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Als sich d’Alembert von seinem Krankenlager aufraffte, war ein früher Herbst ins Moldautal eingezogen. An Pavels hageren Arm geklammert, schleppte er sich vom Schlafgemach in seinen weißen Salon, den er seit Monaten nicht betreten hatte. Das erste Bild, das er, am Fensterstock lehnend, in sich aufnahm, war ein bleifarbener Himmel, über den schwarzgraue Wolken jagten, bauchig und gefleckt wie trächtige Kühe. Der Ostwind blies einen Wirbel goldenen Eichlaubs über die vor Nässe stumpfen Dächer von Krumau, so klaftertief unter seinem Fenster, dass er sich gleich wieder abwandte, erschauernd und von Schwindel geplagt.
»Zum Sofa, Pavel«, ordnete er mit dünner Stimme an, »mir zittern die Knie.«
Leise ächzend schleppte der Sekretär ihn zum Hirschledermöbel, wo d’Alembert unter selbstvergessenem Seufzen in die Polster sank.
Noch immer flimmerte ihm der goldene Wirrwarr des Herbstlaubs vor Augen und vermischte sich mit den Bildern, die ihn in seinen Fieberträumen gepeinigt hatten.
Im Grunde fühlte er sich noch genauso ausgezehrt wie vor drei Wochen, als er zum ersten Mal versucht hatte, sein Krankenlager zu verlassen, um nach einem halben Dutzend Schritten umzukehren, zitternd vor Schwäche und Verzagtheit. Immerhin hatte sich das Fieber nun zurückgezogen, nach Art belagerter Invasoren, die sich im unzugänglichsten Wehrturm verschanzen.
Wenn ich ehrlich bin, dachte der Maître - und sich selbst gegenüber schwelgte er seit Wochen in Ekstasen der Ehrlichkeit -, erwarte ich nicht, dass sich dieser Eroberer noch einmal aus den Ruinen meiner Person verjagen lässt.
Man schrieb den 5. September 1607 A.D. einen Mittwoch -
fast drei Monate waren seit dem Besuch der väterlichen Majestät verflogen und verweht. Und noch immer schien ganz Krumau, Stadt und Burg, mit angehaltenem Atem darauf zu warten, dass der Kaiser sein Versprechen einlöste und Hezilow zum rytir z Imany, zum Ritter Böhmens, erheben ließ.
»Don Julius und der Herr Magister«, meldete Pavel von seinem Pult her, »rechnen nun für nächste Woche mit der fraglichen Nachricht aus Prag.«
In einem seiner hartnäckigen Fieberträume rollen Hezilows Kutschen über schwarzes, kahles Land, zwischen abgeernteten Äckern, blattlosen Bäumen dahin. Wann immer die Lumpenkerle auf einen einsamen Wanderer stoßen, beugt sich Unçerek - oder Oblion oder Täkie - aus der Tür, packt den Unseligen beim Kragen und reißt ihn bei kaum geminderter Geschwindigkeit in den schwarzen Kasten hinein. Der Kutscher lässt die Peitsche tanzen, in rasender Fahrt geht es weiter, zum Richtplatz vor dem Budweiser Tor, wo Jakob Schatz schon auf die Gesellen wartet, oder zum Rosenberger Kastell, dessen Gemäuer sich mehr und mehr mit Hezilows Jagdbeute füllen.
Tatsächlich aber verhielt sich der Puppenmacher seit drei Monaten so still wie die Katze vor dem Mauseloch. Das jedenfalls ging aus den Worten Markétas hervor, die den Maître in den Wochen seiner Krankheit regelmäßig aufgesucht, aufgemuntert und mit Heiltränken traktiert hatte. »Das Zögern der Majestät hemmt die alchimistische Magie, Euer Liebden«, mit solchen und ähnlichen Floskeln vertröste Hezilow ein ums andere Mal den jungen Grafen, der, außer sich vor Ungeduld und Kummer, vom Puppenmacher die versprochenen Teufelsstreiche einfordere: Gold in funkelnden Strömen und Kreaturen in blanker Schar.
Solange die Majestät und der Magister gleichermaßen zögerten, ihre Versprechungen einzulösen, konnte sich d’Alembert sogar halbwegs guten Gewissens gestatten, in Fieberträumen zu wimmern und in Ekstasen der Ehrlichkeit zu schwelgen. Aber in den letzten Wochen wäre er wohl auch dann auf seinem Krankenbett liegen geblieben, wenn Hezilows Tatendrang nicht durch ein taktisches Patt gehemmt worden wäre.
Dabei war ihm der Ausgang dieser blasphemischen Schachpartie keineswegs gleichgültig geworden, im Gegenteil. Allerdings hatte er seine Zuversicht, dass er selbst die weißen Figuren zum Sieg führen könnte, so weitgehend eingebüßt, dass er für jeden Tag dankbar war, um den sich der Fortgang des fatalen Spiels verzögerte.
Emsig schlitzte Pavel drüben am Stehpult Depeschen auf, die auch heute zu Dutzenden für den Obersthofmeister von Burg Krumau eingetroffen waren. Seine Miene verriet, wie sehr es den anhänglichen Alten erfreute, dass der Maître entschlossen schien, endlich wieder er selbst zu werden.
In einem seiner wiederkehrenden Fieberträume schwimmt d’Alembert in einem See umher, und auf einmal bemerkt er, dass das Wasser vor winzig kleinen Menschlein wimmelt. Er fährt zusammen, da erschauert die ganze weite Seefläche, und plötzlich schwimmen sie von allen Seiten auf ihn zu. Der gesamte See, so weit sein Auge reicht, schimmert und schäumt von den eifrigen Bewegungen der daumenkleinen Leiber, die ihm von überallher entgegenschnellen, selbst aus der trüben Tiefe des Wassers stieben sie zu ihm empor. Verzweifelt versucht er sich ans Ufer zu retten, doch im nächsten Moment ist er von Kopf bis Fuß mit funkelnden Homunkeln bedeckt, einer wimmelnden Kruste mit hunderttausend Händchen und Mündlein, die ihn zwicken und beißen und zwacken und kneifen, jeden einzelnen Zoll seiner Haut.
D’Alembert sah zu Pavel hinüber, und aufs Neue vermischte sich der Blätterwirbel vor dem Fenster mit dem Gewimmel im schaumigen See seines Fiebertraums.
Nach wie vor schien es ihm zweifelhaft, dass der Magister tatsächlich die Natur bezwingen, dass er Gold aus Blei oder gar lebendige Kreaturen aus Dampf und Dreck erschaffen konnte. Aber dem Puppenmacher war etwas ungleich Bedeutenderes gelungen - er hatte ihren Geist bezwungen, indem er das Bild der im gläsernen Becken wimmelnden Menschlein unauslöschlich in ihre Seelen geprägt hatte.
Und vielleicht, dachte d’Alembert, ist dies sogar die innerste Ursache des Fiebers, das mich verzehren will: das unerträgliche Wissen, von meinem Widersacher auf eigenem Terrain geschlagen zu sein.
»Lass die Briefe, Pavel«, sagte er, »erst will ich Breuner aufsuchen. Wie geht es ihm?«
Der Sekretär erstarrte, über sein Stehpult gebeugt. »Der Haushofmeister ist ins Paradies gefahren, vor vier Wochen schon, Maître d’Alembert.«
Charles d’Alembert hatte den Tod niemals gefürchtet, allerdings auch nie herbeigesehnt oder gar nach christlicher Manier verherrlicht. Das katholische Kriechen vor der Majestät des Todes verabscheute er, ohne deshalb auch die Menschen zu verachten, die der tröstlichen Magie so dürftiger Lügen erlagen.
Gleich den großen Griechen, deren Weisheit und Lebenskunst er verehrte, würde er den Schierlingsbecher leeren, wenn seine Stunde gekommen wäre, ein würdevoller Abschied, bestimmt von stillem Gedenken, den er sich in vielen Einzelheiten schon oftmals ausgemalt hatte.
Wie die heiligen Weiber, mit denen Johanna von Waldstein sich seit einiger Zeit umgab, oder wie der finstere Pater Miguel, der während seiner Krankheit hier in Krumau eingetroffen war, glaubte auch d’Alembert an ein Jenseits, in dem sich die Seelen der Verstorbenen aufhielten. Allerdings hatte er sich niemals zu dem Wahn bereden lassen, dass es sich nach dem Dahinscheiden des Leibes seliger leben ließe. Wie schon Plato oder Euripides wussten, war das Jenseits »eine kalte Geisterwelt, wo frierend Schatten sich an Schatten drängt und find’t doch keinen Hauch von Zärtlichkeit, von Leidenschaft und Leibeswärme«.
Fröstelnd stand d’Alembert vor dem Grab seines alten Gefährten von Breuner, am Rand des Rosenberger Gottesackers, der sinnigerweise hinter dem gräflichen Irrgarten lag. Der wackere Haushofmeister hatte ein halbes Leben in Don Julius’ Diensten verbracht, ebenso wie er selbst, und plötzlich spürte Charles mit überwältigender Gewissheit, dass er dem Freund bald schon nachfolgen würde.
In dünnen Strähnen rann der Regen herab. Törichter Aberglaube, dachte d’Alembert. Auf dem schwarzen Hügel verwelkte ein halbes Hundert Asphodelen, der Engel auf dem Grabstein deutete grimmig himmelwärts.
»Er ruhe in Frieden«, sagte Pater Miguel, »Gott im Himmel sei seiner armen Seele gnädig. Amen.«
»Amen«, wiederholte Markéta, die neben dem Maître am Grab stand, die Hände fromm gefaltet, doch d’Alembert sah schweigend zu Pater Miguel auf.
»Kommt recht bald einmal zur Beichte, mein Sohn«, sagte der Geistliche, indem er, die schwarzen Augenbrauen zusammengezogen, mit brütendem Blick auf ihn heruntersah. »Kommt am besten schon heute, um Eurer Seligkeit willen.«
Einen Moment lang hielt d’Alembert dem Blick des so wenig barmherzig wirkenden Paters noch stand, dann sah er auf seine Füße hinab, die zum ersten Mal seit Monaten wieder in Schnabelschuhen steckten. Diese gnadenlos frommen Priester, dachte er, holen sie geradewegs aus Spanien, von Ihrer Allerkatholischsten Majestät. Obwohl er seinen mit Schneenerzen gefütterten Winterumhang übergeworfen hatte, fror er am ganzen Leib, ein klapperndes Bündel aus Nässe, Kälte, Schwäche, dessen innerster Kern still verglühte.
»Nennt mich nicht Sohn, denn mein Vater seid Ihr nicht«, sagte der Maître endlich, und dann fuhr er zusammen, da Markéta zu seiner Rechten einen seltsamen, gepressten Laut ausgestoßen hatte, halb Lachen und halb Schluchzer.
Der Geistliche machte einen Schritt auf ihn zu. Seine bullige Gestalt und das düstere Antlitz mit den bläulichen Bartschatten wirkten mit einem Mal so bedrohlich, dass d’Alembert ernstlich Angst bekam.
»Eure Seele ist verhärtet und verstockt, Senor d’Alembert«, sagte Pater Miguel. »Büßt und betet, ehe es zu spät ist und Gott Euch auf ewig verdammt.«
D’Alembert verbeugte sich flüchtig in Richtung des Grabes und trat den Rückweg an. Dass er den Tod nicht fürchtete, hieß noch lange nicht, dass er sein Leben bereitwillig von sich werfen würde.
Dankbar nahm er hin, dass Markéta ihren Arm unter seinen Ellbogen schob und ihn stützte, während sie auf durchweichten Wegen am Irrgarten vorbeigingen, um den Schwanensee herum und in sanftem Gefälle wieder zur Burg hinab. Unablässig fiel Regen in lotrechten Schnüren, selbst das Laub sank so schwer von den Bäumen, als wären es Blätter aus gehämmertem Blei.
Hinter ihnen lief der spanische Pater, mit dröhnenden Schritten und unverwandt Gebete murmelnd. Nach dem Bader Pichler und dem alten Scharfrichter hatte also auch Pater Hasek seinen Posten räumen müssen, dachte d’Alembert. Wie mochte Julius dieses Schelmenstück gelungen sein? Geistliche konnten allein von ihrem Bischof eingesetzt oder abberufen werden, und wenn sich der Erzbischof von Prag auf diesen Handel eingelassen hatte, dann musste er eine beträchtliche Gegenleistung erhalten oder sich mächtigem Druck gebeugt haben.
Meistens war es d’Alembert gelungen, rechtzeitig aus jenem Fiebertraum zu erwachen, aber ein paar schreckliche Male hatte er in die winzigen Gesichter der tausend schwimmenden Menschlein sehen müssen, die allesamt Fabrios Züge trugen. Seine kohleschwarzen Augen, die scharf geschnittene Nase, der lächelnde Brombeermund - das geliebte, nie geküsste Antlitz, zu hunderttausend Fischgesichtern zugleich vervielfacht und eingeschrumpft.
Gewaltsam riss er sich aus dem Traumsee heraus. Von Breuner hatte sich in die Obhut des gräflichen Medikus begeben, während er selbst sich geweigert hatte, sein persönliches Schlafgemach gegen den Hospizsaal am untersten Burghof zu vertauschen. Auf seinen Befehl hin hatte Pavel die Medizin regelmäßig weggeschüttet, die Kasimir ihm schicken ließ, und ihm stattdessen das Spezifikum eingeträufelt, das Markéta ihm eines Tages mitgebracht hatte, mit den besten Genesungswünschen von Sigmund Pichler.
Bin ich nur deshalb immerhin noch am Leben, mon vieil ami, während du sechs Fuß tief vergraben liegst? Und konntet Ihr oder der Bader die Leiche beschauen, Madame? Hat der Körper des armen von Breuner wie damals der Leichnam des falschen Homunkel ausgesehen: kochendrot, gedunsen, aufgeplatzt? Er wagte es nicht zu fragen, kaum mehr des finsteren Paters wegen, der sie im obersten Burghof verlassen hatte, sondern aus Angst, dass Markéta seine Fragen bejahen würde.
»Ihr glaubt gar nicht, wie froh ich bin, Euch wieder auf den Beinen zu sehn, Maître«, sagte sie nun. »Wenn ich mich rasch mit Euch bereden könnt? Nur auf ein paar Worte, die Angelegenheit drängt.«
»Und mich drängt es zurück auf mein Lager, verzeiht, Madame«, sagte er mit Mühe. Das ungewohnte Treppensteigen nahm ihm den Atem. »In zwei Stunden werde ich Euch gerne in meinem Salon empfangen.«
»Dann um Glockenschlag drei, Maître, ich bin sehr in Sorge -nicht mehr um Euch, Gott sei Dank, aber ...«
Sie schlug sich die flache Hand vor den Mund. Für einen Moment sah d’Alembert in ihre grünen Augen, die vor Tränen glitzerten, dann wandte sie sich ab und lief in Richtung der Frauengemächer davon.
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»Hezilow glaubt, dass die kaiserliche Urkunde immer noch nicht eingetroffen wär«, sagte Markéta, »heut früh erst hab ich selbst gehört, wie Julius ihm gegenüber ganz empört getan hat. >Gleich schick ich einen Botenc, hat er ausgerufen, >keine Bange, Magister, in drei Tagen allerärgstens seid Ihr Ritter von Böhmen. < Und dabei ist vorgestern schon ein Bote mit dem Dokument gekommen«, fuhr sie fort.
»Die Gardisten haben ihn abgefangen und Julius die kaiserliche Schatulle übergeben, Maître, ich hab’s mit eigenen Augen gesehn.«
»Und der Kurier?«, fragte d’Alembert, der sich mit offenbarer Mühe auf seinem Sofa aufrecht hielt.
Fast bereute sie’s schon wieder, ihn mit so erschreckenden Neuigkeiten zu behelligen, aber es ging nicht anders. Zumindest würde sie ihm das Grässliche so schonend wie irgend möglich beibringen. »Der Bote ist im Turm«, sagte sie.
