieht erschöpft aus, dachte Julius, wenn auch bei weitem nicht so abgezehrt wie von Breuner oder gar wie der Astrolog von Sargenfalt, der sich »zerreißender Brustschmerzen halber« von dieser Besprechung hatte dispensieren lassen. Aber morgen allerspätestens muss auch er mir Rede und Antwort stehen, sagte sich Julius, mir und Markéta.

Er sah in die Gesichter seiner Burgobern und genoss den Abscheu in ihren Mienen, Ekel und Angst, die sie geflissentlich vor ihm zu verbergen suchten. Mit Vorbedacht hatte er sie genötigt, sich hier im Präparationsraum einzufinden und nicht etwa nebenan im Audienzsaal; dabei hatte der Maître regelrecht gebettelt, ihm den Gestank von Aas und Salpeter zu ersparen.

An den Wänden hingen noch eine Hand voll altersdunkler Brustbilder, die weitere der offenbar zahllosen Rosenberger Ahnen zeigten, aber alle Sessel und Teppiche, Vitrinen und Schränke voll kauziger Kunst und plundriger Wunder hatte Oberstkämmerer von Hasslach tatsächlich binnen einer Nacht in den Maskensaal geschafft. Also hatten er und Obersthofmeister d’Alembert, Haushofmeister von Breuner und Medikus von Rosert sowie Oberststallmeister Skraliçek auf Schemeln Platz nehmen müssen, rings um den riesigen Tisch verteilt, auf dem der weiße Hirsch in einem Lager aus Stroh und Lumpen lag, als ob er friedlich schliefe.

Einzig er selbst, Don Julius, Graf von Krumau, thronte in einem scharlachroten Sessel, auf der hinteren Seite des Tisches; zu seiner Rechten Markéta da Ludanice, die heute gleichfalls ein wenig angegriffen wirkte.

Wie sonderbar, dachte Julius, je wohlgemuter ich mich fühle, umso mehr scheint alles um mich herum zu ermatten. Er nahm eine Hand voll Stroh und stopfte sie behutsam in den klaffenden Unterbauch des Hirsches. »Der Bärenfänger und sein Sohn«, sagte er, den Maître scharf in den Blick fassend, »haben mir versichert, dass sie über Nacht weitere Bestien herbeischaffen könnten. Robse und Hielo heißen die roten Kerle - her mit ihnen, eh’ sie sich wieder in die Büsche schlagen.« Und er beugte sich vor, nahm die Messingglocke und schüttelte sie so wild wie heute früh das Seil am Nasenring des Bären.

Beim grellen Klang der Glocke fuhr von Breuner auf seinem Schemel zusammen. Seine lange Elendsgestalt straffte sich, er blähte die Backen und presste die Lippen zu einem bläulichen Strich; doch wie jedes Mal sprengte der Hustenreiz seinen Mund und dröhnte urgewaltig hervor.

»Reiß er sich zusammen, Breuner, sonst schick ich ihn zu Kasimir«, sagte Julius mit einem Augenzwinkern zu von Rosert hinüber, dessen Schädel wie ein Lampion leuchtete. »Der Medikus hat doch sicher noch ein Bettchen bei der Leich’ des falschen Homunkel frei?«

Er spürte, wie Markéta zu seiner Rechten zusammenzuckte, und legte ihr eine Hand auf den Schenkel; eine Geste, die beruhigend wirken sollte, jedoch im Gegenteil eine bebende Unruhe im Umkreis seiner Hand entfachte.

»Keine Ursach’, nur eine Verkühlung, Exzellenz«, presste von Breuner hervor. »Am Samstag, wenn Ihre Kaiserliche Majestät auf Burg Krumau weilen, wird alles zu Eurer ...« - seine Rede explodierte in einem weiteren Hustenkrampf, dröhnend wie die Schusssalve, die heute Mittag den Bären niedergestreckt hatte.

Die Erinnerung trieb ihm die Hitze unter den Nabel. Seine Rechte fuhr Markétas Bein hinauf, wurde jedoch von ihrer kühleren Hand sanft, aber entschieden in die Schranken verwiesen.

»Wer von Euch am Sonnabend irgendwas verpatzt«, sagte Julius, »wird den Bären zum Fraß vorgeworfen.« Wieder sah er von einem zum andern und weidete sich an ihrer Furcht. Der bohnenstangenlange von Hasslach versuchte vergeblich, sich auf seinem Schemel zusammenzufalten, und Skraliçeks Trommelbauch erbebte, als hätte man tatsächlich mit dem Schlegel draufgeschlagen.

Apropos Trommel - abermals beugte sich Julius vor und ließ die Messingglocke bimmeln. »Berti!«, brüllte er. »Bring den roten Robse, aber hoppsa!« Nochmals schüttelte er die Glocke, dann knallte er sie auf den Tisch zurück, dass der Hirsch auf seinem Lumpenlager zusammenfuhr.

