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SECHS - COAGULATIO

»Durch Entzug der Feuchte auf dem Feuer wird Flüssiges wieder ins Feste überführt.«

58

Er zückte sein weißes Seidentüchlein und tupfte sich über Stirn und Schläfen, keineswegs zum ersten Mal an diesem Tag. Dabei war es noch früh am Morgen und die Luft, die durchs Fenster hereinstrich, empfindlich kühl. Und doch war er am ganzen Leib klamm vor Schweiß.

Charles setzte sich auf sein hirschledernes Sofa, um für einen Moment auszuruhen. Vermaledeite Schwäche, dachte er, der Körper hatte sich gefälligst dem Willen zu beugen und nicht mit derlei Eigenmächtigkeit hervorzutun. Schon gar nicht gerade jetzt, da noch so vieles zu bedenken, zu befehlen, zu bewerkstelligen war, zwei Tage vor Ankunft der kaiserlichen Majestät.

»Soll ich Euch ein Glas Wasser bringen lassen, Maître?«, fragte sein Sekretär Pavel vom Erker her, die ältliche Gestalt übers Stehpult gebeugt.

Aber d’Alembert winkte nur mit müder Gebärde ab. Kaum hatte er sich in die Polster sinken lassen, da fühlte er sich noch matter und zugleich auf fiebrige Weise aufgewühlt. Hier habe ich mit Fabrio gesessen, dachte er, hier ist er mir an den Hals geflogen, hier wäre er mir auf den Schoß gekrochen, wenn ich nicht ...

Schluss jetzt! Abermals tupfte er sich mit seinem Tüchlein über Wangen und Stirn. Die Schminke war natürlich ruiniert, nun gut, darum würde er sich später kümmern. Jetzt aber erst einmal tout de suite die wichtigsten Schreiben überfliegen, Briefe für Prag et cetera diktieren, mahnte sich der Maître, blieb jedoch zu seiner eigenen unangenehmen Überraschung in den Polstern sitzen, während seine Gedanken mit tagträumerischer Willkür umherschweiften.

Gestern Nachmittag hatte es ein gewaltiges Gewitter gegeben, mit dröhnendem Donner und Sturzfluten von Regen, die Staub und Hitze aus der Luft gewaschen hatten. Vielleicht liegt es daran, sagte sich Charles, an diesem Wetterwechsel, dass ich mich so ausgezehrt fühle. Bei allen Göttern, er durfte nicht krank werden, keine Schwäche, keine Mattigkeit zeigen, sonst war das Spiel wahrhaftig aus.

Im Sofa eher schon liegend als aufrecht sitzend, sah der Maître den majestätischen Konvoi bereits vor sich, wie er am Samstagmorgen aus der Prager Hofburg hervortosen würde: In fünfundvierzig sechsspännigen Kutschen würden Rudolf und sein hoch wohlgeborener Tross anreisen, gefolgt von zwei Dutzend Gepäckkarren und acht vierspännigen Kutschen für die kaiserliche Kuchelpartei. Man würde sich einschränken müssen, dachte d’Alembert, sie selbst ebenso wie ihre Prager Gästeschar, die sich über die hiesigen Verhältnisse natürlich die Schnäbel zerreißen würden. Denn die Rosenberger Burg war zwar geräumig genug, um Hunderte von Gästen zu beherbergen, aber drei Viertel der Kammern und Säle waren in so trostlosem Zustand, dass selbst Hezilows Lumpenkerle es vorgezogen hatten, drunten im Gewölbe zu logieren.

Jurij Hezilow, dachte er dann, dieser verdammte Teufelsmagister ist der Giftquell meiner Mattigkeit.

Unsinn!, mahnte er sich gleich wieder, es war nur der Wetterwechsel, die Anspannung wegen der vor ihm sich auftürmenden großen Aufgabe, sonst gar nichts.

Das Fürstenappartement zumindest, in dem die allerherrlichste Herrlichkeit nächtigen würde, hatte er vorausahnend schon vor Monaten herrichten lassen, glanzvoller selbst als die gräflichen Gemächer, und den mit böhmischem Glas verspiegelten Thronsaal. Einzig im Fürstenappartement, das eine ganze Etage über dem vierten Burghof einnahm, mit einem herrlichen Blick auf das Dächergewirr von Krumau und die sich durchs Tal ringelnde Moldau - einzig dort hatte d’Alembert jedes Zimmer mit echten Kostbarkeiten einrichten lassen, mit Gobelins aus den Niederlanden, Teppichen aus Venedig, Goldledertapeten aus London; allein die Vorhänge im Fürstenappartement, aus dem berühmten kurzhaarigen Lucca-Samt gefertigt, hatten die ruinöse Summe von dreitausend Silbertalern verschluckt.

Denn aus irgendeinem Grund hatte er nicht gewagt, auch diese Räumlichkeiten, in denen die väterliche Majestät logieren sollte, mit wohlfeilen Imitaten auszustatten - aus Aberglaube vielleicht, wie er nun dachte, oder aus handfesterer Angst vor dem Jähzorn des Bastardsohns.

Abermals zog er sein Tüchlein hervor, das bereits durchnässt war von seinem Schweiß. Behutsam atmete er ein und wieder aus, aber wie sorgfältig er auch in sich hineinhorchte, er vermochte keinen Schmerz in seinem Herzen, kein Kratzen in seiner Lunge festzustellen.

Dennoch wuchs in ihm die Furcht, dass in seinem Leib eine ernstliche Krankheit heranreifen könnte, übergesprungen vielleicht vom Obersthofmeister oder gar vom erbarmungswürdig ausgezehrten Astrologen, den er gestern noch in seiner Turmkammer aufgesucht hatte.

»Der Löwe hockt mir in der Brust«, hatte von Sargenfalt mit heiserer Stimme geklagt. Am helllichten Tag hatte er im Bett gelegen, bis zum Kinn unter schweißfeuchten Decken vergraben. »Ich spür seine Tatzen schon im Rücken und im Herzen, sein heißer Atem bringt mein Blut zum Kochen, Maître: Bald zerreißt’s mich, denkt an mich, mon vieil ami.« Seine Rede war in einem Chaos aus dröhnendem Husten, tränenden Augen und sprühendem Speichel zerborsten, ärger noch als die Hustenattacken, denen von Breuner in immer kürzeren Abständen erlag.

Aber auch der Haushofmeister konnte in diesem Zustand keinesfalls das kaiserliche Mahl beaufsichtigen. Unvorstellbar, dass von Breuner verzerrten Gesichts vor die väterliche Majestät trat und ihr mit bebender Hand die Bissen vorschnitt, dabei die Lippen zusammenpressend und die Backen blähend.

So oder so, dachte d’Alembert dann, würde es Robert, Rudolfs Kammerdiener und engster Vertrauter, nicht dulden, dass irgendjemand außer ihm selbst dem Kaiser auch nur ein Bröckchen Brot vorlegte. »Niemand hier in Prag misstraut der kulinarischen Raffinesse Eures wackeren von Breuner, aber der Magen der Majestät ist empfindlich, wie Ihr ja wisst, mon cher monsieur«, hatte ihn die Stradovä in ihrem jüngsten Schreiben beschwichtigt. Schon seit Jahren begab sich Rudolf kaum mehr auf Reisen, ohne zumindest seine zuverlässigsten Köche mitsamt der unentbehrlichsten Kuchelschar mitzuführen. Und wenn es sich irgend vermeiden ließ, schlug er ohnehin alle Einladungen aus und verkroch sich in den hintersten Kammern des Hradschin, unerreichbar selbst für seine Minister oder seinen Bruder Matthias, der in Ungarn seit Jahr und Tag verzweifelte Schlachten gegen die Mohammedaner schlug.

Tatsächlich hatte Rudolfs Angst vor Giftanschlägen mit den Jahren immer noch zugenommen, dachte der Maître, und Katharina da Strada war bloß zu taktvoll, um anzudeuten, dass der Kaiser sich selbst hier in Krumau vor derlei Heimtücke nicht sicher fühlte.

Sogar hier - oder gerade in der Burg seines Bastardsohns, der ihm in gewissen unseligen Charakteraspekten nur allzu sehr ähnelte? Einen Moment lang verweilte er noch bei diesem in einzelnen Facetten so glanzvollen, in seiner Gesamtkomposition aber schrecklich spannungsvollen, fürchterlich widersprüchlichen Habsburger Charakter mit seinem Drang in teuflische Tiefen und seinem Hang zu schwärzester melancholischer Starre; dann stieß Charles d’Alembert einen Seufzer aus und rappelte sich auf.

Glücklicherweise würde die edle Heerschar nur einen halben Tag und eine Nacht in Krumau bleiben. Und wenn die neuerliche Goldprobe erst geglückt und Rudolf mit seinem Bastard versöhnt wäre, wenn die Sonne der kaiserlichen Gnade wieder über Krumau schiene und die prachtvolle Prager Plage endlich davongeschwirrt wäre - dann, ja dann würde er Fabrio umarmen, dachte d’Alembert und kicherte leise über seinen kleinen Scherz.

»Maître? Sind Sie wohlauf?«

»Tunk die Feder ein, Pavel«, kommandierte d’Alembert energisch, »und schreibe: >Chère Madame, erlaubt mir, auf einen Punkt zurückzukommen, den aus dem Blick zu verlieren unklug wäre, so unerheblich er sein mag, gemessen an Glanz und Größe des heiß erwarteten Gastes: Sollte Madame Markéta sich dahingehend vergessen, Euch als seine Mutter oder, horribile dictu, gar die allerherrlichste Majestät höchstderoselbst wegen eines gewissen Begehrens anzusprechen, so empfehle ich dringend, ihr Folgendes zu antworten .. .<«

Pavels Feder fuhr noch einige Augenblicke lang kratzend über das Blatt. »Ja, Maître?«

»Später.« D’Alembert war schon bei der Tür. »Den Brief diktiere ich nachher zu Ende, warte hier, bis ich von Don Julius zurück bin.«

59

»Die Spanier und die Pfaffen - was in gewissem Sinn das Gleiche ist - warten seit Jahr und Tag drauf, dass er endlich Isabella heiratet.« Lachend half er Markéta in eins der plumpen schwarzen Boote, die am Ufer des Schwanenteichs lagen. »Aber mein Vater weicht Traualtar und Ehepfuhl so hartnäckig aus, dass die Infantin vor lauter vergeblicher Hoffnung längst welk und grau geworden ist.«

Wie Johanna von Waldstein, fügte Julius in Gedanken hinzu, Johanna, die sich neuerdings mit ihren Dominikanerinnen wie mit einer spirituellen Salvaguardia umgab. Manchmal war sie ihm regelrecht unheimlich, der kalte Blick ihrer dunklen Augen, die frömmlerische Miene, hinter der sie ihren Hass und Ekel immer mühsamer verbarg.

Er sprang zu Markéta ins Boot, nahm die Riemen zur Hand und versuchte den Kahn vom Ufer abzustoßen. Aber er stemmte das hölzerne Blatt so tölpelhaft in die Böschung, dass sie beinahe gekentert wären.

»Setz du dich ins Heck, meiner Lieb’«, sagte die Baderstochter, »ich rudere.«

Mit verzwickter Miene sah sie zu ihm empor, entschlossen und furchtsam in einem, wie ihm schien. Gehorsam erhob er sich, einmal mehr erheitert durch ihre unzimperliche Art. Der Kahn schwankte, das Wasser unter ihnen gluckste, als sie sich aneinander vorbeischlängelten, um die Plätze zu tauschen.

Auf den Wegen rings um den Teich patrouillierten seine Gardisten in der Mittagssonne, daher versagte er’s sich, sie noch enger an sich heranzuziehen und ihre samtigen Falten mit seinen Fingern zu erforschen. »Auf so schwankendem Grund«, sagte er stattdessen, indem er mit steifer Grafenmiene auf der hinteren Holzbank Platz nahm, »ruht seit jeher auch die Verbindung meiner Eltern: väterliche Majestät und mütterliche Mätresse.«

Markéta stemmte sich in die Riemen, schweigend, ihr Blick auf sein Gesicht gerichtet. Unter ihnen rauschte das Wasser, Enten stoben schnatternd auf, während sie in rascher Fahrt auf die Schwaneninsel zuhielten.