»Beim Sternengucker?«
»Gott bewahre, Monsieur! Von Sargenfalt - na ja ...«
»Sein Geist ist immer noch verwirrt?«
Ein Schauder überlief sie. »Seine Seele«, sagte sie leise, »ich glaub, sie ist bis heute nicht von dort zurückgekehrt, aus der Nebelwelt.«
»Und der Bote also? Nun sprecht doch, Madame!« Er machte Anstalten, sich aus den tiefen Polstern seines Sofas hervorzuarbeiten.
»Bitte bleibt sitzen, Maître, Ihr müsst Euch schonen. Nicht, dass Ihr einen Rückfall erleidet, schon der Gang zum Gottesacker war anstrengender, als Euch in Euerm Zustand gut tun kann.«
»Hört mich an, Markéta.« D’Alembert ließ sich in seinen Sitz zurücksinken. Neben ihm lag das weiße Stöckchen, und Markéta ertappte sich bei dem Wunsch, dass er es in die Hand nehmen und wie in besseren Zeiten durch die Luft wirbeln möge. »Es ehrt Euch sehr, dass Ihr mich schonen wollt, aber wie Ihr selbst vorhin bemerktet: Für derlei bleibt uns keine Zeit. Also sprecht ohne Umschweife, wie sie vor einem Narren oder Knaben angezeigt wären.«
Sie errötete ein wenig und ging mit einer Handbewegung darüber hinweg. »Verzeiht, Maître. Der kaiserliche Bote sitzt im Hungerturm, im selben Käfig, in den Julius damals Flor einsperren ließ. Die Schatulle enthielt einen Brief mit gewaltigem Löwensiegel, ich selbst war dabei, als Julius es aufbrach, die Urkunde überflog und mit einem Fluch zu Boden warf.«
»Der Ritterschlag«, murmelte d’Alembert. »Und warum, glaubt Ihr, freut’s ihn nicht, dass der Magister nun ungesäumt ans Werk muss?«
Markéta war ans Fenster getreten, für einen Moment sah sie still auf die Stadt hinab. Grau schäumte die Moldau durch ihr gewundenes Flussbett, winzig wie ein Rinnsal aus dieser Höhe. Eine Schar plumper schwarzer Vögel flog über die Dächer hinweg, und erschauernd dachte sie daran, was Flor ihr unlängst von jenem »alten Drachen« in Hezilows Halle berichtet hatte.
»Der Kaiser vermacht Hezilow ein Rittergut vor den Toren Prags«, sagte sie, ohne sich zu ihm umzuwenden. »Er lädt den Puppenmacher mit herzlichen Worten ein, sein Werk dort zu vollenden, besser noch in den Laboren der kaiserlichalchimistischen Akademie zu Prag.«
Der abgemagerte Mann in ihrem Rücken atmete tief ein und wieder aus. Als Markéta sich zu ihm umdrehte, sah sie eben noch den Schrecken in seinem Gesicht, das gleich darauf wieder undurchdringlich wurde.
»Damit hat natürlich jeder gerechnet«, sagte er, »ausgenommen Julius, der die väterliche Majestät für einen edlen Ritter hält.«
»Aber es ist Betrug!«, ereiferte sie sich. »Ohne Julius hätt Hezilow überhaupt nichts erreichen können, und zum Dank zieht sein Vater den Magister nach Prag?«
»Erlaubt mir eine Gegenfrage«, sagte er, die Arme vor der Brust verschränkend. »Wie viele Personen sind im Burgspital gestorben, während ich in Fieberträumen lag? Breuner allein oder weitere mit ihm?«
»Fünf, soweit ich weiß. Der Haushofmeister und vier junge Leute aus der Stadt, Kinder fast noch.«
»Fünf Tote also? Und wodurch wurden diese jungen Leute dahingerafft - etwa auch durch das Fieber, das mich in seinen Krallen hält und dem armen Breuner die Brust zerrissen hat?«
Er hielt inne und sah forschend zu ihr auf. Der Wortwechsel schien ihn zu beleben, aber hinter seiner Munterkeit spürte sie bleierne Melancholie.
»Ihr zuckt mit den Schultern, Madame? Vermutlich hattet Ihr keine Gelegenheit, auch nur einen dieser Leichname anzusehen? Und argwöhnt gleichwohl - oder gerade deshalb -, dass es mit diesen unseligen Toten eine ähnliche Bewandtnis haben könnte wie mit dem armen Tropf, den Ihr drunten in der heißen Quelle fandet? Und nun verratet mir aber bitte eins noch, Madame Markéta: Müsstet Ihr unter diesen makabren Umständen nicht froh und dankbar sein, wenn der Lumpenteufel, wie Ihr ihn so trefflich nanntet, uns endlich verlässt und sich eine andere Wirkungsstätte sucht?«
Jetzt erst bemerkte sie, dass auch sie die Arme vor ihrer Brust verschränkt hatte, so als ob sie beide sich gegen eine unsichtbare Bedrohung wappnen wollten. »Das stimmt schon - einerseits, Monsieur«, gab sie zurück. »Wenn Julius erkennen würde, dass er Hezilow loswerden muss, wenn ich ihn überzeugen könnte und wir uns so den Kerl vom Hals schaffen würden - ich würd singen vor Freude, Maître d’Alembert.«
Mit raschen Schritten trat sie nun zu ihm, sodass er den Kopf zurücklegen musste, um ihr weiter ins Gesicht zu sehen. »Aber so, cher maître? Wenn der Puppenmacher auf diese Weise ginge - es wär ja viel ärger, als wenn er noch eine Weile bei uns bliebe: bis wir selbst die Kraft aufbringen, ihn aus dem Tor zu werfen, oder meinetwegen auch zu den Bären. Alles, alles, Maître, bloß nicht so: durch ein Verräterbündnis mit der väterlichen Majestät!«
D’Alembert schien diese Worte eine Weile lang zu bedenken, oder vielleicht kräftigte er sich auch durch einen kurzen Schlummer; jedenfalls sank sein Kopf auf die Brust, und für einige Minuten blieben sie beide still.
»Ich gebe Euch Recht, Madame«, sagte der Maître schließlich, indem er aufs Neue zu Markéta aufsah. »Für unseren Freund und Schützling wäre es eine schreckliche Niederlage, wenn Hezilow jetzt auf und davon ginge, weil der Kaiser ihm mehr verspricht - Ruhm, Reichtum, Macht -, als Julius ihm jemals bieten kann.« Er tastete nach dem Stöckchen und befingerte es ein wenig, konnte sich aber offenbar nicht entschließen, es in die Hand zu nehmen. »Woraus sich nun leider mit Leichtigkeit folgern lässt, dass Julius alles Erdenkliche unternehmen wird, um Hezilows Verrat zu unterbinden. Dass er ihm die Urkunde vorenthält, sollte uns also nicht überraschen, doch damit allein kann er natürlich nicht verhindern, dass ihm der Puppenmacher in Richtung Prag davonläuft. Also wird bald schon ein zweiter Streich folgen. Habt Ihr eine Ahnung, Madame, worin dieser Streich bestehen wird?«
Erschöpft ließ sich Markéta neben ihm aufs Sofa sinken. »Ich hatte gehofft, dass Ihr diese Frage beantworten könntet, Monsieur.«
Der Maître senkte wieder den Kopf. »Seid nachsichtig mit einem Kranken, Madame. Ich habe mich nur deshalb von meinem Lager erhoben, weil ich einsehen musste, dass sich das Fieber nicht bezwingen lässt, nicht einmal mit Hilfe der ausgezeichneten Arznei, für die ich Euch übrigens herzlich danke.« Ein Anflug des alten Spotts ließ seine Augen funkeln. »Und nun muss ich nachdenken, Madame, vielleicht, dass mir noch rechtzeitig einfällt, wie ich Julius’ bevorstehenden Zug parieren kann.«
»Seinen Zug?«, wiederholte Markéta. »Also ahnt Ihr doch schon, was er unternehmen wird?«
»Nun, genauer besehen ist es natürlich der Schachzug des Puppenmachers. Aber in diesem Fall wird wohl Julius sich einbilden, dass er die Puppen dirigiert, anstatt ihnen bloß anzugehören - übrigens der Wunschtraum eines jeden Schachkönigs: einmal wirklicher Herrscher zu sein.« Er unterbrach sich und lächelte Markéta flüchtig zu.
»Von Hezilows unsichtbarer Hand ermuntert, wird unser schwarzer Schachkönig also mit seinem nächsten Zug alle verbliebenen Schlupflöcher abriegeln, sodass die weiße Partei vollständig von schwarzen Wächtern umzingelt ist.«
In Markétas Kopf begann es sich zu drehen, sie riss die Augen auf und überlegte angestrengt, was die Rätselworte bedeuten mochten.
»Könnt Ihr Euch nicht einfacher erklären, Monsieur? Meine Mutter war eine leidenschaftliche Schachspielerin, aber ich hab an dem irrgärtnerischen Schnitzwerk nie Gefallen gefunden.«
»So wenig wie der Bader Pichler, ich weiß.« Maître d’Alembert zog nun tatsächlich sein Stöckchen zwischen den Polstern hervor und warf es zaghaft empor. »Spätestens morgen wird Julius die Stadttore von Krumau verriegeln lassen, so nämlich, dass niemand mehr die Stadt verlassen und niemand mehr von außen hereingelangen kann.«
»Aber mit welcher Begründung könnte er so etwas anordnen?« »Ganz einfach, Madame.« D’Alembert beugte sich vor und klaubte mit Mühe seinen Stab vom Teppich. »Der gräfliche Medikus wird - zu Recht oder nicht - erklären, dass in Krumau die Pestilenz ausgebrochen sei.«
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»Madame, bitte verzeiht, ich suche Flor. Habt Ihr eine Vorstellung, wohin er ...«
»Flor?« Sie sah Lisetta unwillig an, mit einem Fuß schon auf der Treppe nach unten. »Ist er denn nicht im Frauengemach?« Dort hatte sie ihn zurückgelassen, auf dem lachsfarbenen Sofa, vor zwei Stunden erst.
»Nein, Madame, ich versteh’s ja auch nicht. Madame Johanna hat mich zu den Wäscherinnen geschickt, und als ich zurückkomm, ist er fort! Ich hab alles abgesucht, jeden Winkel, ich weiß ja, wie gern er sich verkriecht.«
Ihre Rede verebbte, stattdessen begannen Tränen aus wasserblauen Augen zu fließen.
»Ruhig, Mädchen«, sagte Markéta, dabei fühlte sie selbst sich gejagter denn je. Sie musste mit dem Medikus reden, auf der Stelle, vielleicht, dass sich das Unheil doch noch abwenden ließ. Von Rosert drohen, dachte sie, ihn einschüchtern, irgendwie Vater Sigmund mit herbeiziehen. Wenn der Medikus sieht, dass er’s mit Heilkundigen zu tun hat, wird er sich scheuen, den Leuten eine lügenhafte Pest an die Wand zu malen.
Aber nun das: Flor verschwunden, vor ihr Lisetta ans Treppengeländer geklammert, der ganze Kopf unter dem dünnen blonden Haar vor Erregung glühend.
»Hast du im Schlafgemach nachgeschaut? In der Badekammer, hinter den Sofas im Empfangsraum?«
Lisetta nickte bei jeder einzelnen Frage, anscheinend erleichtert, dass sich zumindest ihre Unschuld erwies.
»Nach draußen ist er sicher nicht gelaufen«, sagte Markéta, an der Unterlippe nagend. Seit Hezilow ihn eingefangen, im Gewölbe aufgehängt und in ein Kristallglas voll Wasser gestoßen hatte, wagte Flor sich kaum mehr aus der Schlafkammer hervor. Nur durch flehentliche Bitten hatte sie Julius überhaupt erweichen können, den Nabellosen noch einmal Hezilow zu entreißen. Gerät er abermals in die Fänge des Lumpenteufels, dachte sie, so ist’s um ihn geschehen. Aber diesmal hatte der Puppenmacher nichts mit Flors Verschwinden zu tun, das spürte sie.
»Komm mit.« Und Markéta zog die kleine Zofe hinter sich her, ins Frauengemach zurück und windgeschwind durch die Flucht lachsfarbener und pfirsich- und aprikosenzart getönter Säle und Gemächer und Kammern, der Quelle des Weihrauchdufts entgegen, der mit jedem Schritt lastender wurde. Mit einer Hellsicht, die der fromme Dampf möglicherweise beförderte, sah sie bereits vor sich, wie Flor in dem kahlen Saal stand, den Kopf gesenkt vor der kalten Gestalt, die über ihm auf dem Prunksessel thronte.
Sie riss die Tapetentür auf, auf die Bronja damals zugesteuert war, sie selbst war seitdem nie mehr drüben gewesen. Der leere Vorraum, die Fenster auch hier noch immer verhängt. Dann die Doppeltür; dumpf drang Chorgesang durchs schwarze Holz.
»Madame«, zirpte Lisetta, »wollt Ihr nicht besser .«
Ohne die Zofe zu beachten oder anzuklopfen, trat Markéta ein.
»Was erlaubt sie sich!« Tatsächlich saß Johanna von Waldstein in der gleichen Haltung wie damals auf ihrem Sockel, sogar im gleichen schwarzen Kleid, die gleiche weiße Haube auf dem Turm ihrer Haare, so als ob sie in all den Monaten dort oben ausgeharrt hätte wie eine Kirchenskulptur. »Hinaus mit Euch - dies ist ein heiliger Ort. Eure Gegenwart entweiht ihn, Senorita!«
Die hassvollen Worte prasselten auf sie herab wie ein Schwall aus dem Schweinekübel. Markéta fuhr zusammen, aber sie zwang sich, weiter auf Johanna zuzugehen, über den kalten Steinboden mit dem schwarz-weißen Kastenmuster, unter den Blicken der vogelhaften Dame auf dem schwarzen Thron und der zwölf Nonnen in ackerschwarzen Kutten, die im Halbkreis den Sockel umstanden, die Münder noch halb geöffnet vom frommen Chorgesang.
Vor dem Thronsessel hockte Flor in einem schwarzen Steinkarree, der goldene Schopf tatsächlich gesenkt, wie sie’s vorausgesehen hatte, die Beine angewinkelt, die dünnen Arme um seine Knie verschränkt.
Sie kauerte sich neben ihm auf den Boden, ohne den Blick von Johanna zu wenden. »Was wollt Ihr von ihm?«, fragte sie. »Warum habt Ihr den armen Flor entführen lassen?«
Den Kopf krähenhaft schief gelegt, äugte die Waldstein zu ihr herab. Die zwölf Nonnen hielten allesamt das Kruzifix umklammert, das ihnen vor den keuschen Brüsten baumelte, als wären sie drauf und dran, einen Dämon zu bannen.
»Oder habt Ihr ihn gar mit eigner Hand entführt, Madame -und könnt Euch nur nicht recht entsinnen?«
Dieser Hieb hatte besser getroffen. Johanna fuhr zusammen, dass das Häubchen auf dem Turm ihrer Haare bebte.
Markéta legte Flor eine Hand auf den Arm, doch sein Kopf blieb gesenkt. »Wie mir Don Julius erzählt hat«, fuhr sie fort, »ist er Euch in einer gewissen Nacht Anfang Mai begegnet - im dunklen Flur vor den Infantengemächern, Johanna, wo Ihr wieder einmal schlafwandeltet. War das heut auch so, edle Dame? Wandeltet Ihr durch die Frauengemächer und zwangt den armen Flor, Euch zu folgen - alles wie im Traum? Denn wie ich hörte, widerfährt Euch das nicht selten: dass Ihr aus dem Schlaf aufschreckt, ohne zu erwachen, und dann wie ein Geist umherschleicht, ohne Euch nachher zu entsinnen, wo Ihr gewesen seid und was Ihr dort getan habt.«
»Meine Seele flieht zuweilen den Körper. Sie sehnt sich nach Ihm«, sagte Johanna von Waldstein, die Augen himmelwärts verdrehend, »nach unserem Herrn im Himmel, nach dem Ende von Schmutz, Schmach und Knechtschaft, nach der Seligkeit jenseits des Leibeskerkers. - Aber wie könnte ein Weibchen wie Ihr das verstehen?«, fuhr sie mit veränderter Stimme fort. »Im Übrigen redet Ihr Unsinn, was auch sonst, Senorita: Der Nabellose ist aus freien Stücken hier hereingetappt, angezogen vom Chorgesang meiner heiligen Frauen.«
Sie beugte sich auf ihrem schwarzen Prunksessel nach vorn und äugte zu Flor hinab, der indessen den Kopf noch immer gesenkt hielt.