In die sich anschließende Stille hinein fragte d’Alembert: »Gilt das auch für Jurij Hezilow, Excellence!«

Julius zog es vor, lediglich die Stirn ein wenig zu runzeln. Für die anderen unsichtbar bewegte er seine Hand unter Markétas Fingern und knetete das feste Fleisch ihres Schenkels in der Hülle aus lachsfarbenem Samt.

»Wenn Hezilow am Samstag scheitert«, beharrte der Maître, »wenn ihm die Goldprobe missglückt - was soll dann mit dem Puppenmacher geschehen?«

Julius sah ihn an, die weiße Spottmaske, die seit jeher über ihm geschwebt war, und mit einem Mal wurde ihm trüb zumute. Rasch wie Blitze zuckten ihm Bilder durch den Kopf, die er nur allzu gern aus seiner Erinnerung verbannt hätte, aber sie ließen sich nicht ausmerzen, so wenig, wie von Breuner seinen Husten verbeißen konnte. Also blickte er in d’Alemberts weiß geschminkte Fratz wie in ein Labyrinth aus Spiegeln, die immer nur ihn selbst zeigten: als Knaben von drei, sieben, dreizehn Jahren, immer mit düsterem Gesicht, die Stirn gerunzelt, den Kopf trotzig gesenkt, immer allein. In riesigen Sälen, endlosen Fluren, auf dem Fechtboden oder zu Pferde, jedenfalls stets unter der Fuchtel des unerbittlichen Maître, der ihn mit Säbel und Degen so gewandt und elegant wie mit seinem Stöckchen zu dirigieren und zu demütigen, anzutreiben und zu strafen verstand.

»Zu den Brummbären«, sagte Julius endlich, »das gilt für jeden, auch für den magischen Magister. Aber er wird nicht scheitern, ich weiß es.«

Endlich trat sein Kammerdiener Robert in den Saal, gefolgt vom feuerhaarigen Hünen Robse und dessen schmächtigem Sohn Hielo, der immer noch die Trommel vorm Bauch trug. Der Bärenfänger wusste nicht, wohin mit seinen riesenhaften Händen, mal verschränkte er die Arme vor der Brust, dann wieder ließ er sie erdwärts hängen; endlich schob er die Hände in den Hosenbund.

»Drei Tage, Robse«, sagte Julius, »dann bringst du mir neue Bären, eine ganze Familie, hörst du?«

Der Fänger nickte, dass sein rotes Bartgezottel vorm Brustkasten zitterte.

»Brummbärvater, Brummbärmutter und so viele Kinder, wie sie halt in die Welt gesetzt haben.« Er knetete Markétas Bein, fast ohne es zu bemerken. »Bis Donnerstagabend, kein Augenzucken später, sonst sperr ich dich und deine Leute in den Graben.« Einen Moment lang malte er sich’s aus, der Gedanke gefiel ihm. »Dann halten wir euch als Bären, Rotbären statt Braunbären, Ringe durch die Nasen, verstehst du mich?«

Der Riese dienerte und buckelte, dabei stieß er seinen Sohn Gehorsam heischend an, dass die Trommel bummerte. »Vier, Euer Herrlichkeit, wenigstens vier, bis übermorgen, glänzende Gnaden, spätestens bis übermorgen!«

»Dann scher dich davon, hoppsa, Robse!«

Der Befehl war noch nicht verhallt, da rannten die Bärenfänger schon aus der Tür.

»Alles muss vollkommen sein«, sagte Julius, »wenn die väterliche Majestät mich besucht. Die besten Speisen werdet Ihr auftischen, Breuner, das Fürstenappartement lasst herrichten, Hasslach, mit der Ehrenkompanie, Skraliçek, werden wir die kaiserliche Majestät an der Grenze der Grafschaft empfangen.« Mit finsterer Miene sah er von einem zum andern, im Voraus zornig wegen der Fehler, Nachlässigkeiten, Sabotage, die er allerorten schon witterte. »Auch auf Euch verlass ich mich, Medikus, Ihr versteht mich.«

»Macht Euch keine Sorgen, Euer Liebden«, warf der Maître ein, den er absichtlich übergangen hatte, »alles wird so verlaufen, wie Ihr es Euch wünscht.«

»Warum sollte ich mich sorgen?«, gab Julius zurück. »Sicher hocken auch in diesem Raum einige Personen, die sich Sorgen machen sollten, aber ich zähl wohl kaum zu diesem Kreis.« Vergeblich forschte er in den Zügen d’Alemberts nach Zeichen der Kränkung oder, besser noch, der Furcht. Er versteht es immer noch meisterlich, sich zu beherrschen, dachte er, aber zweifellos weiß d’Alembert, dass er diese Partie verlieren wird, sein letztes Spiel. Du hast mich lang genug niedergehalten, Meisterlein; jetzt endlich zahl ich’s dir und allen andern heim.