Julius seinerseits betrachtete ihre mädchenhaften Brüste, die sich im türkisfarbenen Dekollete hoben und senkten. »Frag ruhig meine Mutter, übermorgen lernst du sie ja kennen«, sagte er. »Sie wird dir versichern, dass sie glücklich ist.«

Vor wenigen Stunden erst hatte d’Alembert ihm angekündigt, dass Markéta ihn mit dieser speziellen Angelegenheit bedrängen würde, und der Maître hatte Recht behalten. Ein meisterlicher Menschenkenner, ohne Zweifel, dachte Julius. Umso erstaunlicher, dass der Maître ihn gleich darauf beschworen hatte, sich von der Ludanice keinerlei Versprechungen abringen zu lassen, zumindest nicht im Moment.

Aber warum dieser plötzliche Meinungswandel? Hatte nicht d’Alembert selbst ihn mit Markéta regelrecht verkuppelt, damit er sein Genügen hier in Krumau fand, beim Possenspiel geschenkter Grafenmacht? Und beschwor ihn nun dennoch, sich von ihr nicht zur Ehe bereden zu lassen? Heißt das nicht, dachte Julius, dass d’Alembert meine Hoffnungen, die er mir seit Jahren und Jahren mit allen Mitteln auszutreiben trachtet, auf einmal teilt? Ha! Glaubt auch Ihr plötzlich, mon cher monsieur, dass ich die väterliche Krone zu erringen vermag? Und wollt mir daher raten, durch eine Vermählung mit der minderblütigen Schönen nicht das Zepter zu zerschmettern, das Hezilows Kunst mir auf einmal in die Hände spielt?

Sein Blick schweifte zum Ufer zurück, wo zwei struppige Gesellen unter den Bäumen hervortraten, sich umsahen, dann den Weg entlangtrotteten, zur Burg hinab. Oblion und Täkie, dachte er, oder Unçerek und Fondor? Zu jeder Tages- und vor allem Nachtzeit konnte man den Kerlen hier oben im Park begegnen, wo sie Moos von Mauersteinen kratzten oder gallertige Pilze ernteten, um Pelikan und Tiegel ihres Meisters mit magischen Ingredienzien zu füllen.

»Und wenn er deine Mutter zur Gemahlin nähme?«, fragte Markéta in sein Sinnen hinein und ließ schwer atmend die Ruder fahren.

»Müsst er abdanken, als Kaiser und König - unvorstellbar!«

Knirschend fuhr ihr Kahn ins Uferschilf der Schwaneninsel. Julius sprang über Bord und reichte ihr die Hand, aber Markéta schüttelte den Kopf und kletterte allein an Land. Wieder hatte sie ihre störrische Miene aufgesetzt, die ihn ebenso sehr erheiterte wie erregte.

»Ich weiß, mein Herr«, sagte sie unerwartet sanftmütig und hängte sich bei ihm ein. »Ich hab’s auch nur des Kontrastes halber gefragt: weil du ja sowieso nie Kaiser oder König wirst.«

Da wurde ihm sturzdüster ums Gemüt. »Sag so was nicht«, murmelte er mit fremder Stimme, »sag’s nie mehr.«

Der gepresste Ton schien sie aufzustören. Sie entzog ihm ihren Arm wieder und wich zum Kahn hin zurück. »Was hast du, Julius?«, fragte sie wie gestern früh, jetzt aber voller Schrecken. »Was hab ich denn gesagt?«

»Gar nichts«, brummte er und sah sie stirnrunzelnd an. »Zum Glück hast du’s nicht gesagt, und sag’s auch niemals: nicht mit Bedacht und nicht aus Versehen.«

»Aber was denn, bei allen Heiligen?«, rief Markéta aus, die nun eher zornig als erschrocken wirkte. Sie stemmte die Fäuste auf die Hüften, ihr Pfirsichbusen wogte. »Was redest du denn in Rätseln, Julius? Sag halt geradeheraus, was dich eben so verletzt hat - oder meinethalben fast gekränkt hätte?«

»Bastard«, presste er zwischen den Zähnen hervor. »Hinter meinem Rücken nennen mich alle den Bastard des Kaisers, das weißt du ja. Aber ich könnt’s nicht ertragen, Markéta, wenn du genauso über mich dächtest, wenn du wie alle Welt glauben würdest, dass ich nicht würdig wär, das väterliche Zepter zu tragen.«

Sie starrte ihn nur wortlos an. Ihr Mund öffnete sich und ging wieder zu. Dann hob sie die Arme, als ob sie ihn an sich ziehen wollte, und ließ sie in einer ratlosen Gebärde wieder sinken.

»Versprichst du’s?«, fragte er. »Schwörst du’s mir, Geliebte -bei deinem Leben?«

Ein schwarzer Schwan, der bisher wie tot im Schilf gehockt hatte, sprang auf einmal auf und lief drohend auf sie zu, die Flügel gespreizt und lauthals fauchend. Ohne seinen Blick von Markéta zu wenden, packte Julius das Vieh und drehte ihm den Hals um. »Schwörst du’s?«, wiederholte er.

Sie nickte krampfhaft, die Augen weit aufgerissen, und da schoss es ihm auf einmal durch den Sinn: So, ganz genau so hat mich auch Johanna angesehen ... Aber wie kann das sein? Was hatte sie bei den Infantengemächern verloren - tief in der Nacht?

»Woran denkst du, Julius?«

Er fuhr zusammen und ließ den schlaffen Schwan ins Uferschilf fallen. »Ah, seltsam«, antwortete er, »immer wieder quäl ich mich mit jener Nacht - du weißt schon, als das Mariandl auf einmal ...« Er unterbrach sich und fuhr sich mit der flachen Hand übers Gesicht.

»Bis heut kann ich mich einfach nicht erinnern, was damals passiert ist. Ein Gebräu haben sie mir eingeflößt, weil ich in tiefen Schlaf fallen sollt ... Aber einmal muss ich doch aufgewacht sein . aufgestanden . auf den Gang hinaus, und da ... So wie du mich eben angesehen hast, Markéta, die Augen weit aufgerissen: So stand in jener Nacht sie vor mir!«

»Sie?«, wiederholte Markéta, nach seiner Hand greifend. »Du meinst - Johanna?«

Julius nickte mehrfach, noch immer tief in Gedanken. »Sie schlafwandelt zuweilen, das weiß im Hradschin jeder - aber warum ist sie ausgerechnet in jener Nacht vor meiner Tür herumgeschlichen?« Heftig schüttelte Julius seinen Kopf, um die Benommenheit zu vertreiben. »Na, wer weiß, ob ich da nicht was durcheinander werf.«

Er nahm ihren Arm und wollte sie weiterziehen, aber Markéta sträubte sich und blieb wie angewurzelt im Uferschilf stehen. »Die fromme Senora«, murmelte sie, »Johanna schlafwandelt also? Und traust du ihr’s zu, dass sie in die Kabale verwickelt ist?«

Julius schüttelte heftig den Kopf. Baron von Waldstein war ein Intimus der väterlichen Majestät - da war es gewiss nicht ratsam, seine Tochter der Verstrickung in eine Mordintrige zu bezichtigen, besonders dann nicht, wenn man keinerlei Beweise in Händen hielt.

»Nein? Und was würdest du sagen, Julius, wenn sich herausstellte, dass sie mir gedroht hat?«

»Ich wäre überrascht, wenn sie dir nicht gedroht hätte.« Er lachte leise. »Aber das sind leere Worte, glaub mir: Sie könnte niemals ...«

Er unterbrach sich und spürte im gleichen Moment, wie seine Stimmung sich erneut verfinsterte. »Kein Wort mehr von Johanna, ich bitt dich«, fuhr er fort. »Es spielt ja sowieso keine Rolle mehr: Wenn der Kaiser am Samstag das Gold in Hezilows Topf sieht, wird er meine Verbannung im Handumdrehen aufheben.« Er schob seinen Arm in ihre Beuge, und diesmal ließ sie sich willig weiterziehen. »Übrigens hab ich jemanden ausgeschickt, ins Siebenbürgische, um die Herkunft deiner Mutter zu überprüfen.« Von der Seite her sah sie ihn mit einer Miene an, in der sich Freude und Unglaube mischten. »Wenn du willst«, fuhr er fort, »gehen wir gleich nachher zu ihm und hören uns an, was er rausgefunden hat.«

»Gleich nachher?«, echote sie. »Aber ist er denn hier auf der Burg? Und wie konnte er so schnell nach Siebenbürgen und zurück gelangen?«

»Er ist geflogen«, sagte Julius, »auf seinem Sternenbett.« Und dann musste er so sehr lachen, dass alle überlebenden Schwäne mit rauschendem Flügelschlag von der Insel flohen, während er und Markéta auf denselben Hügel sanken, wo die Baderstochter vor bald fünf Wochen mit dem Nabellosen gesessen hatte, von Hezilows Gesellen belauert und von d’Alemberts Soldaten bewacht.

»Wenn es dahinkäm, Geliebte, dass ich zwischen dir und der väterlichen Krone wählen müsste, es würd mir das Herz in Fetzen reißen.« Er bettete seinen Kopf in ihren Schoß und sah, die Augen gegen die senkrechte Sonne zusammenkneifend, zu Markéta empor, die ihm mit sanfter Hand über Stirn und Wangen fuhr, wie um ihn im Voraus für seinen Verlust zu trösten.

Die Sonne versank hinter den Dächern von Krumau - schon wieder Abend, dachte Julius, wie bleiern die Stunden sich früher oftmals dahinschleppten, und wie geschwind sie vorwärtseilen, seit Markéta bei mir ist. Oder liegt’s daran, dass mir vor Samstag immer banger wird, je näher die Schicksalsstunde rückt? Dass mich eine uralte Angst durchschauert, wenn ich ihn in Gedanken vor mir seh, die väterliche Majestät? O mein allerherrlichster Herr, schwefelgelbe Sonne meiner Hoffnung, wie werdet Ihr mich anschauen, wenn wir Schulter an Schulter in Hezilows »Helle« stehen: zweifelnd, spöttisch - oder vertrauensvoll, ja stolz?

Vor der Mittagssonne waren sie bald wieder von der Insel geflüchtet, in die schattigen Tiefen des Parks. Julius lehnte am Stamm einer vielhundertjährigen Eiche, Markétas Hände in den seinen, und schaute sie so forschend an, als ob die Antwort auf seine stummen Fragen am Grund ihrer blitzend grünen Augenseen läge.

Wahrhaftig, dachte er wieder, es tät mir das Herz in Fetzen reißen.

Er zog sie nah zu sich heran, schlang seine Arme um ihren schlanken Leib und küsste sie mit einer wilden Zärtlichkeit, die er niemals vorher empfunden hatte, bei keinem Mädchen, keinem Weib. Zwei Gehilfen des Puppenmachers trotteten unweit durchs Unterholz, Baschek und Unçerek oder Oblion und Täkie, doch Julius nahm sie kaum wahr. Er hielt Markéta umschlungen und küsste sie, wie ein ausgedörrter Wüstenwanderer unersättlich trinkt und trinkt, bei jedem Schluck die Vorsehung preisend, die ihn eben noch zeitig die rettende Oase, das köstlich erfrischende, jede Faser seines Wesens tränkende Wasser finden ließ.

Atemlos ließ er endlich von ihr ab, ihr Gesicht, ihre ganze Gestalt schien zu leuchten, wie sie vor ihm stand, unter den Eichenästen, durch die letzte Strahlen der Abendsonne rieselten. Vielleicht, durchfuhr’s ihn, vielleicht hatte von Sargenfalt bei seiner Geisterreise ja herausgefunden, dass Markéta von weit edlerer Abkunft war, als sie bisher angenommen hatten - nicht nur vom Geschlecht der Ludanice stammend, sondern aus irgendeiner übersehenen Nebenlinie eines abendländischen Herrscherhauses?

Das war gewiss nicht sehr wahrscheinlich, aber was hatte das schon zu besagen, da er doch offenkundig vom Schicksal ausersehen war, die väterliche Majestät, das Heilige Reich, ja das gesamte Abendland aus dem Abgrund zu ziehen? Oder warum sonst wär der Puppenmacher ausgerechnet hierher gekommen, nach Krumau, um sein schicksalhaftes Werk zu vollbringen? Gold in funkelnden Strömen, Kreaturen in blanken Scharen, dachte Julius, indem er Markéta bei der Hand nahm und wieder mit sich zog, zur Burg hinab.