»Anfangs schien es beinahe, als ob seine Seele nach Erlösung lechzte, als ob er deshalb herbeigeschlichen wäre: weil der fromme Gesang sein besseres Ich aus höllentiefem Schlaf aufweckte. Aber die Hoffnung scheint vergebens, seht nur selbst, Senorita: Er ist ein Verdammter!«
Markéta umfasste Flors Schultern und rüttelte ihn sanft, bis er endlich zu ihr aufsah, die Augen gedunkelt von namenloser Furcht.
»Komm mit mir, mein armer Flor.« Willig ließ er sich von ihr emporziehen. »Nehmt künftig besser einen kräftigen Schlaftrunk, Johanna«, sagte sie, über die Schulter sich zurückwendend, während sie Flor bereits zur Tür zog. »Im Baderhaus hab ich mal einen Einbrecher mit einem Holzbottich niedergeschlagen. Solltet Ihr noch einmal vorn in meinen Gemächern umherstreichen, könnte ein Unglück geschehen.«
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Es bekümmerte ihn, dass er Markéta schon wieder Sorgen bereitet hatte, er spürte ja, wie bedrückt sie war. Stammelnd mühte er sich ab, ihr zu erklären, was geschehen war. Die schwarzen Frauen waren hier vorn im lachsfarbenen Zimmer erschienen, kaum dass Lisetta abgerufen worden war. Sie hatten ihn mitgenommen, und er - er hatte sich nicht gewehrt, nicht mal fortzulaufen versucht, gelähmt vor Entsetzen. Denn auch das war ihm ja schon mal widerfahren, mehr als einmal, durch Männer, nicht durch Frauen, aber schwarz gewandet waren ja auch sie.
Er schluchzte an ihrer Schulter, wie er sich früher so oft an der Schulter der Steinerin ausgeweint hatte, wenn ihm abermals das ganz und gar Schreckliche geschehen war. Und sah auch gleich alles wieder vor sich, die Orangerie, den gemauerten Anbau, in dem er mit der Steinerin und dem Steiner hauste, auf dem Hügel drüber das Herrenhaus, ringsum die wilden Weiten des Parks.
Manchmal rennt er davon, Hals über Kopf davon, vor einer Angst, der er doch nie entfliehen kann, weil sie tief in ihm haust. Er rennt durch den Park, die Lider gesenkt gegen den Schweiß, der ihm aus den Haaren läuft, Angstschweiß, Hitzeschweiß, denn er rennt so schnell, wie er überhaupt nur kann. Dabei hält er sich stets im Schatten, rennt zwischen Bäumen hindurch, am Rand der Büsche und Hecken, die der alte Steiner tagein tagaus mit Messern und Krummsicheln stutzt.
Er sieht sie niemals vorher, immer erst, wenn die Hand ihn beim Arm oder am Fußknöchel packt und zu Boden reißt. Da liegt er dann, keuchend, auf dem Rücken, in die wirrbärtige Fratze starrend, den fauligen Atem des Lumpenkerls in der Nase, der rittlings über ihm hockt, eine Hand auf seinen Mund gepresst hält und ihm mit der andern Schläge versetzt, auf die Arme, auf die Brust, in den Bauch, auf die Beine, ein Hagelsturm von Hieben. Und dann endlich von ihm ablässt, aber nur, um ihn sich wie einen Sack über die Schulter zu werfen, ihn im Laufschritt davonzuschleppen, in den Wald hinüber, wo die andern Lumpenkerle lauern. Und da wird’s dann noch viel ärger, da reißen sie ihm die Kleider herunter und tunken seinen Kopf in Jauchewasser, da werfen sie ihn wie ein Lumpenbündel herum, immer im Kreis, da ritzen sie blutige Bilder in seine Beine, da schreit und schreit er »Stei-ne-rin! Stei-steine-riiin!«, aber viel lauter johlen die Kerle, da zwängen sie ihm die Lippen auf und speien ihren Speichel in seinen Rachen, einer nach dem andern und immer wieder ihren Schneckenrotz in seinen Mund, da wollen sie ihm auf einmal wieder gut sein, und das ist das Ärgste, Allerekelhafteste überhaupt, da werfen sie ihm seine Kleider hin, und er schreit noch immer - »Steine-rin! Stei-steine-riiin!« -, während er sich die Fetzen übernestelt, da treiben sie ihn mit Tritten und Hieben vor sich her, aus dem Wald hinaus und wieder in den Park hinüber, zum alten Steiner, der sie schon erwartet, sie wahrhaftig schon erwartet: Die Kerle beklopfen seine Schultern, feixen ihm zum Abschied zu, worauf der alte Steiner ihn bei der Hand nimmt und nach Hause bringt.
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Sie trat aus dem dunklen Durchhaus zum untersten Burghof und sah gleich, dass sie zu spät gekommen war: Vor der Tür zum gräflichen Hospiz, linkerhand neben dem Pulverhaus, standen zwei Gardisten, die Hände drohend auf den Säbelgriffen, ein halbes Dutzend Bürger in bunten Gewändern vor ihnen, während vom Burgtor her schon weitere Soldaten herbeiliefen.
Sie mischte sich unter die Leute, ein wenig außer Atem nach dem raschen Lauf. Den alten Brodner erkannte sie, Wirt der Schänke »Zum Goldenen Fass«, neben ihm seine zierliche Frau Maria, die lederne Wirtsschürze umgeschnürt. Auch die anderen Bürger kannte sie alle seit ihren Kinderjahren, den Küfner Braduçek nebst Gemahlin, den ungemein breitschultrigen Flößer Tomas und einen Rotschopf mittleren Alters, dessen Name ihr erst nach kurzem Nachsinnen einfiel: Balthasar Kurusch, Totengräber von Krumau, seit sein Bruder Melchior seinerseits ins Grab gefahren war.
»Was geht hier vor?«, fragte sie die Gardisten, erfüllt von einer Ahnung, die eher schon Gewissheit war. »Warum bewacht ihr diese Tür?«
Einer der Soldaten war Franz Brodner, den sie einst drunten am Moldauufer geküsst hatte - vor vielen Jahren, vor einem halben Leben. Wie eine Ritterrüstung stand der blonde Franz neben dem Türpfosten und schielte unbehaglich von ihr zu seinem Vater, dem stämmigen Wirt, der nun anstelle des Sohnes das Wort ergriff: »Das fragst du - Ihr, Madame?« Das pralle Gesicht mit dem traurig hängenden Schnauzbart rötete sich vor Zorn. »Unsre Kinder sind dort drinnen, und er verwehrt uns, sie zu sehen!« Anklagend deutete er auf seinen Sohn Franz, der mit starrem Blick durch sie hindurchzusehen schien.
»Den kleinen Silvan, seinen eignen Bruder! Weil angeblich die Pest in Krumau ausgebrochen ist! Was ratet Ihr uns, Madame, wem sollen wir glauben - dem gräflichen Medikus oder diesem Mann, der das Geschwätz von der Pestilenz für blanken Unfug hält?«
Hinter dem breiten Rücken des Flößers Tomas trat eine bauchige Gestalt hervor, bei deren Anblick sich Markétas Herz zusammenkrampfte.
»Vater Sigmund!« Sie wunderte sich über die Freude, die sie bei seinem Anblick empfand. Wir müssen reden, dachte sie, endlich miteinander reden. »Ich selbst bin keine Heilerin, obwohl ich im Baderhaus manches gelernt hab«, sagte sie mit erhobener Stimme, dabei unverwandt in das runde Gesicht mit dem gewaltigen Schnauzbart schauend. »Aber Medikus von Rosert wird gewiss nichts dagegen haben, wenn ein so erfahrener Heiler wie Sigmund Pichler einen Blick in sein Hospiz wirft? Wenn die Leute dort oben tatsächlich an der Pest erkrankt sind, wird der gräfliche Medikus sowieso kundigen Beistand brauchen.«
Sie hatte kaum zu Ende gesprochen, als über ihren Köpfen ein Fenster aufflog und der klatschmohnrote Kopf des Medikus zu ihnen herunterschrie: »Für solchen Beistand dank ich verbindlichst! Da wüsst ich ja kaum zu sagen, was ich ärger fürchten sollte - die Pestilenzia, die ich in Prag und Budweis dreifach besiegt hab, oder die Hilfe eines versoffenen Quacksalbers, dessen Privilegium einst als Wickelpapier fürs Kuckucksei diente!«
Das Blut schoss Markéta in die Wangen. Immer noch sah sie dem Bader ins Gesicht, das unter den Hohnworten Roserts fahl geworden war.
Unterdessen waren zehn Soldaten vom Tor herbeigelaufen und hatten die kleine Gruppe umringt. »Genug jetzt, Leute«, sagte Jan Mular in selbstzufriedenem Tonfall, »vor Euch steht der Gardekommandant von Krumau.« Heiter sah er von einem zum andern, die Daumen in seinen Gürtel unter dem schwammigen Bäuchlein eingehängt. »Die Stadttore sind verrammelt, bewahrt Anstand und Ruhe, befolgt die Anweisungen der Obrigkeit, dann ist der Spuk bald vorbei.«
Was ihn selbst betraf, dachte Markéta, mochte die Pest wohl getrost eine Weile wüten, solange ihre Wogen ihn nur weiter nach oben trugen. Die Striemen auf seiner Wange waren längst verheilt, aber Mular hasste sie noch immer und sann weiterhin auf Rache, das erkannte sie an jeder seiner Bewegungen, ja selbst an der verdrucksten Art, wie er ihrem Blick auswich.
»Geht jetzt nach Hause, Leute. Damit die Seuche sich nicht weiter ausbreitet, dürfen nur noch der Medikus und seine Gehilfen ins Hospiz.« Jan Mular zog seine Daumen aus dem Gürtel und machte wedelnde Bewegungen zum Burgtor hinab.
»Seine Gehilfen«, wiederholte Vater Sigmund, »wer ist damit gemeint?«
»Redest du mit mir, Bader?« Obwohl einen halben Kopf kleiner als Pichler, brachte er das Kunststück fertig, auf Vater Sigmund hinabzusehen. »Mich nennst du gefälligst Herr Kommandant, oder du wirst mich kennen lernen.«
»Oh, keine Sorge, Euch kenn ich schon - Euch und euresgleichen, Herr Kommandant.« Der Bader strich sich den Schnauzbart, seine Augen blitzten. »Aber seid doch so gutherzig, meine Frage zu beantworten, Herr Kommandant: Wer sind die Gehilfen des Herrn Medikus?«
Mular sah nicht den Bader, sondern Markéta an, während er in gewichtigem Tonfall antwortete: »Drei russische Heiler, Täkie, Fondor und Oblion mit Namen, außerdem ein ganzes Dutzend heiliger Frauen. Und nun scher er sich vom Burghof, Bader!«
70
Er lag noch mit sich selbst im Streit, ob er richtig gehandelt hatte, im Grunde war es ja seine erste selbstherrliche Entscheidung überhaupt gewesen. Und dabei war doch er der Herr! Ich, ich, dachte Julius, niemand anders. Schon gar nicht d’Alembert.
Im Hochgefühl seiner Herrschermacht hatte er sogar auf dem Thronsessel Platz genommen, im ganz und gar verspiegelten Audienzsaal, zum zweiten Mal erst, seit ihn die väterliche Majestät zum Herrn von Krumau erhoben hatte. Mein kaiserlicher Vater! Er knirschte mit den Zähnen, dutzendfach zuckte seine Unterlippe in den Spiegeln. Aber als Kaiser darf er ja gar nicht anders handeln, sagte sich Julius dann, er muss doch das Wohl des Reiches über alles stellen, auch über die Rücksicht auf mich, seinen Sohn.
Doch heute hat mir der Himmel ein Zeichen gesandt, mir, Don Julius Caesar. Er seufzte vor Behagen. O nein, er hatte ganz und gar richtig entschieden: die Stadttore schließen, die Grenzen der Grafschaft durch Soldaten sichern, zum Wohl seiner Untertanen, zum Frommen des väterlichen Reichs und zur Beförderung des großen Werks.
Habt Ihr nicht mal behauptet, Johanna, dass der Herrscher im Himmel mich längst und auf ewiglich verdammt hätte? Aus Throneshöhe schielte er ins welke Frätzlein der Waldstein hinab. Und habt Ihr, cher monsieur, nicht immer beteuert, dass dieser gütige Gott nur eine katholische Wahnfigur wäre? Vergeblich suchte sein Blick nach d’Alembert, der um Dispens gebeten hatte, »fortwirkender Schwäche halber«. Und nun aber, cher maître? Wie deutet Ihr die Pestilenz, die Medikus von Rosert diagnostiziert hat - wie sonst, wenn nicht als Himmelswink, dass der alchimistische Magister sein großes Werk hier in Krumau vollbringen soll, an keinem andern Ort?
Um den Thron herum waren seine Getreuen versammelt: Magister Hezilow, der auf den Ritterschlag noch ein wenig würde warten müssen, das schwarze Stöckchen in der Rechten, das absonderlich lange Schwert über der Lumpenkutte umgeschnallt. Johanna von Waldstein, so bleich, als ob sie letzte Nacht schon wieder umhergespukt wäre, im Kreis ihrer heiligen Weiber, von denen mindestens drei für Kuttensack und Chorgesang zu jung und saftig waren. Der rundliche Oberststallmeister Skraliçek, der ihm gestern erst von seltsamen Geschehnissen im Rosenberger Kastell berichtet hatte. Schließlich Oberstkämmerer von Hasslach, den er wohl auch noch zum Haushofmeister ernennen sollte, nach dem Abgang des braven Breuner.
»Wo zum Henker bleibt der Medikus? Berti, schaff den Kerl herbei!« Eben wollte Julius nach der Messingglocke greifen, die neben seinem Sessel auf dem Thronsockel stand, als Kasimir von Rosert tomatenhäuptig in den Saal gestolpert kam.
»Bitte sehr um Nachsicht, Euer Exzellenz. Vor dem Hospiz gab’s einen kleinen Aufruhr, die Leute verlangten ihre Angehörigen zu sehen.« Er hob die Schultern und ließ sie wieder fallen. »Verständliche Aufregung, zu Herzen gehender Kummer, Euer Liebden! Aber da hilft alles nichts: Um die Leute zu retten, müssen wir hart und gelassen bleiben. Räucherwerk und Isolation, diese Sprache fürchtet die Seuche, im schwülen Bad weichlicher Gefühle blüht sie auf.«
»Wohl gesprochen, Medikus«, pflichtete die Waldstein bei, die Julius nie aus eigenen Stücken zur Audienz geladen hätte, doch der Magister hatte sich für sie ins Zeug gelegt. »Aber seid Ihr sicher, dass Eure Maßnahmen ausreichen?«, fuhr Johanna fort. »Wollt Ihr die Kraft der Krankheit wirklich brechen, so dürft Ihr der Pestilenz nicht hinterhereilen, sondern müsst ihr mutig entgegentreten.«
Der Medikus verschränkte die Arme vor der Hünenbrust. »Und das will besagen, Edelste? Erlaubt mir übrigens die Frage: Aus welchen Quellen schöpft Ihr Eure heilkundliche Weisheit?«
»Aus der Zwiesprache mit Gott«, erwiderte sie, »der Herr im Himmel schenke auch Euch Weisheit, Senor.«
Belustigt beobachtete Julius, wie sich von Rosert in Johannas Richtung verneigte und etwas Unverständliches murmelte. Na meinetwegen, dachte er, mögen die Waldstein und ihre heiligen Weiber frömmeln und Chorale in Richtung der Wolken tirilieren, so viel es ihnen beliebt, solange sie nur den Fortgang des großen Werks nicht hemmen.