»Hattet Ihr denn schon Gelegenheit, die Leich’ zu beschauen?«

Alle Köpfe fuhren herum zu Markéta da Ludanice, die scheinbar gelassen den Medikus ansah; nur Julius bemerkte, dass ihre Finger auf seiner Hand erstarrten. »Den toten Nico mein ich, Herr?«

»Verbrüht wie eine Wurst in siedendem Wasser«, knurrte von Rosert, dessen Gesicht mit einem Mal grau geworden war. »Er ist in den heißen Quell gefallen und hat vergebens versucht, sich wieder rauszuwinden, alles andere wär Spintisterei.«

Markéta da Ludanices Antwort bestand in einem schrecklichen Stöhnen, das die Burgoberen in Verwirrung stürzte. Während sie noch ratlose Blicke tauschten, zerbarst von Breuners Atemapparat abermals in einem Hustenkrampf, und Julius tätschelte begütigend Markétas Schenkel, in den er soeben mit aller Kraft hineingekniffen hatte.

Haltet Euch fern von dort, Markéta, dachte Julius beschwörend, das Herz würd mir brechen, wenn die Hitz’ auch Euer geliebtes Antlitz verbrüht.

Tintenschwarze Nacht.

»Heda?«

Keiner da.

»Robert?« Wo steckt der verdammte Kerl! Lässt alle Lampen ausgehn und verkriecht sich in seiner Kammer. »D’Alembert? Medikus?« Wo sind die alle hin, hockten eben noch wie mürrische Vögel um meinen Tisch. Muss eingeschlafen sein, mit dem Lumpenhirsch als Kissen.

Er tastete umher, zündete endlich ein Licht an, nahm die Kerze in die Hand und leuchtete zu den Schemeln hinüber. Alle auf und davon. Und so still, so still, nur das Murmeln der Moldau drang von unten herauf, leise wie im Traum.

Julius stand auf. Wie sonderbar, dass ich hier im Nachthemd steh.

»Markéta?« Er begann, auf dem Tisch umherzuleuchten. Der weiße Hirsch, o mein Herr, zerschnitten, zerhackt, in Stücke zerfetzt das majestätische Vieh!

»Von wessen frevlerischer Hand ...« Seine Stimme, eben noch brüllend, erstarb. Das Messer, da liegt’s ja, und nun entsann er sich auch wieder: wie er erwacht ist in seinem Schlafgemach, vor dem Fenster fett und buttergelb der Mond.

Juliusmond! Er wirft die Decke zurück, leise, damit Markéta nicht aus dem Schlaf fährt, schleicht sich auf Zehenspitzen aus der Kammer; der Boden knarrt, die Angeln seufzen, als er die Tür zum Maskensaal aufzieht.

Er zündet eine Kerze an, und da starrt und glotzt es ihm aus tausend Augen entgegen: die Totenmasken der Rosenberger an den Wänden und, viel ärger noch, die grausigen Zaubersachen, die der Maître all die Jahre für ihn gesammelt hat.

»Eine wahre Mirakelkammer, Don Julius - pour vous, Excellence, wie die Wundersammlung der väterlichen Majestät!« Er hört d’Alembert hinter den Vitrinen wispern, fast so, als ob der Maître selbst zu den gesammelten Mirakeln zählte.

Habt Ihr nie geahnt, Monsieur, wie sehr mich Eure Wunder seit jeher geängstigt haben, abgeschreckt, verstört? Als kleiner Knabe, doch auch später noch? Was würdet Ihr sagen, wenn Ihr mich jetzt sehen könntet, Maître: bei Nacht inmitten Eurer Wunder stehend, im Nachthemd, die Kerze in der Hand?

Für einen Moment sträuben sich ihm wahrhaftig die Haare, und das Flämmchen über seiner Rechten flackert.

Der Fellmann da hinten, cher maître, habt Ihr nie gespürt, welcher Schrecken von dem gepinselten Monstrum ausgeht? Die goldgefassten Haifischzähne, doppelköpfigen Missgeburten, ausgestopften Krokodile, die schon in meinen Kinderträumen grinsten; der Eisenstuhl, der jeden zerquetscht, der drauf Platz zu nehmen wagt; die Kelche aus Rhinozeroshorn, in denen unter gläsernem Deckel tödliche Gifte brodeln, solange ich denken kann; fünf Hände voll Alraunwurzeln, von der Form winziger nackter Menschlein, aus Silber geformte Riesenspinnen, Puppen aus farbigem Wachs, so lebensecht, dass ich sie mehr als einmal geküsst und geschlagen hab, wenn ich Euch, mon cher maître, und mich selbst, den dressierten Bastard, nicht mehr ertrug. Und dann die Krönung Eurer Kollektion, Monsieur: da, der nackte Frauentorso, fleischfarben, mit Kürbisbrüsten und zahnlosem Totenschädel.

Hatte er dem tönernen Rumpf tatsächlich einen Tritt versetzt, dass das Weibsstück von seinem Podest getorkelt und auf dem Boden in große Placken zerbrochen war: mürbe, rissig, hohl?

Ah, dieser heiße Zorn, eine Flutwelle, in ihm emporschießend, bis er nur noch blutroten Nebel vor Augen sah!