»Alles wird sich zum Allerbesten wenden«, sagte er zu ihr, »ich spür’s ja, und mein Astrolog hat auch alles genau so vorausgesagt. Der gute Sargenfalt, lass uns gleich zu ihm gehen: Er soll uns berichten, was er im Siebenbürgischen rausgebracht hat.«

»Der hustende Sternengucker?« Ungläubig sah sie ihn von der Seite her an und wollte sogar stehen bleiben, aber er zog sie immer weiter, lachend, auf ihre nackten Füße hinuntersehend, die wie zwei winzige braune Rehkitze neben ihm durchs Gras sprangen. »Der ist nach Preskov geritten und handkehrum zurück?«

»Wart’s ab, wart’s nur ab«, sagte Julius, die Geliebte immer rascher mit sich ziehend, den abschüssigen Weg zur Burg hinunter, bis sie in den Schatten des obersten Burghofs tauchten, der sie nach der flirrenden Hitze des Parks mit kühlem Dämmerlicht umfing.

Das bunte Völkchen der Maler und Schranzen, Musikanten und Poseure, Narren und Schauspieler lagerte in den Höfen. Viele hatten Weinbecher in den Händen, andere hockten oder lagen, paarweise oder zu dreien, in Winkeln und Nischen, müßiger Wollust zugetan.

Aus einem Knäuel von Leibern und Gliedern reckten sich zwei schwarz gelockte Köpfe, aber Julius winkte ihnen ab: Die Syrakuser wollte er jetzt nicht bei sich haben.

Sein ganzes bisheriges Leben schien ihm auf einmal wie zielloses Verspritzen des kostbarsten Elixiers. Mit so vielen Fötzlein und Schwänzlein getändelt, dachte er, Jahre und Jahre mit Kutschreisen, Spiegelfechtereien, mit Jagdpartien, prahlerischen Gelagen durchgebracht.

Und dabei habt Ihr eine Aufgabe hier auf Erden zu leisten, mein herrlicher Herr, die größte, glanzvollste Pflicht auf dieser Welt: Retter des Kaiserreichs! Dumpf schwante es mir ja seit langem, als kleinem Knaben schon. Und dienten mein Groll und mein Abscheu, der ewige Selbsthass auf den Kaiserbastard nicht immer nur dazu: mich vor der heiligen Aufgabe zu verstecken, die mir im Geheimen allzu groß und gefahrvoll schien?

Aber damit ist’s nun vorbei, für alle Zeiten vorbei, schwor sich Julius, indem er Markéta immer weiter mit sich zog, Hof um Hof abwärts, durch Scharen und Spaliere buckelnder Schranzen und Lakaien, bis sie endlich die lang gezogene, sanft abfallende Fläche des untersten Burghofs erreichten.

Ein wenig außer Atem traten sie an die Burgmauer, die sich rechterhand an den Hungerturm anschloss, und beugten sich darüber. Tief unter ihnen zog sich der Graben dahin, zehn Schritte breit, finster wie eine Waldschlucht und mit Gestrüpp und Bäumen bewachsen.

»Die Bären, siehst du?« Er deutete hinab, dabei waren die beiden Bestien wahrhaftig nicht zu übersehen, wie sie im Schlamm umhertrotteten, in Mais und Kartoffeln wühlten, die zu großen Haufen vor ihnen aufgetürmt waren.

Als er die Stimme des jungen Grafen hörte, sah Robse, der Hüne mit der brandroten Mähne, zu ihnen auf. Er hockte einige Schritte abseits im Graben, auf einem Steinbrocken vor der äußeren Burgmauer, neben ihm sein halbwüchsiger Sohn. Nun sprangen beide auf und warfen sich gleich wieder auf die Knie, die Hände aneinander gelegt und bittend emporgereckt. »Erbarmen, Herr«, rief Robse, »ich fleh Euch an, lasst uns frei!«

»Nichts da, so war’s abgemacht, Robse.« Lachend spie Julius auf ihn hinab. »Du hast mir keine Brummbärkinder gebracht, nur die beiden Alten. Drum bleibt ihr beiden hübsch im Graben, ich befehl’s.«

60

»Ein heilsames Elixier hab ich Euch gemischt, nach der Formula des Magisters, seht nur.« Der Medikus stand über den Astrologen gebeugt, einen Zinnbecher in der Hand, den er lockend vor der Nase des Kranken schwenkte. »Trinkt nur, Sargenfalt, trinkt, und wenn Ihr morgen erwacht, fühlt Ihr Euch wie neugeboren.«

Sargenfalt lag flach auf dem Rücken, die Decke voll gestickter Silbersterne bis unters Kinn gezogen. Der Sterngucker hauste unter der Kuppel des Hungerturms, seine kreisrunde Stube war so eng, dass zwischen Bett und Stehpult nur wenig Raum blieb. Auf einem Schemel vor der Wand hockte sein schwarzes Fernrohr, klobig wie ein Kanonenrohr bedrohte es den Abendhimmel, dessen Gestirne durch ein Dutzend schmaler Fensterlöcher schienen.

In schwacher Abwehr schüttelte der Astrolog den Kopf, doch Kasimir von Rosert pries unbeeindruckt weiter seinen Heiltrank an:

»Reines Goldwasser, Sargenfalt, das stillt den Durst des Löwen in Eurer Brust. Verschmäht es, und der Leu wird Euch das Herz zerreißen. Trinkt’s, und Ihr seid morgen wieder munter wie ein Komet.«

Tomatenrot leuchtete sein Glatzkopf über dem fahlen Antlitz des Sternenguckers, der alle paar Atemzüge von Hustenstößen erschüttert wurde. Mehrfach grimassierte der Medikus Verständnis heischend zu Julius herüber, der neben Markéta unter der Tür stand. Für mehr als einen Besucher bot die Stube keinen Platz, zumal wenn dieser Gast die ausladende Statur von Roserts besaß.

»Nun sauf er’s endlich aus«, sagte Julius, »sonst träufel ich’s ihm ein, aber nicht durchs Maul, der Herr.«

Aus eingesunkenen Augen sah Sargenfalt voller Schrecken zur Stubentür. »Euer Gnaden, hat Euch gar nicht - kech, kech! -Verzeiht!«

Während er stammelte und hustete, wühlte er einen dürren Arm unter der Sternendecke hervor. »Dann Prosit, Kasimir«, hörte Markéta ihn murmeln, »her mit dem Schlangentrunk, er befiehlt’s.« Und der Astrolog nahm den Becher in die zitternde Rechte, setzte an und leerte ihn so hastig, dass sein Adamsapfel am dürren Hals auf und nieder sauste.

»Brav, Sargenfalt«, lobte Julius, »und nun heb er sich hinweg, Medikus, damit ich den Geisterreisenden befragen kann. Wegen Madame«, setzte er hinzu, mit einem Augenzwinkern für von Rosert, das Markéta wenig behagte.

Doch Julius’ unerwartete Eröffnung hatte sie in solche Aufregung gestürzt, dass sie kaum erwarten konnte, endlich zu hören, was der Astrolog herausgebracht hatte. Auf seiner Geisterreise, dachte sie wieder und wieder, also gab’s sie doch: kundige Boten, die in die Welt jenseits des Nebels reisten und wohlbehalten zurück in unsere Welt? Wenn studierte Herren wie Don Julius und Sargenfalt dran glaubten, wenn der eine von ihnen, ein grauhaariger Herr von ausgezehrtem Aussehen, sogar beteuerte, die Schattenwelt kürzlich erst bereist zu haben, wie könnte dann sie, die Krumauer Dorfgans Markéta, an der Weisheit so hoher Herren zweifeln?

»Ah, die Herkunftsfrage«, sagte von Rosert, indem er den geleerten Becher entgegennahm. »Wenn ich mir die Bemerkung erlauben darf, Euer Liebden - ich bin überzeugt, dass unsere Nachkommen all diese Herkunftsdebatten, Blutsverherrlichung, Abstammungsdispute, um die wir Heutigen so viel Gewese machen, höchstens noch belächeln werden, ja, man wird kaum mehr begreifen, was uns Alte damals so erhitzt hat, vor zwanzig oder fünfzig Jahren.« Die dröhnende Stimme des Medikus hallte von den Wänden wider, und sein Schatten schien die gesamte Stube auszufüllen, als er sich zu seiner vollen Größe aufrichtete, vom Bett her durch eine Lampe angestrahlt. »Vielleicht geruht Ihr Euch zu entsinnen, Exzellenz, was ich schon vor Jahren vorausgesagt habe: Nicht mehr lange, und die Menschen werden Ebenbilder ihrer selbst mit eigner Hand erschaffen, den alten Göttern gleich.«

»Schon recht, schon recht, Kasimir«, fiel ihm Julius in die Rede, »allerdings habt Ihr stets prophezeit, dass es sich bei diesen Ebenbildern um angemalte Apparate handeln werde.« Er machte einen Schritt in die Stube, den Medikus beim Ärmel packend. »Der Magister wird uns aber blutwarme Männchen aus lebendigem Fleisch backen, das ist ein Unterschied, nicht? Und nun heb er sich endlich hinweg!«

Kasimir von Rosert stolperte hinaus, und an ihm vorbei presste sich Markéta in die Astrologenstube. Obwohl mehrere der Lukenfenster geöffnet waren, herrschte hier drinnen ein beißender Geruch nach Kerzenrauch und fiebrigem Schweiß.

»Gott zum Gruß.« Sie nickte dem Kranken zu. »Was hat der Medikus Euch eingeflößt, mein Herr?«

»Goldwasser, zumindest sagt er’s, Ihr habt’s ja gehört.« Sargenfalt richtete sich auf seinem Lager auf, stopfte sich ein Kissen in den Rücken und sah seine Besucher mit munterer Miene an. »Aber was der Magister da auch zusammengemischt haben mag, es tut seine Wirkung, schneller als ein Engel fliegen kann!« Hohlwangig lächelnd sah er von Julius zu Markéta. »Ich war schon drauf gefasst, dass der Löwe mir die Brust zerreißt! Jetzt aber sind der Husten, die Schmerzen, Schwindel und Fieber - alles wie weggeblasen.«

»Na, das wurd auch Zeit, Sargenfalt.« Julius ließ sich auf der Bettkante nieder, reichte Markéta eine Hand und zog sie zu sich herab.

»Hoffen wir, dass Hezilows jüngstes Wunder ein Weilchen vorhält - zumindest, bis Ihr uns berichtet habt.« Er tätschelte die schlaffe Wange des Astrologen. »Also lasst hören, sofort.«

Mit offenbarer Bestürzung sah Sargenfalt zu seinem Gebieter auf.

»Die Krankheit, bitte um Vergebung«, murmelte er, »ich war dort, viele Male dort, Euer Liebden, aber der arge Husten hat mich jedes Mal wieder rausgerissen, noch ehe ich die gesuchten Geister traf.«

»Dann fahrt jetzt wieder hin, die Augen zu und hopp!« Julius tätschelte stärker, dass es beinahe wie Backpfeifen klatschte. »Kein Husten quält Euch mehr, was zögert Ihr?«

Der Astrolog riss die Augen auf. »Das magische Kraut, Euer Liebden, ich muss die Zauberpfeife rauchen, sonst misslingt der Geisterflug.«

»Dann stopf und rauch er, guter Mann!« Julius zog ihm die Sternendecke weg, dass der Astrolog in jämmerlicher Blöße lag, ein Gerippe in fleckigem Nachtgewand. »Puh, wenn der Duft nur Eure Geister nicht vertreibt! Wo ist das Kraut? Hol er’s! Paff er, orakle er, hopp!«

Mit furchtsamer Miene rappelte der Kranke sich auf und tappte durch seine Stube zum Pult, wo er Tabaksbeutel und Pfeife aus der Lade nahm. »Freilich weiß ich nicht«, gab er zu bedenken, »wie das Zauberkraut sich mit dem Heiltrunk vermählt. Möglich, dass dieser mich hinabdrückt, während jenes mich heraufzuziehen trachtet ...«

»Schwadronier er nicht, sondern kokel endlich an!« Julius zwinkerte Markéta zu, aber sie setzte ihre störrische Miene auf und weigerte sich, zu ihm hinzusehen.

Wahre Gewitterstürme tobten in ihrem Busen, während sie der Debatte lauschte und zusah, wie der Alte sich eilte, die Befehle seines Herrn auszuführen. Fahr dazwischen, forderte sie sich selbst auf, der Kranke soll sich schonen, er muss erst wieder zu Kräften kommen - wer weiß, was für ein Teufelszeug aus Hezilows Hölle der Medikus ihm da eingeflößt hat! Wenn er die Geisterreise in drei Tagen unternimmt, ist’s immer noch gute Zeit, mahnte sie sich, blieb aber wie gelähmt auf der Bettkante sitzen und sah zu, wie der Alte sich mit zitternder Hand die Pfeife stopfte. Endlich brannte das Kraut, röchelnd sog er den Rauch ein, gegen sein klobiges Fernrohr gelehnt.