Er fasste eine besonders saftige Nonne in den Blick und stellte sich eben vor, wie sie sich aus ihrer kratzigen Kutte hervorgrub und himmelwärts schielende Brüstchen entblößte, als Johanna mit einer Stimme wie gesprungenes Kristallglas fortfuhr: »Um aber auf Eure erste Frage zurückzukommen, Medikus: Wollt Ihr die Seuche wirkungsvoll bekämpfen, so dürft Ihr nicht warten, bis die Leute einen neuen Krankheitsfall melden. Vielmehr müssen wir eine Vielzahl geschulter Gehilfen ausschwärmen lassen, die im ganzen Land nach Befallenen suchen.«
Johanna hielt inne, als Hezilow ihr heftig zunickte. Seine wundroten Lippen schnappten auf und zu, während seine Hände den schmierigen schwarzen Beutel kneteten, den er zusammen mit seinem Stöckchen ständig bei sich trug.
Wie sonderbar, dachte Julius, dass Johanna und der Puppenmacher einander so sehr fürchten und verabscheuen und sich doch so vortrefflich ergänzen beim Kampf gegen die Pest und bei der Vollendung des großen Werks.
»Ein gettlicher Gedanke, Madame«, stimmte der Russe zu. »Sind sich Gehilfen ohnehin schon halbe Tag in Kutsche unterwegs, um herbeizuholen, was Magister Hezilow alles beneetigt. Kannen sich Fondor und Oblion auch gleich die Menschlein einsammeln, die Eurer Hilf bedirfen.«
Sie warf ihm nur einen raschen Blick zu, die Lippen zusammengekniffen, sodass die Falten um ihren Mund noch schärfer hervortraten, dann wandte sie sich wieder dem Medikus zu. »Könnt Ihr die ersten Anzeichen beschreiben, Senor? So viele Variationen der Sünde und der Verdammnis, so viele Spielarten der Pestilenz soll es auch geben. Sie alle sind gewiss nur leibliches Abbild sündig befleckter, vom Teufel zerfressener Seelen. Aber nicht alle diese Krankheiten beginnen mit schwarzen Flecken auf der Haut und enden mit zerbeultem Fleisch, gebt Ihr mir Recht?«
Die Frage schien Kasimir von Rosert zu verwirren. Er verlor ein gut Teil seiner prächtigen Farbe, knetete die Hände, sagte »Nun, gewiss« und verstummte wieder. »Wir haben’s hier«, sprach er endlich, »mit einer - hm - äußerst seltenen Spielart -ha, Spielart! - der Pestilenz zu tun.«
Er sprach so langsam und gezwungen, als ob er jede einzelne Silbe seinem Gewissen abringen müsste, was doch sicherlich, wie Julius dachte, nicht zutreffen konnte. Denn warum sollte den Medikus so hilfreiche Unterstützung beschweren?
»Und wie sind also die Zeichen, Medikus?«
Geradezu flehentlich schien Rosert die Waldstein nun anzusehen.
»Reiß er sich zusammen, Kasimir«, sagte Julius, »und nenn er endlich die Zeichen, sonst mach ich ihm Beulen.«
Kasimir von Rosert klappte den Mund auf, verschluckte sich und begann dröhnend zu husten.
»Stirzt sich diese Pestilenz«, sagte da rasch der Magister, »überwiegend auf junge Leut von heechstens finfnzwanzig Jährchen. Braust sich die Hitz in ihren Leibern, saust der Schwindel hinter ihren Stirnen, finden sich reetliche Flecken, zerfranst wie Haderfetzen oder rund wie Guldensticke, irgendwo auf ihren Keerpern, schmerzt ihnen gar noch’s Herz im jungen Bristchen, so ist’s sich fast schon gewiss, Madame: Sind diese Menschlein befallen von spezieller Pestilenz.«
»Dann ist’s beschlossen«, sprach Don Julius, während der Medikus hustete und Johanna dem Puppenmacher die heilige Schulter zeigte, »die Gehilfen des Magisters fahren übers Land, sammeln die Erkrankten ein und bringen sie zu Kasimir ins Hospiz.«
»Halten zu Gnaden, Exzellenz.« Der Puppenmacher buckelte zum Thron hin, eifrig seinen Beutel in den Händen drehend. »Dirfte sich der Krankensaal unten in der Burg bald schon zu eng sein. Empfiehlt Hezilow dieserhalb, nur die Kranken aus der Stadt ins Hospiz zu bringen.«
»Und die andern«, forschte Julius, »die aus meinen Dörfern oder Meiereien?«
»Ins Rosenberger Kastell, Euer Liebden, dort kännen sich Hezilows Läjte mit Läjchtigkeit zwäjtes Hospiz einrichten.«
»In der Jagdruine?«, fragte Julius voller Erstaunen. »Na, meinethalben und für alle Fälle. In Euerm Krankensaal, Kasimir, könnte es in der Tat ein wenig eng werden.«
Damit erklärte er die Audienz für beendet und scheuchte sie alle aus dem Saal. Johannas Gegenwart missfiel ihm mindestens so sehr wie der drucksende Medikus, der erst wie eine Puppe »Mordio, die Pest!« rief und dann, wenn’s um die Zeichen derselben ging, herumzimperte wie die Jungfrau, die unter ihren Röcken eine Männerhand entdeckt.
Zur Hölle mit der Pest, dachte Julius, jetzt will ich Euch, Markéta, ich befehl’s.
71
»Die schwarzen Säfte gestockt«, zählte Sigmund Pichler auf, »die gelben gerinnend, das rote Blut verklumpt: drei untrügliche Zeichen der Pest. Aber Silvan Brodner und die andern jungen Leut: Die hatten ja bloß Schnupfen, Markéta, und höchstens ein wenig Fieber, harmlose Folgen einer Bootspartie, die allerdings hätte ärger enden können.«
Das runde Gesicht des Baders bewölkte sich noch mehr. »Die Bootsfahrt selbst, mein ich, denn was dann kam, konnte schwerlich übler werden.«
»Aber Medikus von Rosert beteuert, dass die Pest ...«
»Die Pest, die Pest!«, äffte Vater Sigmund sie nach, schreiend vor Zorn, aber auch, um das Kreischen von unten zu übertönen. »Du kennst doch Silvan und seine Freunde: der Wirtsbub und sein Freund Mikal Odradek, dazu Dela und Dana, die Zwillingsmaiden des Seilers Habersack, ein blühendes Kleeblatt, keins von ihnen über siebzehn Jahre alt.«
Markéta hatte Mühe, sich auf die Worte des Baders zu konzentrieren. Unten in den Zubern brachen Hezilows Gesellen und die Henkershuren immer wieder in jaulenden Chorgesang aus, so schaurig schallend, als ob sie hier bei ihnen in der Pichler’schen Wohnstube säßen.
»Die vier sind mit ihrem Kahn umgekippt, in einer Stromschnelle drei Meilen flussaufwärts«, fuhr der Bader fort. »Na, und das Wasser ist ja schon ziemlich kühl, die Luft nicht minder: Bis Dela und Dana, Mikal und Silvan wieder in trockenen Gewändern waren, schnatterten sie vor Kälte - das Abenteuer unserer vier Hübschen hatte also ein kleines Nachspiel.«
Mit solchen und ähnlichen Worten hatte Vater Sigmund ihr und früher auch Mutter Bianca an manchen Abenden von den Wehwehchen und Blessuren erzählt, die er im Lauf eines Tages kurieren musste. Nur der Tonfall seiner Rede, zwischen Zorn und Trauer zitternd, wollte zu solchen Erinnerungen nicht passen, noch weniger freilich der Teufelstanz, den unten die Lumpenkerle mit Schatzens fetten Weibern aufführten, beinahe Tag für Tag, wie der Bader ihr eben gestanden hatte.
»Und doch war’s nur ein Schnupfen.« Vater Sigmund war noch immer bei den vier Unglücklichen, die im gräflichen Dekret als »die ersten Opfer der jüngsten Krumauer Pestilenz« bezeichnet worden waren. »Ich selbst hab ja Silvan noch in den Hals geschaut und mein bewährtes Kräuter-Spezifikum verordnet. Und damit hätt’s auch sein Bewenden haben können, wenn es unser Kleeblatt nicht nach weiteren Abenteuern gelüstet hätte.«
Als Markéta vorhin das Baderhaus betreten hatte, war sie auf der Schwelle förmlich zurückgeprallt. Auf der hölzernen Plattform über den Zubern kauerten fünf ungeheure Huren auf Händen und Knien, und an jeder von ihnen hafteten drei von Hezilows Gesellen, die Weiber so rosig und feist wie die Kerle fahl und knochendürr.
»Was glaubst du, was in der Stadt für Schnurren erzählt werden über die Wunder, die der gräfliche Medikus vollbringen könnt in seinem mirakulösen Hospiz! Im Unterschied zum Pichler, wohlgemerkt, diesem Scharlatan, der von der Heilkunst nichts versteht, dafür von erschlichener Fürstengunst umso mehr!« Der Bader ballte die Faust und ließ sie auf die Tischplatte niederkrachen. »Das Geschwätz hat allen den Kopf verdreht, Markéta, unser Kleeblatt waren nur die Ersten, die sich trauten, oben am Burgtor anzupochen und deinen Herrn Medikus um wundersame Kur zu bitten.«
Er sah sie an, mit so bitterem Blick, dass sie am liebsten die Hände vors Gesicht geschlagen hätte. Aber das half ja auch nichts mehr: die Augen zu verschließen.
»Und diese wundersame Kur«, sagte der Bader, »haben sie auch prompt bekommen, Dela und ihr Mikal so gut wie Dana und Silvan. Und drei Tage drauf waren sie alle vier tot und verscharrt.«
Sie versuchte nachzudenken, doch es war nahezu unmöglich unter dem Blick des Baders und dem Eindruck der Bilder, die das höllische Jaulen der Huren und Lumpenkerle in ihr heraufbeschwor: Hezilows Gesellen wie schwarz behaarte Spinnen, die über Gallertgebirge krochen, Giftstachel in Aasspalten bohrten, gurgelnd vor Begierde.
»Aber ich versteh’s nicht, und umso weniger, je länger ich’s begrübel«, sagte sie endlich. »Glaub mir, Vater Sigmund, auch droben in der Burg wird gemurrt und gemunkelt, weil manche meinen, dass es bei diesem Pestdekret nicht mit rechten Dingen zugegangen wär. Einer, ein Herr von großem Einfluss, hat sogar vorausgesagt, dass Don Julius genauso handeln würde: die Tore von Burg und Stadt schließen lassen, um einer angeblichen Seuche zu wehren - während er in Wahrheit bloß verhindern wollt, dass ihm der Magister in Richtung Prag davonläuft. Und doch kann ich nicht glauben, dass alles abgekartet ist: Don Julius, der Medikus, sogar die fromme Johanna von Waldstein und ihre heiligen Frauen - sie alle sind sich einig darin, die Krankheit mit allen Kräften zu bekämpfen! Versteh mich recht, Vater Sigmund: Das ist das erste Mal, dass ich die Waldstein und Don Julius in irgendeiner Sache einig seh.«
»Und es macht dir Kummer, Töchterlein.« Unerwartet sanft sah der Bader sie an, und nun nahm er sogar ihre Rechte in seine dicken, weichen Hände. »Glaub nicht, dass ich’s nicht verstünde oder dass ich dir grollte: Du bist Biancas Tochter, jeden Tag noch ein wenig mehr.«
»Und die deine auch?« Jetzt war’s heraus. Markéta hielt den Atem an und sah starr an ihm vorbei.
»Die Frage kenn ich.« Der Bader entzog ihr seine Hände wieder und verschränkte die Arme vor der Brust. »Nicht aus deinem Mund, Markéta, aber umso besser von mir selbst. Glaub mir, seit ich Bianca zum Traualtar geführt hab - seit zwanzig Jahren ist kein Tag vergangen, an dem ich’s mich nicht selbst gefragt hab.«
Während er sprach, begannen sämtliche Gesellen unter ihnen in hohen, belfernden Tönen zu hecheln, in rasender Folge, untermalt von hallendem Klatschen, wieder und wieder, sechzig, achtzig, hundert qualvolle Herzschläge lang, dann endlich wurde es unten still.
»Und Bianca?« Sie presste es hervor. »Hast du sie nie gefragt?«
»Nein.« Der Bader senkte den Kopf und sah seinen Händen zu, die sich vor ihm zu Fäusten ballten, wieder öffneten, neuerlich schlossen. »Es war ... eine stumme Übereinkunft: Ich frag sie nicht, nach nichts von dem, was vorher war, und dafür bleibt sie bei mir, beklagt sich niemals über ihr kümmerliches Leben als Badersfrau.«
Aber sie hat ja oft genug geklagt, dachte Markéta, wenn nicht mit Worten, dann zumindest, indem sie still vor unsern Augen litt. Traurige Frau, zerfahrenes Paar. Aber wer hätte je behauptet, dass wir auf Erden sind, um glücklich zu werden? Pater Hasek gewiss nicht und Priester Miguel, sein grimmiger Nachfolger, noch viel weniger. Charles d’Alembert kam ihr in den Sinn - aber auch er ist nicht glücklich, dachte sie, wenn auch auf andere Art: Sinnenfreuden preisend und zugleich sich selber geißelnd wie ein Büßermönch. Und nun ist er krank und wird vielleicht auch bald sterben, auch wenn er sich mit zäher Willenskraft noch einmal aufgerappelt hat.
»Und doch bist du - für mich - mein Töchterlein«, sagte der Bader in ihre Gedanken hinein, »immer schon und für alle Zeiten.«
Es klang wenig überzeugend, dachte Markéta, so als ob er sich einen Ruck gegeben hätte, um endlich - viel zu spät - die Worte zu sagen, die ihm zuvor schon tausendmal auf der Zunge vertrocknet waren.
Stumm sahen sie aneinander vorbei. Markéta lauschte dem Malmen und Rauschen der Moldau unterm Fenster, gestern noch vertrautes Murmeln, heut schon nur noch ein fremd in den Ohren tosender Krach.
Hat Mutter Bianca niemals angedeutet, wer ihr Buhle war droben auf der Burg? Nein, sie brachte es nicht über sich, den Bader zu fragen. Zu sehr schmerzte ihn noch immer der Verdacht, ein betrogener Betrüger und käuflicher Kuckucksvater zu sein. Ein Argwohn, der an ihm nagte, seit die gestrauchelte Braut droben aus der Burg gefallen war und er sie in seinen Armen aufgefangen hatte, vor zwanzig Jahren.
Sie erhob sich, lächelte auf den Bader hinab und ging aus der Tür. Das Gespräch hatte sie keinen Zoll weitergebracht, dachte sie, weder was die angebliche Pest anging noch ihre ebenso nebelhafte Herkunft.
Unten in der Badestube lagen Hezilows Kerle rücklings auf den Weibern, wie Knochensäcke auf siedendroten Pfühlen, die Schädel zwischen ungeheuren Polstern eingesunken und mit offenen Mäulern schnarchend.
72
»Mit ihren enormen schwarzen Kutschen fahren sie durch die Grafschaft«, las d’Alembert, »von Dorf zu Gut, von Meierei zu Weiler und lesen auf, was ihnen in die Hände gerät.«
Benommen blätterte er in den Berichten seiner Späher. Dass er genau diese Szenen in tausend Träumen vorausgesehen hatte, ließ die Rapporte umso unheimlicher erscheinen, so als ob der Deich zwischen Tag und Traum nun vollends durchweicht wäre.
»Seit wenigen Wochen erst streifen sie umher, und doch kennt sie schon jedes Kind im ganzen Land, ja vor allem die jungen und die ganz kleinen Leute: Die nämlich fangen sie besonders emsig ein.«
Auch der Umstand, dass Fabrio und Lenka wieder bei ihm auf dem Hirschsofa saßen, mutete den Maître absonderlich an, wie die spukhafte Wiederholung eines Geschehens, das aus trüben Tiefen wieder aufgetaucht war, um nochmals Gegenwart vorzugaukeln.