Weitergerissen, so viel weiß ich noch, dachte er, durch den Maskensaal voll Wunderplunder, Albtraumrequisiten bis hierher. Und dann? Auf den Sessel gehockt, hinter den Hirsch mit seinem klaffenden Unterbauch, aus dem Stroh und Lumpen quollen. Das Messer, auf einmal in meiner Hand, und die Hand hebt sich und saust hinab und fährt wieder hoch und saust runter und schneidet und sägt und ritsch und ratsch wie neulich erst, in der Kutsche, o Gott, in meinem Traum, nur im Traum.

Tatsächlich hatte er das Messer schon wieder in die Hand genommen, ohne es zu bemerken. Nun ließ er’s fallen, nahm die Kerze dafür und rannte, stolperte, taumelte zur Tür, wieder durch den Wundersaal, vorbei an den glotzenden Monstren, grinsenden Bestien, winselnden Püppchen und polternd ins Schlafgemach.

Trat neben sein Himmelbett, hielt die Kerze hoch, und da lag sie: die rossbraune Mähne um ihren Kopf gebreitet wie dunkle Strahlen, ihre Miene störrisch selbst im Schlaf.

Jetzt begannen ihre Lider zu flattern, sie öffnete die Augen und machte sie gleich wieder zu, von der Kerze geblendet. »Was tust du, Julius?«

So arglos, dachte er, so vertrauensvoll, und die Kehle zog sich ihm zusammen.

Er stellte die Kerze auf den Nachtkasten neben dem gräflichen Himmelbett und pustete sie aus, so behutsam, als ob’s ein Lebensflämmlein wär. »Psst, gar nichts, war nur ein Traum.«

Dann lag er wach und zählte die Glockenschläge, während Markéta längst wieder neben ihm schlief.

55

»Was hast du, Julius? Was schaust du mich so an?«

So hatte sie ihn noch nie erlebt, in all den Wochen ihrer Liebe nicht. Den wilden, übermütigen, leidenschaftlichen Geliebten hatte sie kennen gelernt, auch den wütenden, trotzigen, vor Zorn sich verdüsternden Julius, selbst von seiner ganz und gar schwarzen Nachtseite hatte sie hie und da ein erschreckendes Schwanzstück gesehen: Julius, den jählings die Jagdgier, die Lust am Töten, an Angst und Pein eines Opfers überkam.

Aber diese samtene Seite hatte er ihr bisher noch nie gezeigt: Julius, der sie voller Zärtlichkeit ansah, neben ihr liegend, den Ellbogen ins Kissen gestützt. Julius, der ihr sacht übers Haar fuhr, ihre Wange streichelte, ganz träumerisch zart, fast so, als ob sie beide Engelwesen wären, keine Menschen aus Fleisch und Blut.

Vor dem Fenster seines Schlafgemachs ging eben die Sonne auf - Mittwoch, durchfuhr’s sie, heut wird der kleine Nico drunten auf dem Gottesacker begraben. Sie verspürte einen Stich. Später, dachte sie, nachher würde sie zur Beerdigung gehen und mit dem Flößer reden, dem Vater des kleinen Nico, und auch mit ihrem eigenen - mit Vater Sigmund.

Unverwandt sah Julius sie an, aus rehbraunen Augen, die wie von Tränen schimmerten. Was nur war mit ihm? War es ihr Anblick, ihre Gegenwart, die ihn so sehr rührten? Liebte er sie so innig, dass er nichts anderes mehr sich wünschte, als ganz nah bei ihr zu sein? Seine Hand streichelte ihre Wange, sacht zog er sie zu sich heran, mit behutsamer Zärtlichkeit, ganz ohne die ungestüme, gebieterische Begierde, mit der er schon mehr als einmal über sie gekommen war.

Er beugte sich auf sie herab, und seine langen braunen Haare fielen wie ein Vorhang über sie. Warm und weich glitten seine Lippen über ihre Schläfe, die Wange hinab und drückten sich sacht auf ihren Mund, den sie bereitwillig für ihn öffnete. Sie spürte das Zucken seiner Unterlippe, und da durchströmte sie eine Woge so heißer Zärtlichkeit, dass auch ihr die Tränen in die Augen stiegen. Sie umschlang ihn mit beiden Armen, zog seinen warmen, schlanken Leib auf sich und nahm ihn mit einem erwartungsvollen Seufzer in sich auf.

Wie wundervoll, ihn in ihrem Innersten zu fühlen. So sachte, in so vollkommenem Gleichklang bewegten sich ihre Körper und Seelen, als ob sie wahrhaftig zu einem Wesen verschmolzen wären, wie unlängst in ihrem Traum. Sie senkte die Lider und erblickte die samtrote Treppe vor sich, deren Stufen bei der kleinsten Berührung erbebten. Sie öffnete ihre Augen wieder und sah in Julius’ Gesicht, das sie noch immer anlächelte, voll überströmender Zärtlichkeit.