»Sargenfalt ist mein allerbester Geisterseher«, hörte sie Julius an ihrer Seite rühmen.

Einen Moment lang rang sie noch mit sich, dabei stand ihre Entscheidung längst fest. Mit einem Lächeln wandte sie sich an den Astrologen. »Wie Ihr vielleicht wisst, bin ich im Haus eines Heilers aufgewachsen. Als Badergehilfin sollt ich Euch ermahnen, diese Pfeife beiseite zu legen und erst Eure gänzliche Genesung abzuwarten, ehe Ihr Euch auf eine so gefahrvolle und anstrengende Reise begebt.« Sie erhob sich und trat neben den Sterngucker, der mit rasselnder Lunge an der Pfeife sog. »Aber als Tochter der Bianca da Ludanice muss ich anders handeln«, fuhr sie fort, »und bitt Euch hiermit, werter Herr, ja ich fleh Euch an: Wenn Ihr jetzt zu den Geistern reist, sucht meine Mutter Bianca auf und befragt sie, welche Qualen sie leidet, welche Botschaft sie mir zuzuschreien versucht in meinen Geisterträumen Nacht für Nacht!«

Sargenfalt sah sie aus trüben Augen an, sein Antlitz im Sternenlicht glitzernd vor Schweiß. »Eure Frau Mutter?«, echote er. »Wie könnt ich die so schnell finden im Geistermeer? Was glaubt Ihr, wie viel Mühe und Geduld es mich gekostet hat, wie viele hundert Geistergespräche, bis ich zumindest eine Spur jener Ludovica da Ludanice fand, der Großtante Euer Mutter Bianca?«

Zaghaft sog er aufs Neue an seiner Pfeife, von der ein schwerer, süßlicher Duft nach überreifen Pilzen aufstieg. »Die Geister haben nur wenig eigenen Willen und noch weniger Bewusstsein«, fuhr er fort, »sie sind wie glimmende Lichtfäden im Nebelmeer. Auf der Suche nach Madame Bianca schwimm ich in diesem Ozean von einem Fädchen zum andern, frag und frage und bekomme nur selten Antworten, die klarer wären als ein Seufzer, ein Murmeln, gewisperte Erinnerung an schattenhafte Fetzen eines halb vergessenen Traums.«

Er nahm die Pfeife aus seinem Mund und hielt sie Markéta hin.

»Warum reist Ihr nicht selbst dort umher, chère madame? Wenn Eure Frau Mutter Euch im Traum schon erschienen ist, wenn sie bereits versucht hat, Euch etwas mitzuteilen, dann werdet Ihr sie auch finden im Schattendampf. Denn dann will sie von Euch gefunden werden, und sie wird spüren, dass Ihr es seid, die dort in der Geisterwelt nach ihr sucht.«

Zögernd nahm Markéta die qualmende Pfeife entgegen. Die Versuchung war übermächtig, und was sollte ihr schon geschehen? Schließlich war auch Sargenfalt schon hundertmal, wie er selbst gesagt hatte, in die Nebelwelt gereist und wohlbehalten zurückgekehrt.

Sie sah zu Julius, der noch immer auf der Bettkante hockte und ihren Blick abwesend erwiderte. Fragend blickte sie ihn an, endlich nickte er ihr zu, und da setzte Markéta die Pfeife an ihre Lippen und nahm einen kräftigen Zug.

Sie hatte auch früher schon ab und zu an Vater Sigmunds Pfeife gesogen, daher spürte sie jetzt nur ein leichtes, durchaus angenehmes Kribbeln in der Kehle, aber nicht den schwächsten Hustenreiz. Der Rauch schmeckte nach modrigen Waldfrüchten, und als sie ihn nochmals einsog, begann sich ihr Geist mit einem brodelnden Nebel zu füllen.

»Geleitet mich zu meinem Lager«, murmelte Sargenfalt. Er wirkte benommen, schwer stützte er sich mit einer Hand am Fernohr ab, und seine Linke tastete im Leeren umher. »Der Schwindel kehrt zurück.«

Markéta legte die Pfeife aufs Pult, fasste den Kranken beim Arm und führte ihn zu seinem Bett. Julius hatte sich erhoben und war zur Tür hin zurückgewichen, mit einem Kopfschütteln bedeutete sie ihm, dass von Sargenfalt heute sicher nichts mehr berichten würde. Ihre Arme und Beine fühlten sich seltsam leicht an, ihr ganzer Leib schien sich mit dem Nebel zu füllen, der von ihrem Kopf abwärts strömte.

Kaum lag der Astrolog unter seiner Sternendecke, als sich seine Lider auch schon flatternd senkten. »Bald ... bald«, hörte sie ihn murmeln und beugte sich noch tiefer über ihn. »Ich komme ...«, wisperte er, dann fiel sein Kopf zur Seite und er schlief so tief und fest, dass keine Befehle oder Backpfeifen ihn mehr erreichten.

Seine Seele, dachte Markéta, fliegt durchs Geistermeer.

Auch sie selbst fühlte sich so schwebend leicht wie eine körperlose Wesenheit, als sie an Julius’ Arm die Wendeltreppe hinabflog und über die nachtdunklen Burghöfe segelte, ihrem Schlafgemach entgegen und dem Nebelmeer, in dessen Tiefe Mutter Bianca auf sie wartete. Wenn sie die Augen schloss, sah Markéta die glimmenden Fäden bereits vor sich, die im Innersten des Nebels umeinander glitten, mit matten Stimmen murmelnd und wispernd.

Dass Julius sie vor der Tür zum Frauenzimmer verließ, Bronja sie auskleidete und zu ihrem Himmelbett geleitete, Flor sich schlaftrunken zur Seite rollte - all das kam Markéta schon nur noch wie ein Traum vor, unwirklich neben der seidigen Nebelwand, durch die ihre Seele bereits hindurchschwebte, noch ehe ihr Körper die ebenso seidenweiche Matratze berührte.

Sie flog durchs graue Nebelmeer, in dem Milliarden Glimmerfäden zitterten. Die Fäden waren wie Glühwürmchen, nur dass sie blasser, kälter glommen, nicht golden oder rötlich, sondern engelhaft weiß. Näherte sie sich einem Faden, so kringelte der sich zusammen und glitt davon, im nächsten Moment schon ihren Blicken entschwunden. Versuchte sie eins der Fädchen anzurufen, so erklang ein Seufzer, ein sterbensmattes Schluchzen, dann ringelte auch dieses Fetzchen sich durch den Nebel hinweg.

So war’s ihr schon als kleines Mädchen ergangen, dachte sie auf einmal, wenn sie sich im Keller unter der Badestube versteckt hatte und die Luft dort von feuchtem Dampf erfüllt gewesen war. Ein Nebelmeer, in das sich Lichterfäden woben, durch tausend hölzerne Ritzen zu ihr herab. Und Mutter Bianca rief nach ihr, mit leiser Stimme, die wie zerbrochen klang vor Angst: »Markéta! Kindlein, o mein Gott!«

Die Fäden ringelten sich vor ihr im Nebel, Markéta pustete sie an, damit sie ins Tanzen und Schwingen gerieten. Von droben plötzlich Stille, kein Prusten und Plätschern aus den Zubern, keine schweren Schritte mehr von Vater Sigmund. Bis unvermittelt wieder die Stimme von Mutter Bianca erklang, schrill jetzt vor Panik: »Markéta! O Gott, sie hört mich nicht! Markéta!«

Da sieht sie auf, und vor ihr schwebt ein Faden aus zitterndem Licht, das traumleise, doch mit der Stimme von Bianca zu ihr spricht:

»O mein Gott, Mädchen, endlich bist du da.«

Markéta starrt sie an, vielmehr den fürchterlich dürftigen Glimmerfaden, der vor ihr im Nebel zittert. Wenn sie sich anstrengt, kann sie die Umrisse von Mutter Bianca erkennen, die durchscheinend, wie aus Glas geblasen, den Lichtfaden umschweben: ihre schlanke Gestalt im weißen Kleid, ihre Hände, die sie flehend nach ihr ausstreckt, ihr geliebtes Gesicht mit dem scheuen Lächeln, ihr Mund, der sich schließt und öffnet, und diesmal kann Markéta auch verstehen, was Mutter Bianca sagt, jedes einzelne Wort.

Gott sei Dank, endlich werd ich ihre Botschaft erfahren, denkt sie, dann erst sinkt der Sinn der mütterlichen Worte in sie ein: »Ich bin im Himmel, Markéta: am entsetzlichsten Ort! Sieh mich an, sieh uns alle an hier draußen: kümmerliche Funzelgeister ohne Leib! Ach, es gibt nichts Grässlicheres, Markéta, als ohne Körper zu sein! Den eigenen Herzschlag nicht mehr zu spüren, das Pulsen des warmen Blutes, die federnde Schwere des eigenen Fleischs. Keine Hände, um damit zu greifen, zu umarmen, keine Lippen, um zu küssen, keine Zunge, um zu schmecken, keine Haut, um zärtlich sich anzuschmiegen! Der Himmel ist die Hölle, Markéta, so lange schon schrei ich dir die Botschaft zu, euch allen zur Warnung, die ihr noch auf Erden wandelt. Ach, gäb’s nur genügend lebendige Leiber dort drüben, wie schlangenschnell würden wir alle, die wir hier frierend durch den Nebel gleiten, zurück in warme Körper fahren!«

Sie hielt inne, ihr Blick voll schmerzlicher Erwartung auf die Tochter gerichtet. Verzweifelt überlegte Markéta, welchen Trost sie ihr aussprechen könnte, sie selbst war ja wie zermalmt durch den mütterlichen Kummer und durch die unsäglich grässliche Botschaft: Der Himmel ist die Hölle!

Während Mutter Bianca schwieg, wurde auch das glimmende Licht in ihrem Innern immer schwächer. Schon fürchtete Markéta, ihre geliebte Gestalt im Nebel entschwinden zu sehen, wie es ihr bei so vielen Geisterfäden vorher geschehen war.

»Wie kann ich dir nur helfen, Mutter Bianca?«, gelang es ihr endlich zu fragen.

»Ein Messias wird kommen, bald schon.« Auch Biancas Stimme wurde nun mit jeder Silbe matter, als rinne mit dem Licht die allerletzte Kraft aus ihr heraus. »Er wird menschliche Körper schaffen, in die Geister wie ich aus der Nebelwelt hinüberfahren können durch seine alchymische Magie. Der Messias wird von den Menschen verfolgt werden, auch von unserm guten Pater Hasek, aber Hasek irrt, Markéta, sie alle irren: Es ist der Erlöser, drum zweifle nicht und folg ihm nach, dann werde auch ich bald wieder bei dir sein.«

Noch während Bianca sprach, wurde Markéta von ihr weggetrieben. Sie spürte, wie etwas Weiches ihr schwer über die Wangen und die Seiten ihres Körpers strich, so wie wenn man sich zwischen den Hälften eines dicken, fest geschlossenen Bühnenvorhangs hindurchschiebt, dann wurde es wieder luftig leicht um sie.

Ich bin zurück, dachte Markéta und setzte sich auf, umgeben von schwarzer Nacht. Der Kopf dröhnte ihr vor Schmerzen. Neben sich im Dunkeln hörte sie jemanden leise atmen und begriff erst nach Momenten völliger Verwirrung, wo und bei wem sie war.

Zurück aus der Welt jenseits des Nebels.

Sie tastete neben sich und erfühlte Flors Schulter, weich und warm vom Schlaf. In ihrem Innern hörte sie wieder die gewisperte Botschaft von Mutter Bianca: »Er wird menschliche Körper schaffen, in die Geister wie ich aus der Nebelwelt hinüberfahren können durch seine alchymische Magie ... «

Von einem jähen Schauder erfasst, nahm sie ihre Hand von der Haut des Nabellosen. Ihr Kopf dröhnte, als ob unter ihrer Schädeldecke ein Dutzend Schmiede unablässig auf ihre Ambosse schlügen. Und abermals hörte sie die klagende Stimme von Bianca, die wie aus Glas geblasen vor ihr in der Dunkelheit schwebte: »Der Himmel ist die Hölle, Markéta!«

Und der Messias heißt Hezilow.