»Gewiss, die Männer - allesamt Russen - erfüllen nur ihre Pflicht, die ihnen von der gräflichen Exzellenz selbst auferlegt worden ist, auf dringliches Anraten des Medikus und mit Billigung der Kirche, namentlich des heiligen Ordens der Dominikanerinnen. Eine Pflicht indessen, die ihnen fatalen Genuss zu bereiten scheint.«
Von spukhafter Wiederholung konnte allerdings keine Rede sein, sagte sich d’Alembert, indem er vor seinem Fenster wendete und abermals auf die Tür zuging, jedenfalls nicht, soweit es die Syrakuser betraf: Unter Lenkas Hemd begann sich unübersehbar ein Bäuchlein zu wölben, und Fabrio, der sonst kaum einen Blick für den Maître hatte - Fabrio sah ihn geradezu schmachtenden Blickes an.
Auf seinem Rücken rollte ein kalter Schweißtropfen abwärts. Den mit Schneenerzen gefütterten Umhang warf er dennoch nicht ab, im Gegenteil hatte er Pavel befohlen, den Kamin in seinem Salon einzuheizen, mit der Folge, dass er nun gleichzeitig zu erfrieren und zu verglühen meinte. Stöhnend fuhren die Herbstwinde um das Burggemäuer, rüttelten an Fensterläden, lockerten Dachschindeln und ließen die Flammen im Kamin wie bläuliche Dämonen tanzen.
»Die Kutsche jagt auf schlammiger Straße dahin«, las der Maître. »Am Wegesrand grasen Schafe, auf einem Steinbrocken hockt der junge Hirt. Der Wagen hält, zwei Männer springen heraus, in schwarzen Gewändern, mit schwarzen Hüten, an deren Krempen Klatschmohnblüten nicken. Klatschmohn! Zur Abwehr der Pestilenz! Wer hätte von diesem Wundermittel je gehört? Nun, es ist jedenfalls das Erkennungszeichen der russischen Heiler geworden.
Auch der junge Schäfer kennt wohl das Warnwort: >Wenn der schwarze Kasten, von vier Rappen gezogen, herbeischwankt, nimm die Beine in die Hand.< Er springt auf, im nächsten Moment aber haben die Heiler seine Beine in Händen, seine Fußknöchel, um genau zu sein.
Er sträubt und windet sich, der Hund des Hirten bellt sich die Kehle wund, die beiden Kerle jauchzen und japsen. Ziehen die Hüte, verneigen sich vor dem Burschen, der vor ihnen im Gras liegt: >Oblion, habe die Ehre.< - >Gott zum Gruße, Täkie.< Und reißen ihm währenddessen schon das Gewand vom Leib, wie er sich auch sträuben und winden mag.
Der Unselige schreit und schreit, da schieben sie ihm einen Trichter ins Maul und gießen einen Schlangentrunk hindurch, der schmeckt so widerlich, dass sich der Schäfer gleich erbricht. Aber sie zwängen ihm das Maul aufs Neue auf und gießen noch viel mehr Krötensaft hinein.
Der Gepeinigte winselt, bleibt endlich still, die Augen geschlossen wie in tiefem Schlaf. Der eine schlägt ihm auf die Brust, in den Bauch, versetzt ihm Backpfeifen, dass es klatscht. Der andere holt Kohlebecken und Zange aus der Kutsche und beginnt, den unseligen Schäfer mit glühenden Stückchen zu traktieren. Endlich schleppen sie einen Bottich Wasser von der Tränke herbei und gießen ihn dem Hirten übers Haupt. >Hat er Schmerzenc, fragt der eine, >wo und welcher Art? <, forscht der andere fürsorglichen Blicks.
Und dann ächzt der Schäfer, benommen wie nach siebzehn Hollerschnäpsen: >Ah, die Brust tut so weh, überall brennt’s, als wenn ich Fieber hätt. Und da, die roten Wunden, was ist das nur? <
>Die Pest, mein Besten, < krähen da die beiden und verneigen sich wieder, dass der Klatschmohn wackelt, >keine Sorge, wir kurieren ihn schon aus.< Und packen den Kerl wie einen Hadersack und werfen ihn in die Kutsche, und hurra rumpeln sie weiter, zum nächsten Weiler, wo es einer jungen Magd, einem Knecht oder drei Bauerskindlein auf gleiche Art ergeht.
Und so füllt sich das alte Kastell, Monsieur, nicht allein mit den zum Strang Verdammten, die Scharfrichter Schatz zur Trutze hin liefert, sondern viel rascher noch mit blühender Jugend aus dem ganzen Rosenberger Land.«
Mit dem Handrücken fuhr sich d’Alembert über Stirn und Wangen, raschelnd fiel der Packen Späherbriefe zu Boden. Als er sich bückte, um sie zusammenzuraffen, wurde ihm schwarz vor Augen. Sonderbarerweise war ihm im nächsten Moment, als ob er die Schreiben wieder in Händen hielte und darin läse: »Im Kastell haben sie den ganzen Rittersaal schwappend voll mit Wasser angefüllt. In diesem gewaltigen Becken schwimmen die Pestilenzischen und die von Schatzens Strang Geborgten, im Ganzen zwei bis drei Dutzend, wie Fische hin und her.«
Als er die Augen aufschlug, sahen zwei liebe Köpfchen unter schwarzen Locken auf ihn herunter, links Lenka, rechts Fabrio.
Er selbst lag der Länge nach auf seinem Teppich, hingestreckt vor dem hirschledernen Sofa, seinen Kopf in die Briefe gebettet. Fabrio nestelte an seinem Kragen, um ihm Luft oder sonstige Linderung zu verschaffen, der Maître ließ es matten Herzens zu.
Fast war er froh um den wunderlichen Traum, der sich immerhin mit wünschenswerter Deutlichkeit von allem abhob, was irgend als Wirklichkeit durchgehen konnte. Der Rittersaal schwappend voll Wasser, darin die Pestilenzischen schwimmend: Das konnte gewiss nicht sein.
»Helft uns, Maître«, wisperte Fabrio honigsanft an seinem Ohr.
»Helft der Lenka, Monsieur, das Teufelchen tobt in ihrem Bauch und will dringlich aus der Fotz heraus. Schaut doch.« Und er zog und zerrte seine Schwester, bis Lenka rittlings über dem Maître stand, die Röcke gelüpft bis zum Nabel.
»Seht Ihr das Teufelchen: wie’s nach draußen spitzt?«
Er schloss die Augen. Die Grenze zwischen Tag und Traum schien doch weit weniger verlässlich, als eben der Fischspuk im Rittersaal ihm vorgegaukelt hatte.
Wie aus weiter Ferne hörte er die Stimmen der Zwillinge, die sich flüsternd berieten. Er hielt seine Lider gesenkt, draußen heulte der Sturm, das Kaminfeuer prasselte; irgendwann schlief er ein.
D’Alembert erwachte von Neuem, als es draußen schon dämmerte. Das Kaminfeuer war zu einem glühenden Häuflein zusammengesunken, die Rapporte lagen säuberlich gestapelt auf dem Hirschsofa über ihm. Er rappelte sich auf und sah nach links und rechts, gebannt von dem Eindruck, dass Fabrio und Lenka noch bei ihm waren und sich hinter den Vorhängen oder unter seinem Tisch verbargen. Aber er konnte sie nirgendwo entdecken, und dann wurde ihm noch unheimlicher zumute, da er sich mit fiebriger Folgerichtigkeit sagte: Also waren auch die beiden nur im Traum bei mir.
Er sank auf sein Sofa, wo vorhin noch die Zwillinge gesessen hatten, oder auch nicht. Er zündete eine Kerze an, nahm den nächsten Rapport zur Hand und hielt ihn so, dass die Flamme ihren zitternden Schein darüber verbreitete.
»Ein halbes Dutzend Küferlehrlinge wurde am 5. Oktober 1607 A.D. ins Hospiz neben dem Pulverhaus verbracht«, las er. »Alle Befallenen klagten über Brustschmerzen, Schwindel, fiebrige Hitz, alle wiesen rote Feuerwunden an ihren Körpern auf. Auf Anordnung von Medikus Kasimir von Rosert wurden sie der vorgeschriebenen Kur unterzogen.«
»Vier Kuchelmägde am 11. Oktober 1607 A.D. ins Hospiz eingeliefert. Die Maiden leiden unter Herzdrücken, Leibeshitze, fiebrigem Sausen, roten Feuerwunden an Beinen und Bauch. Auf Anordnung des Medikus der vorgeschriebenen Kur zugeführt.«
D’Alembert blätterte weiter, bis er auf einen Bericht stieß, der seiner Aufmerksamkeit anscheinend entgangen war: »Als die Herren Unçerek und Fondor von den Geschwistern Pjotr und Dusa erfahren, die, obwohl beide die Pestzeichen aufweisen, von ihrer Familie im Weiler Vargasz versteckt werden, machen sie sich augenblicks auf den Weg. Drei Fahrstunden von Krumau ist Vargasz gelegen, die nördlichste Siedlung der Grafschaft.
Klamme Witterung, grauer Gries mischt sich in den Regen, bis zu den Achsen pflügt die Kutsche durch Fahrrinnen und Pfützen, die mit glitzerndem Eis überzogen sind. Fondor wärmt seine Hände hinten am Kohlebecken, während Unçerek auf dem Kutschbock hockt und die Rappen erbarmungslos bergan treibt; dann wieder peitscht Fondor, während Unçerek hinten im Kasten sitzt und die Zange auf- und zuschnappen lässt.
Nach der ersten Stunde wird der Regen zum Schneetreiben, nach der zweiten ist der Weg im wirbelnden Weiß kaum mehr zu sehen.
Wolfslichter, die im Unterholz glimmen, und immerzu Schnee: Tücher, Vorhänge, Wände aus Schnee, die lotrecht vor ihnen herniederstürzen.
Wenn Fondor und Unçerek irgendwas zuwider ist, dann dieses endlose, wirbelnde, blendende Weiß, das die herrliche Nachtschwärze schändet, >kübelweise Eitergries aus Sterngeschwüren<. Jedenfalls äußern sie sich wenig später mit ungefähr diesen Worten vor den entgeisterten Einwohnern von Vargasz.
Die Klatschmohnblüten schaukeln an ihren Hüten. Niemand weiß, woher Hezilows Gesellen mitten im November diese Ströme immer frischer Klatschmohnblumen beziehen. Andererseits kann es für den Puppenmacher nur eine geringe Herausforderung bedeuten, in seinen Töpfen und Tiegeln etwas so Einfaches wie rote Blumen zu erzeugen.
Manche munkeln, er erschaffe die Mohnblüten aus dem Blut der pestilenzisch Verstorbenen. Andere beteuern, es verhalte sich umgekehrt und die roten Wunden entstünden, indem die Gesellen mit ihren Mohnblüten über die Haut der Unseligen führen oder indem sie bloß den Blütenstaub drüber ausschüttelten, da es alchimistisch verzauberte Blumen seien.
Als Unçerek und Fondor in Vargasz eintreffen, ist es bereits tiefe Nacht. Sie haben sich im weißen Wirbel dreimal verfahren, kochend vor Zorn rumpeln sie durch den Weiler, wo alle dreizehn Menschenseelen in gottgefälligem Schlaf liegen.
Verärgert über die Kälte, die ihre Gliedmaßen zittern und ihre Zahnreihen gegeneinander klappern macht, sowie über den vermaledeiten Schnee, der das Dorf in einen Irrgarten verwandelt, zündet Fondor kurzerhand ein Haus an, eine Scheune mitten im Ort.
Alle stürzen herbei, Herren und Knechte, Männer, Weiber, Kinder, selbst ein Greis humpelt heran, am Arm seiner vom Alter tief gebückten Frau.
>Gott zum Gruß<, sagt Fondor, packt den Greis beim Hosenbund und wirft ihn in die Flammen.
>Habe die Ehre<, sagt Unçerek, schnappt die Alte bei den Röcken und schickt sie dem Greis hinterher.
>Und jetzt? <, fragt Fondor.
>Abendmahl<, sagt Unçerek, springt zu einer jungen Mutter und reißt ihr den Säugling vom Busen.
Obwohl solches behauptet wurde, glauben wir, werter Maître, nicht, dass Unçerek seine Zähne in die Wange des neugeborenen Mägdleins geschlagen hat. Achtet einmal auf sein schadhaftes Gebiss, und der Rumor verliert auch für Euch jede Glaubwürdigkeit.
Tatsache ist jedoch, dass sich die Kleine nicht wieder gefunden hat, und das, obwohl die Leute von Vargasz sich sputeten, jedes Begehr der beiden Herren zu erfüllen.
Binnen weniger Minuten sind die einzigen Einwohner herbeigeschafft, die sich durch das Schauspiel des im Schneetreiben himmelhoch lodernden Feuers nicht anlocken ließen.
Beißender Rauch, nach Bratenfleisch und schmorendem Knorpel stinkend, treibt den Leuten Tränen in die Augen, Tränen, die sich mit ihrer Wut, ihrem Kummer über den Verlust der beiden Geschwister vermischen.
Im Schein des Feuers untersucht Fondor Pjotr und Unçerek Dusa. Die Geschwister sträuben sich, versuchen zu fliehen, obwohl sie kaum einen Fetzen mehr am Leibe tragen.
Schimpfend laufen Unçerek und Fondor hinter ihnen her, Letzterer mit vollen Backen kauend, und die Mohnblüten schaukeln an ihren Hüten, was in dieser Nacht voll Schnee und Flammen ganz absonderlich aussieht.
Für kurze Zeit verschwinden alle vier hinter der Kutsche, sodass den Leuten von Vargasz die Sicht versperrt ist. Man vernimmt klatschende Schläge, hört Schreie, mehrfach ein Zischen wie von Schröpfeisen. Währenddessen sucht die junge Mutter ihr Kind, und die Männer von Vargasz machen einen lachhaften Versuch, den Brand zu löschen, indem sie eimerweise Schnee in die Flammen werfen.
Dann kommen die Geschwister und die beiden Heiler wieder zum Vorschein. Unçerek hält nun Pjotr im Nacken fest, während Fondor einen Arm um Dusas Hals gelegt hat. So führen sie die beiden, bei unvermindertem Schneetreiben, um die vier Rappen herum zur Kutschtür, heben die Pestilenzischen in die Kabine, schwingen sich ihrerseits auf den Wagen und fahren davon, nicht ohne sich nochmals in Richtung der Zurückbleibenden zu verneigen.
Im zerstampften Schnee finden sich nachher ein paar zarte Knochen, ein paar Mohnblütenblätter, ein paar erloschene Kohlestücke - Zeichen, die niemand in Vargasz zu deuten vermag. Alles in allem sind die Leute froh, so glimpflich davongekommen zu sein, und entschlossen, nie wieder Pestilenzische vor der Obrigkeit zu verbergen.«
Charles d’Alembert ließ den Rapport in seinen Schoß sinken, keineswegs sicher, ob er tatsächlich auf seinem Sofa saß oder nur träumte, hier zu sein. Zu seiner Linken Fabrio, vertrauensvoll an ihn geschmiegt. Dem Maître schien es ratsam, ihn nicht zu beachten, schon seines kränklichen Herzens halber, das unter der flachen Hand des Knaben wie rasend pochte.
»Da sich die Betten im gräflichen Hospiz am Pulverhaus schneller leeren als die Strohlager im Rosenberger Kastell, wurde obrigkeitlich angeordnet, wöchentlich zehn bis fünfzehn Pestilenzische vom Kastell in die Krumauer Burg zu verlagern, auf dass Medikus von Rosert ihnen die vorgeschriebene Kur angedeihen lasse.«
Auf dem Teppich zu seinen Füßen lag Lenka, auf Bauch und Brust ein Wirrwarr emporgeraffter Röcke, die Rehkitzbeinchen weit gespreizt.