Wenn es ein Paradies gibt, eine Seligkeit, ein Elysium, dachte Markéta, dann muss es so wie unsere Liebe, so wie diese süße Umschlingung des Liebsten sein. Nicht leidenschaftlicher, nicht raffinierter, nicht gieriger, nur niemals endend in alle Ewigkeit.

Plötzlich hoben unten in der Stadt die Glocken zu läuten an, und der schüttere Klang zerriss binnen weniger Herzschläge das Gewebe ihrer Zweieinigkeit. Julius’ Augen verdunkelten sich, seine Miene wurde abwesend, als ob er auf ein Geschehnis in der Ferne horchte. Zugleich begann er sich heftiger auf ihr zu bewegen, ihren leisen, gemeinsamen Rhythmus zu zerstören, der schmiegsame Zauberstab seiner Zärtlichkeit wurde wieder zum Zepter des Herrschers, der Lust empfing, sich der Begierde ergab, ohne auch seinerseits zu geben.

Immer heftiger stieß er in ihren Schoß hinein, nun tatsächlich im Takt der Glocken, die zur Bestattung des falschen Homunkel riefen.

Als er sich mit einem heiseren Ausruf in sie verströmte und ihre Kehle, ihre Brüste mit Küssen bedeckte, erschauerte auch Markéta unter Wellen der Ekstase, wenngleich der vollkommene Gleichklang, in dem sie sich für selige Momente bewegt hatten, durch die Glocken zerstört worden war.

Pater Hasek, die Kirche, dahinter der Gottesacker: Sie musste sich sputen.

Julius blieb im Himmelbett liegen, rücklings hingestreckt, ein Raubtier von glatter, wölfischer Schönheit. Mit spöttischem Lächeln sah er zu, wie sie sich in das schwarze Kleid hineinkämpfte, das Bronja gestern Abend noch für sie herausgesucht und hierhergebracht hatte, ins gräfliche Schlafgemach.

Die Glockenklänge begannen schon zu verhallen, als Markéta ihm eine Kusshand zuwarf und mit zerzausten Haaren, schwarze Chopinen in den Händen schwenkend, barfuß aus dem Zimmer lief.

56

Wir hausen auf einer toten Kugel, die durch ein gleichgültiges Universum rollt, hatte der Maître gesagt, an ihre Kruste geklammert, bis ein Windstoß uns hinausbläst in die tödliche Kälte des Alls.

»Du wirst auferstehen, Nicodemus Kudaçek, in der Jugend deines Fleisches und in der Herrlichkeit Gottes am Jüngsten Tag«, hatte dagegen Pater Hasek soeben gepredigt. Nun standen die zwei Dutzend Trauernden mit starren Gesichtern um Nicos Grab herum und sahen zu, wie die Kirchdiener den Sarg in der Erde versenkten.

Die Glocke der Aussegnungskapelle bimmelte unablässig, ein dünner, dürftiger Klang, der Markéta frösteln machte. Dabei schien die Sonne auf den Gottesacker herab und ließ die Moldau sieben Schritte neben ihnen golden glitzern.

Zuletzt hab ich vor fünf Jahren hier am offenen Grab gestanden, dachte sie, als Mutter Bianca beerdigt wurde. Aber mehr noch als das klaffende Erdloch erinnerte sie seltsamerweise der Ausspruch des Maître an ihre Mutter, oder vielleicht nicht allein an Bianca, sondern an Mütter überhaupt.

Tatsächlich sah sie jedes Mal, wenn ihr diese Sentenz in den Sinn kam, eine riesige, steinerne Mutterbrust vor sich, an die sich zehntausend Menschlein ängstlich klammerten. Bis jener Windhauch sie in alle Himmels- und Höllenrichtungen zerblies.

D’Alemberts eleganter Trübsinn war wie ein langsam wirkendes Gift, das ihr Gemüt umso gründlicher verdüsterte, je tiefer er sie ins Vertrauen zog.

Wie gerne wär ich jetzt wieder bei Julius, dachte Markéta, in seinen Armen, unter dem moldaublauen Samthimmel seines Pfuhls. Doch stattdessen trat sie, als die Reihe an sie gekommen war, vor das offene Grab, warf eine Hand voll Erde auf den Sargdeckel, was ein hohles Poltern hervorrief, und schritt dann auf Karel Kudaçek und seine Frau Olga zu, um den Flößern ihr Mitgefühl zuzumurmeln.

Die trauernden Eltern waren von Angehörigen und Freunden umringt. Wieder und wieder wurde die zierliche Mutter umarmt und die Hand des vierschrötigen Vaters geschüttelt. Pater Hasek, rund wie ein Fass in der glänzend schwarzen Soutane, stand einen Schritt neben den beiden, die vor Schmerz regelrecht versteinert schienen.