61

Schon vor Tagen hatte ihm die Stradovä den kaiserlichen Speisezettel durch Boten übermittelt:    Böhmische Hirschkopfsülze und mährische Rehkitzpastete, das ließ sich aus eigenen Vorräten bestreiten; aber wie bei allen Göttern sollten sie die anderen Gaumenfreuden beschaffen, an denen Seine Allerherrlichsten Gnaden sich Samstagabend zu laben wünschten - getrüffelte Pute aus Périgord und Gänseleberpastete aus Toulouse, Lerchen aus Pézenas und Schnepfen aus Dombes, Bayonner Schinken und gekochte Zunge aus Vierzon, nicht zu vergessen den feurigen Tokaier und den prickelnden Veltliner sowie Florentiner Märzkäse nebst Ananas aus Pariser Treibhäusern zum Dessert.

Ja, warum denn nicht gleich Mannasuppe und Phönixbraten, Euer Majestät? D’Alembert ging im riesigen Kuchelgewölbe auf und ab, wo sich zwei Dutzend Köche nebst einem halben Hundert Mägden an Tischen und Herden zu schaffen machten. Fett zischte in den Pfannen, Saucen kochten in Töpfen, in der Luft schwebte eine überwältigende Mischung aus Braten- und Pasteten-, Pfeffer-, Ambra- und hundert weiteren Düften.

Eben hatte vom Kirchturm her zwölfmal die Glocke geschlagen - noch zwei, höchstens drei Stunden, dann würde der kaiserliche Konvoi mit Donnergetöse in die obere Burg einfahren.

Ruhig, nur ruhig, mahnte sich der Maître, alles würde aufs Geschmeidigste über die Bühne gehen, auch wenn von Breuner dort hinten beim großen Ofen mittlerweile hustete wie ein zerborstener Blasebalg. Auch er selbst fühlte sich noch immer sonderbar matt, als ob mit jedem Tropfen Schweiß etwas mehr von seiner Lebenskraft verrönne. Aber ich bin nicht krank, sagte er sich zum tausendsten Mal, nicht wie Sargenfalt oder wie von Breuner, die beide an qualvollem Husten und zerreißenden Brustschmerzen litten, zu schweigen von den widerlichen Wahngespinsten, die den Sterngucker seit zwei Tagen plagten.

Mit Hilfe der Stradovä und des Prager Kuchelmeisters hatten sie zumindest die ärgsten Lücken in ihren eigenen Vorräten mittlerweile geschlossen, dennoch würde es eine heikle Odyssee durch ein Labyrinth aus Pasteten und Sülzen, Saucen und Braten werden. Schon mehr als einmal hatte Rudolf einen Konvent vorzeitig verlassen, weil die Zähigkeit eines Bratenstücks, korkiger Wein oder fades Marzipan seinen Zorn erregt hatten.

Und dabei wurde die kaiserliche Gicht, Podagra so gut wie Chiagra, immer ärger, sagte sich Charles, die Stradovä selbst hatte es ihm gerade wieder en detail berichtet: An manchen Tagen vermochten Ihre strahlendsten Gnaden sich weder von seinem Lager zu erheben noch auf dem allerweichsten Daunenbett zu liegen, und zwar gleichgültig ob auf dem Rücken, der Seite oder auf dem von Wassersucht aufgetriebenen Bauch. »Robert! Hack er mir das Haupt ab! Ich leide wie ein Viech!« Solches und Ärgeres konnte man die kaiserliche Majestät immer öfter durch den Hradschin kreischen hören, und dann hielten seine Minister, Beamten und Schranzen allesamt den Atem an und wussten nicht, was sie sich wünschen sollten: dass der wunderliche Monarch endlich das Zeitliche segnete oder dass er ihnen erhalten bliebe, weil alles, was nach ihm käme, nur tausendmal grausiger wäre.

Vorneweg Rudolfs jüngerer Bruder, dachte der Maître, Erzherzog Matthias, der darauf lauerte, endlich die Krone an sich zu raffen. Ein skrupelloser Intrigant, verschlagen gegenüber seinem eigenen Blut, aber arglos vor den Feinden Habsburgs, geistig viel zu eingeschränkt, um die Schliche des Sultans, die fromme Tücke des spanischen Monarchen oder selbst die behäbige Hinterlist des Kurfürsten von Bayern zu parieren.

Er trat an den langen Herd, wo zwanzig Kuchelmaiden in riesigen Töpfen rührten, tunkte die Spitze seines kleinen Fingers in eine Sauce aus Ambra und Rosenwasser und sog mit der Zungenspitze das glitzernde Tröpfchen auf. Ah! Der Kaiser hatte natürlich Recht, für eine Sauce wie diese lohnte es sich zu sterben.

Und wie käme gerade ich dazu, dachte d’Alembert, diesem seltsamsten Kaiser, der jemals das Heilige Römische Reich Deutscher Nation regiert hat, die Überfeinerung seiner Sinne oder die maßlosen Summen vorzuhalten, die er für Kunst- und Wunderwerke aller Art verausgabt? Rudolf hatte den Heiligen Gral an sich gebracht, eine riesige, funkelnde Achatschale, in der angeblich das Blut des gekreuzigten Erlösers aufgefangen worden war, weshalb die Geistlichkeit diese Anschaffung gutheißen musste; ebenso das Ainkurn, einen fast zwei Meter langen, gedrehten Stoßzahn, den mancher Gelehrte für die wehrhafte Zierde eines Einhorns hielt, das erfreulicherweise wiederum Jesus Christus symbolisierte. Rudolf beschäftigte einen eigenen Kammer-Edelsteinmeister, und er hatte die berühmtesten Uhrmacher des neuen Jahrhunderts an sich gezogen, David Altenstetter und Jost Bürgi, die für ihn kristallene Chronometer herstellten und eine Planetenuhr, welche die Umlaufzeiten der Gestirne zeigte.

Alle diese Wunderwerke kosteten unzählige Truhen voller Goldstücke, die Rudolf mit immer größerer Mühe seinen Ländereien und dem Reichstag ablistete und - presste. Erst kürzlich hatte der Kaiser die berühmteste Gemme in seinen Besitz gebracht, die Gemma Augustea aus dem ersten Jahrhundert vor Christus - eine Apotheose des Augustus aus Onyx, achtzehn Figuren, ein Streitwagen und ein Pferd in perspektivischer Verkürzung, den bekrönten Augustus feiernd, wie er beim Empfang des siegreichen Tiberius neben der Göttin Roma thronte. So und nicht anders, dachte der Maître, stellte sich zweifellos auch Rudolf den eigenen Triumph vor, den er unverdrossen erwartete, auch wenn seine Schatzkammern leer, sein Reich ausgeplündert, ganze Landstriche durch Aufstände, Pestilenz und immer wieder aufflammende Grenzscharmützel verödet waren.

D’Alembert zückte ein frisches Tüchlein und fuhr sich über Stirn und Wangen. Da ihm alle paar Augenblicke der Schweiß ausbrach, hatte er zum ersten Mal seit Jahrzehnten darauf verzichtet, auch nur ein wenig Schminke aufzulegen, und seither erschreckte ihn die fahle, faltige, hagere Nacktheit seines Gesichtes, wann immer er in einen Spiegel sah.

Zumindest eines aber, dachte er, verstand der melancholische Monarch meisterlicher als alle, die nach seiner Krone, seinem Zepter gierten, und allein deshalb hielten Fürsten und Stände, Militärs und Minister noch immer treu, wenn auch zähneknirschend zu dem einsamen Weisen von Prag: Als Infant hatte Rudolf erlebt, wie katholische Eiferer versuchten, den Sarg seines häretischen Vaters Maximilian zu schänden, und seither hütete er den so zerbrechlichen Religionsfrieden, der tatsächlich seit vielen Jahrzehnten standhielt, allen hitzigen Disputen und gelegentlichen Übergriffen zum Trotz, und zwar einzig deshalb, weil er, Rudolf, den weiten Mantel der Toleranz über alle Ketzerei und Häresie gebreitet hielt. Einen Mantel der Feigheit, frevlerischen Schwäche und heidnischen Indifferenz, wie giftige Zungen seit ebenso vielen Jahrzehnten lästerten, aber sie alle würden noch ihr feuriges Wunder erleben: Wenn Rudolf abtrat, durch Abdankung oder Sturz, gewaltsames oder gottgewolltes Verscheiden, so wäre im nächsten Moment der Religionsfriede zerbrochen, und das ganze Reich, ja das gesamte Abendland würde lodern mit tausend Flammen des Glaubenshasses, Brudermordes und Völkerkrieges.

Er winkte von Breuner zu sich. »In diese Sauce noch einen Hauch mehr vom Bisam, wenn Ihr mich fragt. Und die Hirschkopfsülze ist geglückt?«

Der Haushofmeister nickte, die Lippen zusammenpressend, und machte mit seinen Armen eine flatternde Gebärde.

»Ihr meint - die getrüffelte Pute?«

Von Breuners Miene zeigte Verzweiflung an, im nächsten Moment explodierte sein Gesicht in einem neuen Atemkrampf. »Ex ... kechkech! ... qui ... kech-kech! ... sit!«, brachte er zwischen mehreren Hustenstößen hervor.

»Très bien, mon ami«, sagte d’Alembert und musste sich für einen Moment an der Tischkante festhalten. »Dann laufe ich jetzt hinauf ins Fürstenappartement und schaue, dass sie die kaiserliche Tafel auch richtig eindecken.«

Wieder zückte er sein Tüchlein, der Haushofmeister machte es ihm nach, wenngleich mit gröberem Sackleinen, und dann standen sie beide inmitten eines Chaos aus Saucen-, Pasteten-und Bratendüften und wischten sich den Schweiß von Nacken und Stirn.

62

Zwischen Markétas Schläfen hämmerten immer noch Schmerzen, beinahe so arg wie vorgestern Nacht, als sie von der Geisterreise zurückgekommen war. Seither fühlte sie sich schuldiger und bedrückter als jemals vorher, zweifach schuldig, da sie nun endlich wusste, welcher Art die mütterlichen Qualen waren, und ebenso, dass sie Biancas Wunsch nie und nimmer erfüllen könnte.

Niemals würde sie es über sich bringen, Hezilow zu vertrauen, den Lumpenteufel gar als »Erlöser« zu preisen - und dabei hatte die Mutter sie angefleht, ihm zu glauben und zu folgen, damit sie von ihren Qualen erlöst würde und zurückkehren könnte in die irdische Welt.

»Der Himmel ist die Hölle.«

Mit düsterer Miene duldete Markéta, dass Bronja ihr das bleischwere Brokatkleid schnürte, in dem sie aussah wie eine riesige Herbstzeitlose. Seit zwei Stunden machten sich beide Zofen an ihr zu schaffen. Flor kauerte bei ihnen am Boden, pilzhaft starr und stets an den unerwartetsten Orten, sodass Lisetta oder Bronja mehrfach über ihn stolperten.

Ihre Frisur glich dem babylonischen Sündenturm, mit Ausnahme der knochenbleichen Fransen, und ihr Korsett war so eng gezurrt, dass sie schon bei der Vorstellung, eine Treppe emporstelzen zu müssen, fast das Bewusstsein verlor.

Und wofür das ganze Martyrium, wenn sie doch keine Gelegenheit bekommen sollte, die Hand des Kaisers zu küssen, geschweige denn, an der Tafel der väterlichen Majestät zu speisen?

Nun, wir werden sehen, dachte Markéta, während Lisetta mit einer Puderquaste ihr Gesicht betupfte und Bronja wie ein fülliger Frosch um sie herumsprang, um den Saum ihres enormen Kleides geradezuzupfen.

Kein Dekollete, hatte der Maître befohlen, die Majestät hält auf strengste Etikette nach spanischer Manier.

Offenbar sah diese Etikette auch vor, dass die Mätressen der hohen Herren ausgesperrt blieben, während ein frömmlerisches Scheusal namens Johanna von Waldstein an Don Julius’ Seite im Fürstenappartement tafeln würde.

»Genug jetzt, Mädchen«, sagte sie, »und wenn ich wie die Jungfrau Maria leuchten würde, der Kaiser würd mich doch keines Blickes würdigen.«

Die Zofen wechselten betretene Blicke. Auch Johanna war ihre Herrin, und sogar von überlegener Macht, wie sie glauben mochten. Und hatten sie etwa nicht Recht?, dachte Markéta, für einen Moment überwältigt von Katerschmerz und Bitterkeit. Wenn Don Julius mich morgen satt bekommt, sitz ich übermorgen wieder im Badehaus und kann Jakob Schatzens fetten Huren die Schwarten kratzen.