»Um Übergriffen seitens aufrührerischer Bauern zu wehren, wurde des Weiteren dekretiert, dass der Kutschverkehr zwischen Kastell und Burg durch zweckmäßig bewaffnete Gardisten aus der Kompanie des Kommandanten Jan Mular zu flankieren sei.«
Immer wieder schielte er über die Blätter hinweg, konnte sich aber nicht überwinden, seinen Blick auf das Schattendreieck zwischen Lenkas Schenkeln zu fokussieren. Nicht, dass er allen Ernstes erwartet hätte, dort »ein Teufelchen hervorspitzen zu sehen«, wie Fabrio ihre abergläubische Angst in Worte gefasst hatte. Dennoch fürchtete er aus irgendwelchen Gründen, dass er die allerletzten Reste an Willensstärke und Geisteskraft einbüßen würde, wenn er sich Fabrios Lockrufen ergäbe.
Wenn er dagegen weiter und weiter in den Schreiben der Kundschafter las, würden die Syrakuser irgendwann wieder verschwinden, wie es schon mehrfach geschehen war in den ungezählten hinter ihm liegenden Tagen, ob es sich nun um mählich verblassende Erscheinungen handelte oder die beiden irgendwann ganz einfach die Geduld verloren. Schließlich war es für Lenka gewiss nicht weniger mühselig und entbehrungsreich, in jener Haltung vor ihm auf dem Teppich auszuharren, oder für Fabrio, an ihn geschmiegt zu sitzen und seinen Rumpf in Höhe des in grotesken Rhythmen holpernden Herzens zu tätscheln.
Vor den Fenstern rieselte wahrhaftig Schnee hernieder. Es erstaunte ihn, wie rasch die Zeit verging, während er doch nur hier auf dem Sofa gesessen und das immer gleiche Dutzend Rapporte durchflogen hatte.
Seltsamerweise entdeckte er immer wieder neue Berichte in dem Stapel, wenn er die Blätter nur sorgsam genug hin und her wendete. Und ebenso absonderlich war, dass Lenkas Bäuchlein, unverkennbar selbst unter dem Chaos der emporgerafften Röcke, zu einer kleinen Trommel angewachsen war. Während aber selbstverständlich und nach wie vor kein »Teufelchen aus ihrer Fotz gekrochen kam«, o ihr Götter, lasst es auch fürderhin nicht zu.
Wo immer Fabrio ihn anrührte, blieben ein paar winzige Bürschlein hocken, auch das war einigermaßen unbehaglich. Auf seiner Brust krochen schon einige Dutzend funkelnder Homunkel herum, lauter winzige, splitternackte Fabrios.
Das Feuer prasselte in seinem Kamin. Einige Momente lang kämpfte er gegen die Vorstellung an, dass er sich nur nach vorn von seinem Sofa rutschen lassen müsste, auf die Knie sinken und mit dem Gesicht vornüber sacken, sodass er mit Mund und Nase exakt in Lenkas Schattendreick fallen würde, dann wäre »der ganze Spuk vorbei«.
Er versuchte darüber Klarheit zu gewinnen, welcher Spuk und in welchem Sinn vorbei. Aber seine Gedanken verschwammen, und auf einmal war er wieder in jenem See - oder Kristallbecken - oder schwappend vollen Rittersaal -, und von allen Richtungen schnellten ihm winzige Fabrios entgegen, vom ungefähren Umfang seines Daumens und mit hunderttausend daumennagelkleinen Gesichtlein lächelnd.
Nur in ganz seltenen Augenblicken begriff Charles d’Alembert, dass er krank war, noch immer ernstlich krank. Dass er auf den Tod darniederliegen musste, auch wenn er der Vorstellung unterworfen war, auf seinem Sofa zu sitzen, vor dem prasselnden Kamin und Lenkas gespreizten Rehkitzbeinen. Dann wieder entglitt ihm dieses Bild seiner selbst, wie er sich auf seinem Lager hin und her warf, vor Fieber glühend, und stattdessen schien ihm nicht sein Leib oder seine Seele, sondern die ganze Welt um ihn herum sterbenskrank.
Wie sonst wäre es möglich, dass Hezilows Lumpenkerle übers Land fuhren, die gräflichen Untertanen nach Belieben einfingen und ihren teuflischen Spott mit ihnen trieben?
»Nachdem der Unmut unter den Bürgern von Krumau immer weiter angeschwollen ist, ungeachtet der Silberstücke, die Graf Julius unter die empörte Menge zu werfen befahl, oder der Peitschenhiebe, die Gardekommandant Mular den ärgsten Aufrührern zuteil werden ließ, wurde am heutigen Sonntag, dem 23. Dezember 1607 A.D. angeordnet, drei Gesandten des Krumauer Rats Zutritt zum Hospiz zu gewähren, auf dass sie sich deroselbst von der Zweckmäßigkeit der pestilenzischen Kur überzeugen. Die Namen der Gesandten lauten: Karel Kudaçek, Flößer; Sigmund Pichler, Bader; Stanislaus Brodner, Wirt zum >Goldenen Fass<.«
Die Löcher in seinem Gedächtnis, seinem Bewusstsein wurden immer größer, schwarz und unergründlich wie Moorseen. Er blieb auf seinem Sofa sitzen (sofern er nicht in seinem weißen Himmelbett lag), an seiner Seite Fabrio (oder auch nicht), vor ihm liegend Lenka (oder wohl eher nicht), jedenfalls wurde ihm schwindlig bei der bloßen Vorstellung, dass er sich erheben sollte, um beispielsweise bis dort drüben zu den Fenstern zu wandern: Wie viele Moorlöcher mochten auf diesem Weg lauern, versteckt zwischen seinen weißen Teppichen und Fauteuils?
Und morgen also war Weihnachten, sofern dem Rapport zu trauen war, den er völlig unerwartet im immer gleichen Papierstapel entdeckt hatte?
Eine kühle Hand legte sich auf seine Rechte. Er sah sie an, die schlanken, kräftigen Finger, und registrierte dankbar, dass dort, wo die Finger ihn anrührten, keine funkelnden Homunkel hocken blieben.
»Maître?«, sagte Markéta da Ludanice. Beim Klang ihrer Stimme erinnerte er sich augenblicklich an den Namen, zu dem er ihr verholfen hatte, nicht ohne Eigennutz. »Hört Ihr mich, Monsieur d’Alembert?«
Sie klang verzweifelt, dachte er, aber es dauerte, selbst nach seinen Begriffen, eine halbe Ewigkeit, bis er seinen Kopf so auf-und eingerichtet hatte, dass er ihr Gesicht in den Blick bekam.
»Ja?«
»Der Bader«, sagte sie. »Bitte, Ihr müsst mir zuhören, Maître: Die Gesandten sind aus dem Hospiz zurückgekommen, aber Vater Sigmund - er ist nicht mehr da!«
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Gewiss, gewiss, der Unmut wuchs, die Gerüchte blühten, aber die würden auch wieder welken. Viel wichtiger war ja, dass der Magister mit den Verhältnissen zufrieden schien und bei seinem großen Werk gut vorankam, zumindest beteuerte er’s ein ums andere Mal.
»Hat nicht auch Jesus Christus aus dem himmlischen Aquaster seinen sterblichen Leib geformt, und missen wir alle, Euer Liebden, ihm nicht nachfolgen voll eifernder Liebe?« So erklärte sich der Puppenmacher auch heute, während er im Audienzsaal auf und ab humpelte, das absonderlich lange Schwert umgeschnallt. »Am tiefen Grund, den Hezilow aufspiert mit Hilfe der Spukgespenster, hockt nämlicher Aquaster, auch als Homunkel bekannt.«
Glücklicherweise war Johanna von Waldstein nicht zugegen, sagte sich Julius, auf seinen Thronsessel hingefläzt. Die Nähe des Puppenmachers reizte ihn geradezu, sich gehen zu lassen. Spürte er dagegen die strenge Präsenz der Waldstein oder gar des Maître, so fühlte er sich augenblicklich wie von einer Rüstung umschlossen - so steif, so äußerlich geeist, so voll rasender Begierde allerdings auch, die eisernen Grenzen zu sprengen.
Für einen Moment sah er den verwandelten Rittersaal im Rosenberger Kastell vor sich, von dem Skraliçek ihm erst kürzlich wieder berichtet hatte. Der Boden bedeckt mit kotigem Stroh, worauf die Elenden Seite an Seite lagen, die meisten blutjung noch, druntergemischt Schatzens ältliche Delinquenten. Und zwischen ihnen allen, fürsorglich sich hier niederbeugend, dort ein aufmunterndes Scherzwort rufend, die Gehilfen des Magisters mit wippenden Klatschmohnsträußlein an den Hüten.
Auf Hezilows Rat hin pflegte auch Julius selbst sich neuerdings Mohnstängel ans Wams zu heften, zur Abwehr der pestilenzischen Dämpfe. Und da seine Schranzen sich stets mühten, dem edlen Vorbild nachzueifern, waren Klatschmohnbüschel, ob am Hut oder am Busen getragen, über Nacht zum begehrten Mode-Truc avanciert.
»War sich gewisslich auch der Leib von Mater Maria aquastrisch«, fuhr unterdessen Hezilow fort. »Nicht mal der Täjfel perseenlich tät behaupten, unser Herrgott hätt sich einen Weibsbauch beneetigt, um Sohn Jesus Christus zu erschaffen. Hat Hezilow in labyrinthischen Studien das große Mysterium aufgespiert, den aquastrischen Spalt in der Stirn. Wenn Ihr Euch überzeugen meegt, strahlendste Gnaden?«
Hezilow blieb vor dem Thron stehen, warf seinen Kopf zurück und fuhr mit bleichem Finger den gemeinten Spalt entlang, vom Haaransatz über etliche Warzen hinweg und lotrecht zur Nase hin. »Durch diese Rinne, Euer Exzellenz, gebiert sich Adept den spiritum vitae aquastrisch in seinem Herzen.«
Julius beugte sich zu ihm hinab und nickte Hezilow verständnisinnig zu. Dabei hatte er, die Wahrheit zu ehren, ein wenig den aquastrischen Faden verloren. Die Ausführungen des Magisters schienen ihm zuweilen unauslotbar, immer öfter ertappte er sich dabei, dass seine Gedanken abschweiften, während sich der Puppenmacher in Hitze redete. Mag er dort unten in seinen Laboren mischen und kochen und transformieren und koagulieren, was immer Not tut, dachte er, aber rasch soll’s gehen, denn lange halt ich die Überspannung nicht mehr aus.
»Wann also, werter Magister«, fiel er Hezilow ins Wort, der sich schon wieder über Aquaster und Spalt und dienstbare Spukgeister ausließ, »wann springt der erste Homunkel aus Euern Tiegeln?«
»Ah, noch ein klein wenig Geduld, Euer Gnaden.« Der Puppenmacher begann zu buckeln und den schmierigen schwarzen Beutel in seinen Händen zu drehen. »Nur ein paar dierftige Tage, ein paar Schnaufer und Spalten und Spritzerchen noch, Euer Liebden, dann hupfen Euch die Homunkel dutzendweis durchs Haus.«
Tage und Tage also noch? Nachdem schon Wochen und Monate verstrichen waren mit immer neuen Erläuterungen und Zusicherungen und Vertröstungen? Sturzdüster wurde ihm mit einem Mal zumute. »Der Medikus meldet, dass die Kraft der Pestilenz bald gebrochen wär?« Er fragte es in lauerndem Tonfall, dabei aus den Augenwinkeln zum Puppenmacher hinunterschielend.
»Gewiss, Euer Liebden.« Der Russe buckelte heftiger. »Ist sich auch die Säjche bald versickert, spieren Fondor und Oblion nur noch wenig Befallene auf, kaum finfe auf die Woche.«
Und wenn ich die Tore wieder öffnen lasse, läufst du mir stracks gen Prag davon? Er zog es vor, die Frage nicht zu stellen, keineswegs der einzige Punkt, an den er vorsichtshalber nicht rührte. Dass die beiden, Magister und Medikus, einen geheimen Handel abgeschlossen hatten, ahnte er wohl, hielt es jedoch für ratsam, auch diesen Argwohn zu verbergen. Unersättlich schienen die Labore des Magisters zu verschlingen, was aus dem Krankensaal des Medikus an Todgeweihten quoll, pestilenzische Personen sonder Zahl. Dahingerafft würden sie so oder so, sagte sich Julius, wie auch die Verdammten, die Scharfrichter Schatz ins Jagdkastell lieferte, ihr Leben nach Gesetz und Gerechtigkeit verwirkt hatten. Und weshalb sollte er sich ein Gewissen wegen einigen siebzig armen Teufeln machen, wo doch selbst Johanna und ihre Nonnen förmlich leuchteten vor heiliger Gewissheit, dass sie alle ihren Jammer selbst verschuldet hatten, sei es durch Wollust, Neid, Hoffart, Ehebruch, Völlerei oder Götzendienste - mit rasendem Eifer konnte die Waldstein die Sündenlitanei herunterrasseln. Und doch war ihm der Handel nicht geheuer, umso weniger, je länger sich die Prozedur zog. »Und Gold brauch ich«, sagte er, wieder zum Puppenmacher hinunterlauernd, »viel Gold - sofort.«
Abermals blieb Hezilow vor dem Thronsockel stehen und sah mit feixender Fratze zu ihm auf. »Gold, Euer Exzellenz? Schittet Euch Magister Hezilow so viel Aurum vor die herrlichen Fieß, wie Ihr nur winschen kännt. Subito? Weil’s sich weihnachtet? Wie Euer strahlende Gnaden befehlen! Gestattet, dass Hezilow gleich davoneilt, die Transformatio zu präparieren.« Damit bewegte er sich auf die Tür zu, rückwärts humpelnd und vorwärts buckelnd, dass die Schwertscheide an seiner Seite kreischend schleifte.
Julius sah ihm hinterher, und seine Gedanken waren noch immer beim Puppenmacher, als sich die Tür schon lange hinter der zwergischen Gestalt geschlossen hatte.
Nicht, dass er an den Fähigkeiten des Teufelsmagisters neuerdings zweifelte, eines Erleuchteten, den selbst die väterliche Majestät zum Ritter erheben wollte. Aber den Leuten fehlte es am rechten Verständnis für derlei Reichsbelange, weshalb sie alle immer lauter murrten: drunten die Bürger, draußen die Bauern, und seit jüngstem stimmten gar einige aus seinem eigenen Gefolge mit ein!
Wie also entscheid ich? Ah, wie er’s liebte, Dekrete zu unterzeichnen, Befehle in beflissene Gesichter zu schmettern, sich auszumalen, wie seine Boten drunten durch die Stadt und draußen durch die Lande zogen, um zu verkünden, was er, Julius Caesar, beschlossen hatte.
Aber wie nun in diesem heiklen Fall? Wenn sie die Pestilenz in den nächsten Tagen erstickten, dachte er, wär es womöglich zu früh für Hezilow, der ihm eben erklärt hatte, dass er »den Aquaster tropfenweis aus den Spalten destillier«: Erhielte er ein Tröpflein zu wenig für seinen Pelikan, so wär das ganze magische Gewürge vergebens. Wütete die Seuche aber noch Woche um Woche weiter - und mit ihr Hezilows Gehilfen, deren Kutschenschlünde tagein, tagaus nach neuer Beute gierten -, so würden die Leut sich früher oder später gegen die Obrigkeit zusammenrotten, von Zorn und Verzweiflung aufgepeitscht.
Schon verlangte der Rat von Krumau, die Leichname beschauen zu dürfen, ehe man sie auf dem Pestfriedhof vor dem Budweiser Tor vergrub. Auf Anraten von Roserts hatte Julius sich diesem Begehr bisher verweigert: »Die sterblichen Hüllen sehen anders aus, als die Leut es bei Pestleichen gewohnt sind«
- der aquastrischen Prozedur halber, wie Julius vermutete, oder weil es sich um eine seltene Spielart der Pestilenz handelte; auch in diesem Punkt fragte er lieber nicht nach.