Als Markéta sich dem Elternpaar näherte, wichen die Umstehenden zurück, sodass ein leerer Kreis um sie herum entstand. »Olga, Karel«, sagte sie, »es tut mir so ...«, dann verschlug es ihr die Sprache. Der Flößer wandte sich um, zog seine Frau mit sich und begann ein leises Gespräch mit dem Pater, der seinerseits nicht erkennen ließ, dass er ihre, Markétas, Gegenwart überhaupt bemerkt hatte. Einige Augenblicke wartete sie noch, zwischen Beschämung und Empörung schwankend, aber die Kudaçeks blieben mit dem Rücken zu ihr stehen, obwohl Karel s Wortwechsel mit Pater Hasek schon wieder beendet schien.

Zögernd drehte Markéta sich wieder um und sah zu, wie die Kirchdiener das Grab zuschaufelten und Blumen und Tannengrün auf den kleinen Hügel häuften.

Von Vater Sigmund war weit und breit nichts zu sehen, dabei waren er und der Flößer seit vielen Jahren befreundet. Auf einmal sah Markéta ihn vor sich, wie sie ihn in der verdunkelten Stube zurückgelassen hatte, in einem Wirrwarr aus Essensresten und umgeworfenen Weinkrügen. Womöglich war er mittlerweile so betrunken, dass er Nicos Beerdigung vergessen oder es vorgezogen hatte, sich seinen Freunden und Nachbarn nicht zu zeigen.

Erst als sie den salzigen Geschmack auf ihren Lippen spürte, merkte sie, dass sie weinte.

Mutter Bianca, dachte sie, hatte niemals, kein einziges Mal versäumt, die Messe aufzusuchen, die Beichte abzulegen, Rosenkränze zu beten oder was immer Pater Hasek ihr an Bußen auferlegte. Aber in meinem Traum, Mutter, leidest du Höllenqualen, bald jede Nacht und Mal für Mal.

Wieder musste sie an Julius denken, das zerbrechliche Paradies ihrer Liebe. Mit dem Handrücken fuhr sie sich über die Augen, doch es kamen immer weitere Tränen nach.

»Verzeiht, Madame, bitte verzeiht!«

Sie wandte sich um und sah durch den Schleier aus Tränen eine kleinwüchsige Gestalt im schwarzen Gewand, die mit beiden Händen ihre Rechte zu erhaschen suchte.

»Bitte tragt meinem Karel nichts nach, Madame, es ist nur der Schmerz!« Olga Kudaçek bekam Markétas Hand zu fassen und bedeckte sie mit Küssen und Tränen.

»Um Gottes Willen, Olga.« Sie versuchte die trauernde Mutter an sich zu ziehen, aber die wich zu ihrem Mann hin zurück. Ihr Gesicht drückte so viel Angst aus wie die Miene des Flößers kalten Zorn.

Alle Trauernden starrten Markéta nun an. Auch der Pater hatte seinen Blick auf sie gerichtet, doch noch immer wirkte er seltsam abwesend, als ob er eine Fremde vor sich sähe.

»Es war ein Unglück, bitte glaub mir, Olga«, fuhr Markéta beinah gegen ihren Willen fort. »Niemand trägt die Schuld an Nicos Tod - es war Gottes Wille, ihn zu sich zu holen«, setzte sie hinzu. Ebenso gut hätte sie das Gegenteil behaupten können, und sogar mit mehr Überzeugung, wenn auch gleichfalls ohne irgendeinen Beweis.

Aus weiter Ferne ertönte nun leises Donnergrollen, dabei war der Himmel über Krumau noch immer wolkenlos und leuchtend blau. Dennoch nutzte Pater Hasek den Beistand der Gewalten und reckte drohend seinen Arm zum Firmament empor. »So wie auch niemand die Schuld an Unzucht und Wollust, Todsünde und teuflischer Verderbtheit trägt, die mit dem neuen Grafen droben in der Burg eingezogen sind - wolltet Ihr das sagen, Madame?«

Das Blut stieg ihr in die Wangen. »Nein, Pater, das wollt ich nicht.«

»Oder war es vielleicht auch Gottes Wille, dass Euer Vater Sigmund Pichler seines Privilegiums beraubt worden ist, obwohl er immer ein kundiger und gewissenhafter Heiler war, der sich nie die geringste Verfehlung zuschulden kommen ließ?«

Brennend spürte sie seinen Blick auf ihrem Gesicht. Pater Hasek hatte sie getauft, ihr Lesen und Schreiben beigebracht, sie in der Bibel unterrichtet, ihr die erste Beichte abgenommen. Sie vertraute ihm und schätzte ihn, auch wenn ihr in den letzten Jahren ein Großteil ihres Kinderglaubens abhanden gekommen war, nicht erst durch d’Alemberts Sentenzen und das fiebrig bunte Gomorra droben auf der Burg. »Mit Gottes Willen kenn ich mich nicht aus, Pater«, sagte sie endlich, indem sie die Stimme senkte und nah an ihn herantrat.