»Nur die Haube noch, Bronja, dann lasst uns runtergehen.«

Auf Don Julius’ Befehl trug Flor ein blütenweißes Gewand, unförmig und knöchellang wie ein Engel- oder Totenhemd. Sehr viel lieber hätte sie den Nabellosen hier oben im Frauengemach zurückgelassen, bewacht von einem Gardisten, der ihr verlässlich schien, am besten von Franz Brodner. Aber Julius hatte drauf bestanden, der väterlichen Majestät den Goldschopfigen vorzuführen, und nach kurzem Zögern hatte sie zugestimmt.

Eines zumindest haben deine Klagen bewirkt, Mutter Bianca: Mein Zorn auf den Puppenmacher hat an Kraft verloren, dabei trau ich ihm so wenig wie eh und je. Niemals werd ich ihm glauben können, und nie mehr werd ich meines Argwohns sicher sein.

Sie nahm Flor bei der Hand und ging zur Tür. Draußen warteten Jan Mular und Bronjas Bruder Mikesch, und Markéta erschrak, als sie die beiden sah, die ihr damals, kurz nach Julius’ Ankunft, unten auf der Brücke entgegengetreten waren. Ein unheilvolles Zeichen, dachte sie, aber dann verwies sie sich den Aberglauben und nickte den Gardisten gleichmütig zu.

Von den Burghöfen drang dumpfes Dröhnen und Tosen herauf, als ob die Moldauschleuse geborsten wäre. Fanfaren ertönten, Pferde wieherten, erregte Stimmen schrien durcheinander, während unablässig Kutsche um Kutsche durchs obere Tor in die Burg einfuhr.

»Komm, rasch«, sagte Markéta zum Nabellosen, der gestern endlich wieder sein Schweigen gebrochen und ihr in langer, stammelnder Rede von Steinerin und Steiner, Herrn Veit und, vor allem, vom Drachen der Nacht in jener schauerlichen Halle berichtet hatte. Wie konnte Hezilow ein »Erlöser« sein? Aber wie könnte sie fortan noch gegen ihn eintreten, gegen den teuflischen Puppenmacher, dem Mutter Biancas letzte, verzweifelte Hoffnung galt?

»Er wird menschliche Körper schaffen, in die Geister wie ich aus der Nebelwelt hinüberfahren können ... «

Sie nahm Flors Hand fester in die ihre und zog ihn mit sich, Treppe um Treppe nach unten, während die beiden Gardisten mit donnernden Stiefeltritten hinter ihnen hereilten.

Draußen der Hof war gesteckt voll mit Gaffern, die allesamt aufwärts drängten, zum obersten Burghof, einander mit Händen und Knien vorwärts schiebend. Verbissen kämpfte sich Markéta durch die Menge, wobei sie Flor am Handgelenk mit sich zog. Endlich hatten sie den höchsten Hof erreicht, wo eben eine riesige schwarze Kutsche durchs Tor fuhr, von sechs Schimmeln gezogen. Eine gebieterische Stimme rief: »Seine Majestät, Rudolf II. allerdurchlauchtigster, großmächtigster Kaiser!« Fanfarenstöße ertönten, gefolgt von Trommeln, schmetternden Trompetenklängen und schließlich sogar einer Salve von Kanonenschüssen, die das ganze Gemäuer erzittern ließen.

Flor erstarrte vor Schreck, als die Schüsse explodierten, aber Markéta redete beruhigend auf ihn ein. Endlich ließ er sich weiterziehen, näher an die Karosse heran. Gerade sprang die Kutschtür auf, steifbeinig stieg eine hochgewachsene Gestalt aus, in scharlachrotem Umhang, auf dem Kopf einen schwarzen Hut mit langer, wippender Feder, der ein Gesicht mit Julius’ feinen Zügen, Julius’ Nase, Julius’ spitzem Kinn verschattete. Dann schloss sich ein Wall baumlanger Gardisten um den Kaiser, der eilends auf die Tür zum Fürstentrakt zustakste und einen Lidschlag drauf verschwunden war.

Drei weitere holpernde Herzschläge später stand d’Alembert vor ihr, sein Gesicht erschreckend nackt und glitzernd vor Schweiß.

»Was ... was ist mit Euch, Maître?«

»Pardonnez-moi, madame, es pressiert.« Er streckte eine Hand nach Flors Engelsärmel aus, worauf der Nabellose wimmernd hinter Markéta Deckung suchte. »Der Kaiser wünscht die Kreatur zu inspizieren, noch vor der Schildkrötensuppe.«

»Nun denn, bringt ihn zu Ihrer Majestät, Monsieur.«

D’Alembert fixierte sie mit gerunzelter Stirn, auf der dicke Schweißtropfen standen. Abermals zog er halbherzig an Flors Ärmel, aber der Nabellose wimmerte nur umso lauter und krallte sich mit beiden Händen in ihr Herbstzeitlosenkleid.

»Ich fürchte, für Euer Problem gibt es nur eine elegante Lösung, Monsieur«, sagte Markéta. »Wenn Ihr nicht wollt, dass der Kaiser Euch zürnt, lasst mich Flor zu ihm bringen.«

Er nickte mit der Miene eines Geschlagenen. Der Maître ist krank, dachte sie, auch er ist geschwächt in seinem Kampf gegen Hezilow. Sie legte Flor einen Arm um die Schultern und folgte d’Alembert in den Fürstentrakt, durch das reich mit italienischen Fresken verzierte Treppenhaus bis ins zweite Geschoss empor.

Ihr Kopf dröhnte noch immer vor Schmerzen, und das Herz klopfte ihr bis in den Hals hinauf, nicht allein von der Mühsal des Treppensteigens im Korsett. Hand in Hand gingen sie durch eine Flucht prachtvoller Säle und Gemächer, in denen sie nie zuvor gewesen war. Drei Schritte vor ihnen ließ der Maître sein Stöckchen durch die Luft wirbeln, als ob er auf unsichtbare Trommeln schlüge.

Vor einer weißen Doppeltür mit dem Wappen der Rosenberger standen zwei kaiserliche Gardisten. Sie wechselten rasche Blicke, als das sonderbare Pärchen hinter dem Obersthofmeister nahte, goldschopfiger Engel und Herbstzeitlose.

»Die Kreatur«, sagte d’Alembert, mit seinem Stöckchen auf Flor deutend, »nebst Betreuerin«, das Stöckchen ruckte weiter und deutete nun auf sie.

Die Tür glitt auf, und hinter d’Alemberts schmalem weißen Rücken traten Flor und Markéta in einen Saal, in dem es so dämmrig war wie zur späten Abendstunde; dabei hatte es gerade erst drei geschlagen. Die väterliche Majestät, dachte Markéta, scheut das Sonnenlicht nicht minder als ihr Sohn. Nur allmählich gewöhnten sich ihre Augen an das rauchige Licht, das dicke weiße Kerzen in Silberlüstern spendeten. Die Fenster hinaus zur Moldau waren allesamt hinter dunklen Vorhängen verborgen.

Als d’Alembert innehielt, blieben auch sie und Flor stehen, mitten im Saal. Sie erkannte eine Tafel, prächtig gedeckt mit weißem Linnen, Gold und Silber, doch viel kleiner, als sie erwartet hatte. Allenfalls ein Dutzend Personen auf hochlehnigen Stühlen, die meisten ihr unbekannt, alle schwarz gekleidet, mit spanischer Strenge, an der Spitze der Tafel die väterliche Majestät. Don Julius, dem Kaiser gegenüber, wandte ihr den Rücken zu, und er drehte sich auch nicht um zu ihnen, als d’Alembert mit heiserer Stimme vermeldete: »Durchlauchtigste Majestät, wenn Ihr geruhen wollt, Euren Blick auf diesen Knaben zu lenken: Es ist der Nabellose, die bewusste Kreatur.«

Der Kaiser ließ die Serviette sinken, mit der er sich eben den Mund abgetupft hatte, und seine gichtknotige Hand bedeutete ihnen, Flor näher heranzuführen. D’Alembert wollte den Nabellosen packen, doch der verkroch sich wieder mit leisem Wimmern hinter Markétas ausladendem Kleid.

»Ruhig, Flor, dir wird nichts Arges geschehen.« Sie nahm ihn bei der Hand, wie ihn die alte Steinerin bei der Hand geführt hatte, mit vier, elf und noch mit siebzehn Jahren. So ging sie langsam an der Tafel entlang, Johanna von Waldsteins Blick ignorierend und den Blick ihres Geliebten entbehrend, der unverwandt nur die väterliche Majestät ansah.

Zwei Schritte vor Rudolf sank sie auf die Knie und zog Flor mit sich herunter. Der Kaiser sah sie aufmerksam an, sein fein geschnittenes Gesicht war ein grämlich erschlafftes Urbild der Züge seines Sohnes. Wie gut sie auf einmal Julius’ Zorn gegen jene verstand, die ihm die Sukzession verwehren wollten, er war ja ganz und gar die väterliche Majestät, nur jünger, entschlossener, stärker.

Noch immer schweigend richtete Rudolf seinen Blick auf Flor. Offenbar wagte niemand im Saal auch nur eine Silbe zu wispern, solange der Kaiser nicht die Stimme erhob, dabei konnte Johanna am andern Ende der Tafel anscheinend kaum mehr an sich halten vor Empörung. Sie war in eine Art Nonnentracht gewandet, ein schwarzes Gewand mit ebenso schlichtem schwarzem Umhang, ihre Augen zu Schlitzen zusammengekniffen, das schmale Gesicht unter der strengen weißen Haube eine Maske kalten Zorns.

»Der bewusste Knabe.« Rudolfs Stimme klang matt und dünn, so als hätte er stundenlang geschwiegen. »Nun, Wir werden sehen. - Verwahrt ihn an einem sicheren Ort, Don Julius«, wandte er sich an seinen Sohn, der ihn mit automatenhafter Starre ansah, sein Gesicht so bleich wie mit Mondstaub gepudert. »Nachher wird uns der Magister die Prozedur erklären.« Wieder griff er nach seiner Serviette.

»Nun wünschen wir zu speisen.«

Julius erhob sich. Mit der Miene eines Kindes, das jedes elterliche Gebot peinlich zu erfüllen trachtet, trat er zu Flor und packte ihn so gewaltsam beim Arm, dass sich der Nabellose unter leisem Wimmern empor- und davonziehen ließ.

»Und sie dort«, ließ sich die väterliche Majestät vernehmen, »sagt an, Maître, wer ist das frische Kind?«

Er deutete mit seinem silbernen Tafelmesser auf Markéta, die sich halb abgewandt hatte, um mit den Blicken Julius zu folgen, der soeben Flor seinen Gardisten übergab. Als sie sich wieder umdrehte, setzte der Maître gerade zu einer Antwort an, doch zu verstehen war nichts, denn im gleichen Moment begann Johanna von Waldstein lauthals zu singen:

»Jetzt scheint die Welt dem neuen Sinn Erst wie ein Vaterland, Ein neues Leben nimmt man hin, Entzückt aus seiner Hand!«

Und während der sich sträubende Flor von Mular und Mikesch aus dem Saal gezerrt wurde und Don Julius an seinen Platz zurückkehrte, mit mehlbleichem Antlitz, automatenhaften Bewegungen und noch immer ohne einen Blick für Markéta, traten hinter einem Vorhang im Rücken der Waldstein alle zwölf Nonnen ihrer geistlichen Salvaguardia hervor und stimmten mit schallendem Sopran in die Lobpreisung himmlischer Güte und Seligkeit ein:

»Hinunter in das tiefe Meer Versank des Todes Graun, Und jeder kann nun leicht und hehr In seine Zukunft schaun!

Der dunkle Weg, den er betrat, Geht in den Himmel aus, Und wer nur hört auf seinen Rat, Kommt auch in Vaters Haus!«

D’Alembert berührte Markéta am Arm und beugte sich ihrem Ohr entgegen: »Das gilt Euch, Madame, eilt hinaus, vite, vite -bevor der kaiserliche Zorn entbrennt!«

Benommen stand sie auf und ließ sich von ihm zur Tür ziehen. Als sie noch einmal über die Schulter zurücksah, löffelten alle am Tisch Versammelten ihre dampfende Schildkrötensuppe, während die Nonnen, hinter der Tafel aufgereiht, weiter ihren Lobpreis schmetterten und dabei rhythmisch die schwarzen Kruzifixe gen Himmel schwenkten:

»Nun weint auch keiner mehr allhie, Wenn eins die Augen schließt, Vom Wiedersehn, spät oder früh, Wird dieser Schmerz versüßt!«

63

»Diesen Homunkel hat sich Hezilow in Basel geschaffen, Euer Käjserliche Majestät, im Jahre finfzehnnäjn’nachtzig.« Geflissentlich zum Kaiser hinbuckelnd, der inmitten des Labors auf einem weinroten Samtfauteuil thronte, wies der Puppenmacher mit seinem Stock auf Flors entblößten Leib. »Halten zu Gnaden - ist sich die Kreatur ohne Nabel, von käjnem Mitterchen geboren.« Und er stieß Flor mit dem Ellbogen an, worauf der Nabellose in schaukelnde Bewegung geriet.