Um dem Gerede endlich die Spitze zu nehmen, hatte er gestern immerhin eingewilligt, das Hospiz am Pulverhaus durch drei Gesandte der Bürgerschaft inspizieren zu lassen. Aber seither war alles nur noch ärger geworden: Angeblich war einer der Gesandten nun verschwunden, was sollte das heißen, bitte sehr? Ein dicker Mann von einigen vierzig Jahren, so was rollte doch nicht einfach vom Burghof wie der Schachbauer vom Brett?
Auf einmal beschlich ihn eine Ahnung, er bückte sich nach der Glocke und schüttelte sie wild. »Berti! Her mit dir!«
Sein Kammerdiener stürzte in den Saal. »Exzellenz befehlen?«
»Wie heißt der Kerl - der Gesandte, den der Teufel geholt haben soll?«
Robert zupfte an seiner Weste herum, die sich straff überm Bäuchlein spannte. »Na, die Sache ist arg, Exzellenz. Madame Markéta läuft überall herum, wie ich hörte, auf der Suche nach ihrem ... Na, der Bader Pichler ist’s, Exzellenz.«
»Das hat uns grad noch gefehlt, Berti. Aber sag er: Nimmt sie’s schwer? Ich mein, es war ja bloß ihr Kuckucksvater, da könnt’s ihr doch gleich sein. Du schüttelst den Kopf? Hast wohl Recht, Berti: >An dir leid ich: sollst mein Vater sein.< Von wem stammt das goldene Wort?«
»Von Monsieur d’Alembert?«
Da bekam er einen Lachanfall und mitten hinein eine glanzvolle Idee. »Mais précisément, mon Camem-bert!« Er strahlte Robert an.
»Plaisir, c ’est mon desir, versteht er mich recht? Auch wenn d’Alembert so ausdauernd den Kranken spielt, dass ich mir in sieben Monaten vielleicht doch mal Sorgen um ihn machen sollte: Heut ist Weihnacht, Berti!« Er sprang von seinem Thronsessel auf und hüpfte auf einem Fuß die Stufen hinunter. »Und da soll gefeiert werden, im Großen Saal! Sieh zu, dass alle kommen - aber wirklich alle, alle, versteht er mich? Heut Abend, Schlag sieben, ich befehl’s!«
Der Kammerdiener eilte davon, während Julius langsamer nach links abging, in Richtung seiner Privatgemächer.
Durch das »Höllenbalg«, dachte er, das Lenka gestern zur Welt gebracht hat, ist nur noch mehr Unruhe geschürt, böses Blut im wahrsten Sinn vergossen worden - seltsamerweise im Salon d’Alemberts, prangend rote Flecken auf seinem Teppich hinterlassend, während der Maître selbst sich nebenan auf seinem Krankenlager wälzte. Dabei war Lenka froh und erleichtert gewesen, als Markéta, glücklicherweise im rechten Moment zur Stelle und als Hebamme leidlich erfahren, sie von der Totgeburt entbunden hatte. Ein versteintes, kläglich verschrumpftes, ja mumifiziertes Knäblein, mit schwärzlicher Affenfratze und dunkler Lederhaut am ganzen Leib.
Wie bei einer Fledermaus, dachte er, oder bei einem Drachen. Hezilow hatte heiß drum gebeten, ihm den Fötus zu vermachen. Aber nichts da, beschloss Julius, der Fratz gehört mir.
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Seit Wochen schon spürte sie, wie er ihr mehr und mehr entglitt. Sie liebte ihn, zärtlicher denn je, tiefer, leidenschaftlicher, als sie jemals einen Menschen geliebt hatte. Und als sie je wieder lieben würde, denn auch das fühlte Markéta: eine Ahnung, ganz fern noch, von schrecklichem Schmerz.
Vorhin, als sie sich unter seinem Samthimmel umarmt hatten, war es ihr vorgekommen, als ob er etwas Ähnliches empfände, eine furchtbare Vorahnung, die seine Begierde nur noch heißer emporkochen ließ. Er war über sie hergefallen wie ein Raubtier, wie der junge Wolf, an den er sie schon damals erinnert hatte, als sie zum ersten Mal in seinem Thronsaal vor ihm stand.
Jene Momente elysischen Einsseins, die sie einige Male in seinen Armen empfunden hatte, schienen Markéta längst wieder so fern, dass sie sich zuweilen kaum mehr erinnern konnte, wie köstlich, wie paradiesisch es gewesen war, miteinander zu verschmelzen. Und vielleicht war jenes Einssein, wie sie nun dachte, sogar niemals ferner als in den Stunden seiner wölfischen Brunst.
Sie saß zu seiner Rechten, an der Stirnseite der Tafel im Großen Saal. Johanna und ihre Nonnen waren nicht erschienen oder nicht eingeladen worden, wie auch immer: Hauptsache, die Waldstein blieb ihr heut Abend erspart, ihr welker Anblick und die allzu scharfen Vogelaugen.
Weihnachtsabend: Seltsamer Gedanke, dass heute das Christkind für sie alle geboren worden war und niemand in diesem Saal, nicht eine einzige von zweihundertfünfzig Seelen, sich drum zu bekümmern schien. Auch ich nicht, dachte Markéta, auch meine Seele nicht. Wie fern die frommen Legenden von Pater Hasek, so fern wie der verjagte Priester selbst.
Zu Julius’ linker Seite saß tatsächlich Maître d’Alembert, hohläugig, mit mehlbleichem Antlitz und bis auf die Knochen ausgeglüht. Aus eigener Kraft hätte er sich schwerlich bis hierher schleppen können, sagte sich Markéta, aber Fabrio und Lenka hatten ihn fürsorglich gestützt. Mit rätselhafter Zärtlichkeit hingen die Zwillinge an dem Kranken, seit Lenka ihr versteinertes Knäblein in d’Alemberts Gemächern zur Welt gebracht hatte.
Alle Schranzen und Einbläser, Maler und Bildhauer, alle Schauspieler und Musiker, Schmarotzer und Schamlosen waren erschienen, sein gesamtes Gefolge, wie Julius es befohlen hatte. Jedenfalls diejenigen, die noch am Leben und bei leidlicher Gesundheit waren, denn über die Toten und die Siechen geboten weder Kaiser noch gar Graf.
Obwohl die Pestilenz hauptsächlich drunten in der Stadt und draußen in Weilern und Wäldern wütete, waren doch auch hier in der Burg viele Opfer zu beklagen. Nach Haushofmeister von Breuner waren vier Kuchelmägde, ein halbes Dutzend meist junger Lakaien und drei Hofbeamte dahingerafft worden. Außerdem der Maler da Biondo - sein Porträt des Grafen unvollendet - und fünf seiner Schüler, darunter Piero, der Bruder der kleinen Clarissa, die im Sommer vom Bären zerfleischt worden war.
Nicht zu vergessen den Hünen Robse und seinen Sohn Hielo, nicht zu vergessen den Sternengucker Sargenfalt, dessen Leib zwar immer noch unter ihnen weilte, doch seine Seele und sein Geist schienen auf immer in der Weite jener Nebelwelt verirrt.
Zu viele, dachte Markéta, viel zu viele Menschen, lieber Herr, die um Euretwillen hingehn mussten, auf diese oder jene Art.
Schon als sie Julius zum allerersten Mal gesehen hatte, bei seiner Ankunft hier in Krumau - als er vor ihr aus der Kutsche gesprungen war und sie in seine braunen Augen voller Schmerz und Selbsthass sah - als er sich über Melchior Kurusch gebeugt hatte, den Unseligen, der von der Kutsche seines Herolds überfahren worden war - schon damals hatte sie in jähem Schreck gespürt, dass etwas wie ein schwarzer Schleier ihn umgab. Tod, mein allerliebster Herr, so viele, die für Euch ihr Leben ließen.
Die Musiker begannen in die Tasten zu schlagen, auf die Trommeln zu hauen und in die Flöten zu blasen, und von Hasslach ließ an Delikatessen auffahren, was die pestilenzisch ausgezehrte Küche noch hergab.
Markéta löffelte, trank und säbelte, ohne recht drauf zu achten, was sie zu Munde führte. Sie nahm sich mit der Hand die vorgeschnittenen Bratenstücke, fühlte Julius’ Hand auf ihrem Schenkel, in die samtigen Falten ihres Kleides, ihres Fleischs, ihrer Wehmut sich verkrallend, ließ bereitwillig ihre vor Saucenfett triefende Linke unters Tischtuch entführen und dachte: D’Alembert und ich sind die Einzigen im ganzen Saal, die nicht diese lächerlichen und durchaus unheimlichen Klatschmohnsträußlein tragen.
Die Kaminfeuer an beiden Seiten des Saals loderten und fauchten. Weiter hinten an der Tafel sprangen schon wieder einige junge Poseure auf und kletterten ohne weiteres auf den Tisch, um sich zwischen Schweinskopfsülze und gestopftem Perlhuhn in dreisten Figurationen zu zeigen, ihre winterbleichen Leiber mit Girlandenmustern aus Mohnblüten und fleischigen Stängeln bemalt.
Sie hatte einen Entschluss gefasst. Eine Entscheidung sich abgerungen, nachdem sie den halben Tag lang gesucht und nirgendwo eine Spur von Vater Sigmund gefunden hatte. Nicht im Baderhaus, wo Hezilows Gesellen feixend hinter ihr her gestolpert waren, während sie alle Kammern, Gemächer, selbst den Keller unter der Zuberstube durchsucht hatte. Nicht im Wirtshaus »Zum Goldenen Fass«, obwohl der Wirt selbst und der dritte Gesandte, Karel Kudaçek, längst wohlbehalten zurückgekehrt waren. Nicht im gräflichen Hospiz neben dem Pulverfass, wo Jan Mulars Gardisten ihr den Zutritt verwehrt hatten, und noch weniger in Hezilows Unterwelt, in die vorzudringen sie nicht gewagt hätte, auch wenn weder Oblion noch Fondor - oder weder Unçerek noch Täkie - vor dem Gewölbetor Wache gestanden hätten.
Heute beim Mittagsläuten waren die drei Gesandten zusammen ins Hospizgebäude gegangen, durch die Tür am untersten Burghof und die Treppe hinauf in den Krankensaal. Dort hatten sie sich getrennt - so übereinstimmend Wirt und Flößer -, um mit möglichst vielen Kranken zu reden und möglichst genau zu untersuchen, was es mit der angeblichen Pestilenz auf sich hatte.
Der Krankensaal war weitläufig und von pestwehrenden Dämpfen erfüllt. Zwei Dutzend Befallene in den Betten, weitere Elende auf Strohlagern am Boden, außerdem wenigstens zehn heilige Weiber, die überall umherschwirrten und weniger Trost oder gar Heilung als Furcht und Verwirrung stifteten. Als der Flößer Karel Kudaçek, Vater des »falschen Homunkel« Nico, und der Wirt Stanislaus Brodner, Vater des Gardisten Franz und des kleinen Silvan, am Eingang des Krankensaals wieder zusammentrafen, war vom Bader weit und breit nichts zu sehen. »Der Kuckucksheiler?«, hatte der Medikus sie beschieden.
»Grad die Treppe runtergepoltert, hat seinem närrischen Verdacht abgeschworen, was auch sonst? Und nun hinfort mit euch, Bürgerspack!«
Unten aber hatten sie von Sigmund Pichler keinen Schatten, keine Schnauzbartspitze gefunden, nicht das leiseste Echo seiner sonst weithin schallenden Stimme, und der Bader war auch in den Stunden seither weder beim Flößer noch beim Wirt wieder aufgetaucht.
Vage war Markéta bewusst, dass Julius ihren Plan als Verrat empfinden würde, wenn er davon erführe, aber sie hatte keine Wahl: Sie musste herausfinden, was mit Vater Sigmund geschehen war, noch in dieser Nacht.
Ungeduldig wartete sie, bis Julius sich erhob, wie sie’s vorausgesehen hatte, und zu der ausgelassenen Gruppe am hinteren Ende der Tafel überwechselte, die ihn mit wüsten Trinksprüchen und Gesängen begrüßte.
Auf einem Wandregal über den Köpfen der Schmausenden, die allesamt schon wieder von Veltliner und Tokaier berauscht schienen, schwamm Lenkas Mumienkindlein in einem Kristallballon voll Spiritus. Schaudernd sah Markéta zum »Satansbalg« hinauf, dann bemerkte sie d’Alemberts Blick auf ihrer linken Seite.
Über Julius’ leeren Sessel hinweg lächelte sie dem Maître zu. Offenkundig hielt er sich nur mit Mühe auf seinem Stuhl aufrecht. Seine Augen waren glasig, seine Stirn glitzerte vor Schweiß.
Julius, dachte sie, hatte das Satansbalg nur deshalb hier im Großen Saal aufstellen lassen, weil er erwartete, dass der Anblick d’Alembert peinigen würde. Sie selbst hatte schon mehr als einmal ein tot geborenes Kind gesehen, doch nie zuvor war es ihr so nachgegangen. Das Satansbalg erinnerte sie an den lederhäutigen Klumpen mumifizierter Fledermäuse, den ein Kuchelknabe im Sommer aus dem Kamin im Rosenberger Kastell geborgen hatte, und mehr noch an den »alten Drach’«, von dem Flor ihr immer wieder voller Schrecken erzählte. Und obwohl es, nüchtern besehen, mit dem einen wie mit dem andern nichts zu schaffen hatte, strahlte der Schrecken, der von diesen beiden Drachenfratzen ausging, mehr und mehr auf Lenkas unseligen Mumienknaben aus.
Einen Moment lang erwog sie, dem Maître von ihrem Plan zu berichten, aber in seinem Zustand könnte er ihr doch nicht helfen, nicht einmal durch einen Ratschlag. Ohnehin veranstalteten die Musiker und Zecher hinten im Saal ein solches Getöse, dass sie hätte schreien müssen, um sein Ohr zu erreichen.
Bitte haltet aus, Monsieur, wer anders als Ihr sollte dem Lumpenteufel wehren?
D’Alembert nickte ihr zu, wie um ihren längst erratenen Plan gutzuheißen, oder vielleicht war sein Kopf auch nur aus Schwäche abwärts gesackt. In den Augenwinkeln bemerkte sie, dass sich Julius an der anderen Tafelseite erhob und ihr mit einer energischen Armbewegung bedeutete, zu ihm und seinem übermütigen Gefolge zu stoßen.
Noch immer sah sie zu d’Alembert hinüber. Solange Julius nicht nach ihr rief, konnte sie so tun, als hätte sie seine Aufforderung nicht bemerkt. Wenn es aber mehr als eine Augenblickslaune war, würde er keine Ruhe geben, bis sie seinen Wunsch erfüllt hatte, worauf sie in den nächsten Stunden sicher keine Gelegenheit mehr finden würde, sich unbemerkt zurückzuziehen.
Schon öffnete Julius den Mund, um über die ganze schreiende, singende und musizierende Bande hinweg ihren Namen zu rufen, da sprang die Tür auf, und eine dunkle Gestalt humpelte in den Saal.
Nicht einmal in ihren verworrensten Träumen hätte Markéta erwartet, dass sie bei seinem Erscheinen jemals solche Freude empfinden würde.
»Gold, Euer strahlende Gnaden!«, kreischte Hezilow. »Gold, Gold, so viel Ihr begehrt!« Er trat zur Seite, und hinter ihm kamen zwei seiner Lumpenkerle zum Vorschein, einen gewaltigen Bottich schleppend, den sie mit Schwung in den Saal hinein entleerten.
Klirrend und funkelnd schwappte ein goldener Schwall vor die Füße des Grafen, der aufgesprungen war und mit strahlender Miene von den Brocken zum Brockenmacher sah. »Solch güldne Weihnachtsgabe rühm ich mir, Magister!«, rief er aus.
»Und bis Neujahr die Homunkel!«, gab Hezilow mit pfeifender Stimme zurück.
Wie verzaubert sprangen alle zweihundertfünfzig Höflinge auf und schoben sich, unter Jauchzern und fiebrigen Ausrufen, auf Don Julius und die funkelnde Pfütze zu seinen Füßen zu.