»Aber dass Vater Sigmund an der Affäre ganz unschuldig ist, glaubt Ihr wohl so wenig wie er selbst.«

Anstelle einer Antwort bekreuzigte er sich vor ihr, wandte sich um und schritt zwischen den Gräbern davon, auf das Kirchgebäude zu, das sich blendend weiß vom Blau des Morgenhimmels abhob. Die Trauergäste folgten der würdevoll schaukelnden Gestalt, doch Markéta wartete neben dem Grab des falschen Homunkel, bis sich die Sandwege des Gottesackers geleert hatten. Dann erst eilte sie zum Ausgang, ihre Chopinen wieder in den Händen, spähte nach links und rechts und huschte über die Straße, vis-à-vis ins Baderhaus.

57

»Er hat mir versprochen, beim Grafen ein Wort für mich einzulegen!«

»Der Lumpenteufel? Der hilft dir höchstens, schneller zur Hölle zu fahren!«

»Leise, um Himmels willen - wenn er dich hört!«

»Was ich von ihm denke, weiß Hezilow längst. Schlimm genug, dass du das Scheusal ins Haus lässt - aber jetzt auch noch seine verluderten Gesellen und einen Haufen fetter Huren dazu!«

Wie aufs Stichwort drang von der Badestube besoffenes Kreischen aus einem halben Dutzend Weiberhälsen herauf, untermalt von der pfeifenden Stimme des Puppenmachers und heiserem Johlen. Als Markéta eben in die Badestube getreten war, hatte sie ihren Augen nicht trauen wollen: In allen Zubern, auf der Ofenbank, selbst auf dem blanken Boden lagen oder wälzten sich Hezilows wirrbärtige Gehilfen, in den Armen oder zwischen den Schenkeln der feistesten Weiber, die sie jemals zu Gesicht bekommen hatte. Und dazwischen hockte, von Wasserdampf umwabert, Hezilow bei einem knochendürren Kerl mit stechenden Augen, bucklig verwachsen und so splitternackt wie die ganze Versammlung, die bei ihrem Erscheinen in rüde Ermunterungen ausgebrochen war.

Mit düsterer Miene lauschte der Bader einige Augenblicke nach unten, dann fuhr er Markéta an, mühsam seine Stimme dämpfend:

»Auf welche Fürsprecher soll man schließlich setzen - wenn schon die eigne Tochter einem in der blanksten Not nicht beisteht? Wirst du mir das wohl mal erklären, Markéta Pichlerovä?«

»Ich hab ja mit dem Obersthofmeister gesprochen«, verteidigte sich Markéta, »mit Maître d’Alembert. Er sagt, dass Don Julius selbst befohlen hat, dir das Privilegium zu entziehen, das macht die Sache nicht grade leichter.« Sie wich seinem Blick aus und wusste dann nicht, wo sie stattdessen hinsehen sollte. Du bist mein Vater nicht. Schon unten im Durchhaus hatte sie geahnt, dass sie es wieder nicht über sich bringen würde, ihm die Kindschaft aufzukündigen. »Aber sobald sich eine günstige Gelegenheit ergibt .«

»Eine günstige Gelegenheit?«, wiederholte der Bader. »Die ergibt sich doch jede Nacht, meine Hübsche, genauso wie du selbst. Schmeichers ihm ab, derweil du ihm den Schwanz walkst!«

Für einen Moment stockte ihr der Atem. Vater Sigmund hatte sich niemals einer zarten Sprache bedient, aber diese Worte waren absichtlich grob gewählt. Dabei war der Bader heute keineswegs berauscht; ärger als die trunkene Trübseligkeit, in der sie ihn vor Tagen zurückgelassen hatte, traf sie nun seine Nüchternheit. Im schwarzen Kirchgewand saß er vor ihr am blitzblank geschrubbten Tisch, die Stube war gesäubert, die Fenster freilich noch immer verrammelt, sodass nur spärliche Sonnenstrahlen durch die Läden drangen.

»Du scheinst Don Julius und mich mit dem Lumpenvolk zu verwechseln, dem du neuerdings deine Badestube öffnest«, sagte sie. »Ist dir eigentlich klar, Vater Sigmund, was diese Kerle und die Huren da unten treiben? Wenn Pater Hasek davon erfährt - oder gar die Nonnen, die jetzt oben in der Burg wohnen -, bist du nicht nur das Privilegium für alle Zeiten los, sondern landest auch noch im Karzer!«

»Pater Hasek!« Der Bader winkte mit einer Hand ab, die andere zwirbelte seinen Schnauzbart. »Der kann froh sein, wenn sie ihn nicht ganz aus seinem Sprengel verjagen.«

Der Magen zog sich ihr zusammen, während sie im Stillen seine Worte wiederholte. Daher der abwesende Blick, dachte sie, mit dem der Pater sie eben angesehen hatte, seine abweisende Bitterkeit. »Hasek«, sagte sie, »aber wieso denn nur?«