Die bedauernswerte Kreatur war mit den Handgelenken an eine Kette gefesselt, die inmitten des Alchimistengewölbes von der Decke herabhing, zwei Schritte vor dem Sessel des Kaisers. Mit aufmerksamer Miene sah die Majestät von Hezilow zum Nabellosen, dessen Augen geschlossen waren, der Kopf zwischen den emporgereckten Armen vornüber gesunken.

»Wenn Euer Herrlichkäjt sich ieberzäjgen mecht - alles echt, alles echt.« Mit seinem Stock pikte Hezilow wahllos in die Haut des Geschaffenen, an Bauch, Armen, Schenkel, worauf sich die malträtierten Stellen in natürlicher Weise röteten.

»Nach glicklicher Erschaffung hauste sich Kreatura drei Jährchen lang in Hezilows Baseler Labor.« Der Puppenmacher fletschte die Zähne. »Sodann schien’s vonneeten, den Homunkel bei Schweizer Edelmann einzulogieren, namens Veit von der Miehlen, auf dass unser Rolfie wie ein Christenmensch aufgezogen ward.«

Noch immer schaukelte der Gehängte an der leise quietschenden Kette hin und her, einen Fußbreit über dem Boden schwebend. Drei Schritte hinter ihm fauchte das glühende Doppel-Ei des alchimistischen Ofens, vor dem sich zwei von Hezilows Gesellen mit dem Blasebalg mühten. Auf Tischen und Schemeln vor dem Athanor standen wiederum Tiegel, Pelikan und Kupferbecken bereit für die Goldprobe, der sich der Puppenmacher sogleich unterziehen würde. Doch vorher gedachte er offenbar noch ein Schauspiel aufzuführen, um den wundergläubigen Kaiser günstig zu stimmen.

Ich habe ihn unterschätzt, dachte d’Alembert, der zur Linken neben dem Kaiser stand, in wirrem Wechsel von Frostschauern und Schweißkaskaden geplagt. Auch Hezilow unterschätzt, dachte er, wie vorher schon Madame Markéta - gerade jetzt, da die Bestien zum Sprung ansetzen, zerrinnen meine Kräfte.

»Wenn er und seine Briederchen nichts von unserm Herrn Heiland wissten, o allerstrahlendste Gnaden, wie kennten sie schließlich Christenheit retten in firchterlicher Schlacht gegen Krummsäbel Mohammeds?«

In den Augenwinkeln sah d’Alembert, dass der Kaiser mehrmals nickte, so heftig, dass sein dunkel bebartetes Kinn einwärts schnellte. Natürlich, dachte Charles, hatte Hezilow ihnen damals dreist ins Gesicht gelogen, als er sich brüstete, als »käjserlicher Puppenmacher zu Prag« gewirkt zu haben. Dennoch schien er mit gewissen Vorlieben Rudolfs vertraut zu sein und entschlossen, sich diese kaiserliche Schwäche zunutze zu machen. In einem Seitenflügel des Hradschin, zu dem nur Rudolf selbst, einige Künstler und sein Kammerdiener Robert Zutritt besaßen, waren über die Jahre hinweg verschiedene unglückselige Personen eingekerkert gewesen, kakaohäutige Wilde aus Neuspanien, an Köpfen und Hüften zusammengewachsene Zwillinge oder auch der zu schauriger Berühmtheit gelangte Fellmann mit seiner gleichfalls am ganzen Leib bepelzten Gemahlin. Offiziell hielten sich all diese Personen aus freien Stücken im Hradschin auf, als kaiserliche Gäste, um sich von Rudolfs Malern und Skulpteuren in Öl oder Marmor verewigen zu lassen. Aber mehr als einmal hatte d’Alembert munkeln hören, dass Rudolf ein besonderes Vergnügen daran finde, die eingekerkerten »kuriosen Geschöpfe« durch Gucklöcher in den Wänden bei den heikelsten Verrichtungen zu observieren.

Der Maître beugte sich ein wenig vor, wobei er gegen jähes Schwindelgefühl ankämpfen musste. An Rudolf vorbei spähte er zu Don Julius, der zur Rechten des Thronsessels an einer Säule lehnte. Seit die väterliche Majestät in der Burg eingetroffen war, schien der Bastardsohn von einer Starre befallen, die Geist, Körper und Seele gleichermaßen lähmte. Sein Gesicht war noch immer bleich und wirkte eingefroren, seine Bewegungen abgehackt wie die Gebärden der »menschlichen Apparate«, von denen Medikus von Rosert so gerne schwadronierte.

Nun machte Hezilow mit seinem Stöckchen ein Zeichen zur Gewölbedecke hin, und augenblicklich begann sich dort oben unter lautem Quietschen und Stöhnen ein Mechanismus zu regen. Ruckweise wurde die Kette emporgezogen, und mit ihr schaukelte der bleiche Leib des Geschaffenen, dabei sacht um die eigene Achse kreiselnd, zur Decke hinauf.

Hezilows Gehilfen hatten buchstäblich Hunderte Fackeln und Kerzen angezündet, die auf Tischen, Hockern und in Wandnischen brannten, dennoch reichte ihr Licht kaum bis über die Köpfe der Stehenden hinauf. Gemächlich, unter fortwährendem Stöhnen des rostigen Apparates, verschwand der Geschaffene in der Dunkelheit über ihnen, erst die himmelwärts gereckten Arme, der vornüber gesunkene Kopf mit den verworrenen Goldlocken, dann die schmalen Schultern, die Brust, der nabellose Bauch. Endlich schaukelten nur seine rußgeschwärzten Füße noch an der äußersten Lichtgrenze hin und her, dann wurden auch sie von Finsternis verschlungen, und das Winseln der Winde erstarb.

»Wird sich Magister Hezilow kiebelweise Gold für die Majestät erschaffen«, sprach der Russe, neuerlich zum Kaisersessel hinbuckelnd, »Gold, Gold, so viel Euer Herrlichkeit nur winschen kännen. Und zur gläjchen Zäjt, Euer Gnaden, meege sich das tiefste alchymische Mysterium vor Euern herrlichen Augen entrollen.« Er hob seinen Stock und machte eine rasche, komplizierte Bewegung, als schreibe er eine verschnörkelte Chiffre in die Luft. »Das Mysterium der alchymischen Vermählung!«

Noch während er die Formel mit pfeifender Stimme ausrief, traten zwei seiner Gesellen, Fackeln in den Händen, aus der Dunkelheit hinter dem Athanor. Weitere Lumpenkerle folgten, zwei trugen eine schwarze, längliche Holzkiste, zwei weitere einen Kasten von ähnlicher Form, der jedoch gleißte und funkelte wie schieres Gold.

»Frau Mond - die Königin«, sagte Hezilow, auf den schwarzen Kasten deutend, und die Gesellen stellten ihn polternd vor dem Kaisersessel ab. »Herr Sonne - der König«, rief Hezilow, und die goldene Truhe landete mit einem metallischen Hallen neben dem schwarzen Sarg.

Denn wie Särge sahen sie aus, nicht anders, dachte d’Alembert, gegen seinen Willen beeindruckt durch den Anblick des schwarzen und des goldenen Kastens, die in makabrer Vertrautheit beisammen standen.

Einmal mehr tupfte er sich den Schweiß von Stirn und Wangen. Was mochte Hezilow hinter dem schwarzen Tuch verbergen, der rechts vom Athanor wie ein Bühnenvorhang die Sicht verbarg? Wenn ich mich nur endlich hinlegen könnte, dachte Charles, ein paar Stunden ausruhen, eine Nacht, einen Tag, dann bin ich wieder bei Kräften.

Die väterliche Majestät hatte sich in ihrem Prunksessel vorgebeugt und den Kopf zugleich angehoben, sodass das spitze Habsburger-Kinn wie ein Pfeil auf die beiden Särge zeigte. Die Adlerfeder auf dem kaiserlichen Hut zitterte. Auf ein Zeichen des Puppenmachers hin rissen die Gehilfen mit einem Ruck den Deckel der goldenen Truhe auf.

O ihr Götter, dachte d’Alembert, und für einen Moment stockte wahrhaftig sein Herz.

Die Gestalt im goldenen Sarg war Fabrio.

Starr und bleich lag der kleine Syrakuser in der Truhe, die Hände vor der Brust zusammengelegt. Seine Augen waren geschlossen, ein weißer Mantel umhüllte den Körper, über und über bestickt mit löwengesichtigen Sonnenscheiben.

Er ist tot, dachte d’Alembert. Mehrmals in rascher Folge öffnete und schloss er seine Augen, dabei wusste er ja, dass es nur Theater war. Aber der Schein war so bezwingend, verstärkt noch durch das Fieber, das in seinen Adern kreiste, dass er nicht anders konnte, als immerzu auf den Liegenden zu starren und wieder und wieder zu denken: Er ist tot, tot, Fabrio ist tot!

Von seinem Publikum unbemerkt war Hezilow unterdessen vor den Athanor getreten, wo er sich mit Tiegel und Pelikan zu schaffen machte. »Erhebe dich, gettlicher Läj«, rief er mit pfeifender Stimme aus, »und ergieße deine Strahlenkraft in unser großes Werk!«

Während er dies rief, öffnete Fabrio im goldenen Sarg seine Augen. Benommen sah er um sich, als ob er wahrhaftig aus tiefem Schlaf geweckt worden wäre. Seine Hände glitten empor, und indem er sich taumelnd erhob, klaffte sein Sonnenmantel auf, und d’Alembert dachte mit jäher Verärgerung: Allzu wohlfeil, Herr Puppenmacher, glaube er nur nicht, dass mein Argwohn sich durch ein wenig bronzene Nacktheit einlullen ließe. Und er riss seinen Blick von Fabrios schimmernder Brust los, die sich im Spalt des Löwenmantels hob und senkte.

Hezilow hatte unterdessen eine gewaltige Kupferschale voll Wasser auf den Athanor gestemmt. Nun hob er eine Hand und rief mit pfeifender Stimme: »Erhebe dich, gettliche Schlange, und nimm den gettlichen Läj in deinen mercurischen Leib auf!«

Zu diesen Worten schwenkte er ein schwarzes Säcklein, gewiss wieder voll Pulver aus dem Saft der Mondviole, wie d’Alembert sich sagte.

Der Puppenmacher schüttete das Pulver in die Kupferschale, genüsslich schnappten die prallen Lippen im Bartgestrüpp auf und zu. Währenddessen sprangen zwei seiner Gehilfen zum schwarzen Holzkasten und rissen den Deckel herunter, dass er polternd zur Seite flog.

Wieder stockte Charles der Atem, und ein Frösteln überlief ihn, mit allem hatte er gerechnet, nur nicht mit diesem widerlichen Bild. Der ganze Kasten war bis unter den Rand mit einem grünlichweißen Schleim gefüllt, ähnlich dem Gallert von verdorbenem Fleisch.

Während der göttliche Leu im Sonnenmantel aus der goldenen Truhe stieg und die väterliche Majestät sich noch weiter vorbeugte, um den Inhalt des schwarzen Sarges zu betrachten, nahm Hezilow vor dem Athanor die beiden Flaschen zur Hand, die d’Alembert von der ersten Goldprobe her gleichfalls schon kannte. Der Anblick des Gallerts, der modrige Geruch, der aus dem Sarg aufstieg, seine bange Ahnung, dass sich am Grund des Sarges noch irgendetwas Unerwartetes befinden musste, Frost und Fieber, die einander wie Schlange und Leu in seinem Körper jagten, schließlich auch Fabrio im klaffenden Sonnenmantel - die Fülle der Eindrücke drohte d’Alembert zu überwältigen, aber er war entschlossen, sich nicht übertölpeln zu lassen. Nicht von Euch, Lumpenteufel, dachte er, zumindest mit einem Auge ständig zum Athanor hin schielend, während Fabrio neben dem schwarzen Sarg theatralisch auf die Knie sank.