Markéta aber erhob sich und entwich durch eine Nebentür aus dem Saal.
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Sie wollte nur rasch noch bei den Frauengemächern vorbeigehen, um ihren burgunderroten, mit Zobel gefütterten Umhang zu holen, ein wahrhaft fürstliches Geschenk von Julius. Vorn im Empfangsraum aber, auf dem lachsfarbenen Sofa, saß Flor.
Als sie hereinkam, sprang er auf und begann stammelnd auf sie einzureden. »Mi-mit dem Trichter, Ma-markéta!« Er fasste sie sogar bei den Schultern, damit sie stehen blieb und ihm zuhörte, das hatte er nie zuvor getan.
Aber sie hatte jetzt keine Zeit für ihn. »Später, Flor. Ich muss noch mal raus.« Sanft machte sie sich los von ihm und lief nach hinten, zu ihrem Ankleidezimmer, wohin die Mädchen den Umhang wahrscheinlich gebracht hatten. »Bronja? Lisetta? Wo seid ihr denn!«
Der Nabellose lief hinter ihr her, versuchte noch immer sie festzuhalten und überschüttete sie nun von hinten mit seinen Stammelkaskaden. »In der Ka-kanne, Markéta. Wollt wie-wieder fliehn, und diesmal: neh-nehmen mich mit!«
»Bitte, lieber Flor. Später! Ich kann jetzt wirklich nicht.«
»Da-dann: du-dunkel!«
Unten in der Stadt begannen die Glocken zu läuten, drei Herzschläge später fielen, mit dumpfem Dröhnen, die Glocken der Burgkirche ein.
»Weihnacht, Flor. Ich wünsch dir glückliche Weihnachten!« Plötzlich war ihr zum Heulen zumute. Sie riss sich von ihm los und zog den Schrank auf, dunkelrot leuchtete der Umhang zwischen ihren Kleidern hervor.
Vater Sigmund, dachte sie, wie konnte er nur so plötzlich verschwunden sein? In den Krankensaal hinein und nicht wieder heraus, wie war so was möglich? Zum hundertsten Mal führte sie sich den Hospizsaal vor Augen, während sie den weichen, duftenden Umhang aus dem Schrank nahm und über ihre Schultern warf. Die einzige Tür befand sich nahe der rechten Stirnwand, die Fenster vis-à-vis wiesen auf den schmalen Hinterhof und waren überdies vergittert. Und weitere Türen führten offenkundig nicht hinein und nicht hinaus! Sie war ja selbst dort oben gewesen und hatte den Krankensaal mit eignen Augen gesehen: zwei Dutzend Betten, sonst nichts! Wie konnte dort ein Mann wie der Bader verloren gehen, und dazu noch unter den Augen seiner Gefährten?
Auf einmal klopfte ihr das Herz bis zum Hals. Wie konnte sie nur glauben, dass sie den Bader aufzuspüren vermochte, sie allein dort draußen in der Weihnachtsnacht? Wo wollte sie denn überhaupt nach ihm suchen? Etwa im Krankensaal? Aber dort hatten ja schon Karel Kudaçek und Stanis Brodner vergebens nach ihm geforscht! Oder sollte sie vielleicht versuchen, in Hezilows Gewölbe hinabzuschleichen? Die Beine wurden ihr weich, wenn sie’s sich auch nur von ferne vorstellte: der riesengroße Felsensaal, die Säulen und Schatten, fauchende Öfen und zischende Apparate, und dann Hezilows Lumpenkerle, die sich japsend und jauchzend auf sie stürzen würden, sowie das Gewölbetor hinter ihr zugefallen war!
Und doch muss ich gehen, dachte sie, um des Baders willen und um meiner selbst.
Während sie noch mit sich rang, zog Flor einen schwarzen Umhang aus ihrem Schrank, warf ihn sich über und nahm sie bei der Hand. »Mi-mit dir.«
Ihr erster Gedanke war, dass es viel zu gefährlich war, ihn mitzunehmen, aber stärker war die Erleichterung, die sie gleich darauf durchströmte: So bin ich zumindest nicht allein.
Dankbar lächelte sie Flor an und lief mit ihm hinaus in den wirbelnd weißen Weihnachtsabend.
Die Nacht gleißend vor Schnee. Die Luft ein Gestöber, darüber der blanke Glitzerhimmel, als ob der Schnee direkt von den Sternen fiele.
Die silbrigen Fähnchen ihrer Atemluft. Längst waren die Glocken verstummt. Von irgendwoher wehte Chorgesang der heiligen Weiber herbei, in den mit einem Mal eine Bassstimme einfiel: Pater Miguel.
Noch auf der Treppe hatte sich Flor eng an sie herangedrängt. Sie hatte es geduldet, obwohl sie die Blicke der Gardisten, oben vor den Frauengemächern, noch auf ihrem Rücken spürte. Umschlungen wie ein Liebespaar liefen sie durch die Burghöfe abwärts, wortlos, nur zuweilen leise Schreckenslaute ausstoßend, wenn sie auf dem glitschig abschüssigen Grund ins Rutschen gerieten.
Markéta hätte noch lange so laufen mögen, immerzu weiter an Flors Arm abwärts durch die Nacht voll tanzendem Schnee. Zwischen den freimütigen Fresken und Malereien hindurch, mit denen Graf Wilhelm seine Mauern hatte schmücken lassen, bis seine allerletzten Taler verteilt waren. Dann vorbei am riesenhohen Gewölbetor linkerhand, das verschlossen und verrammelt war, kein Wächter, kein Lumpenkerl davor.
Am unteren Ende des zweiten Burghofs blieb Flor auf einmal stehen, neben dem tintenfinsteren Durchhaus zum untersten Hof. »Wo-wollt wieder we-weg, und diesmal: ne-nehmen mich mit.« Er flüsterte es, sein Mund dicht an ihrem linken Ohr.
»Später, mein lieber Flor.« Sie lehnte sich an ihn, froh, seine Wärme zu spüren. Schneeflocken tanzten auf sie herab, sanft schlossen seine Arme sich um sie. Jetzt spürte sie seine Lippen an ihrer Schläfe, warm, weich, ein wenig feucht.
Auch dich lieb ich, kleiner Flor, anders, ganz anders als ihn. Aber nicht weniger. So, wie man sich selbst vielleicht, das Rätsel tief im eignen Innern zärtlich liebt. Während er, Julius, für mich all das ist, was ich nicht bin, niemals sein werde.
Die Nonnen sangen noch immer, wie jubilierende Lerchen, und abermals fiel die dunkle Stimme des Priesters ein, brummend wie ein zorniger Bär.
Wieder hat er zu fliehen versucht, aus der Obhut der Steinerin, so stammelnd und wispernd Flor, wieder hat er sich aus dem Haus gestohlen und schleicht im Morgendämmer durch den Park. Das muss im letzten Frühsommer gewesen sein, er hat lang darüber nachgedacht, es ist die einzige Erklärung.
Wieder die Kerle, die im Verborgenen lauern, ihn zu Boden reißen, dass er rücklings im Gras vor ihnen liegt. Wieder Schläge, Tritte, ihre dreckigen Hände, die ihm Wams, Hemd, Hosen runterreißen. Und dann aber der Trichter, der Trichter, Markéta, das war vorher nie: dass er vor ihnen, unter ihnen liegt, einer rittlings auf ihm, ein zweiter zwängt ihm die Zähne auseinander und stößt ihm den Trichter ins Maul. Dann der grausige Trunk, Markéta, in seinen Schlund hinuntergurgelnd, dass er hustet und würgt und sich windet, aber es hilft nichts: Japsend und jauchzend flößen sie ihm den Schlangentrunk ein, bis er sich irgendwann nicht mehr wehren kann:
»Da-dann ... du-dunkel!«
Als er wieder zu sich kommt, hockt er am Ufer eines reißenden Flusses, in fremden bunten Lumpen. Gleich will er aufspringen, aufs Neue vor den Kerlen fliehen, die um ihn herum im Ufergras liegen. Und da packen sie ihn wieder, zwängen ihm abermals den widerlichen Trunk in den Hals. Während er würgt und spuckt, nimmt er sich die ganze Zeit vor: Sowie sie dich lassen, spring! Und der Trichter ist kaum heraus, Markéta, da schnellt, taumelt, rollt Flor in die Flut hinunter, die ihn gleich ergreift mit starken Armen und ihn mit sich reißt. Und dann wieder Dunkelheit, und als er neuerlich zu sich kommt, liegt er tropfnass im Uferkraut, vor dem Stadttor von Krumau, und die beiden Büttel schütteln und ohrfeigen ihn.
Heiß drückte seine Stirn sich an die ihre. »Mein armer lieber Flor.«
Seine Tränen, über ihre Wangen rinnend, seine Lippen auf ihrem Mund, er küsste sie und sie ließ es bereitwillig zu.
Doch dann auf einmal ein Rasseln und Rumpeln und Poltern in ihrem Rücken, sodass sie herumfuhr: Dort oben, am andern Ende des Burghofs, flog krachend das Gewölbetor auf.
»Weg, Flor, schnell!«
Im Nu tauchten sie ins Durchhaus. Das Herz klopfte ihr bis in die Schläfen, mit dem Rücken presste sie sich gegen die Wand des steilen Tunnels, in dem es wahrhaftig so dunkel war wie im Grab. Langsam rutschte sie an der Wand entlang zu Boden, bekam Flor am Umhang zu fassen und zog ihn mit sich hinab. Auf einmal war ihr schlecht vor Angst. Sie presste die Hände vor ihr Gesicht und hielt den Atem an, bis die Übelkeit wich. Dreißig Schritte mochte das Durchhaus in der Länge messen, in der Breite gerade so viel, dass Hezilows enorme Vierspänner hindurchpoltern konnten.
Da hörte sie schon das Malmen und Dröhnen, mit dem eine Kutsche aus der Kellerwelt emporgerissen wurde, das Schnauben der Rappen, das Rattern der Eisenräder auf Stein, dann unvermittelt viel leiser auf Schnee.
»Still, ganz still, lieber Flor.«
Sie wisperte dorthin, wo sie den Nabellosen vermutete, denn zu sehen war gar nichts, nicht mal ihre Hand zwei Zoll vor den eigenen Augen. Mit der Linken tastete sie nach Flor und fühlte den weichen Stoff des Umhangs, den er vorhin übergeworfen hatte, schwarz, glücklicherweise, doch selbst das Burgunderrot ihres Mantels wurde von der Finsternis verschluckt.
Wieder hielt sie den Atem an, dazu senkte sie den Kopf, damit die helle Scheibe ihres Gesichtes und der Glanz ihrer Augen sie nicht verrieten. Sie konnte nur hoffen, dass Flor ähnliche Vorkehrungen traf, doch er hatte ja offenbar ein halbes Leben damit verbracht, zu fliehen und sich zu verstecken, wenn auch mit magerem Erfolg.
Die Kutsche donnerte in den Tunnel hinein und fuhr dröhnend und polternd, dabei unerwartet langsam vorbei. Endlos schienen die Rappen vorüberzuklappern, endlos der Kutscher schreiend die Peitsche zu schwingen, endlos den schwarzen Kasten hinter sich herreißend, dass die Räder dröhnten, die Bretter ächzten, die Achsen stöhnten. Zu sehen war überhaupt nichts, nicht mal ein Viereck von dunklerer Schwärze vor dem schwarzen Hintergrund des Tunnels. Aber die tosenden Geräusche und die Gerüche nach nassem Tierfell, Holz und Leder malten die Kutsche, jeden Zoll von den Nüstern der Rappen bis zum schlingernden Heck des Kastens, mit schmerzhafter Schärfe vor ihr auf die schwarze Leinwand dieser Weihnachtsnacht.
Dann endlich war die Kutsche vorbei, der höllische Lärm wurde zu einem Malmen und Murmeln, das sich zum unteren Burgtor hin entfernte und erstarb.
Sie tastete nach Flor. Fand seinen Umhang, auf den nassen Boden geknäult wie ein Lumpenbündel.
»Flor!« Noch immer wagte sie nur zu flüstern, dabei dröhnte ihr das Tosen der Hufe und Räder noch in den Ohren, sodass sie ihre eigenen Worte kaum verstand.
Wie rasend fuhren ihre Hände im Stockfinstern umher.
Nasser Stein, ein paar Brocken schmelzenden Schnees von seinen Schuhen. Sein Gewand, mit dem Rosenberger Wappen darauf. Ihre Seele ahnte die furchtbare Wahrheit, noch während ihre Finger über die Konturen fuhren.
Aber es kann und kann ja nicht sein.
Seine Schuhe, die mit Fuchsfell gefütterten Stiefel, die Lisetta ihm besorgt hatte, wusste der Himmel, woher.
Minutenlang kauerte sie in der Dunkelheit, ohne sich zu bewegen, ohne irgendetwas zu denken.
Ein Grauen, so bedrängend, so umfangend wie Spinnweb, wie die Gänsehaut überall an ihrem Körper.
Denk nach, Markéta, um Himmels willen: Denk nach!
Es kann nicht sein, dass er sich hier ausgezogen hat, dann ohne ein Wort weggegangen ist, splitternackt in die Winternacht hinaus. Niemand würde so was tun, nicht einmal Flor.
Also ist er noch hier und wartet auf mich, irgendwo dort in der Tintenschwärze?
»Flor?« Nichts. »Flor!« Nichts, nichts, nur das traumleise Echo ihres Wisperns.
Wieder tastete sie herum, begann durch den Tunnel zu kriechen, nach links und rechts, dann quer über den Fahrweg.
Nichts! Nur reichlich Dreck und Stein und schmelzender Schnee.
Ihr neuer, wunderschöner Umhang musste aussehen wie Hezilows ärgste Lumpen, schlammverschmiert und triefend vor Bracke.
Als ob es darauf jetzt ankäme! Wie um sich für die schändliche Abschweifung zu bestrafen, kroch sie noch verbissener auf dem Boden umher, den wundervoll weichen Zobel absichtlich durch die Pfützen schleifend. Doch von Flor fand sie keine weitere Spur.
Denk nach, Markéta, um Himmels willen, denk nach!
Sie versuchte sich zu erinnern, das Chaos der Geräusche zu vergegenwärtigen, als die Kutsche an ihr vorübergebraust war. Konnte es sein, dass sich andere Klänge mit hineingemischt hatten, Laute eines verzweifelten Kampfes, keine dreißig Zoll neben ihr, Laute, die ihre Vorstellungskraft arglos verwendet hatte, um das Phantasiebild der vorüberdonnernden Kutsche auszumalen?
Und dabei hatte Flor ihr gerade eben erzählt, dass es ihm so, ganz genau so erst im Sommer ergangen war! Dass die Lumpenkerle ihn überfallen, ihm die Kleider vom Leib gerissen, ihn betäubt und mitgenommen hatten - so, ganz genau so!
Eine Wiederholung, dachte sie, was heißt das? Der gleiche Zug, ein zweites - oder siebtes, oder hundertstes - Mal ausgeführt, zu welchem Ende?
Sie sind beide verschwunden, Flor aus meinen Armen, der Bader vor aller Augen: Es kann nicht sein und ist doch wahr.
Nun, da ihr die Wiederholung aufgegangen war, schien ihr Flors Verschwinden in gewisser Weise noch weniger wirklich, aber zugleich, und mit jedem Moment stärker, wie der Widerschein einer tieferen Wirklichkeit.
Markéta raffte seine Sachen zusammen, den Umhang, das Gewand, seine Stiefel, und rappelte sich auf. Ihr Atem ging keuchend, ihre Sohlen knirschten im Schnee, ein Nachtvogel stieß einen keckernden Schrei aus. Und mit einem Mal schien es ihr, als wäre dies alles - die majestätische Burg, der grandios darüber gespannte Himmel, die Reinheit des Schnees, die salzige Wärme ihrer Tränen, das nasse Bündel in ihren Armen -nur Bühne und Kulisse, Schminke und Kostüme eines ungeheuren Betrugs.
»Erweicht die Substanz, ohne sie zu schmelzen.«