»Wieso, wieso?«, äffte der Bader sie schreiend nach. »Weil es deinem Herrn Bastardgrafen eben so passt! Der alte Heiler -weg mit ihm! Der alte Pater - auf den Kehricht! Die alten Stadtbüttel - hui, ins Armenhaus! Und dann? Ja, was weiß denn ich, Markéta? Frag ihn doch selbst, deinen Kaiserfratz, warum er alle diese Posten mit seinen eigenen Leuten besetzt! Das wird schon seinen Grund haben, nicht wahr? Aber vielleicht sagt er’s dir, wenn du ihm nur lang genug die fürstlichen Eier leckst?«

Markéta sprang auf, bis zu den Schläfen glühend. »Vater Sigmund!« Auch sie schrie jetzt, ohne Rücksicht auf die wirrbärtigen Böcke drunten, die alle im gleichen Takt auf die Ärsche der feisten Huren zu klatschen schienen - jedenfalls hörte es sich so an, als ob achthundert Pfund nacktes Fleisch unter rhythmischen Schlägen erbebten. »Kein Wort mehr gegen Don Julius, sonst sind wir geschiedene Leut’!«

Sie zitterte am ganzen Leib und musste sich mit beiden Händen auf der Tischplatte aufstützen, so weich fühlten sich ihre Beine an.

»Ich versteh’s nicht, wirklich nicht«, sagte sie viel leiser, »erklär du mir doch: warum?«

»Wenn ich’s wüsst, würd ich’s dir ja sagen«, gab der Bader zurück; auch seine Wut schien verraucht. »Aber ich begreif so wenig wie du, was da droben vorgeht, Töchterlein, umso weniger, als Don Julius auch einen neuen Scharfrichter eingesetzt hat - der hockt ja auch drunten im Zuber, der Knochendürre mit dem bösen Blick!«

»Der Henker«, flüsterte Markéta. »Du hast den Henker ins Haus gelassen, Vater Sigmund? Du wusstest, wer er ist, und hast trotzdem zugestimmt?« Nun erst dämmerte ihr, was es mit den schamlosen Weibern drunten in der Badestube auf sich hatte. Seit jeher besaß der Scharfrichter von Krumau das Privilegium, in seinem Haus draußen bei der Richtstätte Huren zu beherbergen, an denen sich die Freier für ein paar Münzen gütlich taten. Aber niemals hatte sie gehört, dass ein ehrbarer Bürger den Henker und seine Teufelsweiber gastlich bei sich aufnahm.

Nun war es am Bader, beschämt den Blick zu senken. »Der Russe hat’s verlangt«, ächzte er. »Dass der Scharfrichter seine Ernennung in der Badestub’ feiern darf - Schatz heißt er, Jakob Schatz; als Gegenleistung beredet Hezilow den Grafen, mir das Privilegium wiederzugeben. Was hätt’ ich denn machen sollen! Ojojoj!« Und er schlug die Hände vors Gesicht, um seine hervorquellenden Tränen zu verbergen.

Der Medikus, der Pater und der Scharfrichter, dachte Markéta, während sie auf wackligen Beinen um den Tisch herumging und Vater Sigmund tröstend umarmte. Undeutlich zeichneten sich vor ihr die Umrisse eines Plans ab, so teuflisch, so ungeheuerlich, dass sie vor ihren eigenen Gedanken erschrak.

»Der kleine Nico«, sagte sie mit gedämpfter Stimme, ihre Lippen nah am Ohr des Baders, der abwechselnd schnaufte und schniefte, »was meinst du, ist ihm geschehen?«

Der Bader fasste sie bei den Schultern und schob sie von sich fort.

»Ich hab den Leichnam nicht gesehen. Du hast ihn gefunden, Markéta, aber du hast den gräflichen Medikus gerufen, nicht mich. Also kann ich - als Heiler - nichts Genaues dazu sagen.« Er hielt inne, sichtlich mit sich ringend. »Aber wenn du trotzdem meine Meinung wissen willst«, fuhr er endlich fort, »ich glaub so wenig wie Karel Kudaçek, dass der Junge in der heißen Quelle umgekommen ist.«

Die Gesellschaft unten in der Badestube brach in vielstimmiges Jaulen und Stöhnen aus, das wahrhaftig wie das Kreischen der Gepeinigten im Fegefeuer klang.

»Warum glaubst du’s nicht?«, fragte Markéta.

»Karel und Olga durften den Leichnam noch mal sehen, bevor der Sarg verschlossen worden ist.« Der Bader knetete die Hände ineinander und redete jetzt so leise, dass sie wieder näher an ihn heranrücken musste. »Sie sagen, dass die Haut gewellt und rissig war, als ob der Körper in kochendem Wasser gelegen hätt.«

Markéta schloss die Augen und machte sie rasch wieder auf. »So hat es auch für mich ausgesehen«, sagte sie, und ein Schauer lief ihr zwischen den Schultern hinab.

»Das Wasser in der Quelle ist aber nicht mal siedendheiß.« Der Bader horchte nach unten und drückte kurz die Fäuste auf seine Ohren.

»Die tödlichen Verletzungen muss sich Nico woanders zugezogen haben. Sein Körper ist gekocht worden, Markéta.«