»Frau Königin - meine Gemahlin!«, rief der königliche Leu in klagendem Tonfall aus, fuhr mit zitternder Hand über dem Gallert hin und her und konnte sich scheinbar nicht beruhigen über den Tod seiner Gattin, der königlichen Frau Mond.

Unterdessen hatte Hezilow vor dem alchimistischen Herd einen Quecksilberstrahl aus der einen in eine zweite Flasche gegossen, die er nun zur väterlichen Majestät hin schwenkte: »Mäjsterwasser, Euer durchläjchtigste Gnaden!« Er verkorkte die Flasche und schüttelte sie kräftig, worauf der eben noch wasserklare Inhalt sich milchig trübte.

In hohem Bogen goss der Puppenmacher nun diese Flüssigkeit in die Kupferschale, in der das Gemisch aus Wasser und Mondpulver brodelte, aber d’Alembert nahm es kaum mehr wahr. Allzu ungeheuerlich schien ihm, was zur gleichen Zeit im schwarzen Sarg geschah; so sehr er sich auch dagegen wehrte, das Mysterienspiel zu seinen Füßen zog ihn gänzlich in seinen Bann.

Unter der Decke und weiter vorn im Gewölbe hatten schon vor Augenblicken wieder etliche Hebel zu knirschen und Winden zu quietschen begonnen. Zunächst hatte es der Maître kaum beachtet, endlich aber doch zur Decke emporgespäht, darauf gefasst, abermals den Nabellosen an seiner Kette baumeln zu sehen. Was er jedoch stattdessen erblickte, war eine gerundete Spiegelscherbe von gewaltiger Größe, die mit Hilfe quietschender Hebel hin und her bewegt wurde, bis der richtige Winkel gefunden schien: Ein dicker Strahl funkelnden Sonnenlichts, anscheinend durch ein ganzes System solcher Spiegel in die Unterwelt hinabgeleitet, wurde von der Scherbe über ihnen eingefangen und geradewegs auf den Sarg voll grünlichen Gallerts gelenkt.

Mit Hilfe eines Stocks schob Hezilow das Gefäß voll kochender Mond- und Meistersäfte vom Feuer; in diesem Moment hätte er gewiss Hände voller Gold in die Schale werfen können, ohne dass Rudolf, Julius oder selbst d’Alembert es bemerkt hätten. Unter den Augen der fassungslos staunenden Zuschauer löste sich der grünliche Gallert gedankenschnell in Luft auf, ein Gebrodel übel riechender Gase, unter dem Frau Mondkönigin sichtbar wurde. Sie lag am Boden des Sargs wie vorhin ihr güldener Sonnengemahl: die Augen geschlossen, die Hände vor der Brust gefaltet, angetan mit einem nachtschwarzen Mantel, der über und über mit schlangengesichtigen Mondsicheln bestickt war.

Sie ist tot, dachte d’Alembert wieder mit jähem Erschrecken, während Lenka die Augen aufschlug, die Hände ihres Bruders ergriff und sich von ihm aus dem Mondsarg ziehen ließ.

Vor den Augen des Kaisers, seines Bastards und des fiebrig bezauberten Maître begannen die Zwillinge zu tanzen, sich umeinander zu drehen, wie Sonne und Mond dies am Himmel wahrhaftig zu tun pflegen. Sie hielten einander bei den Händen, entfernten sich, tanzten aufeinander zu und entfernten sich wieder, bis sie sich nur noch an den weit ausgestreckten Händen hielten. Ihre Mäntel glitten zu Boden; über und über mit löwengesichtigen Sonnenscheiben und schlangengesichtigen Mondsicheln bemalt, tanzten sie den Gästen des Puppenmachers die Ekstasen von Sonnen- und Mondfinsternis vor -übereinander in den Mondsarg oder in die Sonnentruhe sinkend, miteinander verschmelzend, sich wieder erhebend, trennend, aufs Neue zueinander tanzend in traumhaftem Schweben.

Währenddessen hatte Hezilow den Schlamm in der Kupferschale auf dem Ofen getrocknet, einen gewaltigen bleifarbenen Metallklumpen in einen Tiegel gegeben und aufs Feuer gestellt. »Keeniglicher Läj«, rief er wieder, »ergieße deine Strahlenkraft in unser großes Werk!«

Auf den pfeifenden Ruf hin tanzten Sonne und Mond auf ihn zu, eng umschlungen nun, und stellten sich neben den Athanor. Die Mondkönigin sprang an ihrem Sonnengemahl empor, seine Mitte mit ihren Schenkeln umklammernd, während Hezilow aus einer Phiole einen Strahl Löwenöl in den Tiegel gab. »Gettliche Mondschlange«, rief er, »nimm den keeniglichen Läj in deinen mercurischen Leib auf!« Er gab einen großen Löffel voll des eben gewonnenen Pulvers hinzu und bedeckte den Tiegel mit einer Kupelle, die mit glühenden Kohlen gefüllt war.

Während die Essenzen im Tiegel sich miteinander vermählten, begannen die Leiber von Frau Mond und Herrn Sonne sich rhythmisch zu bewegen. Die Königin umklammerte die Schultern ihres Gemahls mit den Armen und seine Lenden mit ihren Schenkeln, abermals erklang ruckhaftes Stöhnen. Erst nach einigen Augenblicken begriff d’Alembert, dass die Laute tatsächlich von der Decke über ihnen kamen und nicht aus den Mündern des alchymischen Paars.

An der rostigen Kette schwebte abermals der Nabellose herab, nun jedoch zur Rechten des Athanors, wo das schwarze Tuch die Sicht versperrte, wenigstens mannshoch und zweimal so breit. Ruckweise verschwand die Kreatur hinter dem Vorhang, erst die Füße bis zu den Knien, dann der Unterleib bis über den nabellosen Bauch. In diesem Moment ertönte ein platschendes Geräusch, und der Geschaffene kam mit einem Schrei zu sich.

Von der Brust aufwärts ragte er noch immer über den Vorhang, so sah er wahrhaftig aus wie eine künstliche Figur im Puppentheater. Die zwiefarbenen Augen weit aufgerissen, die goldenen Locken mit Spinnweb vernestelt, starrte er entgeistert in die Tiefe, doch nicht etwa auf sein Publikum jenseits des Vorhangs, sondern an seinem dürftigen Leib hinab - dorthin, wo für d’Alembert, die Majestät und den Bastard wegen des schwarzen Tuchs nichts zu sehen war.

»Ni-nicht zurück!«, schrie der Geschaffene mit überkippendem Kreischen, dann klatschte und platschte es lauter als jemals. Im gleichen Moment wurde der Vorhang zur Seite gerissen, ein so unerhörtes Bild entblößend, dass selbst der statuarischen Majestät ein lautes »Ah!« entfuhr.

O ihr Götter, dachte d’Alembert wieder.

In einem gewaltigen Glasbassin schwammen unzählige daumenkleine Menschlein umher, nackt, goldgelockt, die winzigen Bäuche allesamt nabellos glatt.

D’Alembert hatte sich hinlänglich mit der Kunst der Glasschleiferei beschäftigt, die ganz neuartige Trompe-l’œil-Effekte schuf. Daher dämmerte ihm rasch, welcher Kunstgriffe Hezilow sich bedient haben musste: Die vordere Wand des Bassins schien eine riesige, konkav geschliffene Linse zu sein, mit zahllosen prismatischen Brechungen, sodass der eine lebensgroße Flor zu einer Unzahl winziger Homunkel zugleich verkleinert und vervielfacht wurde. Doch obwohl er dies ahnte, konnte auch Charles sich dem dunklen Zauber dieses blasphemischen Anblicks nicht entziehen. Die Zwillinge waren unbeachtet verschwunden, gebannt starrten sie alle drei auf das Becken, in dem sich Hunderte nackter Menschlein bewegten, von gleichförmigem Aussehen, im Uterus der gläsernen Mutter schwebend.

Hezilow zog die Kupelle mit den glühenden Kohlen vom Tiegel, nahm eine Weinrebe zur Hand und rührte damit um. Einige Augenblicke war nichts zu hören außer seinem pfeifenden Atem und stetigem Wasserplätschern vom Kristallbecken her.

Ruhig rührte der Puppenmacher noch einmal um, dann nahm er eine Zange, hob den Tiegel vom Herd und setzte ihn auf einen Stein.

»Wenn Euer Herrlichkeit die Gnade besäßen?« Lockend hielt er dem Kaiser die Zange hin, und die wundroten Lippen im Bartgestrüpp schnappten auf und zu.

Tatsächlich erhob sich die väterliche Majestät von ihrem Sessel, suchte sich steifbeinig einen Weg zwischen den Särgen und nahm die Zange vom buckelnden Magister entgegen.

D’Alembert sah deutlich, dass die gichtknotige Rechte des Kaisers zitterte, als er die Zange in den Tiegel senkte. Er stocherte darin herum, zog endlich einen glühenden Klumpen hervor und hielt ihn ins Licht, das eine Fackel neben dem Athanor verströmte.

»Wenn Euer strahlende Gnaden so gietig wären, das Klimpchen dort hineinzuwerfen?« Der Russe deutete auf das Bassin, in dem hundert winzige Menschlein bei seinen Worten erstarrten.

»Dort hinein?«, wiederholte Rudolf.

Der Puppenmacher nickte und buckelte zur gleichen Zeit.

»Ganz recht, ganz recht, durchläjchtigste Herrlichkeit, damit das Mysterium sich vollendet.«

Der Kaiser hob die Hand und warf den glühenden Klumpen mitsamt der Zange ins Bassin. Lautes Zischen ertönte, wieder kreischte Flor, und von der Wasserfläche stieg Dampf auf, sodass für einige Momente kaum etwas zu erkennen war.

Als sich das Wasser hinter der Kristallwand wieder geklärt hatte, sah d’Alembert, wie hundert kleine Menschlein mit krampfhaften Bewegungen zum Grund des Beckens tauchten, hundert Hände nach hundert gülden funkelnden Klümpchen griffen und mit ihrer Beute wieder nach oben schwebten.

»Go-gold!«, rief Flor atemlos, aus hundert winzigen Mündern.

»Der kö-königliche Leu!«

Hundert Arme warfen hundert Goldklumpen aus dem Bassin heraus, doch nur ein einziger überwand die Zaubergrenze und flog zu ihnen herüber.

D’Alembert fing den Metallbrocken auf. Unerwartet schwer, funkelnd und nass lag er in seiner fieberheißen Hand.

»Übergebt ihn uns, Maître, wir gebieten’ s«, sprach die väterliche Majestät. »Bestätigen unsere Schwarzkünstler die Probe, so lassen wir den Magister zum böhmischen Ritter schlagen.«

64

Am folgenden Morgen rollten alle siebenundsiebzig Kutschen des kaiserlichen Konvois unter sonntäglichem Glockengeläute wieder gen Prag. Acht Tage später, am 17. Junius 1607 A.D. erhielt d’Alembert einen dringenden Brief von Katharina da Strada, des Inhalts, dass die Mitglieder der kaiserlichalchimistischen Akademie befunden hätten, Magister Hezilow habe wirklich und wahrhaftig Plumbum zu Gold transformiert.

Maître d’Alembert vermochte die Worte nur mit Mühe zu entziffern. Die Zeilen flimmerten ihm vor den Augen, der Bogen entglitt seinen Fingern; Pavel nahm ihn wieder an sich, tupfte seinem Herrn über die fiebrig glühenden Wangen und schlich auf Zehenspitzen zur Tür.

D’Alembert hatte sich unmittelbar nach der Goldprobe zu Bett begeben, siebzig Stunden wie ein Toter geschlafen und auch in den Tagen danach sein Schlafgemach nicht ein einziges Mal verlassen. Fieberträume quälten ihn bei Tag und Nacht, er verspürte keinen Appetit, nicht einmal Durst, obwohl er nach wie vor maßlos schwitzte. In seinen Träumen tanzten und schwebten Tausende goldener Homunkel in weltengroßen Kristallbassins, Löwen, Bären und mondgestaltige Schlangen kämpften um Haufen gleichförmiger nackter Menschlein, die zu himmelhohen Türmen vor ihnen aufgestapelt lagen.

Der Maître knirschte mit den Zähnen, stöhnte furchtbar und warf den Kopf hin und her. Zum ersten Mal, seit ihm die väterliche Majestät vor bald zwanzig Jahren ihren Bastardsohn anvertraut hatte, war Charles d’Alembert unleugbar krank.

»Flüchtiges wird dauerhaft und lernt, selbst der Flamme zu widerstehen.«